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Die Heimkehr

»Also, das Möglichste müssen wir jetzt noch aus den paar Tagen machen, Onkel Werner,« sagte Li am anderen Morgen.

»Li,« mahnte Muttchen Friedel tadelnd.

»Recht hat sie, Friedel,« riefen Onkel Werner und Tante Lisa zugleich.

»Sehen sollten sie eigentlich noch die National- und die Tate-Galerie, den Zoologischen Garten und Windsor Castle oder Hampton Court vielleicht,« schlug Fee vor.

»Was zuerst?« fragte Onkel Werner.

»Den Zoologischen,« baten Lu und Li einstimmig.

»Affen natürlich, statt Bilder und Kunstwerke,« schalt Muttchen Friedel.

»Im Zoologischen möchte ich dabei sein,« sagte Onkel Werner. »Heute paßt's mir aber nicht. Also zu den Bildern! Ich kann euch nicht helfen, Lu und Li.«

»Macht nichts, bitte,« sagten die großmütig.

»Ich schlage vor, wir fahren bis Buckingham Palace, besehen uns den von außen, gehen The Mall hinunter an St. James Palace vorbei nach der Nationalgalerie; dann Lunch. Am Nachmittag Tate Gallery und Hyde Park. Von da heim, Friedel,« setzte Tante Lisa auseinander.

Muttchen Friedel nickte. »Ein voller Tag wiederum, scheint mir.«

»Viel Grün und Bäume und viele Bilder.«

Eine Stunde später standen sie vor Buckingham Palace. Schöne, reichvergoldete Tore und Gitter schließen ihn ab.

»Goldene Gitter,« meinte Li bewundernd.

»Ist auch des Königs Stadtresidenz,« sagte Fee. »Georg III. kaufte den Palast vom Herzog von Buckingham, Georg IV. ließ ihn umbauen, aber erst Königin Viktoria bewohnte ihn wirklich. Der jetzige König, der hier geboren ist, benutzt ihn zur Freude der Londoner noch mehr; seine Privatgemächer sind auf der Nordseite.«

»Wär' mir zu groß, so 'n Haus,« erwiderte Li. »Ob der König selber weiß, wieviel Zimmer er hat?«

Sie lachten und wandten sich der Mall zu, einem breiten Fahrweg, der den Palast in gerader Linie mit Charing Croß, einer der vielen Londoner Bahnstationen, verbindet.

»Was für ein Denkmal ist das?« fragte Lu.

»Das Nationaldenkmal für die Königin Viktoria, Kind,« erklärte Tante Lisa.

»Die erkenne ich,« rief Li und wies nach der Statue aus karrarischem Marmor, die auf hohem Sockel thront. »Aber was bedeutet die andere Gestalt?«

»Eine geflügelte Figur ist's. Irgend ein Genius,« behauptete Lu.

»Es soll den Sieg darstellen. Victory, weißt du,« erklärte wieder Tante Lisa.

»O, wie wundervoll grün der Park hier rechts ist,« rief in diesem Augenblick Li aus.

»Der St. James Park,« sagte Fee.

»Da ist wohl St. James Palace nicht weit?«

»Gleich dort links, eine kurze Strecke noch.«

Bald standen sie auch vor St. James Palace.

»Wenig steht mehr von Heinrichs VIII. altem Palast,« sagte hier Fee. »Er soll nach einem Plan von Holbein gebaut worden sein; ein Feuer zerstörte 1809 den östlichen Flügel. Der Torweg hier mit den beiden hohen, zinnengekrönten Türmen ist fast alles, was vom ursprünglichen Bau noch zu sehen ist.«

»Hm,« brummte Li, »das sieht so aus, als könne da auch allerhand Gruseliges passiert sein. Was, Fee?«

»Eigentlich war St. James nur Residenz bei Könige von Wilhelm III. an. Heinrich VIII. wohnte nur kurze Zeit da, um dann in Whitehall zu residieren. Doch richtig, Karl I. lebte ja hier, und einige seiner Kinder sind hier geboren.«

»War das der, Fee?« fragte Li und machte die Gebärde des Kopfabhauens.

»Natürlich doch,« sagte Lu. »Der mit Cromwell.«

»Am Morgen seines Hinrichtungstages besuchte er hier noch den Gottesdienst in der Kapelle. Dann eskortierte ihn ein Regiment zu Fuß durch St. James Park nach Whitehall zum Schafott.«

»Schrecklich!« sagte Lu. »Mit welchen Gefühlen mag er unter den grünen Bäumen hingeschritten sein! Die Vöglein haben ihm sein Sterbelied gesungen.«

Da lächelte Fee ein wenig.

»Was lachst du, Fee?« fragte Lu erregt. »Hab' ich nicht recht?«

»Was die Gefühle anbelangt, sicherlich! Bloß die grünen Bäume und der Vogelsang – er ist nämlich am 30. Januar 1649 enthauptet worden.«

Li blickte spöttisch auf die Schwester.

»Deine Geschichtskenntnisse, Lu!« sagte sie lachend.

»Alle Daten kann der Mensch nicht wissen,« behauptete Lu seelenruhig.

»Fee weiß sie.«

»Ja, Fee!«

Sie fanden bald Gelegenheit, auch Fees Kunstkenntnisse zu bestaunen. In der Nationalgalerie wußte sie Bescheid bei den Bildern aller Zeiten und aller Völker.

»Wißt ihr, daß hier ungefähr tausendsechshundertundfünfzig Bilder aufgehängt sind?«

»Um Himmels willen!« rief Muttchen Friedel erschrocken. Lu und Li prallten zurück.

»Taus-?«

»Und alle –?« Bloß fragmentarisch drückten sie sich aus in ihrem Schreck.

»Tausendsechshundertundfünfzig, ja,« bestätigte Fee fröhlich. »Aber zu sehen brauchen wir sie nicht alle, keine Bange! Wir gehen nur zu den besten. Seht mal gleich hier diese Raffaelsche Madonna. Sie ist für siebzigtausend Pfund angekauft worden, also für eine Million viermalhunderttausend Mark.«

»Der höchste Preis, der je für ein solches Kunstwerk gezahlt wurde,« fügte Tante Lisa hinzu.

»Wer erhielt das Geld? Raffael? Der muß ja furchtbar reich gewesen sein, wenn er für jede Madonna –«

»Raffael hat keine Schätze gesammelt, Li. Das Geld bekam der Herzog von Marlborough, dem das Bild gehörte.«

»Aber das war ungerecht!«

»War es das, Li? Bedenke, daß der Künstler überreich entschädigt ist durch sein Talent! Was wäre dir lieber, das Talent oder die Millionen?«

»Hm,« brummte Li.

»Das Talent doch,« sagte Lu.

»Beides,« erklärte Li entschieden. »Hab' ich die Arbeit, will ich auch den Lohn.«

»Die Arbeit ist Lohn, Li,« sagte Tante Lisa ernst. »Etwas Großes, Gewaltiges schaffen können, denkst du nicht, daß das seinen Lohn in sich trägt?«

Li senkte den Kopf, aber völlig überzeugt war sie nicht.

Sie gingen nun durch die weiten Säle und Zimmerfluchten. Jedes Zimmer barg eine andere Malerschule. Die alten Italiener, Niederländer, die Spanier, Franzosen, Deutsche waren vertreten.

Unsere Galeriebesucher hielten sich nicht zu lange auf, sahen überall nur das Beste. Nur in den Zimmern, in denen die englische Kunst vertreten war, sahen sie alles eingehender an.

»Im Land selbst sieht man natürlich das Beste der heimischen Kunst,« sagte Muttchen Friedel. »Lu, Li, macht die Augen auf!«

Lu tat kläglich, Li aber rollte die ihren zum Fürchten.

»Hier in dem Zimmer sind ja fast nur Bilder von Reynolds und Gainsborough, Fee,« sagte sie.

»Dafür sind's die beiden größten Namen der alten englischen Schule. Sieh dir das da an: ›The age of innocence‹. Es ist das beste von Sir Joshua Reynolds. Dann hier: ›Mrs. Siddons‹, du weißt, die große englische Tragödin. Das Bild gilt für Gainsboroughs bestes.«

»Ich ziehe Landseer vor, Fee. Wo hängen seine Bilder? Seine Hirsche sind prachtvoll,« erkundigte sich Li.

»Zu ihm kommen wir später,« sagte Fee. »Er gehört schon zur modernen Schule. Aber seht euch noch hier Hogarth an. Das hier ist sein eigenes Porträt, von ihm selbst gemalt.«

»Hätt' ich nicht getan, wenn ich er gewesen wäre,« sagte Li trocken.

»Da ist ja ›Mrs. Siddons‹ noch einmal,« sagte Lu. »Oder nicht?«

»Gewiß, nur in späterem Alter. Sir Thomas Lawrence hat dieses Bild gemalt.«

»O, hier ist mein Landseer,« jubelte Li; sie stand unter der Tür zum nächsten Raum.

»Fast nur Landseer und Millais sind hier,« sagte Fee. »Seht sie euch gut an. Der ›Yeoman of the guard‹ ist von Millais und sehr berühmt.«

»Den kennen wir ja!« rief Li. »Haben wir doch in Natur im Tower gesehen.«

»Kommt hier herein; nur Turner,« forderte Fee auf. »Er hat bei seinem Tod alle seine vollendeten Bilder der Nationalgalerie vermacht. Er ist wohl der größte Landschafter, der je gelebt hat. Er sah die Natur nicht nur mit den Augen, meine ich, sondern mit dem Herzen. Was, Tante Lisa?«

»Wohl, mein Kind,« sagte Tante Lisa. »Seine Bilder leben, sie sind nicht nur Leinwand und Farben. Seine Sonne scheint wirklich, und seine Wolken bedrücken.«

Fee nickte. »So fühl' ich's auch.«

Über all dem Bilderbesehen war es spät geworden.

»Gehen wir noch in die National Portrait Gallery?« fragte Fee. »Da sind nämlich die Bilder aller regierenden Häupter und Familien, aller Staatsmänner, Gelehrten, Dichter, Schriftsteller, Feldherren und Schauspieler ausgestellt, kurz aller derer, die eine Rolle in der Geschichte dieses Landes spielten oder sonst einen Namen haben. Mehr als zwölfhundert sollen es sein.«

Muttchen Friedel sah ungewiß drein! Lu und Li packten Fee rechts und links am Arm.

»Untersteh dich!«

»Um Himmels willen!«

Muttchen Friedel wollte zanken und über mangelndes Interesse klagen, aber sie selber fühlte so wenig Lust in sich, all den alten Herren und großen Männern ihre Reverenz zu machen, daß der Mensch in ihr den Erzieher verdrängte. Sie wandte sich an Tante Lisa.

»Ob wir nun wissen, wie sie aussahen, Lisa! Müssen wir?«

Lächelnd sah Tante Lisa in die drei braunen Gesichter, die sich so ähnlich waren.

»Hurra, Muttchen! Klein-Muttchen hat doch immer recht,« jubelten Lu und Li.

»Also Lunch, Kinder?« fragte Tante Lisa.

»Ja!« So laut und einstimmig kam es, daß Tante Lisa sich erschreckt umsah.

»Kinder, mäßigt euch! Und dann Tate Gallery, was? Das ist nämlich eine Art Nationalmuseum für britische Kunst. So war doch das Programm, Fee?«

Fee nickte; ehe sie aber was sagen konnte, kam es einstimmig aus drei Kehlen: »Nein!«

Lu und Li standen rechts und links von Muttchen Friedel; drei herausfordernde Gesichter sahen Tante Lisa an.

»Also offener Streik?« fragten Tante Lisa und Fee.

Muttchen Friedel nickte. »Da wir im Mutterlande der Streiks sind, müssen wir Vorteil daraus ziehen. Lu und Li und ich, wir wollen lieber nach Hyde Park, bitte, bitte. Wir sind Naturkinder, und sehnen uns zu Gras und Bäumen zurück nach all dieser bemalten Leinwand.«

»Hurra, Muttchen!« Lu und Li waren aus Rand und Band.

Da merkte Muttchen Friedel, was sie angestellt hatte; sie nahm sich ihre beiden fest und blitzte sie an. »Nun hört mal, ihr zwei: damit habe ich nicht gesagt, daß ich ein Kunstwerk nicht zu bewundern weiß und zu schätzen und zu genießen, wo ich es finde. Vieles hier hat mir große Freude gemacht; aber nun hab' ich auch gerade genug. So habe ich noch ein klares Bild von allem; sehe ich aber mehr, wird alles ein Durcheinander in mir. Allzuviel ist ungesund; dies gilt vom Magen wie vom Kunstgenuß. Merkt's euch! Verzeih, Lisa, aber du weißt, ich habe immer gesagt, was ich denke.«

»Hast recht, Friedel! Fee und ich wollten euch ja auch nur noch weiterschleppen, weil die Zeit drängt. Nun also zum Lunch!«

Sie traten wieder auf das Trafalgar Square, an dessen einer Seite sich die Nationalgalerie hinzieht. Vorhin beim Kommen hatten sie den Platz wenig beachtet.

»Was für eine große Säule ist das?« fragte Li. »Wer steht da oben?«

»Es ist Nelson,« berichtete Fee. »Du weißt, der große britische Admiral; er erfocht glänzende Siege für sein Land. Bei Abukir schlug er die Franzosen, bei Kopenhagen die Dänen, bei Trafalgar dann – woher der Platz hier den Namen hat – besiegte er die französisch-spanische Flotte. Da fiel er auch.«

»Wissen wir,« riefen Lu und Li. »Seeschlacht bei Trafalgar 1805. Ganz dumm sind wir doch nicht.«

»Laß uns durch Haymarket nach Piccadilly gehen, Fee. Dort, finden wir, was wir suchen; unsere lieben Gäste bekommen dann auch einen Begriff vom eleganten, modernen London.«

»Auf dem Heumarkt, Tante?« fragte Li erstaunt. »Du sagtest doch Haymarket?«

»So sagte ich. Und dies hier ist's.«

Sie bogen in eine etwas ansteigende Straße ein. Läden zu beiden Seiten, große Hotels, Theater, Restaurants.

»Nach Heu sieht das hier nicht aus,« meinte Lu. »Ich war schon bereit, eine Nase voll Heuduft mitzunehmen. Das hier, puh, Kohlen, Staub, Braten –«

»Du, ist nicht zu verachten,« sagte Li. »Ich bin hungrig.«

»Bist du immer,« tadelte Lu.

»Bitt' ich mir aus! Manchmal bin ich auch satt.«

»Aber selten,« spottete Lu.

»Gleich sind wir in Piccadilly,« tröstete Tante Lisa.

Nun bogen sie in die breite, wundervolle Straße ein, die zu jeder Stunde des Tages ein Bild regsten, elegantesten Lebens und Treibens bietet. Der untere Teil der Straße zeigt Läden aller Art, abwechselnd mit großen Hotels. Der obere Teil begrenzt den sogenannten Green Park. Auf der anderen Seite mit dem Blick auf den Park stehen elegante Klub- und Privathäuser.

»Laß uns in Princes Restaurant gehen, Fee. Heut leben wir fein.«

»Paßt auf, wie elegant es dort ist,« sagte Fee. »Alles im Stil Louis XVI.«

Lu und Li rissen die Augen auf, auch Muttchen Friedel; es war wirklich der Mühe wert, das zu sehen. Wunderbar vergoldetes Schnitz- und Schnörkelwerk an Sesseln, Stühlen, Tischen, an Türen und Fenstern; Spiegel, Kandelaber, Trumeaux, alles reich verziert, alles wie aus einem Guß. Es machte einen prächtigen, vornehmen Eindruck.

Lu und Li fühlten sich denn auch sehr klein; die vornehmen »waiters« beengten sie gleichfalls. Scheu sahen sie nach Tante Lisa und Fee; wie die sich gaben, taten sie es auch. Sehr geschickt kam es aber nicht immer heraus.

»Weißt du, wozu all die Gabeln und Messer und Löffel und Gläser und Teller und Tellerchen dienen, Klein-Muttchen?« fragte Li, der Schalk.

Klein-Muttchen machte ein verschmitztes Gesicht. »Nee; werd's aber bald los haben.«

Dabei sah sie nach Tante Lisa und Fee. Man merkte, auch sie nahm die als Vorbild. Wie Lu und Li sich freuten!

»Landpomeranzen wie wir, was, Muttchen?«

»Kinder, was zu viel ist, ist zu viel,« rief diese. »Zwei Gabeln bringe ich allenfalls unter, für jeden Gang eine, aber hier – alle Achtung!«

»Fisch, Obst, Dessert, Käse!« erklärte Fee und hob die betreffenden Instrumente hoch.

»Alle Achtung!« wiederholte Muttchen Friedel. »Ein kultiviertes Volk! Wie aber soll einer allein das behalten? Merkt's euch, Lu und Li, ihr seid noch jung!«

Die grinsten; nicht lange freilich, wenigstens Li. Der Waiter trat neben sie: »Beaf, Miss, or mutton?«

Li sah ihn erst verständnislos an. Er wies nach zwei Schüsseln, die drüben auf einem Büfett standen. Da kam ihr die Erleuchtung: der Mann bot zweierlei Fleisch zur Auswahl an. Sie war hungrig und wollte von beiden.

» Much and much – viel und viel,« antwortete sie also, wollte aber » half and half – halb und halb« sagen.

Der Mann sah sie sonderbar an, war aber gut geschult. Er verzog seine undurchdringliche Miene um keines Haares Breite, nahm Lis Teller, ging zu den betreffenden Schüsseln und belud ihn. Mindestens drei Schnitten je vom Ochsen und vom Hammel hatte er ihr aufgetürmt.

»Much and much!« spottete Lu.

Li wurde feuerrot, aber trotzig sagte sie: »Ich habe eben Hunger.« Und sie aß, bis sie fast erlag. Aber sie wurde Herr, bloß daß sie für alles weitere danken mußte.

Beim Pudding zeigte der Mann die gleiche undurchdringliche Miene.

»Queen's pudding, Miss, or rhubarb pie?«

»Half and half, not much, please!« Li war gelehrig; sie oder vielmehr ihr Magen hatte Lehrgeld gezahlt. Fee strich ihr sanft über die Hand.

»Bravo, Schwesterchen!«

Li beugte den Kopf und legte die Lippen auf Fees Hand.

»Ich hab' dich lieb,« sagte sie leise. Lu bekam eine kleine Grimasse ab.

»Fertig, Kinder?« fragte Tante Lisa; sie hatte es eilig.

»Du, 's ist wie im Fürstenschloß hier! Ich komme mir riesig gehoben vor!«

»Ich mag's lieber ohne solchen Hopphei,« erwiderte Li mißbilligend; sie hatte ihr inneres Gleichgewicht noch nicht wieder gewonnen. »Laßt uns fort. Bei all diesem Geschnörkel wird mir übel.«

»Oder das much and much!« neckte Lu.

»Laß sie,« verwies Fee. Sie sah, daß Li noch keinen Sinn für den Humor der Sache hatte.

Nun gingen sie Piccadilly entlang. Li drängte sich dicht an Fee und sah Lu immer noch mißtrauisch an. Dann vergaß sie den Zwischenfall über dem Leben und Treiben ringsum.

»Viel hübsche junge Mädchen habt ihr, Fee,« sagte Lu anerkennend. »Alle so blond und so fein! Li und ich sehen wie Negerinnen dagegen aus.«

»Danke,« wehrte sich Li. »Jeder spricht für sich, bitte! Übrigens ist keine so nett wie unsere Fee.«

»Richtig,« bekräftigte Lu.

Fee lachte. »Wollt ihr mich eitel machen?«

»Kannst du ja gar nicht werden,« behauptete Li. »Eitel sein ist gräßlich.«

Lu nickte und sagte: »Albern!«

Die beiden Jüngeren hatten sich wiedergefunden.

»Wie schön die Straße hier am Park hinläuft, Lisa,« sagte Muttchen Friedel. »So elegant sie ist, dies ist das Schönste. Bäume und Blumen sind mir mehr wert als geputzte Menschen.«

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Damen und Herren kamen in Gruppen dahergeritten.

»Alles zu seiner Zeit, Friedel,« erwiderte Tante Lisa. »Da sind wir übrigens schon an Hyde Park Corner. Dort der Säulenportikus führt in den Park. Die Reiterstatue da drüben ist der Herzog von Wellington. Aber laßt uns eintreten. Es scheint belebt in Rotten Row. Da gibt's für dich was zu sehen, Friedel.«

»Pferde gewiß,« sagte Muttchen Friedel und war von diesem Augenblick an in der Tat wie elektrisiert.

»Pferde und Reiter, Herren und Damen,« erwiderte Tante Lisa lächelnd.

Sie traten in den Park und sahen Rotten Row, den breiten Reitweg zur Linken, hinunter. Hohe alte Bäume begrenzten ihn; er ist nur zum Reiten bestimmt.

Einzeln, in größeren und kleineren Trupps kamen elegante Reiter und Reiterinnen. Vornehmes Blut bei Mensch und Tier war vertreten. Muttchen Friedels, Lus und Lis Augen leuchteten.

»Laß uns näher gehen, Tante Lisa!«

»Dort neben dem Fahrweg ist ein Fußweg. Kommt dorthin!«

Unter den Bäumen gingen sie hin, einstweilen völlig Auge und Ohr für die vierbeinigen Freunde.

»Muttchen, Muttchen, sieh die Goldbraune da! So denke ich mir deine Bella von früher!«

»Viel schöner war die, Lu und Li. Was, Lisa?«

Die nickte.

»Immer noch die alte Liebe zu Pferden, Friedel?«

»Du solltest jetzt meine Graue sehen, Lisa! Klaus verwöhnt mich.«

»Und meinen Pfeil!« rief Lu.

»Und meine Unverdrossen!« rief Li; die beiden strahlten wie ihr Muttchen.

»Ihr reitet auch?«

»Natürlich doch!«

»Aber selbstverständlich!«

»Wie die Wilden,« setzte Muttchen Friedel hinzu. »Ungesattelt, ungezäumt; einerlei, ob Ackergaul oder Damenpferd. Was, Lu, Li?«

»Von wem sie's bloß haben?« flüsterte Tante Lisa und zupfte Muttchen Friedet verstohlen am Kleid.

»Von mir doch natürlich,« sagte die laut und stolz. »Du weißt ja, ich wäre einmal am liebsten in den Zirkus gegangen!«

»Bravo, Klein-Muttchen,« riefen Lu und Li.

Da erwachte Frau Friedel.

»Das heißt natürlich, Lu und Li, da war ich noch sehr jung und sehr dumm. Ihr wißt, in solchem Alter ist man noch recht albern. Kannst du reiten, Fee?«

»Wie sollte ich?« fragte die. »Übrigens hätte ich auch Angst.«

»Wir lehren dich's daheim, Fee.« Lu und Li taten sehr gönnerhaft. »Vater muß für ein frommes Tier sorgen. Die ›Schneerose‹ von Herrn von Ellern zum Beispiel. Denkt euch Fee auf der ›Schneerose‹!«

»Wundervoll!« sagte Li anerkennend. »Sie ist ein Schimmel nämlich, reinweiß. Du bekommst ein weißes Kleid und einen weißen Hut, was, Muttchen? Famos, he? Die sollen Augen machen!«

»Denkt ihr, ich lasse mich wie eine Art Schaustück herausputzen?« fragte Fee. »Auf einen Pferderücken bekommt ihr mich kaum hinauf, glaube ich.«

»Kurios,« sagte Li, und Lu nickte. »Ganz kurios!« sagte auch sie.

Rechts schimmerte jetzt eine breite Wasserfläche.

»Wenn ihr genug Pferde gesehen habt, Kinder, schlage ich vor, daß wir zu dem gepriesenen Gras und Bäumen gehen. Blumen gibt's auch außerdem.«

»Was für ein See ist das?« fragte Muttchen Friedel.

»Es ist die Serpentine. Ein langgestreckter, künstlicher Wasserarm, der den Park quer durchschneidet. Königin Karoline, die Gemahlin Georgs II., hat ihn angelegt und damit dem Park einen seiner größten Reize gegeben. Laßt uns an der Dell hingehen! Seht, wie sich das Gelände hier senkt: ein kleines grünes Tal. An der anderen Seite ziehen sich dann die weiten Rasenflächen hin mit den alten Baumgruppen. Ihr müßt das sehen!«

Ungern nur trennten sich Muttchen Friedel, Lu und Li von Rotten Row. Immer noch gab's ein Tier zu bestaunen, einen Reiter, Herrn oder Dame, zu kritisieren. Aber dann folgten sie doch Tante Lisa und Fee.

Sie gingen zwischen der Schmalseite der Serpentine und der Dell hin und standen schließlich vor weiten, wundervoll samtgrünen Rasenflächen. Durchblicke wechselten mit Baumgruppen, altehrwürdige Riesen mit Bosketten und Blumenbeeten in leuchtenden Farben.

»Das ist schön,« sagte Muttchen Friedel und atmete hoch auf. »So weit und so frei!«

»Hyde Park hängt mit Kensington Gardens zusammen. Das Ganze bedeckt eine Fläche von hundertfünfzig Acres. Eine stattliche Lunge für die Großstadt, was, Li?«

»Ach ja, ich weiß! Wegen des Sauerstoffs, den die Bäume ausatmen.«

Sie hatten sich nun links gewandt und gingen am Wasser hin.

»Kann man irgendwo Boot fahren?« fragte Lu.

»Dort sind welche,« sagte Tante Lisa zögernd. »Aber ist es sicher, wenn –«

Sie sah Lu und Li an.

»Kommst du mit, Fee?«

Die zögerte.

»Fürchtest dich, was?« neckten Lu und Li.

»Fürchten nicht gerade, obgleich ihr mir nicht die zuverlässigsten Bootsleute wäret, aber – ich kann's nicht gut vertragen, wenn's schaukelt, und –«

»Puh, das ist gräßlich,« sagten Lu und Li, eingedenk ihrer Erfahrung von der Herreise. »Also du nicht. Wir aber dürfen, Muttchen, was?«

Muttchen Friedel zögerte, die flehenden Augen der zwei machten sie aber wieder schwach.

»Meinethalben,« sagte sie. »Was meinst du, Lisa?«

Tante Lisa hob die Schultern. »Ich –«

»Rudern können sie nämlich; sie haben es voriges Jahr am Bodensee immerzu getan.«

»Allein?«

»Allein, gewiß. Ich denke, es hat keine Gefahr, Lisa.«

»Dann laß sie! Fee, hilf ihnen ein Boot mieten. Wir gehen dann hinüber über die Brücke, Kinder. Dort ist ein Pavillon, wo man Erfrischungen haben kann. Dort findet ihr uns. Merkt's euch: jenseit der Brücke.«

»All right,« sagten Lu und Li.

Bald saßen sie im Boot, sahen die Ihren am Ufer hingehen und riefen ihnen noch allerhand nach. Immer lauter mußte man die Stimme erheben. Lu und Li kümmerte das wenig; ihre Lungen gaben's ja her. Aber da wandte sich Fee und legte den Finger an den Mund; völlig in Ordnung war also wohl diese Art von Unterhaltung nicht.

»Na, denn nicht,« sagte Li und schlug mit dem Ruder ins Wasser, daß es spritzte. »Merkwürdiges Land das, wo man nicht reden darf, wie einem der Schnabel gewachsen ist.«

»Brüllen, Li,« sagte Lu trocken. »Oder nennst du das noch reden? Mir tut der Hals weh.«

»Meinethalben,« sagte Li und patschte noch einmal ins Wasser. Aber dann war ihr kleiner Zorn verflogen.

Sie sah nur den großen weiten Himmel über sich und unter sich in der großen weiten Wasserfläche. Oben und unten lachte die Sonne, und die allzeit fröhliche Li lachte mit.

Hurtig griffen nun die Ruder aus. Das kleine Boot glitt über das Wasser an den grünen Ufern weiter und weiter.

»Dort ist die Brücke, Lu.«

»Und dort muß der Pavillon sein, wovon Tante Lisa sprach.«

»Weiter, Lu!«

»Weiter, Li!«

Nun glitten sie durch Kensington Gardens hin. Noch lieblichere Landschaftsbilder fast bietet dieser Park als sein Zwillingsbruder jenseit der Serpentine. Die Durch- und Fernblicke sind oft überraschend, die Bäume suchen ihresgleichen.

»Wundervoll ist es hier,« sagte Li und tippte Lu dazu mit dem Ruder ans Knie.

»Au, du, mein Kleid,« rief die. »Du machst mich ja patschnaß.«

»Philister,« versetzte Li verächtlich.

»Selber,« gab Lu erzürnt zurück.

Aber dann war's doch zu schön und zu friedlich rings. Still glitten sie weiter. Li fing an, mit heller Stimme zu singen, was, wußte sie selber nicht; Lu sekundierte. Im Takt flogen die Ruder und das kleine Boot.

Tante Lisa, Muttchen Friedel und Fee saßen unterdessen auf dem grünen Rasen vor dem Erfrischungszelt.

»Wo sie nur bleiben?« sagte Tante Lisa endlich schon zum dritten oder vierten Male.

»Ja, wenn die einmal losgelassen sind, Lisa!« antwortete Muttchen Friedel. »Übrigens bange brauchst du nicht zu sein; fix sind sie. Fallen wie die Katzen immer wieder auf die Füße!«

Noch ein Viertelstündchen verging und noch eines. Tante Lisa war's unbehaglich zu Mut. »Wenn du nach ihnen ausschauen wolltest, Fee! Vielleicht finden sie nicht, wo wir sind.«

Muttchen Friedel blieb seelenruhig. »Lu und Li schnüffeln immer alles aus.«

Fee stand auf. »Ich – dort kommen sie übrigens. Aber irgend etwas ist passiert. Seht mal, wie sie rennen, und die Hüte sitzen ganz schief.«

»Die wittern den Tee,« sagte Muttchen Friedel.

Lu und Li waren indes schon recht nahe. Sichtlich erregte sie etwas und zwar sehr; hochrot waren sie und heiß. Und so sehr sie eilten, immer wieder fuhren ihre Köpfe nach hinten.

Atemlos standen sie endlich am Tisch. Glücklicherweise waren wenig Menschen in der Nähe.

»Sie ist nicht bei Sinnen,« sprudelte Li.

»Wollte uns küssen, wahrhaftig küssen!« sprudelte Lu.

»Wir haben's ihr aber versalzen!«

»Li hielt ihr die Fäuste vor! Mir tat das arme Altchen leid.«

»Werd' mich küssen lassen! Noch dazu von so 'ner wildfremden Person! Und mit solchen Zähnen!«

»Die braucht sie doch nicht zum Küssen!«

»Puh, gräßlich war sie!«

Das kam wie eine Sturzwelle über die jungen Lippen. Die anderen aber saßen starr. Muttchen Friedel fand zuerst ihre Rede wieder.

»Wolltet ihr euch vielleicht ein wenig näher erklären, Lu und Li?«

Da sprudelte es aufs neue.

»Wie wir eben ans Land steigen wollen –«

»Da, da fällt sie über uns her.«

»Die Fremde nämlich.«

»Ein merkwürdiges Frauenzimmer.«

»War schon eine Weile am Ufer auf und ab gerannt.«

»Hatte allerhand komische Zeichen gemacht.«

»Hatte auch gerufen; bloß, daß wir's nicht verstehen konnten.«

»Es klang wie Pfui! Pfui da!«

»Und von Pfui ist doch nichts an uns.«

Li war sehr entrüstet, aber Lu sprudelte weiter: »Na also, und wie wir den Fuß ans Land setzen, fliegt sie an Lis Hals –«

»Das heißt, will fliegen. Ich aber habe ihr beide Fäuste vorgehalten.«

»›Zehn Schritt vom Leibe!‹ hat Li geschrieen.« Lu lachte nun wie toll.

»Und ob!«

»Wir rannten also, nachdem Li sich so befreit hatte, und –«

»Himmel, da ist sie wahrhaftig. Was nun, Lu? Hilfe! Hilfe!«

Li machte Miene, schreiend davonzustürzen, Lu hinterher. Aber Muttchen Friedel faßte die beiden an den Röcken noch eben zur rechten Zeit.

»Seid ihr toll, he?«

»Fort, Muttchen, fort!«

»Rette dich! Sie küßt dich sonst!« Lu und Li schienen aller Fassung bar.

Nun sah man eine weibliche Gestalt mit langen Schritten quer über den Rasenplatz daherkommen. Die anderen hatten sie nur bis jetzt noch nicht bemerkt.

Die Fremde sah wirklich sonderbar aus. So völlig unrecht hatten Lu und Li nicht. Lang, hager, knochig an Gestalt und Gesicht, die Kleider schlotterten an ihr, der lächerlich kleine runde Hut saß tief im Nacken; Schuhe wie kleine Schifferboote, Arme, die Windmühlenflügeln gleich durch die Luft ruderten. Aller Anmut und Grazie bar, mit unheimlich langen Schritten kam sie näher und näher.

Tante Lisa und Fee hatten sich gleichfalls erhoben. Lu und Li duckten sich hinter Muttchen Friedel, die die beiden noch an den Röcken gepackt hielt.

»Aber ist das denn nicht –?«

Muttchen Friedel ließ Lu und Li fahren und rannte ihrerseits auf die Nahende los.

»Miß Fuida,« jauchzte die, »sein meine Miß Fuida!«

»Miß Miller,« rief Muttchen Friedel dagegen, »liebe, liebe Miß Miller!«

Lu und Li machten große runde Augen.

Das war also Miß Miller, Muttchens Gouvernante von früher, von der sie stets mit solcher Liebe sprach, von der sie nie wieder etwas gehört hatte? Muttchens Miß Miller! Und sie, Lu und Li –

»Hab' ich wirklich vorhin zugepufft, Lu?« fragte Li, und ihr braunes Gesichtchen wurde blaß. »Was tun wir nur, du?«

»Auskratzen, Li.«

»Los!« sagte die entschlossen.

Aber ehe der Plan zur Tat werden konnte, hatte Muttchen Friedel sich aus Miß Millers Armen freigemacht.

»Und nun laß ich Sie sobald nicht wieder fort, Miß Miller. Lisa, dies ist meine Miß Miller, du weißt ja. Miß Miller, dies ist Fee, meine älteste Tochter. Lu, Li, hierher! Da sind die beiden Rangen, Miß Miller, die –«

»Sein liebe kleine Miss Fuidas number two. Ick ihm kennen already

Miß Miller schüttelte beiden die Hände, als ob sie ihnen die Arme ausreißen wollte. Lu und Li senkten die Köpfe.

» Beg your pardon, Miß Miller,« sagte Li und raffte all ihr Wissen zusammen, »I – I am so sorry.«

»Never mind, dear little Miss Fuida. You did not know me. Mik nickt kennen. Let me kiss you.«

Da hob Li das braune Gesicht und sah in die guten Augen. Die langen Zähne mißfielen ihr kein bißchen mehr; auch Lu nicht, die dann ihren Kuß abbekam.

» These dear children are like you, indeed, dear Miss Fuida – but I don't remember your name just now. Nickt uissen Ihre Nam.«

»Mein Mann heißt Klaus von Rödern,« sagte Muttchen Friedel.

»Also Fuau von Uöden,« fuhr Miß Miller fort. »And how is your father? And Tante Len-schen?«

Lu und Li sahen einander an. Es kam aber zu keinem Ausbruch; sie waren noch zu zerknirscht, und Miß Millers gute Augen hatten es ihnen angetan. Die machten alles vergessen, was komisch drum und dran war.

Muttchen Friedel erzählte von dem Papa und Tante Lenchen. Daß beide noch ganz dieselben seien, nur älter vielleicht.

»Wie wir alle,« schloß Muttchen Friedel und sah dazu so jung und so froh aus, daß Miß Miller sagte: »Not you, Miss Fuida, not you. Sein so young und so – so lovely.«

Zärtlich sah dazu Miß Miller ihre »Miß Fuida« an. Und Muttchen Friedel schaute rot und verlegen drein wie ein junges Mädchen.

»Bravo!« riefen Lu und Li.

Da strich Muttchen Friedel Fee über die Schulter.

»Was sagen Sie zu meiner großen Tochter hier?«

Miß Miller ließ die klaren guten Augen ein Weilchen auf Fee ruhen.

»Sein lovely too. But not your child. Nickt Ihre Kind in die Art.«

»Zu gut für mich, ja, ja,« bestätigte Muttchen Friedel. »Schwester Lisa hat sie erzogen. Dies Unkraut hier ist mein Erziehungswerk.«

Lu und Li standen Arm in Arm, sahen lieb und frisch und gut aus, kein bißchen wie Unkraut.

»Sein Miss Fuida number two,« wiederholte Miß Miller. »Nix Unkuaut. Do they – tu Sie klettern auf Baum?«

Lu und Li nickten und lachten.

» Do they play tricks of all sorts – macken Sie tolle Stueik?«

Lu und Li grinsten und nickten.

» Do they play the violin like an angel – wie eine Engel spiel die Violin?«

Lu und Li schüttelten die Köpfe.

» Do they have the best, kindest, warmest heart – die beste, uärmste Herz in die Welt?«

»Miß Miller,« sagte Muttchen Friedel vorwurfsvoll, heiß und rot.

»Klein-Muttchen! Das hat Klein-Muttchen!« jauchzten Lu und Li, und tätschelten und streichelten dazu an Muttchen Friedel herum, daß die sich entrüstet wehrte.

»Wollt ihr Frieden geben, Unkraut! Miß Miller, ich hätte Sie für vernünftiger gehalten.«

Die lachte, nickte Lu und Li zu und zeigte alle ihre Zähne. Dann setzte sie sich an den Tisch neben Muttchen Friedel, hielt deren Hand und trank dazu eine Tasse »hot and strong tea,« wie sie sagte. Der Tee war mittlerweile schwarz geworden, was sie weiter nicht anfocht.

»Erzählen Sie von Ihrem Leben, Miß Miller,« bat nun Muttchen Friedel. »Weshalb habe ich nie von Ihnen gehört? Ich schrieb doch mehrmals. Wo sind Sie jetzt?«

»I?« Miß Miller hob die guten Augen. » I, my child? I live with my brother – mit meine Bruder, and I am happy – sein glicklich. He is not married – nickt verheiuatet, and so am I. Ick auck nickt. Sein gute treue Bruder mit alte Swester. Ick nickt schueiben, weil schämen vor Tante Len-schen. Haben nickt Pflickt tun bei Miß Fuida, haben missen lachen, nur lachen. Haben nickt können punish, nickt können nein sagen, Miß Fuida.«

Sie hatte leise gesprochen. Nur Muttchen Friedel und Tante Lisa, die auf der anderen Seite saß, konnten es verstehen. Muttchen Friedel drückte die knochige, dürre Hand.

»Liebe Miß Miller!«

»Es ist doch alles recht geworden, Miß Miller,« sagte Frau Lisa.

»So viel fehlt, Lisa, so viel!« sagte Muttchen Friedel und ließ den Kopf hängen. »Fee soll mir helfen, will's Gott!«

»What a beautiful girl!« sagte Miß Miller.

Die drei Schwestern sprachen unter sich und hörten nicht.

»Wie ich nur dazu komme?« fragte Muttchen Friedel. »Es muß von Anbeginn an eine Verwechslung gewesen sein.«

Miß Miller lachte mit allen Zähnen und streichelte eifrig an Muttchen Friedels Hand. Mit einem Male riß sie die Uhr heraus.

»Half past five! My train starts at half past six. Zug geht in einer Stunde. Have still to do some shopping –muß nock kaufen. I must go. Ick müssen gehen. Good bye, my dears, God bless you. Sein so fuoh, Miß Fuida, haben nock einmal gesehen Ihre liebe Gesicht. God bless you. Good bye! Good bye!«

Händeschütteln, Umarmen, Küssen, alles wie ein Wirbelwind.

Wie sie gekommen war, rannte sie davon, mit langen Schritten und rudernden Armen.

»Schreiben, Miß Miller! Write to me, please!« lief Muttchen Friedel hinterher.

Miß Miller hob die langen Arme und winkte. Hieß es Ja? Nein? Sie wandte den Kopf. Noch einmal sahen sie ihre guten klaren Augen.

»Good bye!« rief sie und machte noch längere Schritte. Fort war sie.

»Prächtig ist sie,« sagte Li.

»Prächtig,« bestätigte Lu.

»Ich freue mich, daß ich sie noch einmal gesehen habe, Lisa,« sagte Muttchen Friedel und hatte Tränen in den Augen. »Ich habe sie zu viel ausgenützt und sie hat doch das beste Herz von der Welt. Ich bin glücklich, daß es ihr gut geht. Wenn jemand, so verdient sie es. Ein Stein ist mir vom Herzen, Uff!«

Und Muttchen Friedel seufzte tief auf, um zu beweisen, wie leicht und frei ihr war.

Durch Kensington Gardens gingen sie dann heim. – – –

Sonnabend nachmittag ging's in den »Zoo«, wie der Zoologische Garten in London gewöhnlich genannt wird. Dort herrschte das regste Leben und Treiben. Eine Musikkapelle spielte; über Regents Park, in dessen nördlichem Teile sich der Zoologische Garten befindet, strich eine milde Sommerluft, blau war der Himmel, die Sonne lachte. Und zwei junge braune Schelmengesichter lachten Onkel Werner an.

»Famos, Onkel, daß du uns mitgenommen hast!«

»Klein-Muttchen wäre doch nie dazu gekommen.«

»Die gräßlichen Kleider!«

»Fee bekommt ja wohl 'ne ganze Ausstattung?«

»Ein Glück, daß man uns dabei nicht brauchen kann.«

»Hätte noch eben gefehlt, einen solchen Tag mit Einkäufemachen zu verbringen.«

» ›Shopping‹ sagen sie ja wohl hier. Was meinst du, Onkel, wir sind doch furchtbar gesetzt geworden?«

»Väterchen wird seine Freude haben, was?«

So sprudelten Lu und Li um die Wette und blitzten den Onkel aus ihren lustigen Augen an.

Der hatte es übernommen, die beiden hierher zu führen. Tante Lisa, Muttchen Friedel und Fee hatten wenig Lust gehabt und dann war für Fees Garderobe noch allerhand zu beschaffen. Tante Lisa ließ sich das nicht nehmen.

»Wirst deine Last mit den beiden haben, fürchte ich, Werner,« hatte Muttchen Friedel gesagt und bedenklich dazu ausgesehen. »Wenn ich sie nicht kurz an der Strippe halte, dann schlagen sie nach allen Seiten aus.«

»Will's wagen,« hatte Onkel Werner fröhlich erwidert.

Nun saßen sie hier bei der Musik im Sonnenschein, bei Tee und Kuchen und ließen sich's wohl sein. Lu und Li sprachen dem Kuchen gewaltig zu. Mit Lachen sah Onkel Werner die unbegrenzte Aufnahmefähigkeit eines gesunden jungen Magens.

Sie hatten den nördlichen Teil des Gartens schon besucht. Dort hausen Elefanten, Rhinozerosse, Flußpferde, Giraffen und andere.

»Die Dickhäutergesellschaft gefällt mir eigentlich gar nicht,« sagte jetzt Li. »Alle so plump! Da lobe ich mir die Affen!«

Lu hatte so manches dagegen einzuwenden. Ein Geplänkel entstand.

»Vertragt euch, Kinder,« mahnte Onkel Werner fröhlich, »trinkt und eßt und kommt dann zu den Affen.«

Bald standen sie dort. Eine muntere Gesellschaft tollte da hinter dem Gitter, einer immer komischer als der andere.

Hier jagten sich ein halbes Dutzend mit Gekreisch. Dort hielten sich ebensoviele an den Schwänzen gepackt und schaukelten sich in langer Kette. Daneben wiegte eine kleine Affenmutter ihr Kindchen im Arm. Ein Affenvater züchtigte seinen Sprößling in sehr menschlicher Weise mit Ohrfeigen; der Gemaßregelte quietschte aus Leibeskräften.

»Wirst du ihn gleich loslassen!« schalt da Li, von Unwillen erfaßt.

Der Vater fletschte die Zähne und fuhr gegen das Gitter. Nun quietschte Li.

»Ein Einmengen, wo zweie sich streiten, taugt nicht, weder bei Menschen noch bei Tieren! Merk' dir's!« neckte Onkel Werner.

In einer Ecke des Käfigs saß ein Weltverächter, wie's schien; er starrte in einen Winkel.

»Gewiß ist er krank,« sagte Li voll Mitleid und näherte sich dem Gitter allzusehr. Dabei kam ihre wippende weiße Straußenfeder dem Käfig zu nahe. Ritsch, ratsch, ein Griff, ein Zerren.

»Au,« rief Li, »mein Hut, au!«

Die Hutnadel hielt Lis Hut auf der arg zerrauften Frisur fest. Aber die schöne Weiße Feder hatte der Weltverächter in seinen Klauen. Jetzt saß er oben auf dem Baumstamm, grinste Li an, schwenkte die Feder hin und her und stieß dabei ein Triumphgeheul aus.

Nun gab's im Käfig ein Rennen und Jagen von allen Seiten, ein Raufen und Ringen. Lis Feder hatte einen wilden Kampf entfacht. Sie wechselte den Besitzer zehnmal in der Minute. Der Kiel als trauriger Rest fiel dann wie zum Hohn dicht vor der ursprünglichen Besitzerin nieder.

Li langte ihn sich mit spitzen Fingern unter schadenfrohem Lachen der Zuschauer. Aber nach dem ersten blassen Schreck faßte sich Li. Sie hielt den schlimm zugerichteten Hut in Händen; sanft hatte der Affe nicht zugepackt, als er sich die Feder aneignete. Sie zupfte an der zerzausten Kopfbedeckung, glättete, was möglich war, und dann steckte sie sich den zerrauften Kiel an die Stelle, wo einst die Feder prangte. Sie sah ihr Kunstwerk an und machte dazu ein solch komisches Gesicht, daß sie die Lacher auf ihre Seite bekam.

»Li,« sagte Lu und sah ziemlich blaß aus, »was wird Muttchen sagen? Die schöne Feder!«

»Das ist das einzige, Lu,« sagte Li. »An der Feder liegt mir nicht die Bohne. Aber Muttchen wird ihre Augen machen, du weißt, Lu, so vorwurfsvolle, große. Die kann ich nicht sehen, Lu!«

Onkel Werner hatte mit den anderen gelacht; jetzt besann er sich, daß er der Angelegenheit etwas näher stand als jene.

»Was machen wir, Li?«

»Nichts, Onkelchen.«

»Aber kannst du denn so gehen?«

Er wies auf Lis Hut und bekam noch einen Lachanfall.

»Und ob, Onkelchen! Niemand sieht's, und mich ficht's nicht an. Es könnte ja die neueste Mode sein. Man trägt noch ganz andere Dinge!«

»Komm, dort sind noch Affen,« sagte Lu.

»Eigentlich hab' ich genug davon,« erwiderte Li. Aber sie traten doch vor die Käfige, die die größeren Affen bargen.

»Nette Burschen! Namentlich der!« sagte Li begeistert und wies auf einen großen, langhaarigen, schwarzen. Beinahe enthusiastisch sah sie ihm in das runzelige gelbe Gesicht mit den Zwinkeräuglein.

Endlich sagte Onkel Werner: »Gehen wir zu den Bären, Li.«

Li nickte, ohne recht hinzuhören. Die kleine Kapuzineraffenmutter mit ihrem Jungen war zu niedlich. Dann kam eine Menschenwelle und schwemmte Li fort.

Li sah sich um. Dort war noch ein Affenkäfig; sie hatte nun einmal eine besondere Vorliebe für Affen. Sie trat also auch zu jenem, staunte, lachte und vergaß alles andere. Dann kam sie zu sich. Nach kurzer Zeit? Nach langer? Sie wußte es nicht.

Wohin hatten Lu und Onkel Werner gehen wollen? Waren es nicht die Bären gewesen?

Li schlenderte weiter. Irgendwo mußte man ja zu den Bären gelangen.

Noch einmal kam sie am großen Affenhaus vorüber. Der Weltverächter und Federndieb saß wieder einsam in seiner Ecke. Li nickte ihm fröhlich zu; sie hegte keinen Groll. Und sie schlenderte weiter.

Halt, waren dort hinten nicht Störche und Strauße? In ihrer Art so komisch und originell wie die Affen?

Li ging zurück, woher sie gekommen war, fand die Strauße und Störche und vergnügte sich ein Weilchen königlich über die tiefsinnigen Philosophen, die auf einem Bein stehen und den langen roten Schnabel trübselig zur Erde senken.

»Wenn ich mir doch eine Feder ausreißen könnte,« dachte sie dann beim Vogel Strauß. »Muttchen brauchte dann ihre Augen nicht zumachen.«

Fast streckte sie schon die Hand aus, als eins der Tiere so dicht am Gitter stand. Ein Rest von Besinnung hielt sie ab. Ein zweiter solcher Rest ließ sie dann an Lu und Onkel Werner denken.

»Zu den Bären, Li,« mahnte sie sich.

Sie rannte nun, verirrte sich wieder und kam zu den Seelöwen, überall gab's so viel zu sehen; sie vergaß sich von neuem. Endlich stand sie dann vor den Bären.

Onkel Werner und Lu waren aber nicht da. Noch nicht? Oder nicht mehr?

Li überlegte erst ein Weilchen, sehr kurz nur; dann beschloß sie, zu warten. Die Bären mit ihrer jungen Brut waren ja urdrollig. Frau Bärin patschte eben einem kleinen kugelrunden braunen Kerlchen tüchtig das Fell. Beifällig brummend stand Vater Bär daneben. Eine rührende Familienszene.

Li hatte wieder alle Welt um sich vergessen. Sie stieg die Treppe hinauf; von oben übersah man alles noch besser. Vielleicht waren Onkel Werner und Lu auch dort.

Das war nun nicht der Fall. Aber ein Bär saß hoch auf dem Baum, der im Käfig steht. Man fütterte ihn mit Brot.

Ein Stück blieb im Gitter hängen. Li stieß mit dem Schirm danach. Das Brot fiel und – der Schirm auch. Er war aus weißer Seide und Spitzen, ein Geschenk von Tante Lisa.

»Mein Schirm!« rief Li höchst kläglich; eine Lachsalve aller, die's sahen, antwortete ihr.

Es war übrigens schon kein Schirm mehr, sondern Fetzen und Splitter nur. Meister Petz hatte flinke Arbeit gemacht.

Verdutzt sah Li nur in lachende fremde Gesichter; nirgends eine Spur von Anteil an ihrem Mißgeschick.

Sie warf den Kopf zurück und ging sehr stolz ab.

»Es ist die mit der Feder,« hörte sie einen Mann lachend sagen.

»Ohne die Feder, willst du sagen,« erwiderte ein zweiter.

Diesmal hatte Li kein Lächeln. Der Scherz prallte an ihr ab.

Wo in der Welt waren Lu und Onkel Werner? Li lief's mit einem Male kalt den Rücken hinunter. Angstvoll sah sie sich um.

War sie wirklich ganz allein in dieser Masse Menschen? Allein in der weiten großen fremden Stadt! In die Welt hinausgestoßen, im fremden Land? Die fremde Sprache dazu! Wie sollte sie sich heimfinden?

Der Menschen wurden immer mehr. Li reckte sich, sah hierhin, dorthin, lief eine Strecke nach links und dann nach rechts.

Gewiß suchten die beiden sie bei den Affen. Zurück also! Diesmal hatte Li keinen Blick für ihre Lieblinge! Nur den Onkel finden und Lu!

Aber die waren nirgends zu erblicken!

»Haben Sie meinen Onkel nicht gesehen?« fragte Li einen Mann in einer Art Uniform, der bei den Affen stand; es war der Wärter. Sie bildete sich ein, er müsse sie vorher in Begleitung des Onkels gesehen haben.

Der Mann grinste und zuckte die Schultern. Ja so, englisch!

»Have you not seen my uncle?«

Der Mann grinste noch mehr.

»I do not know your uncle, Miss. Can't know the uncles of all pretty young Misses.«

Sie hörte nur das Nein und sah das Grinsen. So eilte sie wieder zu den Bären. Dort mußten die Gesuchten ja jetzt sein.

Nichts – und wieder nichts!

Lis braunes Gesichtchen wurde blaß, ihre grauen Augen groß und starr. Was tun?

Sie rannte die breite Terrasse entlang, die zum Haupteingang führt; hin, her und wieder hin. Kein Onkel Werner, keine Lu. Lieber Himmel, was nun?

Ein paar junge Herrchen waren schon aufmerksam geworden. Li sah zerfahren und erschreckt aus, und rannte hin und her wie das Mäuslein in der Falle, das den Ausweg nicht findet und ums liebe Leben bangt.

» Can I do anything for you? Kann ich etwas für Sie tun?« fragte der eine.

Li sah sie erschreckt, fast entsetzt an.

»Ich will heim,« sagte sie kläglich wie ein kleines Kind.

»Oh, she is german,« raunten die Herren einander zu. »Sie ist eine Deutsche.«

Alle lächelten spöttisch. Entsetzt floh Li, wie ein gehetztes Wild. Aber die Bedränger blieben ihr dicht zur Seite.

Da kam die Empörung in Li, zum Durchbruch und vertrieb alles Zagen. Sie wandte sich plötzlich, warf den Kopf zurück und sah ihren Bedrängern furchtlos ins Auge.

»Wenn Sie mich jetzt nicht augenblicklich in Ruhe lassen,« herrschte sie sie an. »I tell you, you leave me alone and go your way – Gehen Sie Ihrer Wege, verstehen Sie! Do you understand me?«

Li raffte all ihr Wissen zusammen und all ihren Mut, reckte die Stubsnase und die grauen Augen blitzten verächtlich.

» I thought you were gentlemen and no rowdies. Anständige Herren benehmen sich anders bei uns in Deutschland.«

Li bebte vor Zorn und fiel in dieser Erregung in ihre Muttersprache zurück.

»Bravo, junge Dame!« sagte da eine Männerstimme dicht hinter ihr. »Ich wollte eben meine Hilfe anbieten, da ich sah, daß Sie belästigt wurden. Aber wen haben wir denn da? Friedel Polten?«

Li fuhr herum und starrte den Herrn, zu dem die Stimme gehörte, mit weit aufgerissenen Augen an.

»Das ist mein Muttchen,« sagte sie und knickste. »Aber wer sind –?« Li brach ab und wurde feuerrot.

»Wer ich bin?« wiederholte der Herr, ein großer, schlanker Vierziger. »Ich bin Max Metzler, Regierungsbaumeister in Bonn, gegenwärtig auf einer Erholungsreise begriffen.«

»Ach, Tante Lilly Echterns Bruder?« rief Li, strahlend vor Freude.

»Gerade der! Und mit wem habe ich die Ehre?«

»Ach, ich bin ja Muttchens Jüngste, die Li. Elisabeth von Rödern, bitte.« Sie knickste wieder.

»Also so sieht Friedel Poltens Jüngste aus? Hm, kann sich sehen lassen!«

»Meinen Sie?« fragte Li sehr zufrieden. Er nickte.

»Hab' Sie ja doch an der Ähnlichkeit mit Friedel Polten erkannt. Und Friedel Polten – alle Achtung!«

»Ja, unser Muttchen!« Li sah ihn ernst an. »Ist noch immer die Schönste, Beste, Liebste, die –«

»Kann mir's denken,« sagte er. »Aber wie kommen Sie hierher, Kind, in diese Lage?«

Er sah sich um. Die Herrchen waren unsichtbar geworden. Li erzählte; er lachte.

»Scheint auch noch sonstige Ähnlichkeit mit Friedel Polten vorhanden zu sein außer dem Gesicht, Kind. Was?«

Li nickte und tat zerknirscht. »Leider, sagt Muttchen.«

»Sagt sie? Aber nun fahren wir heim, Kind. Dort gibt's sonst Tränen und Krämpfe.«

»Meinetwegen?« fragte Li. »O Muttchen sagt, Unkraut verdirbt nicht.«

Er brachte sie zu einem Cab und fuhr selber mit nach Onslow Square.

Onkel Werner und Lu waren mit der Unglückskunde bereits daheim. Sie hatten lange Zeit nach Li gesucht, waren hin und her geeilt zwischen Bären und Affen und hatten sie immer verfehlt. Dann hatte Onkel Werner die Polizei verständigt und Lu rasch heimgebracht. Er wollte eben wieder nach dem »Zoo« und sein Heil nochmals versuchen. Da fuhr unten ein Cab vor.

Lu lief zur Tür – sie war in Tränen und riß die Tür auf. Man hörte Muttchen Friedel eben mit sehr erregter Stimme sagen: »Dies Unglückskind, die Li! Aber ängstigt euch nur nicht zu sehr, Lisa, Fee, Lu. Unkraut verdirbt nicht und Li –«

»Hab' ich's nicht gewußt, daß Muttchen so sagen wird?« fragte Li und blickte ihren Begleiter siegesstolz an.

Dessen Antwort und Muttchen Friedels weiteren Erguß schnitt der Jubelruf Lus ab.

»Da ist sie! Da ist sie!«

Sie rannte die paar Stufen hinunter, hielt Li in den Armen und schluchzte: »Du Durchbrennerin, du!«

Li sah sie ganz verblüfft an und fuhr ihr mit spitzem Finger unter den Augen her; der Finger war naß. Li besah ihn tiefsinnig und hielt ihn Lu hin.

»Um mich, Lu?«

Lu nickte bloß und schluckte weiter.

»Nett von dir,« sagte Li anerkennend. »Will dir's nicht vergessen.«

Regierungsbaumeister Max Metzler hatte belustigt von einer zur anderen gesehen, jetzt lüftete er den Hut, während der Wagen davonfuhr.

»Dürfte ich bitten,« sagte er zu Li und sah bezeichnend nach Lu.

»Das ist nämlich Lu und – Muttchen, Muttchen, aber so eile dich doch! Rate, wen ich mitgebracht habe?«

»So schrei doch nicht so fürchterlich! Was für ein Benehmen ist das, Li? Erst fällt man bald um vor Schreck, weil du nicht da bist, dann erscheinst du und brüllst, daß einem wieder das Zittern ankommt. Ich –«

Indes war Herr Metzler mit langen Schritten die Stufen heraufgestürmt und stand nun vor Muttchen Friedel. Er streckte ihr beide Hände hin.

»Friedel, sind Sie das wirklich?«

Sie sah ihn an und legte ihre beiden Hände in die seinen.

»Max Metzler, natürlich bin ich's. Wie kommen Sie hierher? Und mit der da?«

Er erzählte, Li sprudelte.

»Und weil ich ihn gebracht habe, Muttchen, deshalb –« Ein komisch flehender Blick und stehend gefaltete Hände vollendeten den Satz.

»Geh mir aus den Augen, Li,« sagte Muttchen Friedel, »mach's mit Onkel Werner und Lu aus; die hatten das Schlimmste davon. Ich will mich heute bloß freuen dürfen. Wie sieht übrigens dein Hut aus?«

Schleunig verschwand Li; den Hut nahm sie eilig ab. Sie wandte sich an Onkel Werner: »Onkelchen?«

»Ja?«

»Böse?«

»Ja!«

»Bitte! Bitte! Bitte! Es waren bloß die Affen. Ich konnte nicht los.«

»Na, warst wenigstens in guter Gesellschaft,« spottete er. »Doch geh und bring den Hut in Sicherheit.«

»Der Schirm ist auch dahin!« sagte Li und faßte Lu unter. »Der Bär hat ihn gefressen.«

Entsetzt sah Lu drein.

»Unglückswurm, du!«

Li ließ erst den Kopf hängen, hob ihn aber gleich wieder.

»Muß eben ohne Schirm gehen, basta!«

»Erbarm dich,« jammerte Lu. »Was wird Muttchen sagen!«

Li nickte bloß. Sehr einig gingen dann beide die Treppe hinauf.

Regierungsbaumeister Metzler sah ihnen vergnügt nach und dann Muttchen Friedel ins Gesicht.

»Wenn's nicht zwei wären, glaubte ich mich in alte Zeiten versetzt, Friedel.«

»Gräßlich,« stöhnte die.

»Die alten Zeiten, Friedel?« fragte er vorwurfsvoll, fast beleidigt.

»Ach was! Nee, daß es gleich zwei sein müssen!«

»Ja so!« Er lachte. »Doppelte Freuden, was?«

»Sehr geteilte, Max,« seufzte sie und machte ihr zerknirschtestes Gesicht.

»Wie die alten Zeiten lebendig werden,« rief er noch einmal.

Frau Lisa bestand auf seinem Bleiben und nur zu gern ließ er sich halten.

»Es ist so wie so mein letzter Abend in London. Morgen fahre ich nach Schottland,« erzählte er.

»Und die Frau, Max?«

»Schreibt immer vergnügt. Der Kleine –«

»Ist ein Wunderkind, ich weiß. Lilly sagte es.«

»Sagte sie? Die ersten sind immer Wunderkinder!«

»Mein erstes ist wirklich ein Wunderkind,« sagte Muttchen mit einem warmen Blick auf Fee. »Ich meine nicht sowohl an und für sich, als daß eben eins meiner Kinder so geraten ist.«

Regierungsbaumeister Metzler sah Fee sinnend an.

»Die Natur macht zuweilen wunderbare Seitensprünge,« sagte er.

Da lachte Friedel wie ein Kobold.

»Danke, danke, Max!«

Er wollte erklären und sich rechtfertigen. Da kam Sara und bat zu Tisch.

Es war eine fröhliche Runde, die dann in Tante Lisas Eßzimmer um den schön gedeckten Tisch saß. Vergnügt sah Max Metzler sich um.

»Mir gefällt das häusliche Leben in England. Sie verstehen es, dem Zuschnitt des Ganzen etwas Behagliches, Festliches, Freudiges zu geben; etwas Reicheres als bei uns.«

»Es ist wohl mehr Geld im Land,« sagte Werner Horst.

»Am Geld allein liegt's nicht; es ist die ganze Führung. Betrachten Sie allein solch einen gedeckten Tisch hier. Immer Blumen drauf, niedlich, zierlich alles, jedes Gerät an seinem Platz. Wem schmeckt da das Einfachste nicht wie beim Festmahl? Und dieser Zug geht durch den ganzen Haushalt. Unsere Hausfrauen können da viel lernen. Feste kann jeder feiern. Dem Werkeltag aber eine festliche Miene geben, das ist die Kunst.«

»Merkt's euch, Lu, Li,« sagte Muttchen Friedel.

»Wir heiraten nicht,« sagten die und hoben die Stuppsnasen.

»Ei, das hab' ich ja früher auch schon einmal sagen hören,« rief Max Metzler und sah Muttchen Friedel an.

Die erhob drohend den Zeigefinger.

»Sie sind wohl auch von denjenigen Deutschen, Max, die draußen alles schöner und besser finden als daheim? Denen es vornehmer dünkt, ein nachgemachter Engländer, Amerikaner oder dergleichen zu sein als ein echter Deutscher? Damit bin ich nun gar nicht einverstanden!«

Das war die echte alte Friedel Polten. Wie herausfordernd bitterböse sie ihn anblitzte mit den grauen Augen!

Max Metzler mußte erst einmal auflachen. Dann aber wurde er sehr ernst.

»Ich bin ein guter Deutscher und stolz auf mein Land. Mit niemand möchte ich tauschen. Und Schmach über den Deutschen, der nicht so denkt; in der Fremde zumeist.«

»Es ist nicht deutsche Art, leider,« sagte Werner Horst kopfschüttelnd. »Der Deutsche streift das Heimische ab und zieht das Fremde an, als ob er die Kleider wechsle, und kommt sich im neuen Gewand so viel vornehmer vor. Ein Engländer ist dreißig Jahre im fremden Land und bleibt Engländer. Der Durchschnittsdeutsche braucht drei Monate, um sich irgend einer Nation anzugliedern, wo er doch nie für voll gerechnet wird. Aber es geschieht ihm recht!«

»Sie reden bitter, Herr Horst.«

»Ich habe Bitteres erfahren, denn ich bin deutsch bis ins Mark. Es schmerzt, derlei zu sehen.«

Max Metzler hob sein Glas Werner Horst entgegen.

»Es will allmählich auch bei uns tagen, Herr Horst. Auch der Deutsche wird lernen, daß der Mann und sein Land gewertet wird, wie er selbst sich und sein Land wertet. Auf Deutschlands Zukunft, Herr Horst, auf das Erstarken des deutschen Nationalbewußtseins!«

»Bravo und bravo!« Die Gläser klangen aneinander. Die Männeraugen leuchteten.

»Und nun Musik, Frau Friedel. Ein echtes deutsches Lied!«

»Was sagen Sie dazu, daß sie die Geige gar nicht mitgebracht hat, Herr Metzler?«

Frau Lisa schmollte, Frau Friedel lachte.

»Hätte mir eben noch gefehlt, mit der Fiedel zu reisen. Hätte an mir selber und dem Unkraut da genug! Daß wir heil und ganz hierher gelangt sind, ist ohnehin ein Wunder.«

»Und wann geht's heim?«

»In fünf Tagen, Max.«

»Wie sie sich freut!« klagte Frau Lisa.

Frau Friedel sah die Schwester an.

»Beinahe fünf Wochen ist nun Klaus allein, Lisa! Er hat's verdient, daß ich mich freue.«

Da stürzten Zu und Li herzu.

»Fee singt, Muttchen.«

»Muttchen, Fee singt.«

»Und ihr gröhlt, wie mir scheint! Werdet ihr denn nie –«

Ein Blick in Max Metzlers lachende Augen verwirrte sie.

»Ich glaube, erbliche Belastung ist furchtbar schwer zu überwinden. Die armen Dinger!«

Jetzt lachte Max Metzler aus vollem Halse.

Aber da klang ein Ton durchs Zimmer, der ihn verstummen machte. Fee stand und sang, Tante Lisa begleitete am Klavier. Und wie sang Fee! Goldklar kam der Ton, voll, weich und rund! Ein Mezzosopran, nicht allzu groß, aber von angenehmstem Wohllaut.

»Das Veilchen« von Mozart sang Fee zuerst. Lieb und schlicht und so packend. Man sah das kleine Blümchen stehen, man zitterte beim Nahen des Mädchens.

Der letzte Ton verklang und alle waren im Bann der Stimme.

»Erbliche Belastung ebenfalls, wie mir scheint, Frau Friedel,« sagte Max Metzler und beugte sich vor, daß er Friedels Augen sehen konnte. Die waren naß.

»Behüte,« sagte Friedel erschrocken, »mein Gekratze auf der Geige und dieser Glockenton. Wo es das Kind bloß her hat?«

»Mehr,« sagte er und wandte sich der jungen Sängerin zu, »mehr, bitte. Wer so begnadet ist, muß reichlich geben.«

Und Fee sang, unermüdlich, so wie einst Muttchen Friedel gegeigt hatte. Brahms, Chopin, Schumann, Schubert, alle kamen in bunter Folge. Fee hatte die echte Vogelkehle, die nicht müde wird. Und hatte auch das Anspruchslose, Selbstverständliche mit dem kleinen Sänger gemein. Ihre Gabe erfreute doppelt, weil sie so leicht und so gern gegeben wurde.

Die Hörer konnten denn auch nicht müde werden.

»Wie ein Engel singt sie,« sagte Lu.

»Und sieht so aus,« sagte Li.

Sie hielten sich an den Händen, die zwei Braunen, und staunten die schöne blonde Schwester an.

»Und ist ein Engel,« sagten dann beide, tief aus dem Herzen heraus.

Spät erst verabschiedete sich Max Metzler.

»Es war ein schöner Abend und so unverhofft.«

»Mein Verdienst,« behauptete Li.

Aber Muttchen Friedel drohte: »Mir sprechen uns noch, Li Rödern.«

Li duckte sich und zog den Kopf ein.

»Auf Wiedersehen daheim, Max! Wann kommen Sie ins alte Nest?«

»In diesem Jahr wohl schwerlich. Der Junge ist noch zu klein. Aber nächstes Jahr will ich dran denken.«

»Sie sind so lange fortgeblieben.«

»Es gab da so allerhand, was hinderte. Und wenn ich dann da war, sah ich Sie nicht, Friedel.«

»Oder suchten mich nicht auf. Das ist richtiger.«

Er schwieg ein Weilchen.

»Jetzt ist der Bann gebrochen. Wir sind die alten, Friedel,« sagte er dann.

»Die alten Freunde, Max!«

Rasch verabschiedete er sich nun von den anderen und ging.

»Es war schön, ihn zu sehen,« sagte Muttchen Friedel und ihre Augen glänzten.

Das Strafgericht über Li fiel infolgedessen nicht gar zu streng aus.

»Glück muß der Mensch eben haben,« sagte drum Li, ehe sie Abends die Decke hoch zog und einschlief.

*

Endlich war der Abschiedstag da. Es war ein schweres Trennen. Aber Tante Lisa und Fee zeigten sich sehr tapfer.

In der Morgenfrühe war Fee zu Tante Lisa gekommen.

»Ich will dir für all deine Liebe danken, du Gute. Nie werde ich sie vergessen! Aber meine Pflicht liegt bei Muttchen jetzt. Ich glaube, daß ich ihr daheim von Nutzen sein kann. Ich muß sehen, Tante Lisa, und dann – dann urteilen.«

Warme Liebe sprach aus den jungen Augen, doch zugleich auch Qual und Zweifel.

»Quäle dich nicht, Herz! Laß die Zeit kommen! Sie bringt oft von selbst die Lösung, nach der wir ringen. Wir wollen es uns nicht schwer machen.«

Ja, Tante Lisa war tapfer bis zuletzt. Sie hielt die schluchzende Friedel in den Armen.

»Wie ein Räuber komme ich mir vor, wie ein herzloser Dieb,« klagte sich diese an.

»Weil du etwas an dich nimmst, was dein ist? Was du mich in Großmut sechzehn volle Jahre und mehr genießen ließest? Es wäre klein, nicht daran zuerst zu denken! Kopf hoch, Friedel. In einem Jahr sehen wir uns wieder.« Sehr aufrecht stand Tante Lisa da.

»Auf Wiedersehen!« sagte auch Onkel Werner frisch und ließ Fee aus den Armen. »Auf Wiedersehen, Kinder, in einem Jahr! Einsteigen, es ist höchste Zeit.«

Nun das letzte Überhasten, das so wohltätig die Hochflut der Gefühle eindämmt. Bis die Reisenden all ihren Kleinkram verstaut hatten, war der Zug schon im Fahren.

Fee stand am Fenster und schaute, solange sie die zwei Einsamen dort hinten sehen konnte. Dann wandte sie sich still ab und sah in Muttchen Friedels große, angstvolle Augen.

»Ich hab' euch alle so herzlich lieb,« sagte Fee einfach und zwang ein Lächeln auf ihr blasses Gesicht.

»Wir wollen dir die Heimat lieb machen, Fee,« sagte Muttchen Friedel.

Lu und Li schüttelten an Fees Armen, als ob dies Pumpenschwengel wären.

Indes raste der Zug weiter durchs grüne Land, der Küste zu.

Einen Tag später standen auf dem Bahnsteig des kleinen Städtchens drei beisammen und sahen das Geleise entlang in die Nacht. Sie hielten's im Wartesaal drinnen nicht aus.

»Der Kuckuck mag da in den stickigen Polstern sitzen, wenn Jungchen schon fast in Greifweite ist,« brummte Papa Polten.

»Dein Rheuma, Konrad,« mahnte Tante Lenchen. »Nachtluft ist Gift.«

»Meinetwegen,« knurrte Papa Polten und stapfte nach der Tür.

Tante Lenchen trippelte eiligst hinterher. Es war, als ob die alte Dame froh sei, einen Vorwand gefunden zu haben. Klaus von Rödern war schon draußen.

»Wenn du nochmal so 'ne Dummheit machst, Herr Sohn, dann sind wir geschiedene Leute, merk dir's! Jungchen hat für die Zukunft daheim zu bleiben und damit basta!« Papa Polten war nun mal im Poltern; es erleichterte ihn und vertrieb die Zeit.

Klaus von Rödern lachte und entgegnete: »Glaubst du, ich sei auf Rosen gebettet gewesen, Papa?«

»Wie man's treibt, so geht's! Strafe muß sein!«

Zwei rote Lichter tauchten in der Ferne auf; erst wie zwei kleine Flämmchen; aber sie wuchsen zusehends, und jetzt dröhnte und fauchte es.

»Der Zug!« sagte Tante Lenchen. »Da sind sie!« Und die alte Stimme kippte ihr über.

Genau so ging es ihrem Bruder. »Da sind sie!« Hoch im Falsett; und dann in dröhnendem Baß: »Jungchen, Jungchen, hierher!«

Der Zug stand noch nicht ganz. Eine Tür flog weit zurück und es quoll heraus, wie's eben anging; es purzelte, stolperte, sprang.

Muttchen Friedel lag an Papa Poltens Brust und der hielt sie wie im Schraubstock.

»Jungchen, altes, böses Jungchen!«

»Uff, ich ersticke!« Friedel zappelte mit Armen und Beinen und keuchte: »Wenn die Puste ausbleibt. Papa, dann ist Jungchen futsch.«

Jetzt streichelte der alte Herr ihr über den Kopf. Die Hände zitterten ihm, auch die Stimme.

»Laß mich dein liebes Gesicht sehen, Jungchen. Er hat's schwer vermißt, der Alte.«

»Unglaublich.« Hell lachte Friedel, aber sonderbar schwankte die Stimme. Mit beiden Händen fuhr sie dem alten Herrn in den Silberbart, den sie zauste und wieder glatt strich. Dazu rieb sie ihr Gesicht an seiner Schulter. Ein Glück, daß es dunkel war; man hätte sonst sehen können, daß ihre Augen naß waren, und das liebte sie gar nicht.

»Und wo bleibe ich?« sagte da mit einem Mal eine Stimme.

Klaus von Rödern war es und hielt im nächsten Augenblick sein liebes Weib in den Armen.

»Ein Glück, daß du da bist, Friedel, für mich, für die Jungen, für alles.«

»Das lohnt das Heimkommen, Klaus,« sagte sie und ihre Augen leuchteten. »Waren sie schlimm, Klaus?«

»Lutz und Fritz? Es ging so an. Wir werden uns doch entschließen müssen –«

»Ich geb' sie nicht her, Klaus! Gib dir nur keine Mühe. Meine Jungen, Klaus! Die brauch' ich notwendig. Mit wem sollte ich mich denn herumbalg–«

»Friedel!«

Sie lachte. »Na ja, laß mich sie erst bloß wieder am Zügel haben, dann wird alles recht, Klaus. Ja, wo ist Fee? Die hab' ich über dem Wirrwarr ganz vergessen. Sollst mal sehen, Klaus. Fee! Fee!«

»Hier, Muttchen!«

Tante Lenchen hielt Fee in den Armen. Sie war die einzige, die zuerst an sie gedacht hatte. Nun ließ sie sie los.

»Da ist sie, Frida! Und, Frida, Kind! Daß ich das erleben darf! Als ob meine alten Augen Lisa sähen, meine Lisa. Und noch anmutiger, lieblicher! Übrigens, Frida, gut, daß du wieder da bist. Es war nicht mehr auszuhallen, so bärbeißig war der Konrad. Auch die Alte war recht einsam.«

»Tantchen, liebes!« Friedel streichelte an der alten Dame herum und sah dabei immerzu nach ihrem Mann.

Der hatte seine Älteste in den Armen und schob sie eben ein Endchen von sich, ihr besser ins Gesicht zu sehen. Friedel stand plötzlich neben ihm. »Nun, Klaus?«

Er nickte ihr zu. »Unsere Älteste, Friedel!« Welch ein Stolz lag in diesen Worten!

Muttchen Friedel senkte den Kopf.

»Ohne unser Verdienst, Klaus. Ohne meines wenigstens.«

»Willst du mich verleugnen, Klein-Muttchen?« fragte Fee leise und sanft. »Ihr sollt schon merken, daß ich euer Kind bin.«

Und nun stob's daher mit Gelärme und Geschrei.

»Da ist sie, Großpapa!«

»Da ist sie!«

Lu und Li hielten den alten Herrn rechts und links gepackt und drängten ihn zur Schwester hin, zu Fee.

»Na, laß dich mal anschauen,« polterte der und drehte Fee an den Schultern sich zu. »Alle Achtung,« sagte er dann, »kann sich sehen lassen.« Er schmunzelte vergnüglich und die Stimme, die erst gepoltert hatte, wurde weich. »Ja, jeder hat seine Art. Die Lisa ist mein Kind und das Jungchen – ich meine deine Mutter hier – auch. Die Lisa war immer fein und still und Jungchen – na, Jungchen war eben anders. Aber ich hab' sie beide lieb, sehr lieb. Ich sage das, weil die Lene, ich meine Tante Lenchen, dir 'nen Floh ins Ohr sehen könnte –«

»Konrad!« klang's sehr entrüstet.

Er hob die Hand. »Schon recht, Lene. 'nen Floh, sage ich, weil du manchmal tun könntest, als ob jedermann so sein müsse, wie Lisa zum Beispiel. Niemand kann gegen seine Art und jedes kann in seiner Art vortrefflich sein. Verstanden, Kind?«

Ihre großen blauen Augen sahen ihn ernst und forschend an. »Ich habe Muttchen sehr lieb,« sagte sie leise, so daß nur er es hören konnte.

Er streckte ihr die Hand hin. »Dann Schwamm drüber, Kind.«

»Ja, Großpapa.«

»Nun laß dich küssen. Basta! Und das Unkraut ist also auch wieder da?«

Es galt Lu und Li, die sich von rechts und links lachend an ihn hängten.

»War wohl wundervoll ohne uns, was, Großpapa?«

»Schauderhaft war's, Kinder,« raunte der alte Herr hinter der vorgehaltenen Hand. »Aber sagt's keinem. Tante Lene kratzt mir sonst die Augen aus.«

Herr von Rödern hatte dafür gesorgt, daß das Gepäck aufgeladen wurde. Die Dresdorfer Kutsche und die aus Rödershof war da.

»Jungchen kommt mit uns,« entschied Papa Polten. »Klaus mag sich seiner drei Mädel freuen.«

So stieg man ein, nachdem die beiden Kutscher begrüßt waren, was Lu und Li umständlich und mit viel Freudenlärm besorgten. Dann ging's in die Nacht hinaus.

»Erzähle von Lisa,« sagte Papa Polten und schlang den Arm um sein »Jungchen«.

»Sie wird Fee schwer vermissen, Papa.«

»Arme Lisa.« Er seufzte. »Und Werner?«

»Ist derselbe, der er war: gut, treu und rücksichtsvoll. Deine Töchter haben das große Los gezogen mit ihren Männern, Papa.«

»Beide, Jungchen, beide! Dem Himmel sei Dank!« Er nickte vor sich hin. Dann streckte er der alten Schwester die Hand hin.

»Haben Glück mit unseren Kindern, Lene, was?«

Sie legte die Hand in seine und wollte etwas sagen. Da hielt der Wagen. Friedel beugte sich aus dem Fenster.

»Rödershof!« jauchzte sie. »Daheim!«

Schnell bekamen der Papa und die Tante einen Kuß ab: »Gute Nacht, gute Nacht!«

Ehe Papa Polten noch etwas sagen konnte, war Friedel schon davon, dem großen Tor von Rödershof zu, in das eben der Wagen mit den Ihren einbog.

»Willkommen! Willkommen daheim, Fee!« hörte man sie hell und fröhlich rufen.

Und dann ein gelles Geheul von Knabenstimmen. Lutz und Fritz, die längst zu Bett sein sollten, ließen es sich offenbar nicht nehmen, die Ankommenden zu begrüßen.

Lu und Lis Stimmen klangen drein. Es war ein helles, frohes, aber etwas lärmendes, wildes Durcheinander.

»Tolle Wirtschaft!« rief Papa Polten, und im Gedenken an Friedels raschen Abgang brummte er: »Heilloser Flederwisch, das Jungchen!«

Tante Lenchen nickte vor sich hin.

»Ja, ja, die alte Natur will wieder allzusehr zum Durchbruch kommen. Ihr verwöhnt das Kind, der Klaus und du, Konrad. Allzuviel Sonne taugt nicht. Wie soll sie andere erziehen, wenn sie in sich nicht fest ist? Lutz und Fritz – Lu und Li – wenn einmal trübe Tage kommen, ob das Kind denen gewachsen ist?«

»Schweig doch,« sagte Papa Polten ingrimmig.

Tante Lenchen hörte nicht auf ihn. Wie im Traum redete sie weiter.

»Ein Herz von Gold – von Gold, sage ich. Aber – aber – Ein Glück, daß nun Fee da ist. Solch ein Frieden, eine Ruhe geht von dem Kinde aus. Mir ist das alte Herz warm geworden, Konrad. Wir haben unsere Lisa wieder.«

Er brummte etwas, das wie »Jungchen wird schon allein fertig!« klang. Aber er sagte nichts. Sollte er, um das eine geliebte Kind zu verteidigen, das andere, ebenso geliebte, angreifen?

Da war auch der Wagen in Dresdorf. Eben rasselte er über das Pflaster des Herrenhofes.

»Gute Nacht, Lene!«

»Gute Nacht, Konrad!«

Damit trennten sich die beiden alten Geschwister.

Jedes trug seine eigenen Gedanken ins eigene Zimmer.


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