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»Du gehst, Väterchen, versprich!«
»Ungern, mein Mädchen, bitter ungern. Am liebsten sitze ich hier bei dir!«
»Väterchen, ich lauf dir doch nicht fort. Und ich will, daß meine Lieben hinausgehen in die Welt und dann gern zu ihrer Fee zurückkommen. Denk mal, ich will doch auch was Neues hören!«
»Willst du? Sieh mal einer!«
Klaus von Rödern saß neben dem Lager seiner Ältesten.
Fee lag, wie sie vor Wochen gelegen hatte. Mittlerweile war's herbstlich frisch draußen geworden. Spätseptember. Aber alle drei Fenster waren weit geöffnet. Golden klarer Sonnenschein lag über der Welt, und mit hellen Augen sah Fee hinein, sah in den lichtblauen Herbsthimmel über den leise gilbenden Bäumen.
»So herrlich ist's draußen, Väterchen. Sünde wär's, nicht zu gehen.«
Das Drängen galt einer Jagdeinladung, die der Vater erhalten hatte.
Er wehrte sich noch ein Weilchen.
»Aber ich will's!« So lieb und weich sagte es Fee. Keine Spur von Eigensinn lag drin.
Sie hatte sich dieses »ich will« angewöhnt, seit sie sich dagegen wehren mußte, daß die Ihren ihr jeden freien Augenblick widmeten. Dies »ich will« zwang Muttchen Friedel täglich ins Grüne, nach Dresdorf zu Papa Polten, zwang Lu und Li zu den geliebten Ritten, ja zuweilen auch nach Loberg zu einer oder der anderen Freundin. Es zwang den Vater ins gewohnte Tun beim Tagewerk und bei der Erholung, kurz, es zwang das tägliche Leben auf Rödershof allmählich in die gewohnten Bahnen zurück.
Dies »ich will« wollte aber nie etwas für Fee selbst.
»Ich will's!« war also auch diesmal der letzte Trumpf, den Fee dem Vater gegenüber ausspielte, wo es sich um die Jagdeinladung handelte.
»Dann muß ich also wohl,« sagte Klaus von Rödern. »Solch ein Tyrann! Drei Tage! Bedenke, eine schauderhaft lange Zeit, mein Mädchen!«
Sie nickte vergnügt.
»Weiß ich und freu' mich drüber!«
»Freust dich?« Er tat entrüstet.
»Mich findest du nämlich immer auf demselben Fleck wieder, Väterchen.«
Es durchzuckte ihn. »Daß Gott erbarm, mein Mädchen!« Er faßte ihre Hand, die er küßte und küßte. Die Augen waren ihm naß.
Sie sah ihn lieb und still an. Ihre Augen trübten sich nicht; aber unendlich weich war ihre Stimme.
»Nicht so, Väterchen, nicht so! Du siehst, ich bin froh und geduldig. Sei's auch! Ich bin glücklich in eurer Liebe. Ihr gebt mir so viel als Ersatz. Nur traurig kann ich euch nicht sehen.«
Da nahm er sich zusammen.
»Traurig bin ich nicht, Kind. Wo werd' ich traurig sein! Ich weiß ja, daß mein Mädchen wieder frisch und gesund werden wird!«
Sie blickte still zu ihm auf und sagte kein Wort.
Am anderen Tage ging er zur Jagd.
Ihr »Leb wohl, Väterchen, und Weidmannsheil!« klang ihm im Dröhnen der Bahn, beim Bechern und Tafeln, im Jagdgetriebe, klang ihm immer, immer in den Ohren, im Herzen.
»Behüt dich Gott, mein Mädchen, und Weidmannsdank!« Das war sein Abschiedsgruß gewesen.
Nun hatte also Muttchen Friedel für die Dauer seiner Abwesenheit zum Rechten zu sehen.
Wie ein Bienchen surrte sie durch Haus und Hof, ordnete hier und schlichtete dort, lobte und tadelte, alles in richtiger Folge am rechten Ort. Und sie hatte doch immer Zeit für ihr Kind, das dalag und ihr entgegenlachte, so oft sie kam.
Jetzt eben im Dämmern hatte sie ihre Geige vorgeholt. Fee liebte es, wenn sie ihr dann, vorspielte, und allabendlich zogen die goldklaren Töne über den Park von Rödershof, stiegen durchs Ätherblau himmelwärts, drangen durch Wolken und teilten sie. Immer nach oben strebten die Töne und hoben die Herzen derer mit, die sie hörten.
Nur einer der Hörer war nicht völlig einverstanden. Leise meckerte das weiße Böckchen, das Fee damals aus den Flammen gerettet hatte.
Es war ihr ein lieber, drolliger, kleiner Gefährte, und durfte oft an ihrem Lager sein.
Jetzt hob es sich auf den Hinterbeinen und legte die Vorderfüße auf Fees Bett. Es schnupperte, sah die Kranke mit dem neugierigen Geißengesicht an und meckerte leise und jämmerlich. Muttchen Friedels Geigenspiel war sichtlich nicht nach seinem Geschmack.
Fee sagte ein paar kosende Worte und streichelte das Tier leise. Da legte es sich befriedigt wieder auf dem weißen Fell neben ihr zurecht.
Lu und Li, die in einer Zimmerecke dicht zusammenhuschelten, hatten bei der Unterbrechung gekichert und das Tierchen zu locken gesucht: »Snowy! Komm!«
So hatte nämlich Fee den kleinen Schneeweißen getauft.
Aber Snowy regte sich nicht. Ihm war am wohlsten bei der sanften Herrin; Lu und Li konnten beim Spiel derb zausen.
Auch Muttchen Friedels Geigentöne fochten das Böcklein nun weiter nicht an. In goldener Klarheit triumphierten sie.
Und noch andere Ohren hörten sie.
»Horch, Muttchen spielt, Lutz!«
»Wird die Augen machen, Fritz!«
»Je ja, du, aber –«
»Banghase!«
Mit gesenktem Kopf rannte Fritzchen Lutz an? Snowy, das Böckchen, hätte es nicht besser machen können.
»Selber, du, selber!«
»Was selber? Ich fürcht' mich nicht.« Lutz stand wie ein Held.
Auch Fritzchen raffte alle Heldenhaftigkeit, die in ihm steckte, zusammen.
Mit hochgehobenen Köpfen gingen die zwei über die Steinbrücke, durch die Wiesen, über die Freitreppe, bis dicht an die Tür, dahinter Klein-Muttchens Geigentöne klangen.
Da hielten sie und atmeten tief auf.
Lutz sah Fritz höhnisch an. Da hatte Fritzchen schon die Türklinke in der Hand und der Türspalt klaffte.
»Wart, du,« sagte nun Lutz doch eilig, »ich muß erst –«
Aber es war zu spät. Fritzchen stand schon in der offenen Tür.
»Guten Abend,« sagte er. Nicht sehr frisch klang es, ein bißchen benommen, ein bißchen verstört.
Muttchen Friedels Geigengesang riß ab mitten im besten Schwung.
Wortlos, versteinert starrte sie auf die beiden dort in der offenen Tür.
»Guten Abend,« sagte nun auch Lutz und machte etwas umständlich die Tür zu. »Wir – wir wollten einmal Fee besuchen. Und – und – da sind wir.«
»Das seh' ich,« sagte Muttchen Friedel trocken. »Kommt einmal daher, dicht – ganz dicht – so! Ausgekniffen, he?«
Die beiden schluckten, stotterten, stammelten und ließen die Köpfe hängen.
»Pfui!« sagte Muttchen Friedel sehr energisch. »Pfui! Eurem guten Vater solche Schande zu machen!«
Aber dann mochte ihr die Erinnerung an irgend ein Erlebnis ihrer eigenen Jugend kommen, sie wurde plötzlich weich, tat die Arme weit auf und sagte: »Lutzi! Fritzel! Wie konntet ihr – konntet ihr Muttchen so wehe tun!«
Aufgeregt, wild schluchzend hingen die beiden Sünder nun an Muttchens Hals und dann kam die Beichte.
»Ein ›ungenügend‹ im Proloko, Muttchen! Und so ungerecht, Mutti! Der Stieler hatte sicher mehr Fehler, der Stieler ist so dumm! Und der hat ›ziemlich‹! So was brauch' ich mir nicht gefallen zu lassen! Er soll's schon sehen, der Professor. Was kann ich dafür, daß die Zeit so knapp war, Muttel! Ich hab' den Drachen machen müssen, ich hab's versprochen, Muttchen, und sein Wort muß der Mensch halten. Was, Mutti?« So Lutz unter Tränen.
Muttchen Friedel nickte. »Sein Wort muß der Mensch halten, Lutzi. Und Fritzel?«
Nun, der war anscheinend mitgelaufen.
»Wir – wir wollten doch auch Fee mal sehen,« sagte er scheu stotternd und stieß Lutz in die Rippen.
Der nickte. »Ja, das wollten wir, natürlich.«
»So sagt eurer Schwester guten Abend, Jungen. Hier, da ist sie.«
Muttchen Friedel war so seltsam, so unerwartet ruhig. Es bedrückte Lutz und Fritz mehr noch als ein derber Erguß. Sehr still schlichen sie zu Fee hinüber.
»Lutz, Fritz,« sagte die weich, »Lutzi, Fritzel, wie konntet ihr so etwas tun!«
Lutz und Fritz hatten plötzlich die Fingerknöchel in den Augenhöhlen.
»Lu,« sagte Muttchen Friedel nun und zwar sehr hell und fest, »hol mir mal den Fahrplan. Du, Li, sagst Anna, daß sie Butterbrot und Fleisch zurechtstellt. Auch Milch, und meinethalben auch ein paar Eier.«
Lutz und Fritz spitzten die Ohren: ›der Fahrplan‹, das klang bedenklich. Was Klein-Muttchen Li auftrug, beruhigte sie aber wieder. Irgendwie tauchten die biblischen Bilder vom verlorenen Sohn und dem geschlachteten Kalb vor ihres Geistes Augen auf.
Gleich darauf erschien Lu wieder und reichte den Fahrplan. Muttchen Friedel blätterte drin und begann zu lesen.
»Hm,« sagte sie nach einem Weilchen, »es ist, wie ich mir dachte: um acht geht ein Zug, halb elf kann man an Ort und Stelle sein.« Sie schaute nach ihrer Uhr. »Eben ist's sieben. Lu, Johann soll sofort anspannen. Ich mache mich gleich fertig. Lutz, Fritz, geht essen! Hungrig sollt ihr nicht aus eures Vaters Haus gehen. Li, nimm die beiden mit!«
Lutz und Fritz umklammerten ihre Kniee und heulten: »Muttchen! Muttchen! Laß uns bleiben! Wir wollen auch nie wieder Streiche machen! Nur daheim sein, Muttchen! Bei dir!«
Es blitzte etwas verdächtig in Muttchen Friedels Augen, aber ihre Stimme blieb fest.
»Kein Wort weiter! Lutz, Fritz, Order pariert!« Und sie wies nach der Tür.
Lutz und Fritz zogen zerknirscht ab. Li nahm an jede Hand einen. Früher hätten sie ausgeschlagen wie die Fohlen bei solcher Kleinjungenbehandlung von Li. Heute fanden sie einen dankbaren Blick dafür.
»Muß es sein, Muttchen?« fragte Fee weich. »Wäre nicht morgen früh –?«
Aber Muttchen Friedel wischte rasch die Tränen weg und sagte fest: »Auf der Stelle müssen sie fort, nur das macht Eindruck.« Aber dann wurde auch sie weich. »Arme Kerlchen, das haben sie nämlich von mir, Fee, ich –« Da erblickte sie Lu. »Lu, du stehst mir dafür, daß es Fee an nichts fehlt. Mit dem ersten Zug morgen früh komm' ich zurück. Ich stülpe mir nur jetzt den Hut über und krame mein Nachtzeug zusammen. Gott befohlen, Kinder! Tu mir die Liebe, Fee, und schlafe gut. Ich kann nicht anders, Kind.«
»Ich weiß, Muttchen, und ich bin stolz auf dich!«
»Danke, nicht Ursache,« sagte Muttchen Friedel trocken, machte ein sonderbares Gesicht und ging zur Tür. Johann knallte schon sehr nachdrücklich mit der Peitsche.
Die beiden armen Sünder stopften währenddem unter Lis Aufsicht in den Magen, was hineinging. Lu hatte sich dazugefunden und packte noch einen Vorrat zusammen.
Lutz und Fritz schluchzten hie und da auf, waren aber im ganzen gefaßt. Dem Muß gegenüber beugten sie sich.
Nur zuweilen blinzelten sie scheu nach den Schwestern. Die waren auch ganz anders als früher, so gut und so freundlich, keine Spur von Hohn oder Schadenfreude wie sonst. Dankbar blickten Lutz und Fritz drein, es tat ihnen so wohl!
Als Muttchen Friedel dann unter der Tür erschien und rief: »Flink, es ist die allerhöchste Zeit!« – da hoben sie wie auf Verabredung die Gesichter und ließen sich von Lu und Li auf den Mund küssen. Ja, Fritzchen verstieg sich zu dem Versprechen: »Ihr kriegt auch meine Versteinerung, Lu, Li; holt sie euch nur aus unserem Zimmer. Ich kann sie ja jetzt doch nicht haben.«
Diese »Versteinerung«, der Abdruck einer Muschel in einem Stück Kalkstein, war Fritzchens höchster Stolz.
Lu und Li wußten die Ehre kaum gebührend zu würdigen; wenigstens hatte Fritzchen einen etwas heftigeren Freudenerguß erwartet. Er schob es dann in Gedanken auf den Drang und die Eile der Abfahrt.
Dann aber versank alles andere, denn sie saßen neben Muttchen Friedel im Wagen und die Pferde liefen Trab. Sie konnten's nicht eilig genug haben, die zwei armen Sünder wieder dahin zu befördern, woher sie kamen.
Die Heimat stieß sie aus, hatte keinen Raum mehr für sie! Etwas wie Trotz und Bitterkeit wollte in Lutz und Fritz aufsteigen.
Muttchen Friedel sah es. Sie las in den jungen Gesichtern, in den jungen Seelen, als ob sich ein Buch vor ihr auftue.
»Lutzi,« sagte sie, »Fritzel, glaubt ihr denn, daß mir dies leicht wird? Ich strafe mich genau so hart, wie ich euch strafe. Euer Muttchen hätte ihre Jungen doch viel lieber bei sich, viel lieber, glaubt's nur. Genau so lieb hat sie ihre Jungen, wie die ihr Muttchen lieb haben, Lutzi, Fritzel. Aber ihre Pflicht muß euer Muttchen tun, eben weil sie euch so lieb hat. Und daß ihr sie lieb behalten könnt auch später, wenn ihr groß seid! Daß ihr nicht sagen müßt: da und da hätte Muttchen strenger sein sollen; unser Muttchen war eben schwach, sonst wären wir andere Menschen geworden, bessere. Und gute Menschen wollt ihr doch werden, Lutzi, Fritzel? Menschen, wie euer Vater einer ist und –«
»Und wie du, Muttchen?«
»Muttchen, und wie du!«
Stürmisch umklammerten sie ihr Muttchen.
Muttchen Friedel lieferte dann zwei sehr reuige Sünder dem Professor aus.
Der hatte nach vergeblichem Warten eben telegraphieren wollen. Eine Last fiel ihm von der Seele, als er die Flüchtigen sah. Muttchen Friedel stand nicht minder zerknirscht vor ihm als ihre Jungen.
»Verzeihen Sie ihnen noch einmal, Herr Professor, mir zuliebe! Ich bürge für die zwei.«
Die glühend dankbaren, schier begeisterten Blicke, die sie von ihren Jungen dafür erntete!
Die Liebessaat, die Muttchen Friedel heute gestreut hatte, trug reiche Frucht.
Der Professor hatte im Laufe der Zeiten, abgesehen von den Normal-Jungenunarten, über Lutz und Fritz nicht viel mehr zu klagen.
Muttchen Friedel aber zog ihres Weges heim, ein bißchen erstaunt über sich selber, im ganzen aber recht zufrieden mit sich. Sie allein wußte, was diese Selbstüberwindung sie gekostet hatte.
»Arme Kerlchen,« sagte sie immer wieder vor sich hin, lachte ein bißchen und hatte dabei nasse Augen. »Was Klaus sagen wird, wenn er kommt? Ob er mit seinem Weib zufrieden ist? Was er jetzt wohl tut?«
Ja, wenn man das immer wüßte, wo zwei, die zusammengehören, nicht beieinander sind!
Wenn Muttchen Friedel gewußt hätte –
So früh, wie geplant, war's doch nicht, als sie wieder daheim anlangte. Den allerersten Zug, den sie hatte nehmen wollen, hatte sie – verschlafen. Er ging auch schon kurz vor sechs Uhr und sie hatte gestern einen erregenden Tag gehabt.
Dazu hatte der Hausknecht des Hotels den Auftrag zu wecken reineweg vergessen. So lag Muttchen Friedel und schlief.
Kein Grämen half dann beim Erwachen und kein Ärger. So lachte Muttchen Friedel lieber der Sonne ins Gesicht.
»Sie werden sich ja daheim nicht sorgen! Und daß bei Fee alles zum rechten geschieht, darin kann ich mich auf Lu und Li verlassen, das weiß ich! Alles andere hat Zeit!«
So fuhr Muttchen Friedel vergnügten Sinnes in den goldenen Septembertag hinaus. Als Loberg sich näherte, streckte sie den Kopf durchs Fenster, schon als man erst von weitem die Station sehen konnte. Ihr war, als sei sie wunder wie lang von daheim fort gewesen. Dort, in der Richtung des waldigen Taleinschnitts lag Rödershof. Einen leuchtenden Blick warf Muttchen Friedel dahin.
Dann fuhr der Zug ein.
Doch, was war das? Da standen ja Lu und Li! Und machten so seltsame Gesichter! Sah Frau Friedel recht?
»Was gibt's, Lu, Li? Daheim ist doch alles in Ordnung?« fragte sie erregt, als sie vor ihren Töchtern stand, und faßte jede bei einem Jackenknopf.
»Fee ist völlig wohl, Muttchen, nur – bloß –« Lu stockte.
»Nur – bloß –« Li kam nicht viel weiter.
Da drängte Muttchen Friedel nach einer etwas klareren Auskunft.
»Wollt ihr reden, Lu, Li! Ist euch die Zunge am Gaumen festgewachsen? Heraus, was gibt's?«
Wie sie das heraussprudelte! Friedel Polten, als sie noch Papas Junge war, hätte es nicht besser gekonnt. Dazu drehte sie noch immer an Lu und Lis Blusenknöpfen.
Lu und Li machten große Augen.
»Je, Muttchen –«
»Ja, eine Depesche ist gekommen –«
»Eine Depesche, ja, von Väterchen, und –«
»Ja, und da steht drin –«
»Steht drin –«
Muttchen Friedel wurde mit einem Male bedenklich blaß und stützte sich auf Lu.
»Vater ist–ist –?« Die Stimme wollte nicht klingen wie sonst.
»Ein kleiner Unfall hätte ihn betroffen, steht in der Depesche, Muttchen.«
»Ein kleiner, Muttchen!«
»Und der Wagen soll zu der Bahn.«
»In ein paar Minuten kommt der Zug an!«
»Und da meinte Fee –«
»Ja, Fee meinte, wir sollten beide zu dir, denn –«
»Denn Fee sorgt sich um dich, Muttchen. Du solltest doch ja recht tapfer sein.«
»Und da habt ihr – habt ihr das Kind allein gelassen?«
Muttchen Friedel stand ihrer Ältesten nicht nach, sie dachte nicht zuerst an sich.
»Tante Lenchen kam sofort. Li war auf Pfeil dort, ehe wir fuhren.«
Da brach die Not in Muttchen Friedel durch.
»Euer Vater – euer Vater, Lu, Li, was kann es sein?«
Sie kosten und streichelten an Klein-Muttchen herum.
»Ein kleiner Unfall, Muttchen.«
»Muttchen, ein kleiner Unfall.«
Frau Friedel aber behielt ihre entsetzten Augen.
»So depeschiert man auch, wenn einer beinahe den Hals gebrochen hat. Ich – Klaus – Klaus –«
Eben wollten die Tränen kommen, da nahte der Zug, und Muttchen Friedel reckte sich auf von innen und von außen. Sie war mit einem Male wieder still und fest.
»Fee hat zwei Leute mitgeschickt, wenn Vater –«
»Ja, wenn Vater –«
»Das ist gut,« sagte Muttchen Friedel kurz und knapp. »Man kann ja nicht wissen, ob er nicht – ob er nicht getragen werden muß.«
Da brauste der Zug heran, bremste und hielt.
Herr von Ellern – er war mit von den Jagdgästen gewesen – stand an einem Fenster und winkte.
Wie hingeweht standen da Muttchen Friedel, Lu und Li vor ihm.
»Was – was ist –?«
Seinem allzeit fidelen, roten, runden Gesicht ließ sich schwer ein gewisser Ernst aufzwingen. So strahlte er denn eigentlich wie gewöhnlich, als er Muttchen Friedel zurief: »Ein Streifschuß, Frau Friedelchen, nur keine Angst! 'n büschen Aderlaß, sonst nischt. Wollte nur um jeden Preis heim, der Herr Gemahl, was ich ihm auch nachfühlen kann.«
Bis dahin war's ganz der alte Herr von Ellern. Dann sah er Frau Friedels blasses Gesicht und entsetzte Augen.
Er riß die Tür auf, kletterte eilig herunter mit den kurzen Beinen und haspelte dabei: »Auf Ehre, Frau Friedel, auf Ehre! Keine Spur von Gefahr! Sie können sich selber überzeugen. Da sitzt er quietschfidel und kerngesund eigentlich. Die Kugel ist schon heraus! Na also! Tag, lütt Kroppzeug.«
Das galt Lu und Li. Aber weder die, noch Muttchen Friedel hatten heute Auge oder Ohr für den alten Freund. Sie drängten sich an der offenen Wagentür. Ganz so rosig, wie Herr von Ellern die Sachlage schilderte, war sie offenbar nicht.
Da sah Klaus von Rödern allerdings aufrecht und lachte ihnen entgegen. Aber er war recht blaß und auch seine Stimme klang matt, als er jetzt sagte: »Da bin ich, Friedelchen, erschrick nicht! Ich wollte doch gleich heim, siehst du. Der nächste Zug – du – der Doktor –« Er kam doch nicht so recht vorwärts.
»Sag gar kein Wort, Klaus! Das wollen wir gleich haben.« Muttchen Friedels Stimme klang hell und froh, es ging was Belebendes von ihr aus. Lu und Li sahen erstaunt auf, waren sie doch Zeugen der Not vorher gewesen.
Muttchen Friedel winkte den beiden Leuten, packte selbst an, und bald darauf saß Klaus von Rödern in dem Wagen, schwindelig, matt, aber geborgen. Er hielt seines Weibes Hand in der seinen und drückte sie zuweilen. Dann nickte sie ihm jedesmal sonnig lächelnd zu.
»Das wollen wir bald haben, Klaus. Johann, fahren Sie mal bei Doktor Mühren vor, wir nehmen ihn gleich mit. Lu und Li, ihr trabt dann gefälligst zu Fuß, Vater kann solche Übervölkerung jetzt nicht vertragen. Aha, da sind wir!«
Man hielt am Doktorhaus. Doktor Mühren war daheim und frei, mitzukommen. Er stieg in den Wagen und schüttelte Klaus von Rödern die Hand.
»Scheint ja Jagd auf edles Wild bei dem Niedernhausener gewesen zu sein, Herr Baron? Sie müssen die Kosten selber am Leibe tragen.«
»Ein Streifschuß bloß, Doktor, na ja, das heißt, glatt durchgerutscht. Der Niedernhausener selber war's. War ihm schrecklich, natürlich, kann aber nichts dafür. Ich bin selber schuld, hab' im Eifer die Schützenlinie durchbrochen! Es war 'n famoser Bock und –«
Klaus von Rödern mußte mit einem Male still sein, denn Muttchen Friedel hielt ihm den Mund zu.
»So! Geredet wird hier nicht, Klaus, sondern Order pariert und stillgeschwiegen. Wer 'n Loch im Leib hat, der tut den Mund nicht auf, sonst gibt's 'nen Durchzug, und der ist allemal ungesund, Was, Doktor?«
Der lachte. »Fixe kleine Frau, die Frau Baronin,« sagte er.
Muttchen Friedel sah zum Wagenschlag hinaus.
»Lu, Li, wartet auf Herrn von Ellern und dankt dem noch einmal, daß er Vater gebracht hat. Ich hab's, glaub' ich, eigentlich verschluckt. So, und nun los, Johann, was die Pferde hergeben. Der Herr muß endlich zu seiner Ruhe kommen.«
Ein ängstlicher Blick streifte nun doch Klaus von Rödern, der mit geschlossenen Augen in seiner Ecke lehnte, und dann des Doktors Gesicht. Der nickte ihr aber zu, beruhigend und tröstend. Da faltete Muttchen Friedel die Hände ineinander und saß still und aufrecht.
Von Zeit zu Zeit machte ihr Mann die Augen auf und sah sie an. Da nickte sie ihm jedesmal so vergnügt zu, als ob sie zu einem Feste führen, und sagte: »Weil du nur da bist, Klaus! Alles andere ist Nebensache, die Wunde erst recht!«
»So 'n tapferes Weibchen,« sagte später Doktor Mühren, als er seiner Frau davon erzählte. »Sie wußte doch gar nicht, wie die Sache ablaufen würde! Eine andere hätt' geweint und gezetert und dem Mann auch noch den Kopf toll gemacht. Die da – alle Achtung!«
Zum Weinen und Zetern, selbst wenn Muttchen Friedel ihrer Not so hätte Ausdruck geben wollen, war glücklicherweise keine Veranlassung. Die Wunde erwies sich wirklich als so harmlos, wie Herr von Ellern sie hingestellt hatte.
Der wollte am Nachmittag wieder zur Jagd zurück. Lu und Li erzählten es und brachten noch Grüße von ihm.
»Es war also bloß ein Liebesdienst, daß er den Vater brachte, und ich hab' ihm nicht mal richtig gedankt,« sagte Muttchen Friedel reuevoll, »aber jetzt sorge für frisches Eis, Li, da nimm die Schüssel! Und Lu geht zu Fee, ich komme gleich nach. Für den Doktor muß ein Frühstück bereit gemacht werden; kümmere dich drum, Li.«
Ja, es gab alle Hände voll zu tun auf Rödershof. So leicht die Wunde war, etwas Fieber stellte sich doch ein. Klaus von Rödern mußte sich sehr ruhig halten, und wurde von Doktor Mühren unerbittlich ins Bett geschickt trotz allen Widerredens und Sträubens.
Zwei Krankenlager also! Aber eines sollte dem anderen nicht Abbruch tun, das war Muttchen Friedels Ehrgeiz.
Sie surrte und purrte herum wie ein Bienchen, emsig und eilig, war oben und unten, hüben und drüben; und wo eine faulenzte oder tratschte, stand Muttchen Friedel mit einem Male dahinter. Es ging alles seinen geregelten Gang auf Rödershof, trotz des Hausherrn Krankenlager.
Auch Lu und Li wurden in Atem gehalten! Da gab's nicht Zeit für Langeweile. Auf, ab und wieder auf! Ein Glück, daß sie junge Beine hatten!
Ihren zweiten Kranken bettete Muttchen Friedel ins Zimmer neben dem, wo Fee lag. Wenn dann die Tür dazwischen offen stand, konnten die beiden sich unterhalten. Das war eine große Beruhigung für Muttchen Friedel, wenn die auf der Fahrt vom Giebel zum Keller war, die Wirtschaft im Gang zu halten.
Wenn sie dann bei ihren Kranken eintrat und sagte: »Fee, Kind, jetzt hab' ich endlich Zeit,« da jammerte es aus dem Nebenzimmer: »Und an mich denkst du gar nicht! Ich lieg' da allein und warte und warte!«
»Und ich?« fragte Lu, die an Vaters Bett saß.
»Ich war doch bei Fee,« sagte Li vorwurfsvoll, »allein ist sie nicht.«
»Ohne Muttchen ist man immer allein,« sagte Vater Klaus überzeugt, ohne Rücksicht auf Lus und Lis Gefühle.
Fees Augen gestanden dasselbe, aber sie haschte dabei nach Lis Hand. Die wollte sehr zurückhaltend tun und die Gekränkte spielen, aber der Schelm, saß ihr in den Augen.
»Mit Klein-Muttchen gibt's eben keine Konkurrenz, Lu, was? Wir müssen die Hoffnung schon aufgeben, je zu unserem Recht zu kommen.«
»Ja, wir haben's schwer,« seufzte Lu brunnentief. »Unsere Tugend bleibt ungeschätzt, ungelohnt! Die Welt ist blind und ungerecht!«
»Eulenspiegel,« sagte Muttchen Friedel ungerührt. »Lauf mal flink, Lu, sag dem Johann, daß der Dünger heute noch hinaus muß, ich fürchte, das Wetter schlägt um. Du, Li, sieh nach dem Käse, die Webern wird ihn wenden müssen. Vorwärts, marsch!«
Die beiden wollten die Nasen rümpfen: »Wohlriechender Auftrag, Dünger und Käse!«
Aber Muttchen Friedel scheuchte sie, daß sie lachend davonstoben.
Dann warf sie sich auf den Stuhl an Vater Klaus' Bett. »Es ist eine Last mit der Landwirtschaft, Klaus! Soll einer an Dünger und Käse denken, wenn ihm so gar nicht danach ist!«
»So laß den Dünger, Friedelchen, und den Käse auch! Wenn ich erst wieder gesund bin –«
»Du bist ein schlechter Pädagoge, Klaus, trotz all der glänzenden Erziehungsresultate bei mir! Verwöhnen taugt nicht! Klaus und Dünger und Fee und Käse, alles kann sein Recht haben, wenn man bloß – na ja, Klaus, brauchst nicht zu lachen über die Zusammenstellung, das bringt nun mal das Leben so mit sich!«
Aber es kamen auch wieder bessere Tage.
Bis Ende Oktober hatte Vater Klaus sich mit seiner Wunde, Muttchen Friedel mit Dünger und Käse und derlei Alltagssorgen herumzuschlagen. Dann konnte Vater Klaus die Zügel wieder in die Hand nehmen, und alles ging seinen alten Gang. Und Muttchen Friedel konnte sich wieder völlig ihrer Ältesten widmen.
Sie saß an deren Lager. Jetzt waren die drei Fenster geschlossen, mit Nebel verhängt die kahlen Parkbäume und der Himmel darüber. Dafür huschte ein traulicher Flammenschein vom Kachelofen her über die maigrünen Wände.
Muttchen Friedel hatte die Hände ineinandergeschlungen, saß und träumte. Auf ihrem Schoß lag ihre Arbeit, Strümpfe zu flicken. Weit ins Zimmer waren Knäuel und Stopfei gerollt.
Fee las vor, Juniperus von Scheffel. Und die Erzählung des Kreuzfahrers, schlicht und rührend, zauberte so viele Bilder vor Muttchen Friedels Geistesauge, daß sie der Strümpfe drüber vergaß.
Eben schloß Fee: »Und also lief des Juniperus Weg vom Berg Neuenhewen im Hegau zum Berg Carmel im gelobten Lande.«
Da kam Muttchen Friedel zu sich.
»Schön,« sagte sie, »schön!« Dann sah sie sich um.
Fee schaute mit glänzenden Augen in den Nebel; sie war auch noch auf dem Berg Carmel im gelobten Lande.
Lu und Li aber – die saßen nämlich auch dabei und sollten Strümpfe flicken und Scheffel hören – sie sahen starr und gelangweilt und so gramvoll, als es ihren hellen jungen Gesichtern möglich war, ins Nebelgrau.
»Lu, Li,« rief Muttchen Friedel lachend. »Wo drückt euch denn der Schuh? Macht doch nicht solche Eulenaugen, Mädel! Sind die da daran schuld?« Lachend wies sie nach den Strümpfen.
Aber Lu und Li lachten diesmal nicht zurück. Im Gegenteil, sie seufzten und zwar abgrundtief.
»So langweilig ist's,« sagte Lu.
»Gräßlich, ja,« bestätigte Li.
»Der Juniperus? Schämt ihr euch nicht?«
»Ach der?« sagte Lu. »Ich habe gar nicht viel davon gehört. Nee, alles!«
»Ja, alles,« echote Li, »alles ist langweilig.«
Muttchen Friedel hatte sich die beiden scharf aufs Korn genommen. »Hm!« sagte sie dann und sann ein Weilchen. »Langweilig ist man immer bloß selber, Lu, Li. Da, flickt Strümpfe, dann kommt ihr auf andere Gedanken.«
»Hm!« brummten jetzt Lu und Li ihrerseits, griffen nach den Strümpfen und ließen die Köpfe hängen.
Muttchen Friedel behielt sie danach im Auge, sagte aber nichts mehr.
»Klaus,« sagte sie am Abend zu ihrem Gatten, »ich hab' mich zu wenig um die beiden gekümmert, siehst du. Die lassen plötzlich die Ohren hängen. Ich muß mir was ausdenken für sie. Sie haben auch ein Recht an mich und meine Sorge, so gut wie du, Klaus, und Fee und die beiden armen Kerlchen draußen in der Verbannung.«
»Und Papa und Tante Lenchen. Armes Weib!« antwortete Vater Klaus mit froher Miene. »Du hast so viel zu sorgen!«
Sie blieb ernst. »Zu spotten brauchst du schon gar nicht, Klaus! Arm bin ich nicht, denn wer viele Lieben hat, der tat viel zu lieben, siehst du.«
»Das ist logisch,« warf er ein, »alle Achtung!«
Sie ließ sich nicht stören. »Das macht mir also keine Sorge. Bloß – ich möchte eben meine Pflicht bei euch allen tun, Klaus. Wem viel gegeben ist, von dem wird viel gefordert.«
Er sah ihr in die großen, grauen, ernsten Augen und wurde ebenfalls ernst.
»Mein Weib,« sagte er, »mein tapferes, gutes Weib!«
»Lu, Li,« sagte Muttchen Friedel anderen Morgens, als die den Frühstückstisch abräumten. »Nach Tanz und Hopphei wie letzten Winter steht uns ja wohl allen nicht der Sinn, wenn wir an Fee denken. Ich meine drum nicht, daß ihr den Mund nicht auftun sollt; es kommen schon wieder andere Zeiten für euch, denn jeder lebt sein Leben. Aber jedes Ding will sein Recht, auch der Ernst, Lu, Li! Sich dem entziehen wollen, wäre Leichtsinn und der ist allemal nichts nutz! Doch leichten Sinn sollt ihr haben und froh sein und froh machen. Ich will euch dazu helfen. Eine Pflicht muß der Mensch haben und sie erfüllen, das allein macht froh, glaubt's eurem Muttchen; das hat's am eigenen Leib erfahren, denn das war einmal wie ihr, ganz wie ihr, Lu, Li!«
Sie hatten Muttchen Friedel schon längst von beiden Seiten umfaßt und drängelten und streichelten, daß sie sehr in die Enge und außer Atem kam.
»Uff, Luft, ich ersticke! Laßt mir bloß den Kopf auf den Schultern, ihr Rangen! Na also, da hab' ich mir ausgedacht: du, Lu, besorgst die Küche, und du, Li, die Milchkammer. Nicht bloß so drüber her geguckt, sondern richtig angepackt mit der Verrechnung und allem. Euer Muttchen setzt sich einfach auf das Altenteil und läßt sich's wohl sein. Jede Woche wird gewechselt, und wo Lehrgeld gezahlt werden muß, wird's ohne Brummen getan. Ist's euch recht so, Lu, Li?«
»Muttchen! – Unser Muttchen!« jubelten Lu und Li.
»Hier die Wirtschaftskasse, Lu; da die Milchkasse, Li! Und nun seht, wie ihr zurechtkommt.« Muttchen Friedel machte sofort Ernst.
Da wurde es Zu und Li doch ein bißchen bange.
»Was wird der Vater dazu sagen, Muttchen?«
»Er denkt wie ich.«
»Aber du hilfst uns, Muttchen?«
»Wenn ihr einen Rat braucht, wißt ihr, wo er zu finden ist.«
»Können wir jede eine Wirtschaftsschürze bekommen, Muttchen? Ich hänge dann den Schlüsselbund daran, das macht sich so nett, und ich hab' ihn immer gleich zur Hand.« Lu war in glühendem Eifer.
»Schade, daß die Milchkammer nur einen Schlüssel hat,« meinte Li und drehte sich um sich selber. »Ich weiß aber etwas; den hänge ich an ein rotes Band, das sieht dann fein aus.«
Muttchen Friedel lachte. »Das wäre natürlich das wichtigste! Doch nun geht zu Lene und Mamsell, die wissen schon Bescheid. Auch seid rücksichtsvoll, hört ihr; beide sind treue alte Seelen. Sie bringen ein Opfer, wenn sie sich mit euch abgeben, das bedenkt! So 'n Lehrjunge ist allemal eine Plage für den Meister! Nun fort, es ist allerhöchste Zeit für den Küchenzettel, Lu! Li, heute wird Butter gemacht werden müssen, flink!«
Sie waren bereits bis an die Tür gelaufen.
»Und, Kinder, noch eins! Ich denke, ein Ritt alle Tage wird uns allen sechsen gut tun, Muttchen Friedel, Lu, Li, Grane, Pfeil und Unverdrossen. Solcherweise können wir auch zuweilen in die Stadt und –«
Sie kam nicht weiter, Lu und Li hingen ihr am Halse und erwürgten sie fast.
»Muttchen! Solch ein Muttchen!«
»Jetzt hab' ich's aber satt. Eben schlägt's neun! Fort, fort!«
Da flogen sie wirklich zur Tür hinaus. Muttchen Friedel sah ihnen nach, lachte ein bißchen und nickte vor sich hin: »Wird ja wohl das rechte so sein.«
Dann ging sie zu ihrer Ältesten und erzählte. Die haschte nach ihrer Hand und legte das weiche Gesicht hinein.
»Klein-Muttchen,« sagte sie leise, »solch ein kluges, kluges Muttchen!«
Frau Friedel wurde es warm ums Herz, warmer, als wenn der Kaiser ihr einen Orden geschickt hätte.
Danach gab's viel fröhliches Leben und Sichregen, viel Lachen und viel laute Lust in Küche und Milchkeller auf Rüdershof. Es erinnerte an die Zeiten, da Papas Junge in Dresdorf von der Küchenbabette in ein gesittetes Mägdlein umgelehrt werden sollte. Lu und Li hatten zwar niemals Einzelheiten von jener Zeit erfahren, das hatte Muttchen Friedel sich von ihren Lieben versprechen lassen. Aber Lu und Li waren eben Friedel Poltens Töchter, da lag es im Blut.
Nur Papa Polten war mit diesem Feldherrnmeisterstück, wie Vater Klaus und Fee Muttchen Friedels Plan in Bezug auf Lu und Li nannten, nicht einverstanden. Als Muttchen Friedel, Lu und Li am Abend des ersten Tags dieser neuen Lebensordnung auf Grane, Pfeil und Unverdrossen mit Hallo auf Dresdorf angeritten kamen und davon erzählten, brummte er: »Alberner Frauenzimmerkram! Hätte Jungchen für klüger gehalten! Kann so'n Zugestutze nicht ausstehen! Hab' mein Vergnügen an den beiden Unbänden gehabt! Jetzt – natürlich – ich wette, daß die Lene dahintersteckt und –«
Tante Lenchen war sehr gekränkt über diesen Verdacht. Muttchen Friedel aber fuhr dem alten Herrn in den Silberbart wie vor Alters und zauste ihn tüchtig.
»Gebrummt wird hier nicht, Papa, verstanden? Tante Lenchen hat mit der ganzen Sache nichts zu tun; ich hab's allein ausgeheckt. Lu und Li sollen doch auch brauchbare Menschenkinder werden.«
»Was brauchen die zu kochen und zu buttern! Pfeif' ich drauf! Basta.«
»Wenn wir doch selber mal 'ne Wirtschaft haben, Großvater –«
»Aber wir heiraten doch gar nicht, Lu!«
»Weiß ich, Li, ich sag' auch bloß, wenn –«
»Also heiraten will das Rackerzeug nicht, was?« Großpapa Polten spitzte die Ohren. »Kenn' ich übrigens, hab' ich schon mal vor Jahren gehört, was, Jungchen?«
Muttchen Friedel legte den Finger an den Mund.
»Es ist bloß wegen des Hunde- und Katzenspitals,« sagte Li ganz ernsthaft. »Da wär' 'n Mann doch bloß im Wege, was Lu?«
Die nickte.
Großpapa Polten lachte, daß ihm die Tränen in den Silberbart liefen, und der Friede war wieder hergestellt.
Auf dem Heimweg bettelten Lu und Li: »Klein-Muttchen, ein bissel weiter reiten.«
So machten sie einen Umweg. Statt durch die Wiesen nach Rüdershof, ritten sie die große Landstraße und dann querfeldein auf Seitenwegen durch den herbstlichen Sturzacker.
Da war die Bahnlinie; von Loberg her dampfte just ein Zug heran. Der Schlagbaum fiel, als die drei davor anlangten. So hielten sie und sahen neugierig in die Fenster der vorbeieilenden Wagen. Eins war heruntergelassen, zwei Herren standen daran und spähten eifrig in die Gegend. Der eine wies mit ausgestrecktem Finger nach Dresdorf und Rödershof hin, der andere nickte.
»Das sind sie ja, Lu!« rief Li, und zwar so laut, daß die Herren es hörten.
Sie grüßten, Lu und Li hoben dankend die Reitgerten zum Gegengruß. Der Zug flog weiter.
»Das waren ja eure Freunde, wie Li sagt,« meinte Muttchen Friedel lächelnd.
»Das sind sie auch,« verteidigte sich Li. »Wo die bloß hinreisen?«
»Vielleicht für immer fort,« sagte Lu.
»Du, das wäre!« Li schien tief erschrocken, Lu aber lachte.
»Tust ja, als wäre das ein Unglück, Li!«
»Nee, bloß schade. Sie waren so nett, was, Lu?« Die nickte.
»Wollen Herta fragen. Die besucht diesen Winter die Bälle.«
Zwei tiefe Seufzer, zwei hängende Köpfe.
»Ja, die Bälle,« echote Li leise.
Muttchen Friedel besah sich die beiden genauer; aber die nickten ihr zu, schon wieder kreuzfidel.
» All right, Muttchen! Hoch Küche und Milchkammer, bloß –« sagte Lu.
»Bloß?« fragte Muttchen Friedel.
»Was man nur morgen schon wieder ißt? Könnten wir's nicht so einrichten, daß nur einen über den anderen Tag gekocht wird?«
»Wir sollen uns wohl dir zuliebe das Essen abgewöhnen?« spottete Li. »Mach Hackbraten!«
»Den mußt du aber gern essen, Li!«
»Weshalb?«
»Weil du mir den jedesmal anrätst.«
Li lachte. »Weil ich eben nichts anderes weiß.«
Muttchen Friedel ließ nun ihre Grane Schritt neben Lus Unverdrossen gehen und erteilte sachlich Rat. Li lauschte ein Weilchen und schoß dann auf Pfeil davon.
Nach beendeter Küchenberatung folgten die anderen, und es begann ein scharfes Wettreiten querfeldein, über Sturzacker und Wiesen, mit Hallo und Hussa. Vater Klaus stand am Hoftor, als sie daherstoben, nun Seite an Seite, die drei edlen Tiere mit leisem Zungenschlag immer noch anfeuernd.
»Die wilde Jagd,« schmunzelte Vater Klaus wohlgefällig. »Immer eine flotter als die andere. Man kann weit suchen, bis man so was zum zweitenmal findet!«
Das galt Frau und Töchtern sowohl als den Tieren. Klaus von Rödern war in dem Augenblick nur Sportsmann.
Als die drei ihn sahen, zügelten sie zugleich ihre Tiere, grüßten feierlichst mit den Gerten und umringten ihn.
Doch nun kam in Herrn von Rödern der Gatte und Vater zum Durchbruch.
»Stieben daher wie's Wetter, die drei! Als ob heile Knochen und gesunde Glieder ein Pappenstiel wären! Das nächste Mal schick' ich den alten Johann mit, der mag die Tiere an der Leine führen! Solch 'ne tolle Gattin und Mutter!«
Wie ein gescholtenes Schulkind stand Muttchen Friedel da, aber Lu und Li fuhren auf: »Muttchen kann nichts dafür!«
»Muttchen wollte uns bloß nicht allein lassen!«
»Na ja, das hängt zusammen wie die Kletten,« gab Vater Klaus vergnügt zurück. »Kommt jetzt zu Fee!«
Das taten sie, und nach dem frohen Ritt durch Herbstgrau und Nebel schien der behagliche, vom Feuer durchwärmte Raum doppelt behaglich.
»Am schönsten ist's bei dir, Fee,« sagten Lu und Li und huschelten sich neben Snowy ins weiße Fell an Fees Lager. Snowy bockte gegen sie an und wollte Alleinherrscher bleiben; es half ihm aber nichts, er mußte teilen.
»Wenn ihr das nur immer so fühlt, dann will ich nicht klagen,« sagte Fee. »Ich möchte ja alles tun, was ich kann, daß meine Lieben gern zu mir kommen, weil ich doch nicht zu ihnen kommen kann, seht ihr.«
»Du bist ja unsere Sonne, um die sich alles dreht,« sagte Lu warm, und Li liebkoste dazu Fees Hand.
Muttchen Friedel und Vater Klaus standen an der anderen Seite des Lagers.
Fee wandte sich ihnen zu und lachte leise.
»Hört ihr, was Lu sagt?«
»Sie hat nie was Klügeres gesagt,« bemerkte Muttchen Friedel ernst, und Vater Klaus nickte.
»Ihr verwöhnt mich,« sagte Fee errötend. »Ich bin so glücklich in eurer Liebe! Wie hab' ich die verdient? Beneidenswert bin ich!«
»Fee!« Aus vier Kehlen kam's zugleich, und nasse Augen hatten die, die's riefen.
Fee schaute sie still an. »Ihr meint, weil ich so daliegen muß? Das ist ja wohl nicht leicht; aber eure Liebe ersetzt mir so viel! Ich glaube, all denen, die leiden, ist die verdoppelte Liebe der Umgebung der Ausgleich für das, was sie erdulden. Und ihr gebt mir in so reichem Maß! Nie, nie kann ich das vergelten.«
Im leisesten Flüsterton war's gesagt; niemand antwortete. Sie mochten alle ihrer Stimme nicht trauen. Ein heiliges Schweigen herrschte im Raum.
Endlich kam Anna, das Hausmädchen, mit der Lampe; das brachte den Alltag sofort zurück. Vater Klaus griff zum Buche. Seit die Abende lang wurden, hatte er angefangen, den Seinen vorzulesen, und zwar hatte er recht was Altmodisches gewählt, seinen Liebling, Jeremias Gotthelf. »Uli, der Knecht«, las er, und die Seinen folgten ihm voll Interesse.
Schöne traute Abende waren das auf Rödershof an Fees Lager!
»Ich meine, so vergnügt waren wir voriges Jahr gar nicht trotz des Hoppheis und der vielen Gesellschaften, Li,« sagte Lu, als sie wieder einmal nach einem solchen stillen Abend in ihrem Zimmer waren.
»Na, du, fidel war's dort auch. Wenn ich bloß an den Basar denke! Weißt du noch, Lu? Übrigens, sie sind wirklich fort. Herta sagt's. Nach F... versetzt. Herta sagt auch, es sei schade. Sie waren wirklich nett, die zwei Assessoren! Herta meint's auch.«
»Dann muß es wahr sein,« sagte Lu trocken.
Li gähnte. »Langweilig bist du.« Und dann schliefen die zwei ein. Sie schliefen jetzt immer herrlich, da es so viel treppauf, treppab zu laufen gab mit den Wirtschaftsangelegenheiten.
Weihnachten kam. Vater Klaus hatte Muttchen Friedel zuliebe Lutz und Fritz heimrufen wollen; aber Muttchen Friedel selbst hatte gewehrt.
»Laß sie, Klaus! Es taugt nicht, sie dort herauszureißen! Sie haben Strenge verdient durch ihr Auskneifen. Wir müssen fest sein, Klaus!«
»Solch ein Weibchen,« sagte er und faßte sie beim Ohr. »Solch ein Rabenmutterherz!«
Sie sah ihn erschreckt an.
»Sag das nicht, Klaus! So schwer wird mir's, und, ich strafe mich mehr als die zwei; aber ich will gutmachen, was ich an ihnen verfehlte. Ich möchte meine Pflicht an euch allen tun, Klaus.«
Sie hatte Tränen in den großen, grauen Augen; aber als er sie noch fester umfassen wollte, bekam er einen Nasenstüber und sie machte sich mit einem Ruck frei.
»Klaus, so alte Leute wie wir müssen hübsch vernünftig sein. Geh du mal zu Fee, ich sehe bei Lu in der Küche nach. Dort ist Holland in Not mit dem vielen Gebäck, übrigens, die zwei geben sich redliche Mühe. Die alte Lene und die Mamsell sind des Lobes voll. Sie sagen – und nun lach nicht, Klaus – sie sagen: genau so tüchtig wie ihre Mutter. Und damit meinen sie mich, Klaus, mich, die Friedel Polten selig! Hättst du das je gedacht?«
Über Weihnachten kamen Papa Polten und Tante Lenchen nach Rödershof; Muttchen Friedel bestand darauf.
»Wir müssen alle zusammen sein, nicht bloß für ein paar Stunden, Papa! Ich könnte wegen Fee doch nur ab und zu auf einen Sprung zu euch kommen, siehst du, und da ist es besser, ihr quartiert euch bei uns ein. Du sollst dein Recht nicht verkürzt sehen, Papa.«
»So 'n Jungchen,« sagte der alte Herr gerührt. Und er und Tante Lenchen siedelten also für die Festzeit nach Rödershof über.
Sie konnten gut in Dresdorf abkommen, der neue Inspektor bewährte sich ausgezeichnet. Die neuen Bauten waren fertig, nur eben diese ihre Neuheit erinnerte an den Unglückstag. Sonst lag der Hof stolz und stattlich wie je und der alte patriarchalische Geist herrschte auch unter dem neuen Regiment.
Aber Papa Polten trauerte dennoch seinem treuen alten Möller nach. Der letzte Gang, den er tat, ehe er mit Tante Lenchen zur Festfeier nach Rödershof fuhr, galt des alten Mannes Grab. Dort stand er lange im Schnee, so lange, daß Tante Lenchen zankte, als er endlich kam.
»Erbarm dich, Konrad, und die Gicht?«
Er zuckte bloß die Achseln, brummte etwas wenig Höfliches, das besser unverständlich blieb, und sie fuhren ab.
Der Baum brannte in Fees Zimmer. Die Leute hatten vorher unten im großen Familienzimmer beschert bekommen. Indessen saßen Großpapa und Tante Lenchen bei Fee.
Der alte Mann hatte im Dunkeln des Enkelkindes Hand gefaßt und beugte sich jetzt darüber. Eine Träne fiel darauf.
»Großväterchen?« fragte Fee leise und erschreckt.
»Die Ställe stehen und die Scheunen, Kind, aber du liegst da! Mir drückt's das Herz ab!« Ihm brach die Stimme.
»Erbarm dich – Konrad!« mahnte Tante Lenchen erschrocken. Aber Fee zog den alten Mann dicht zu sich heran und tröstete ihn mit ihrer lieben, weichen Stimme: »Sei stille, Großväterchen! Sieh, ich bin's ja auch. Wenn ihr mich nur lieb habt, das ist mein Leben. Sonst – der liebe Gott ist gut, Großväterchen, er gibt die Kraft zum Leiden, das er über uns verhängt. Drum nicht verzagen, Großväterchen!«
Er schwieg.
Dann huschte Muttchen Friedel herein und Kerzchen um Kerzchen entflammte am Baum. Sie nahm die weißen Tücher fort, unter denen sie die Gaben geborgen hatte, und der Glockenton rief Lu, Li und Vater Klaus.
Da gab's nun ein Bestaunen und Bewundern! Fee war von allen die Frohste. Man hatte ihre Gaben vor sie aufs Bett gelegt. Wie sie sich zu freuen verstand und zu danken!
Tante Lenchen wischte sich heimlich die Tränen. Jede Gabe fast mahnte daran, daß dies junge Leben dem Leiden verfallen war. Weiche Kissen, warme Decken, Tücher, zartfarbene Flanelljacken, spitzenbesetztes Nachtzeug ... Wie anders war dies voriges Jahr gewesen! Ein Blick aber in Fees glückstrahlende Miene tröstete Tante Lenchen. So sah keine Unglückliche aus. Und wie hatte Fee vorhin gesagt? Gott ist gut, und verhängt er ein Leiden über uns, so gibt er Kraft, es zu tragen!
Die Leute kamen nun; sie hatten sich ausgebeten, Fee die Hand drücken zu dürfen. Die hatte für jeden etwas bereit, und ein warmes Wort obendrein.
»Laß uns ein Weihnachtslied singen, Muttchen,« bat Fee.
»Wird's nicht zu viel, Kind?« fragte Frau Friedel besorgt, holte aber dann flink ihre Geige herbei.
»Stille Nacht, heilige Nacht!« Der alte, frohe Weihnachtssang stieg zum Himmel. Über all den Tönen schwoll Fees Sopran, hell, jauchzend, golden klar, eines Engels Stimme.
Manch eines der Weiber faltete die Hände bei den Klängen, manch ein Männerauge streifte scheu und wie verwundert das erdentrückte, strahlende Gesicht des Mädchens auf dem Lager. Wie Ehrfurcht durchwehte es alle.
»Vun der kammer lerne,« sagte ein altes Weiblein mit zahnlosem Mund und nickte still vor sich hin, als sie danach die Treppe hinuntergingen.
»Un ich hab' mich als beschwert, wenn's geheiße hot, schaffe vun Morgens bis Owends.« Dem jungen Weib, die das sagte, liefen noch die Tränen übers Gesicht. »Himmel, was sin eim sein gesunde Glieder wert! Ich sag' nix mehr un wammer die Erwet (Arbeit) iwern Kopp zusammeschläht.«
»Sell is wohr. Sell is gewiß,« nickten die Männer.
»E Engel is se,« sagte eine andere Junge begeistert, und alle nickten zustimmend.
Lu und Li hatten es sich nicht nehmen lassen, das Festmahl unter der Anleitung und Hilfe der alten Küchenlene selbst herzustellen. Ihr Stolz war groß bei dem Lob, das sie ernteten.
»Auch den Küchenzettel, kurz alles haben wir selbst gemacht, Tante. Muttchen hat sich um nichts gekümmert. Sag es selbst, Muttchen; sie glauben es uns sonst nicht.«
Lachend bestätigte es Muttchen Friedel, und Tante Lenchen fühlte sich förmlich gehoben. Ihre Erziehungsmethode trug noch Früchte in der zweiten Generation! Brauchbare Menschen schienen aus Lu und Li zu werden, wie einer aus Bruder Konrads »Jungchen« geworden war mit ihrer, Tante Lenchens, Hilfe!
Ordentlich herausfordernd sah sie um sich, traf aber zuerst des Bruders Augen, die nicht minder herausfordernd auf ihr ruhten.
»Na, Lene, was sagst du nun? Hab' ich nicht immer gesagt: das wird! Jungchen erst und nun das Rackerzeug! Ich laß mir 'n Patent auf meine Erziehung geben, was?«
»Erbarm dich –« wollte Tante Lenchen beginnen, da fiel ihr Blick auf Fee.
Was da in Geduld getragen wurde, war anderes als solch kleiner Alltagskram. So zuckte sie nur still die Achseln, lächelte leise und milde vor sich hin. Selbst ein zweites kriegerisches: »Was, Lene?« des alten Herrn lockte sie nicht aus ihrer Zurückhaltung.
Und dann war auch der heilige Abend vorbei. Die Weihnachtsfesttage vergingen in beschaulichem Frieden mit dem Kirchgang als einziger Abwechslung.
Doch nein, am zweiten Feiertag kamen Tante Lilly Echtern und ihr Mann im Schlitten durch den tiefen Schnee, nach den Freunden zu sehen. Auch sie genossen den stillen Frieden, der von Fee ausging, als sie mit deren Lieben an ihrem Lager saßen.
»Ihr habt's am besten hier, wahrhaftig, Friedel. Wenn ich an all das Getriebe denke! Man besinnt sich kaum auf sich selber und treibt so mit. Der innere Mensch kommt wenig zu seinem Recht, übrigens, Lu und Li, wollt ihr zum Silvesterball kommen? Ich bemuttere euch.«
Lu und Li sahen einander an und wurden freudenrot, dann blickten sie auf Muttchen Friedel, die stumm und erwartungsvoll aufhorchte. Doch dann sahen sie Fee und fast einstimmig sagten sie: »Nein, danke, Tante Lilly, nicht dieses Jahr! Lieber nicht.«
Es war, als ob Muttchen Friedel aufatmete. Strahlend nickte sie den beiden zu, und Vater Klaus fuhr ihnen wie von ungefähr über die braunen Scheitel.
»Meinetwegen doch sicher nicht, Lu, Li,« sagte Fee nun betreten, fast flehend.« »Ihr wißt, daß ich froh bin, wenn meine Lieben sich freuen!«
»Behüte!« sagte Lu, »beileibe!« Li, und dann einstimmig, sehr schnell, als ob sie einen Widerspruch in sich selber zu ersticken hätten: »Wir bleiben lieber daheim.«
Da nickte Muttchen Friedel noch einmal, und Vater Klaus legte noch einmal die Hand fest auf die braunen Scheitel seiner »Rangen«.
Wie beglückte sie dieser stumme Lohn!
Zwar kam dann hinterher noch ein klein wenig Bedauern, denn Lu und Li waren keine Engel. »Aber 's ist besser so, Li,« sagte Lu aus einem Gedankengang heraus Abends vor dem Schlafengehen.
Li nickte. »Wirklich fidel hätten wir doch nicht sein können, Lu.«
Zufrieden mit sich und der Welt, schliefen Lu und Li dann ein.
Gut war ihr Entschluß in jeder Hinsicht, denn am Silvestertage sah's nichts weniger als tröstlich auf Rödershof aus: das reine Lazarett!
Papa Polten hatte schon Mitte der Woche über sein Bein geklagt; der Gang zum Grab des alten Möller, das Stehen dort im Schnee hatte »Madam Gicht« übel vermerkt und drohend schwang sie wieder ihr gefürchtetes Zepter. Papa Polten mußte sich der Tyrannin fügen; nach kurzem, aber verzweifeltem Widerstand lag er mit einem seiner schlimmsten Anfälle danieder.
Er hatte sich heimbringen lassen wollen. »Jungchen hat so ihre liebe Not,« knurrte er, »braucht nicht noch der Gicht aufzuwarten.«
Aber »Jungchen« bestand darauf, daß er blieb, und eine zweite Tyrannin kam ihr zu Hilfe, die Influenza.
Die packte Tante Lenchen sachte beim Wickel und legte die alte Dame sein manierlich, aber unerbittlich in die Bettkissen. Da hieß es stille halten. Und Frau Influenza bestand desgleichen einen weiteren kleinen Strauß mit Vater Klaus und blieb wiederum Siegerin. Nein, es sah gar nicht tröstlich aus auf Rödershof!
Muttchen Friedel brauchte ihren ganzen inneren Sonnenschein, um Herr zu bleiben über die Schatten. Ein Glück, daß Lu und Li in der Wirtschaft schon ziemlich gut eingeschult waren! Muttchen Friedel konnte völlig ihren Kranken leben.
Vier Krankenlager! Und wenn auch kein einziges dabei war, an dem man im Herzen zittern mußte, so war es doch keine leichte Aufgabe, allen gerecht zu werden.
Muttchen Friedel aber und ihre beiden Adjutanten Lu und Li lösten diese Aufgabe glänzend. Unermüdlich waren sie und stets zeigten sie frohe Mienen und glänzende Augen. Doch wenn Papa Polten wetterte, Tante Lenchen stöhnte und wimmerte, Vater Klaus ungeduldig war, dann holten sie sich ihren Vorrat von Geduld und Sonnenschein bei Fee; die hatte immer etwas bereit davon und immer einen Trost und ein warmes Wort.
So gingen auch diese schlimmen Tage hin, wie's die guten tun.
Erst jagte Vater Klaus seine Widersacherin in die Flucht und blieb nun seinerseits Herr. Als er wieder bei Fee sitzen konnte, war alles gut.
»Denn siehst du, mein Mädchen, ich brauch' dein liebes Gesicht, wie die Luft zum Atmen.«
Wie dies »liebe Gesicht« bei diesen Worten aufleuchtete!
»Die zwei sind versorgt,« rief Muttchen Friedel Lu und Li zu. »Mit Gottes Hilfe kriegen wir ja nun wohl die anderen zwei auch hoch.«
Das traf auch zu, obwohl es noch ein Weilchen dauerte. Tante Lenchen und Papa Polten waren älter und mürber; die rappelten sich nicht so schnell in die Höhe.
Erst tat's Tante Lenchen mit Wimmern und Stöhnen, doch jeden Tag ein bißchen weniger, bis sie sich zuletzt auf ihr altes Ich besann und resolut ihr Leben wieder in die Hand nahm.
»Erbarm dich, Konrad, was hat das Kind geleistet, wie hat sich's bewährt! Was haben wir dem armen Ding zu schaffen gemacht!«
»Ja, Jungchen ist ein Held und die Madam Gicht ein Racker! Ich hatte dich auch für vernünftiger gehalten, als dich so unterkriegen zu lassen, Lene.«
»Je ja, Konrad, erbarm dich, man ist eben alt.«
»Ja, man ist alt, Lene.«
»Aber, Konrad, wir können ruhig abkommen. Etwas soll der Mensch geleistet haben, ehe er die Augen zutut. Und wir, Konrad – das Kind macht uns alle Ehre! So brav, so tüchtig, so herzerquickend frisch, so –« Die alte Dame wischte an ihren Augen und schnüffelte ein bißchen.
»Uns, Lene?« Kriegerisch fuhr der alte Herr auf. »Uns macht das Kind alle Ehre, he? Jungchen ist mein Werk, basta!«
Da zuckte sie die Achseln; der Kampf war aussichtslos, sie wandte sich.
Da wetterte er aber: »Hände her, Lene, altes Frauenzimmer! Kennst doch den Brummbär, was? Er weiß, was er an seiner Lene hat, was sie ihm und seinen zwei Mutterlosen in alle den Jahren war! Donner und Doria, Kopf hoch, Augen klar und tapfer vorwärts und durch bis zum Halali! Basta! Gott segne das Jungchen – unser Jungchen, Lene!«
Hand in Hand saßen die zwei Alten.