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Als alle fortgefahren waren, las Fee dem Großvater eine halbe Stunde lang die Zeitung vor; wie die zu Ende war, fragte sie: »Großpapa, was tun wir jetzt?«
Papa Polten dampfte wie unsinnig. Dadurch, daß ihm die Mühe des Lesens genommen wurde, konnte er seiner Pfeife die ganze Kraft widmen. Der Erfolg blieb denn nicht aus; fast undurchdringlich war die Luft im Zimmer. Sie saßen wirklich wie in Wolken.
»Singe etwas,« sagte der alte Herr auf Fees Frage.
»Ja aber –« sagte die und lächelte. »In dem Rauch?« wollte sie sagen, unterdrückte es aber. Sollte sie ihm die Freude an der Pfeife benehmen?
»Zierst dich, he? Ach, wegen des Klaviers? Ich brauch' kein Brimborium. Zu meiner Zeit hat man gesungen, wie einem der Schnabel gewachsen war, jetzt – Na los, basta!«
»Was willst du hören, Großpapa?«
»Einerlei was! Aber ein einfaches Lied; nichts so Verzwicktes und Verschnörkeltes. Zu meiner Zeit – wart mal, deine Großmutter hat gesungen: Guter Mond, du gehst so stille, oder: Wir sitzen so fröhlich beisammen – kennst du das?«
»Nein, Großpapa.«
»Natürlich, heutzutage weiß niemand mehr etwas von dem, was uns Alte gefreut hat. Alberne Zeit!«
Fee streichelte ihm die Hand.
»Nicht brummen, Großpapa. Laß mal sehen, vielleicht find' ich doch etwas, das dir gefällt.«
Fee sang ein paar kleine Mendelssohnsche Lieder, weich, hell und lieb. Der alte Herr summte den Baß dazu und nickte sehr befriedigt. Dann kam Fee ins Husten.
»Aha, die da!« sagte Papa Polten und hob die Pfeife. »Die ist wohl daran schuld, he? Weg damit!«
Aber Fee widersprach.
»Deine Trösterin, Großpapa! Du wirst sie doch nicht schlecht behandeln wollen?«
»Nee, Kind, hast recht; das wäre undankbar. Sie hat treu zu mir gehalten, all mein Lebtag. Ist das einzige zuverlässige Frauenzimmer, basta!«
Fee lachte.
»Und Muttchen, Großpapa? Klein-Muttchen?«
»Jungchen! Je ja, Jungchen!« Papa Poltens Augen leuchteten.
»Erzähl mir von Muttchen, Großväterchen.« Fee kauerte sich neben seinen Sessel und lehnte den Kopf an seine Kniee. Er legte die Hand auf den blonden Scheitel.
»War mir Labung und Augentrost, das Jungchen, der Himmel segne es! Deine Großmutter hat mich früh allein gelassen, sieh. Ich war ein einsamer Mann. Die Lene – na ja, gut ist sie, aber verstanden haben wir uns nie so recht. Daß ich mit aller Gewalt 'nen Jungen wollte, hat sie nie begriffen. Daß ich mir Jungchen zurechtstutzte, so wie ich wollte, hielt sie für ein Unrecht. War ja vielleicht auch eines, weil ich eben nur an mich dachte.« Der alte Herr saß und träumte und stieß dicke Rauchwolken aus.
Fee legte ihr Gesicht auf seine Hand, er fuhr herum.
»Ihr habt nie was an Jungchen vermißt, he? Ist euch stets 'ne gute Mutter gewesen, was?«
»Na ja, also.« Sehr befriedigt nickte der alte Herr. »Und dem Klaus ist sie ein gutes Weib. Das wäscht den Mohren rein, Lene!« Er sagte das, als ob die Schwester anwesend sei. Dann sah er Fee an.
»War famos, das Jungchen, und quietschfidel. Aber immer das Herz auf dem rechten Fleck! Hat Streiche gemacht die Menge, man könnt' ein Buch drüber schreiben, tolle genug, schlimme nie. Hätt' keiner Kreatur was zu leid tun können. – He, was ist das?« Der alte Herr schnupperte in der Luft.
»Ich rieche bloß Tabaksrauch, Großväterchen.«
»Unsinn, es brenzelt. Schau mal zum Fenster hinaus, schnell! Riechst's noch nicht?«
Fee beugte sich aus dem Fenster. Der Hof lag sehr still. Die Leute waren alle im Feld.
Jetzt schien's Fee auch, als ob die Luft von einem sonderbaren Geruch erfüllt sei. Und kräuselte sich nicht dort drüben überm Scheunendach ein leichtes Rauchwölkchen? Jetzt zuckte es gar wie von einem roten Blitz grell durch das Wölkchen hin. Als Fee genau zusah, war's schon verschwunden. Aber da kam's wieder. Wieder, und noch einmal!
Was war das? Fee zitterten plötzlich die Kniee. Sie hörte ein Schlurfen und Ächzen hinter sich. Großpapa Polten schleppte seinen Gichtfuß ans Fenster. Sie eilte ihn zu stützen. Nur ein mühsames Humpeln war's, ein gewaltiges Wettern dazu.
»Donner und Doria, solch ein Krüppel! Schock –«
Fee faßte nach seiner Hand.
»Nicht – nicht!« Sie war sehr blaß und wies nach der Scheune. Eben leuchtete wieder der kleine grelle Blitz durch die Wolke.
»Sieh dort, Großpapa, was ist das –«
»Feuer!« schreit da der alte Herr mit aller Kraft seiner Lungen. »Feuer! Feuer!«
Er sinkt auf den Stuhl am Fenster.
Und wie auf einen Zauberschlag, als ob sie nur auf den Ruf gewartet hätten, brechen die Flammen vor. Hier steigt eine auf und dort eine. Sie ducken sich, wie um Kraft zu sammeln, und schießen dann höher, ducken sich wieder, um noch höher zu steigen. Ein grausames Spiel. Und nun sind es schon unzählige geworden. Gierig leckt eine nach der anderen, reckt sich, züngelt und reckt sich noch mehr.
Die ganze Vorderseite des Scheunendaches ist wie besät von den strahlenden, züngelnden, feurigen, unsteten Flammengebilden, als ob urplötzlich ebensoviele Feuerblumen drauf entsproßt seien.
»Feuer! Zu Hilfe! Feuer!« schreit Papa Polten noch einmal mit aller Macht gegen die stille Dorfstraße hin. Fees helle Angstrufe mischen sich drein.
Und als ob der Ruf wiederum Zaubergewalt besäße – plötzlich ein Krachen und Splittern, ein dumpfes Dröhnen. Eine Riesenfeuergarbe steigt majestätisch in die blaue Sommerluft.
Das Scheunendach ist zur Hälfte eingestürzt. Das Feuer muß, ohne daß man's merkte, schon lange im Innern sein Zerstörungswerk getan haben.
Der himmelanstiebende feurige Mahner hat mehr Gewalt als Papa Poltens und Fees Hilferufe. Man hört Lärm in der Dorfgasse. Erregte Stimmen, Rufe, eiliges Laufen, Pferdegetrappel. Männer schreien sich zu, Weiber kreischen, Kinder weinen, Hunde heulen. Alles ist mit einem Male auf den Beinen und eilt zur Stelle. Durch das Hoftor dringt es schwarz – ein Haufe Neugieriger und Hilfsbereiter.
»Die Spritze!« schreit Papa Polten oben am Fenster, auf seinem Wacht- und Schmerzensposten. »Schnell, die Spritze!«
»Aweil kumme se,« schallt es ihm aus allen Kehlen entgegen.
Man hört Wagenrasseln und Pferdetraben.
Der Inspektor erscheint jetzt keuchend unten im Hof. Er muß in rasender Eile vom Feld hereingelaufen sein. Sein weißer Kopf ist unbedeckt.
»Zum Stall, Leute!« schreit er. »Rettet zuerst die Tiere!«
Ein Funkenregen fliegt schon über das Stalldach; die Mahnung kommt keine Minute zu früh.
Immer höher steigt die Feuersäule. Die frisch gefüllte Scheune bietet reichliche Nahrung. Die zweite daneben ist bereits gefährdet. Ein Glück, daß das Herrenhaus so weit zurückliegt.
Der alte Mann da oben am Fenster muß hilflos und reglos zusehen, wie seine Habe zerstört wird. Er hat die Hände gefaltet, die Pfeife liegt am Boden – nie im Leben ist ihm seine Ohnmacht so zum Bewußtsein gekommen. Die da unten sich regen können im Manneswerk, in Tat und Kraft, die haben es besser; er sitzt hier – ein Unnützer – ein Nichts. Die Tränen laufen ihm über das alte Gesicht. Fee, totenblaß, tränenüberströmt, beugt sich über ihn, tröstet leise und sanft.
Da kommt endlich die Spritze angerasselt. Endlich! Ein Aufatmen geht durch den Menschenhaufen. Vielleicht sieben Minuten sind verstrichen, seit der feurige Mahner gen Himmel stieg, der das Dorf aufstörte. Wie lang erschienen sie denen, die darauf warteten.
Die Feuerwehrmänner richten rasch den Schlauch, und nun steigt der Strahl. Aber solch ein dünner Strahl, so armselig schwach dem züngelnden Riesen gegenüber! Der reckt sich und wie zum Hohn verstärkt sich sein Knistern. Er neigt sich zur Seite, ein klein wenig nur, und bläst mit dem feurigen Hauch über das Dach der Nebenscheune, entfacht auch da winzige, züngelnde, hüpfende und tanzende Flammenkinder. Die lecken, wirbeln, wallen und einen sich. Hier reckt sich eine drohend, wächst, sinkt. Dort steigt eine andere, fällt. Und jetzt – ein dumpfes Poltern. Das zweite Scheunendach ist eingebrochen. Eine zweite Feuergarbe wächst zum Himmel, eint sich der ersten, riesengroß.
Schreckensschreie, verstörte Gesichter, Angstaugen. Wo will das hinaus?
Und immer nur der eine dünne Wasserstrahl! So machtlos sieht er aus, wie Kindermühen gegen Riesenkraft.
Ein Glück nur, daß Windstille herrscht, das Herrenhaus wäre sonst ebenfalls verloren. Aber verloren ist einstweilen die gesegnete Jahresernte in den beiden Scheunen. Die gegen das Feuer kämpfen, sehen es ein und wenden sich ab, zu retten, was zu retten ist.
»Wasser aufs Stalldach!« schreit der Inspektor.
»Und Wasser aufs Wohnhaus!« ruft der alte Mann oben am Fenster. Er zittert für das Haus seiner Väter.
Der dünne Wasserstrahl ändert die Richtung.
»Wenn sie von Loberg nicht bald mit Hilfe kommen, geht die Sache schief,« sagt der Inspektor zu einem Mann, der neben ihm steht. Er keucht schwer und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Einen Trost weiß der Mann, den er angeredet hat, ihm nicht zu geben. Er schweigt und zuckt die Achseln.
Der armselige, dünne Strahl bestreicht das Stalldach, das Dach des Wohnhauses.
Das heißt ihm zu viel zugemutet. Von einem Dach hätte er allenfalls den gefräßigen Feind fernhalten können, von zweien –
Hui, wie die Flammen knistern, prasseln und flackern, wie der Funkenregen stiebt!
Immer aufs neue schlagen die Flammen auf, immer aufs neue schießt die Funkengarbe in die blaue Sommerluft. Ein grausiger – ein großer Anblick!
Über das Stalldach hin leckt der Wasserstrahl, züngelt die gierige Flamme.
Der Weisung des Inspektors folgend, haben die Leute versucht, die Tiere herauszubringen. Die wenigsten folgen gutwillig. Verstört und verängstigt wehren sie sich gegen die rettende Menschenhand. Es braucht viel Geduld und viel Anstrengung, die Gefährdeten in Sicherheit zu bringen.
Aber dort führt einer das letzte zappelnde, bockende, sich sträubende Rind. Der andere hält das letzte steigende, wild ausschlagende Fohlen kurz am Zügel. Im Pferch auf der Wiese drüben steht der ganze Viehbestand von Dresdorf gerettet beieinander.
Der Inspektor atmet auf und wischt sich die Stirn. Trotz seiner nicht mehr jungen Jahre war er der erste beim Bergungswerk.
Er sieht sich um. Ist auch alles beisammen?
Dort stehen die Ziegen. Wo aber ist die große weiße, sein Liebling? Sie hat Kitzlein gehabt, fünf niedliche, drollige Böckchen, schneeweiß wie die Mutter. Wo sind die?
Der alte Mann setzt sich in Trab nach dem Hof zu.
Das Balkenwerk des Stalldachs steht in lichten Flammen.
»Der Stall is auch kaput,« sagt einer. »E beser Schade for unsern Herrn!« Ein scheuer Blick fliegt nach dem offenen Fenster oben im Herrenhause.
Der Strahl des Schlauches bestreicht jetzt nur noch das Dach des Wohnhauses. Der Stall ist dem Verberben preisgegeben.
Da kommt der Inspektor angestürzt: »Leute, die weiße Lise muß noch im Stall sein!«
Er findet nicht viel Aufmerksamkeit. Jeder ist mit sich beschäftigt; die nicht am Rettungswerk mittun, gaffen. Und die paar, die der alte Mann zunächst anruft, zucken die Achseln, sehen zweifelnd in das Flammenmeer und wenden sich taub ab. Um eine Ziege ein Mannesleben? Zu teuer wäre das bezahlt.
Aber es hat sich doch herumgesprochen: »Die weiße Lise ist noch in den Flammen mit ihren fünf Jungen.«
Der alte Mann am Fenster oben ruft: »Was gibt's, Leute?«
Er erhält Bescheid.
»Armes Tier,« sagt er. Und: »So e arm Dierche,« geht's unten von Mund zu Mund.
Eine Frauenstimme, die der alten Wirtschafterin, zetert: »Wie mer so was vergesse kann! Ei, ich deht mich Sind' firchte!«
Aber tatenlos stehen die Leute. Wenn's ein Menschenleben zu retten gelte, jeder wäre bereit. Aber für ein Tier?
Das Leben ist eine köstliche Gabe, aus Güte gegeben, um in Treuen behütet zu werden. Wehe, wer sie verschleudert, diese köstlichste aller Gaben!
Aber mit seinem Herzen muß der Mensch rechnen. Dem einen schlägt's in gleichmäßigem Takt und sein Kopf bleibt klar, wo's um ihn brandet. Dem anderen sprengt es die Brust, wenn er das Leid sieht und die Not der Kreatur, und sei's der stummen.
Der Inspektor mit seinem weißen Kopf und dem jungen, erbarmenden Herzen ist in der Stalltür verschwunden, unter den wilden, prasselnden Flammen, die das Stalldach umbrausen.
Ein jammervolles Meckern ist von dorther erklungen, todesbang, hilfeheischend; das hat ihn nicht zaudern lassen.
Noch war's ja dunkel da drinnen, noch haben die Flammen vom Dach her die Stalldecke nicht durchbrochen. Aber wie lange –?
Ein Schrei geht durch die Menge. Dann atemlose Stille, atemloses Harren. Auch die an der Spritze stellen ihr Werk ein. Ob der alte Mann lebend wiederkehrt?
»For die alt' Geiß!« sagt einer achselzuckend. Allen aber schlägt das Herz schneller, aller Gedanken sind bei dem alten Mann und seiner Tat. Ob sie ihm gelingen wird?
Wie sich die Sekunden dehnen – fast nicht zu ertragen. Und die Flammen recken sich, brausen, knistern, prasseln, züngeln, dehnen sich wild und wilder, greifen um sich mit gierigen Armen.
Da – in der Tiefe des Stalles taucht der weiße Kopf auf.
»Er kimmt! Er kimmt! Er hot se am Bennel! Die Geiß! Die Lis! Weiß der Himmel, do is se! Des is einer, der Inspektor!«
Von allen Seiten klingen diese Rufe.
»Die Jungescher hot er awer nit!« ruft eine Weiberstimme.
»Auch noch! Ei zum Kuckuck zu! Ei, was glaube Se dann, Wewern? Als ob dem Mann sei Lewe drei Batze wert wär'!«
Entrüstungsrufe aller Art hageln über die Frau. Sie duckt sich unter dem Sturm, erstaunt und verstört. Sie hat sich ja weiter gar nichts bei ihrem Ausruf gedacht. Und von ihr weg wenden sich alle wieder dem Stall zu.
Da steht der Inspektor schon unter der Tür und zerrt an der Ziege, die bockt und sich widersetzt. Flinke Hände greifen zu, Inspektor und Ziege sind in Sicherheit. Droben aber fauchen und prasseln noch immer die Flammen.
Noch hält das Dach.
Alle wollen aufatmen. Die Spritzenleute setzen aufs neue ein mit Pumpen. Im Bogen steigt der Wasserstrahl.
Da kommt etwas, das alle, die es sehen, erstarren macht.
An dem Knäuel vorüber, der sich um den Inspektor und die gerettete Ziege ballt, gleitet etwas Weißes, Schmiegsames, Schlankes.
Wie eine Vision verschwindet es im Dunkel der Stalltür. Starr stehen die einen, verständnislos schauen die anderen. Und von Mund zu Mund geht's halblaut, erschreckt, entsetzt: »Des Freilein! Des is des Freileinche gewese!«
»Ei die well dann?«
»Die, wo in Engeland gewese is!«
»Die Scheu? Die Groß?«
»Herr, du mein –! Barmherziger Himmel!« kreischen die Weiber, schlagen die Hände über dem Kopf zusammen und heulen. Und die Männer stehen regungslos und blaß da. Dem einen und dem anderen zuckt's im Fuß. Aber es liegt wie eine Lähmung über allen.
Was ist auch zu tun? Schon neigt sich das Dach. Die nächste Minute entscheidet über ein Menschenleben.
Den Inspektor, der alsbald wieder hinein will in den verderbendrohenden Feuerherd, reißen ein paar Fäuste zurück und zwingen ihn, trotz seines Wehrens.
»Hier gebliwe! Do is jetz nix mehr ze mache!«
Undeutliches Murmeln nur im ganzen Kreise.
»Zurück, Mann!« klingt vom Fenster oben auch des Herrn Stimme. »Das Leben ist kein Pappenstiel, um es so in die Schanze zu schlagen!« Und weicher dann: »Sie haben das Ihre getan, Möller, Sie können zufrieden sein.«
Mit fast wirrem Blick sieht der alte Mann nach oben. Der dort hat ja keine Ahnung, was für ein Leben jetzt eben da drinnen in die Schanze geschlagen wird. Er merkt offenbar nicht, daß die Enkelin nicht mehr an seiner Seite ist. Soll man es ihm sagen?
Aber niemand hat das Herz dazu.
Regungslos, atemlos stehen die Männer und starren, und die Weiber heulen lauter und lauter.
Wie die Flammen rasen und steigen! Wie sie sich ducken und wieder auflodern!
Nun sinkt das Dach nach hinten. Ein greller Schein zuckt in dem Dunkel des Stalles auf. Die Decke ist geborsten!
Ein Entsetzensschrei, einstimmig aus vielen Kehlen.
Aber da steht es weiß und schlank unter der noch unversehrten Stalltür – Fee!
An ihrer Brust birgt sie – ein Engel des Erbarmens, und die das Bild geschaut haben, werden es nie vergessen – birgt sie ein weißes Zicklein.
Kläglich meckert das Tierchen, kosend neigt Fee das Gesicht und spricht ihm zu.
Dabei zögert ihr Fuß. Das wird ihr verhängnisvoll, ist der Augenblick, der über Leben und Tod entscheidet. Ein ohrbetäubendes Krachen – in Trümmern liegt der Stall.
Geborsten tagen die schwarzen Balken aus dem lodernden Feuerglast. Zum Himmel flammt die Lohe. Wo noch eben die Tür war, ist ein Chaos von schwelenden Balken und gestürzten Steinen.
»Aweil kumme se! Aweil kumme se!« Die Dorfjungen brüllen es.
Die Ankündigung gilt der Loberger Spritze, die eben in den Hof rasselt, und dem Dresdorfer Wagen, der die von Haus Abwesenden bringt. Werner Horst und Herr von Rödern sind die ersten, die abspringen.
Sie sehen die Zerstörung rings, sehen, wie das Feuer gewütet hat und noch wütet. Sie sehen auch den Menschenknäuel, der sich dort um etwas drängt. Und sie ahnen, daß dort etwas sich ereignet haben muß, das mehr ist, als bloßer Verlust von Hab und Gut.
Sie hören die Weiber heulen und sehen die Männer gedrückt und stumm herumstehen. Eine eigentümliche, beklemmende Stille liegt über dem Menschenknäuel, eine Stille, die lähmend wirkt, im Gegensatz zu dem fortgesetzten Krachen und Bersten und Splittern.
Quer über den Hof eilen Werner Horst und Klaus von Rödern, wortlos wie auf Verabredung. Und nun sind sie dicht an dem Menschenknäuel.
»Was gibt es hier?« Klaus von Rudern fragt es und er weiß nicht, weshalb ihm die Stimme so sonderbar heiser ist und kaum aus der Kehle will. Man öffnet ihm eine Gasse, stumm und mitleidig. Nun steht er – und sieht.
Werner Horst muß plötzlich zufassen, denn der starke Mann wankt. Wie im Traum schaut er zuerst, als ob er das, was er sieht, nicht fassen könne.
Da liegt ein Mann am Boden mit weißem Haar. Es ist der alte Inspektor, er kennt ihn genau. Mitleidig hat ihm ein Hilfreicher den Arm unter den weißen Kopf geschoben.
Und daneben kniet eine Frau. In ihren Schoß ist ein Blondkopf gebettet, ein Engelsgesicht, lilienzart, aber so still, so totenblaß, über die Stirn sickert ein Blutbächlein und die Augen sind geschlossen. In den Armen hält die reglose, schlanke, weiße Gestalt ein Zicklein, hält es noch fest in der Dämmernacht der Starre und Leblosigkeit. Das Tierchen aber lebt, es wimmert und leckt die Hände, die es gerettet haben.
Klaus von Rödern sieht das alles wie im Traum. Seine Zähne schlagen aufeinander und er kann seine Stimme nicht finden.
Werner Horst hat ihn losgelassen; alles das, was er sehen mußte, hat ihn selber aufs tiefste getroffen. Da lauert er schon neben der Frau, zeigt nach dem weißen Gesicht in deren Schoß und flüstert leis und scheu: »Lebt sie?«
Die Frau schluchzt laut auf. Was sie sagt, versteht man nicht. Denn jetzt ist Klaus von Rödern zu sich gekommen.
»Fee! Fee! Mein Kind! Mein Kind!«
Der Jammerruf schallt über den Hof. Er weist auch Muttchen Friedel den Weg zu ihrem Kind.
Da kauert sie nun und hält es in ihren Armen.
Sie legt das Ohr an ihres Kindes Herz.
»Sie lebt, Klaus, sie lebt!«
Und Muttchen Friedel hat plötzlich Löwenmut und ist ganz klar und so tapfer.
»Eine Matratze,« befiehlt sie, »schleunigst den Doktor rufen!«
Und sie sorgt, daß man ihr armes Kind sacht und behutsam auf die Bahre legt – »man kann ja nicht wissen, wo sie verletzt ist, Klaus, und wie man ihr schaden könnte –«
Dann bettet sie ihr Kind, sachte und sorgfältig in dem alten trauten Mädchenstübchen und sitzt und harrt, denn Fee ist noch immer bewußtlos.
Am Fußende des Bettes stehen Frau Lisa und Tante Lenchen; diese mit hilflosem, klagendem Wimmern, Frau Lisa still, starr und tränenlos. Am Boden neben dem Bett kauern Lu und Li, noch in ihren Zigeunerlumpen und mit geschwärzten Gesichtern.
Klaus von Rödern steht neben dem Stuhl seines Weibes, aufrecht und starr. Mechanisch fährt zuweilen seine Hand über den gesenkten braunen Kopf vor ihm. Sein Auge läßt nicht von der auf dem Lager hingestreckten Gestalt.
Werner Horst führt den alten Mann herbei, der drüben am Fenster hatte untätig harren und all das Grause schauen müssen.
Wie der gemerkt hat, was ihn da unten härter getroffen als die Wut der Flammen, wie er das leblose Kind über den Hof tragen sah, da hat er sich mit seinem Gichtbein dahinschleppen wollen, wo seine Liebsten litten. Bis in die Mitte des Zimmers ist er gekommen und dort hilflos zusammengebrochen.
Da findet ihn Werner Horst, wimmernd – ein alter, schwacher, hilfloser Mann.
Muttchen Friedel in all ihrer Not war die erste, die seiner dachte.
»Hat denn niemand nach Papa gesehen?«
Da war Werner Horst gegangen. Und nun brachte er ihn, mühsam, mehr ihn schleppend als ihn stützend.
»Jungchen,« sagt der alte Mann. »Jungchen, ich hab' nicht genug aufgepaßt.«
Und dann weint er wie ein Kind; Muttchen Friedel hat nur an ihm zu trösten.
Sie schieben ihm einen Stuhl dicht an ihre Seite, und von ihrem leblosen Kinde weg gibt sie dem alten Mann zuweilen einen warmen, ermunternden Blick und tröstet lind: »Nicht weinen, Papa, nicht weinen! Es wird ja alles gut werden!«
Ja, Muttchen Friedel ist tapfer, so tapfer! Und doch bricht ihr beinahe das Herz, wenn sie das stille weiße Gesicht dort sieht. So harren sie des Arztes.
Fee hat sich noch nicht gerührt. Stumm liegt sie und starr, aber sie atmet leise, leise, man sieht es deutlich.
Eine endlose Zeit vergeht – fast eine Ewigkeit.
Von draußen dringen die aufgeregten Rufe der Menge in das stille Zimmer, zu dem Lager Fees. Man hört das Prasseln und Knistern der Flammen, das Brechen und Stürzen der Balken. Man hört auch das Arbeiten der Spritze, das Niederfallen und Zischen des Wasserstrahls. Wen kümmert's! Mag das Zerstörungswerk weiter wüten oder zum Einhalt kommen, sein Schlimmstes hat es getan. Nichts, was es draußen niederwirft, reicht an das heran, was es hier niedergestreckt hat.
Werner Horst ist einmal gegangen, um sich von dem Stand der Dinge draußen zu überzeugen. Er kommt wieder und berichtet flüsternd, daß die Loberger Spritze im Verein mit der Dresdorfer allmählich über das Feuer Herr werde. Das sei auf die zwei Scheunen und den Stall beschränkt; dem Herrenhaus drohe keine Gefahr mehr.
Er hat es dicht am Ohr des alten Mannes geflüstert. Der senkt bloß den weißen Kopf, läßt aber die Augen nicht von dem stillen Gesicht vor ihm. Nur Muttchen Friedels Hand hält er fest.
Endlich kommt der Arzt. Er weist alle hinaus, nur Muttchen Friedel und Tante Lisa dürfen bleiben. Die anderen harren auf dem Flur vor der Tür.
Lange dauert es. Papa Polten und Tante Lenchen haben sich dicht zusammen auf die Treppenstufen gesetzt, als ob eines beim anderen Trost und Halt suche.
Lu und Li sind fortgeschlichen und haben sich gesäubert. Dort stehen sie jetzt, hilflos, verweint, zwei arme, erschreckte Kinder. Grausam ist vor ihren lachenden Kinderaugen der Wetterschlag des Schicksals niedergefahren.
Tante Lisa ist ein paarmal ab und zu gegangen, Hilfereichungen zu tun. Aber Fee ist noch immer nicht bei Bewußtsein! Und was der Arzt sagt? Einstweilen nichts. So harren sie weiter.
Von außen kommen immer dieselben Laute, bloß daß jetzt das Zischen und Aufklatschen des Wasserstrahls stärker vernommen wird als zuvor das Knistern und Prasseln der Flammen. Da geht die Tür auf, der Arzt erscheint. Er ist sehr ernst, wie er Klaus von Rödern die Hand reicht. Der will etwas fragen, aber die Stimme versagt ihm.
»Sie ist jetzt bei Bewußtsein, Herr Baron,« sagt Doktor Mühren, »aber noch sehr schwach. Ich möchte bitten, nein, ich muß drauf bestehen, daß ihr die vollkommenste Ruhe zuteil wird. Nur die Mutter und Frau Horst dürfen um sie sein. Ich bleibe vorläufig. Ich muß nur meinem Kutscher Bescheid sagen.«
»Und –und–« Klaus von Rudern gehorcht die Stimme noch nicht recht.
»Ich habe einstweilen keine äußere Verletzung feststellen können, Herr Baron.« Doktor Mühren versteht, was jener fragen wollte. »Sie ist anscheinend unverletzt. Eine eingehende Untersuchung konnte ich der Schwäche wegen nicht vornehmen. Es muß wohl etwas den Kopf gestreift haben, daher die tiefe Ohnmacht. Mut, nur Mut – sie ist jung und kräftig, das hilft über viel hinweg.«
Jetzt redet der Mensch zum Menschen. Doktor Mühren preßt Klaus von Röderns Hand. Der hat unwillkürlich nach dem Treppengeländer gegriffen, einen Halt zu haben.
»Ich gehe, meinem Kutscher Bescheid sagen,« damit will Doktor Mühren sich entfernen.
Da hält ihn Papa Pollens Ruf zurück. Dem ist plötzlich etwas durch den Sinn gefahren.
»Und mein alter Möller, Doktor?«
Der wendet sich tiefernst um.
»Daß alles für ihn geschieht, was geschehen kann, Doktor, alles! Er ist die treueste Seele, die ich je auf dem Hof hatte.«
»Der braucht keine Hilfe mehr, Herr Polten,« sagt leise Doktor Mähren.
»Keine H... – ist er – ist er –?«
Der alte Mann dort auf der Treppe zittert mit einem Male so, daß ihm die Stimme versagt.
»Er ist tot,« sagt Doktor Mühlen.
»Tot? Wie –« fragt Klaus, von Rödern.
»Es scheint, daß er im letzten Augenblick, als das Dach schon einbrach, noch herzustürzte und Ihre Tochter herausriß. Dabei ist er selbst unter das Balkenwerk gekommen.«
»So hat er – hat er also – mein – mein Kind ge – rettet?«
»Er hat es vor dem sicheren Tode bewahrt!«
Lu und Li weinen laut auf. Doktor Mühren hebt die Hand.
»Ich muß auf vollständiger Ruhe bestehen, sonst hafte ich für nichts. Die Herrschaften gehen am besten nach unten, hier kann doch niemand etwas helfen. Herr Horst und Herr von Rödern sind nämlich sehr nötig bei den Leuten draußen. Mit dem armen alten Möller fehlt die Oberleitung. Unseren Gichtpatienten hier schaffen wir zuerst hinunter. Angepackt, bitte! Das gnädige Fräulein« – das galt Tante Lenchen – »wird allerhand Anordnungen in der Wirtschaft geben müssen; das Leben will eben seinen Gang gehen und die Leute, die so treulich geholfen haben, brauchen Verpflegung. Für meine jungen Freundinnen« – er nickte Lu und Li zu – »gibt es also die Menge zu tun, um überall einzuspringen. Mit Weinen allein kommt man nämlich in der Not nicht durch. Das Tun gilt'.«
So brachte er sie alle in Trab und auf irgend einen Posten. Und alle fanden alle Hände voll zu tun. Das Löschen war inzwischen erfolgreich vorwärts gegangen. Die Flammen waren ganz klein geworden, das Wasser hatte sie endgültig besiegt.
Eine wüste, schwarz verkohlte Trümmerstätte lagen die Scheunen und Stallungen. Unaufhaltsam sauste der Wasserstrahl hinein und vollendete das Zerstörungswerk.
Es galt nun das Vieh und die Pferde für die Nacht zu bergen, es galt, das Chaos zu sichten und die nötigste Ordnung zu schaffen. Werner Horst und Klaus von Rödern mußten alle Kraft und alles Denken zusammennehmen, um allem gerecht zu werden.
Auch Tante Lenchen mußte alle Kräfte anspannen. War Dresdorf auch reich an Vorräten, heute galt es, Scharen zu verpflegen. Denn keiner, der geholfen hatte, sollte ungelabt abziehen. Li stand Tante Lenchen treulich zur Seite.
Auf Lus Teil war das Schwerste gefallen, sie mußte tatenlos neben dem Großvater ausharren.
Ganz gebrochen saß der alte Mann, hilflos, seines Unglücks sich bewußt und tief unglücklich drüber.
»Hätt's mich alten Krüppel getroffen, was läge daran? Aber da sitz' ich und kann das Gichtbein nicht rühren und das Kind liegt oben – das Kind! Jungchens Älteste, sein Stolz! Brauchst die Augen nicht so aufzusperren, Mädel. Ihr seid schon recht, Li und du, nur – bloß – ach, ich seh' noch ihr liebes, helles Gesicht, wie sie dasaß und sang, dem alten Mann zu Gefallen, so weich, so lieb! Und bei mir hat sie bleiben wollen, bei mir, statt mit den anderen zu gehen! Und nun – und nun! Hätt' sie doch den alten Krüppel allein gelassen, sie wäre heil und frisch.« Er schüttelte den greisen Kopf und die Tränen rieselten ihm übers Gesicht. »Und mein alter treuer Möller! Ein Menschenalter lang hat er mir durchgeholfen, durch dick und dünn! Heute auch – heute erst recht! Für mein Enkelkind ist er in den Tod gegangen – treue alte Seele, – treue, treue alte Seele!«
So klagte der alte Mann. Machtlos saß Lu neben ihm und konnte ihm nur wieder und wieder über die Hand streichen: »Großpapa, mein Großpapa, es wird ja noch alles gut werden. Alles, Großpapa!«
»Dazu lebt man nun an die siebzig Jahr, bekommt weiße Haare und mürbe Knochen, um solches zu erleben!« Er senkte den weißen Kopf. Doch dann hob er ihn wieder, sah mit seinen blauen Augen, die noch voller Tränen standen, hinauf, wohin alle betrübten Augen schauen, wenn sie Trost suchen.
»Ich will nicht undankbar sein, du Vater im Himmel! Viel Schönes habe ich genossen und du hast mir viel Liebes erwiesen. Nun murrt der Alte, wenn du die Hand hebst und sagst, es ist nicht nur Sonne, es kann auch ein Wetter kommen. Ja, es ist gekommen, du, mein Herr, und wie! Ein Schlag ist heruntergefahren aus deinen Wolken – ich halte still, ich halte still. Nur, wenn es dein Wille ist, Herr, Herr – rette das Kind!«
Ein Gebet war's zuletzt von des alten Mannes Lippen. Lu lag auf den Knieen neben ihm und barg das Gesicht an seinem Knie; er strich ihr über den Braunkopf.
Da kam Tante Lisa, von Muttchen Friedel gesandt, und brachte Nachricht. Es stand immer gleich im Krankenzimmer. Fee hatte nochmals eine tiefe Ohnmacht gehabt und war jetzt wieder bei sich, nur sehr, sehr schwach. Doktor Mühren wollte die Nacht über bleiben.
Muttchen Friedel ließ Papa bitten, doch ja recht ruhig und gefaßt zu sein; es mache sie selber still, sonst müsse sie sich um zwei sorgen.
»Das Jungchen, das Kind! Denkt in all seiner Not an den alten Mann.«
Von da an war er sehr still und gefaßt.
Draußen war allmählich Ruhe eingetreten. Die müßigen Gaffer, hatten sich verzogen, nur die Feuerwehr hielt Wacht und gedachte auch die Nacht über zu bleiben.
Klaus von Rödern kam, zu berichten.
»Ich habe Friedel versprochen, daß ich mit Lu und Li, heimgehe. Es ist ihr ein Trost, alles dort im rechten Gang zu wissen. Doktor Mühren versichert, ich könne es unbedenklich tun. Es ist auch für euch besser, ihr kommt zur gewohnten Ruhe – soviel als möglich, Papa.«
Die Männer schüttelten sich stumm die Hand.
Und dann ging Klaus von Rödern mit seinen beiden Mädchen nach Rödershof. Es war ein trauriger Heimgang.
Drei Tage nach dem Brandunglück wurde der alte Inspektor begraben.
Ganz Dresdorf nahm teil an der Beerdigung, von allen Gütern rings kamen die Nachbarn. Vater Polten war sehr beliebt, man dachte, so zugleich ihm Teilnahme zu beweisen; außerdem war der Tote sehr geachtet gewesen.
Manch einen trieb auch die Neugierde; eine Brandstätte lockt immer. Dann gingen allerhand Gerüchte über das Befinden der Verunglückten um. Man dachte, so endlich einmal die Wahrheit zu erfahren. Felicitas von Rödern war ein großer Liebling in der Gesellschaft.
Nun standen die Menschen dicht geschart im Hofe des Dresdorfer Herrenhauses, angesichts der Brandstätte alle lautlos. Man hatte um möglichste Stille gebeten, der Kranken wegen, der man alles Erregende fernhalten mußte.
Mit einem Berg von Blumen bedeckt wurde der Sarg jetzt auf den Wagen gehoben. Zur Hallentür heraus, über die Freitreppe herunter kamen drei Herren. Herr Polten hatte es sich nicht nehmen lassen, trotz allen Zuredens der Seinen, seinem treuesten Diener das Geleite zum Grab zu geben. Mit eiserner Willenskraft zwang er sich und sein Gichtbein.
»Werde doch das noch tun können für meinen alten Möller!« hatte er gesagt.
Man mußte ihn gewähren lassen. Klaus von Rödern und Werner Horst stützten ihn. Der Zug setzte sich alsbald in Bewegung. Als erste gingen die drei Herren hinter dem Sarge her. Die anderen schlossen sich an.
Zum Tor hinaus schwankte langsam der Leichenwagen.
Wie oft war der, den sie jetzt hinausführten, durch das Tor herein- und hinausgefahren in treuester, nimmermüder Pflichterfüllung.
Daran dachte der alte Mann, der dem Sarg zunächst folgte; er hielt den greisen Kopf gebückt und die Augen standen ihm voll Tränen, deren er sich nicht schämte.
Endlich war der Letzte verschwunden, der dem Toten das Ehrengeleite gab. Leer und öde lag der Hof, wüst und schwarz die Brandstätte. Verkohltes Gebälk ragte zum Himmel auf, geborsten klafften die Mauern. Keine Hand war daran gelegt worden seit dem Tag, da die Flammen wüteten und der alte Mann den Tod fand.
»Wir wollen seine Ruhe nicht stören. Erst dem Tod sein Recht und dann zurück zum Alltag,« hatte Herr Polten befohlen.
Und sonntagsstill – totenstill war's in den Tagen auf dem Herrenhof in Dresdorf gewesen. Still auch in dem Mädchenstübchen, wo einst »Papas Junge« sein Nest gehabt, wo Streiche ausgeheckt oder verbüßt wurden. Jetzt saß da Muttchen Friedel am Lager ihrer Ältesten und sah voll Not, voll Zittern und Bangen in deren stilles, weißes Gesicht.
Weiß und still war das, stumm und reglos lag Fee. Zuweilen schlug sie die tiefen blauen Augen auf; sie waren müde, so müde. Aber warm und voll Liebe trafen sie Muttchen Friedel und Tante Lisa. Sprechen konnte sie nicht, nur mit den Blicken danken. Wie ein Bann lag es über dem jungen, matten, todschlaffen Körper.
»Die Nerven haben einen furchtbaren Stoß erlitten,« sagte Doktor Mühren. »Ich kann mir's nicht anders erklären. Nur Ruhe kann da helfen und Geduld!«
So hatte Fee alle die Tage gelegen und lag auch so heute – jetzt, wo sie unten den alten toten Mann zur Ruhe brachten.
Muttchen Friedel wußte, was vorging; daß sie just eben den hinaustrugen, dem sie es zu danken hatte, daß ihr Kind überhaupt noch atmete. Und Muttchen Friedel faltete unwillkürlich die Hände und lauschte auf die dumpfen Laute, die vom Hof herausdrangen: leises Murmeln, Füßescharren, dumpfe Tritte.
»Muttchen,« kam es da kaum hörbar vom Lager her und Frau Friedel sah in Fees weitgeöffnete Augen, »Muttchen, was wollen die Menschen alle?«
Träumte Fee? Phantasierte sie?
Muttchen Friedel fand sich nicht gleich zurecht, angstvoll beugte sie sich vor.
»Die Menschen? Welche Menschen?«
»Unten im Hof, Muttchen.«
Da erschrak Muttchen Friedel.
»Du hast geträumt, Kind. Ich höre nichts.«
Fees Augen schlossen sich wieder und Muttchen Friedel atmete auf; doch gleich darauf begann Fee von neuem: »Was ist aus Herrn Möller geworden?«
Jetzt zitterte Muttchen Friedel und preßte ihre Hände ineinander.
»Aus unserem alten Möller?« wiederholte sie die Frage.
»Ei riß mich doch heraus, als – als –«
Ein Schauder lief durch die hingestreckte Gestalt, und ihre Augen schlossen sich wieder. Angstvoll beugte sich Muttchen Friedel über ihr Kind.
»Ihm ist wohl, Fee, ganz wohl.« Und sie strich über das stille weiße Gesicht.
Da war's, als ob ein Seufzer der Erleichterung von Fees Lippen käme. Ein Kuß, flüchtig wie ein Hauch, streifte Muttchen Friedels kosende Hand. Tiefes, gleichmäßiges Atmen zeigte, daß die Kranke wieder schlummerte.
Lu und Li hatten dem Trauerzug herzbrechend nachgeweint, nachgeblickt. Sie standen mit Tante Lenchen an einem Fenster oben, an demselben, von dem aus Papa Polten das Zerstörungswerk der Flammen auf seiner Väter Hof mitangesehen hatte.
Tante Lenchen sah jetzt auf die weinenden Mädchen. Und sie nickte leise mit dem grauen Kopf.
»Erbarm dich, ja, so kommt der Ernst des Lebens und die Not und fällt jeden an, jeden! Und die da lachten, müssen weinen! So ist das Leben, Lu, Li!«
Die hatten die Tränen mittlerweile getrocknet.
»Wir sehen nach dem Böckchen, Tante Lenchen, Fees Böckchen, du weißt ja! Wir päppeln's groß, es nimmt schon die Flasche, die Webern hat's uns gelehrt. Es soll hüpfen und springen, wenn erst Fee gesund ist!«
Im Reden noch waren sie an der Tür und draußen, eilig, voll Eifer, voll Leben und Drängen.
Tante Lenchen sah ihnen nach und schüttelte den grauen Kopf.
»Erbarm dich! Das hat denn wohl der Herr so eingerichtet: mit nassen Augen lachen! Ja, jung sein! – jung sein!«
Inzwischen kauerten Lu und Li vor dem kleinen weißen Böckchen, das Fee aus den Flammen geholt hatte. Es scheute vor der Flasche und machte drollig-täppische Sprünge. Lu und Li mußten lachen, die Augenwinkel noch naß von den Tränen, die sie dem Toten nachgeweint hatten.
Endlich nahm das Böckchen die Flasche, Lu und Li waren entzückt.
»Sieh doch, Lu, sieh!«
»Was Fee wohl sagen wird, wenn sie erst gesund ist, Li?«
»Wenn sie's nur schon wäre, Lu!«
»Ja, wenn sie's nur wäre, Li!«
Ja, wenn Fee gesunden wollte!
Vierzehn Tage nach dem Brande sagte Doktor Mühren zu Papa Polten, Klaus von Rödern und Werner Horst, die um ihn herumstanden: »Ich schlage vor, meine Herrschaften, daß wir einen zweiten Arzt zu Rate ziehen?, eine Autorität, Professor Wissen aus Rüdingen. Es wäre mir eine Beruhigung.«
Tante Lenchen mußte sich schnell in einen Sessel setzen, als sie es hörte; die alten Beine versagten ihr den Dienst.
»Ich sage das nicht, um Sie zu ängstigen und zu erschrecken, Herr Baron,« fuhr Doktor Mühren indessen fort, »ich möchte nur nichts versäumen und mir nichts vorwerfen müssen. Zwei sehen immer mehr als einer und ich bin nur ein schwacher Mensch.«
Klaus von Rödern schüttelte ihm die Hand.
»Sie haben unser ganzes Vertrauen, Herr Doktor, Ich will ohne jedes Bedenken tun, was Sie vorschlagen.«
Auch Papa Polten und Werner Horst stimmten zu. Tante Lenchen aber war still mit zitternden Knieen hinausgeschlichen. War sie denn wirklich die Unken-Natur, wie der Bruder ihr immer vorwarf? Oder hatte nur sie allein gesehen und recht gesehen, daß hinter des Doktors Worten sich etwas barg, das –
»Erbarm dich!« schluchzte Tante Lenchen laut auf, als sie nun in der Stille des eigenen Zimmers war, »das Kind! Dies schöne, liebe, gute Kind!«
Vierzehn Tage lang lag nun Fee so hingestreckt, weiß, still, reglos und klaglos. Keine Änderung zeigte sich, nicht zum Guten, nicht zum Schlimmen. Sie verlangte nach nichts, wollte sich nicht aufsetzen, scheute jede Bewegung. Meist lag sie mit geschlossenen Augen, antwortete aber freundlich auf jede Frage mit ihrer leisen, weichen Stimme. Sie klagte auch nicht, noch sprach sie von Schmerzen.
»Ich bin nur so müde, so müde,« war all ihre Rede.
Sie hatte den Großvater zu sehen verlangt, den Onkel, Tante Lenchen, die Schwestern. Für jeden hatte sie einen stillen warmen Blick, ein leises, liebes Wort.
Alle waren mit Tränen gegangen. Alle konnten die Erinnerung an die tiefen, blauen Augen, an die weiche, leise Stimme nicht loswerden. Allen lag etwas Unnennbares auf dem Herzen, das drückte und quälte.
Endlich wurde der Professor auf Dresdorf erwartet. Klaus von Rödern holte ihn in seinem Wagen von der Bahn. Sie nahmen Doktor Mühlen mit und fuhren nach Dresdorf.
Unterwegs hatte sich der Professor von allem unterrichten lassen. Sonst waren sie recht still gewesen, die drei Herren.
Als der Wagen auf den Hof fuhr, sagte Muttchen Friedel zu der Kranken: »Fee, der Vater und ich haben noch einen zweiten Arzt kommen lassen. Eben fährt er auf den Hof. Wir möchten doch unser Kind schnell gesund haben, siehst du?«
Muttchen Friedel zitterten die Kniee und die Stimme, aber sie zwang sich ein Lächeln ins Gesicht.
Fee sah sie still an.
»Tut, was ihr für recht haltet, lieb Muttchen.«
Es klang so müde, klaglos geduldig – Muttchen Friedel konnte vor Jammer kaum an sich halten. Ein Glück, daß eben die Herren kamen.
Der Professor wollte bei der Untersuchung mit Doktor Mühren und der Kranken allein sein. Da harrte Muttchen Friedel draußen auf der Treppe und kauerte sich auf den Stufen zusammen; neben ihr saß Klaus von Rödern.
»Wie sagte ich, Kind?« flüsterte er ihr ins Ohr. »Wenn Wolken kommen, wollen wir uns nur umso lieber haben. Weißt du noch, Friedelchen?«
Sie nickte.
»Daß es sie treffen muß, Klaus. Gerade Fee! Hätte ich für sie leiden dürfen!«
Er nickte still vor sich hin.
»So redet ja wohl eine Mutter. Aber der die Bürde schickt, hilft tragen.«
Schweigend harrten sie dann auf die Beendigung der Untersuchung, auf das Urteil.
Lange, lange dauerte es, bis die Herren aus dem Krankenzimmer kamen. Sie trugen ernste, sehr ernste Mienen zur Schau.
»Wir bitten die gnädige Frau, zu der Kranken zu gehen,« sagte der Professor; »es ist besser, wenn diese nicht allein bleibt. Herr Baron, Sie kommen wohl mit uns?«
Muttchen Friedel ging mit wankenden Knieen und preßte die Hände gegen die Brust. Wild schlug ihr Herz, sie konnte keinen Ton vorbringen, um zu fragen ...
Drin lag die Kranke, reglos wie immer, sie schien vor Erschöpfung eingeschlummert. Leise setzte sich Muttchen Friedel an ihren Posten, und saß da wie erstarrt, wie vernichtet.
Hätten die Herren Gutes zu melden gehabt, ihr Trost hätte wohl vor allem der Mutter gegolten. So sandte man sie fort, zu ihrem armen, armen Kind!
Da quoll es unwiderstehlich wie Schluchzen in ihr auf; aber ein Ton vom Bett her ließ Muttchen Friedel aufsehen. Die tiefen blauen Augen blickten sie an voll Mitleid und Erbarmen, und das Kind streckte ihr die arme, matte Hand hin.
»Stark sein, mein Muttchen. Nicht zagen! Sieh, ich bin ganz ruhig.«
Ihr Kind tröstete sie, dies Kind, dem sie Trost und Stütze hätte sein müssen!
Da war Muttchen Friedel mit einem Male ganz ruhig und fest und stark. Mit einem Aufleuchten im Blick beugte sie sich über ihr Kind.
»Wir tragen zusammen, Fee, wir tragen zusammen, was – was auch kommt, Fee!«
Die sprach nur mit den Augen und schloß sie dann.
Viel, viel Kraft hatte Muttchen Friedel nötig, viel Mut und Starksein.
Das Urteil der beiden Herren lautete einstimmig, das Rückenmark sei bei dem Unfall in Mitleidenschaft gezogen worden. Der Balken, der den Kopf streifte, mußte, als Fee stürzte, den Rücken getroffen haben. Derselbe Balken, der dem alten Mann das Leben raubte.
»Die Kranke wird wohl einstweilen gelähmt bleiben, soviel ich beurteilen kann, in den unteren Gliedmaßen,« sagte der Professor.
»Und – und –« Klaus von Rödern, der gesenkten Kopfes das Urteil über seine Älteste, seinen Herzensliebling, hörte, suchte umsonst nach Worten.
»Ob und wann eine Erleichterung oder Besserung eintritt, auf diese Frage kann ich leider keine bestimmte Antwort geben. Hier stehe ich an den Grenzen meines Wissens,« schloß leise der Professor.
Klaus von Rödern stand stumm. Der starke Mann wankte.
Der Professor griff nach seiner Hand.
»Wir Ärzte sehen viel Schweres, viel Unglück. Heute – hier – es hat mir das Herz bewegt, Herr Baron. Aber nur Mut, Mut! Bei so jungen Naturen – es geschehen manchmal überraschende Wunder. Man darf, nie verzagen. Wir Ärzte stehen in dieser Beziehung manchmal selbst wie vor einem Rätsel.«
Dieser Trost klang nicht sehr zuversichtlich, es sollte eben auch nur ein flüchtiges tröstliches Wort sein. Klaus von Rödern fühlte es wohl. Und er brachte den Seinen die schwere Kunde, als die Herren fortgefahren waren.
Die Stärkste von allen war Muttchen Friedel. Tante Lisa war völlig gebrochen. Für sie bedeutete dies ja auch den Strich unter die Hoffnung, Fee jemals wieder bei sich haben zu können. Aber das kam bei ihr erst in zweiter Linie. Der Jammer um das geliebte Kind, das zu einem Leidensleben verurteilt war, stand obenan.
Stärker als alle war Fee selbst. Diese leuchtenden, rührenden Blicke, die sie für jeden hatte!
»Was haben sie gesagt, Muttchen?« fragte sie am anderen Tage. »Sag mir ruhig alles, ich bin stark.«
Tante Lisa, die dabei war, ging aus dem Zimmer.
Durch Muttchen Friedel zuckte es wie ein elektrischer Schlag; dann legte sie die Arme um ihr Kind.
»Sie sagen, du werdest liegen und sehr geduldig sein müssen, Fee.«
»Lange, Muttchen?«
Die senkte die Augen.
»Das weiß niemand, Fee.«
Fee blieb still, so lange still, daß Muttchen Friedel scheu erschreckt aufsah.
Ihres Kindes Auge lag voll und groß auf ihr.
»Einer weiß es, Klein-Muttchen, und der ist gut.«
Da haschte Muttchen Friedel ihres Kindes Hand und bedeckte sie mit Küssen.
In Rüdershof wurde das größte und schönste Zimmer für Fee bereit gemacht. Es lag über dem Gartensaal, seine drei Fenster boten Aussicht über den Park.
Gerade in die Mitte des Zimmers rückte man das große Himmelbett. Von ihm aus sah das Auge in Grün und Himmelsblau.
Tante Lisa und Muttchen Friedel trugen herzu, was sie ersinnen konnten. Lu und Li opferten ihre liebsten Schätze, als da waren geschnitzte Rehe, Schweizerhäuschen und tanzende Schäferinnen.
Maigrün und weiß waren Wände und Türen; Vater Klaus hatte tief in die Tasche gegriffen, alles war neu und hell und frisch und festlich hergerichtet worden.
Muttchen Friedel hatte so gedrängt: »Ich muß mein Kind daheim haben. Erst dann kann ich mich ganz mit all dem Schweren abfinden.«
Papa Polten murrte zwar: »Als ob Jungchen hier nicht daheim wäre! Und das Kind, das arme, dazu! Ich bin noch lange nicht dafür, daß man es transportiert.«
Die anderen begriffen Muttchen Friedel und fühlten ihr nach.
Genau fünf Wochen nach dem Unfall erlaubte Doktor Mühren die Überführung der Kranken. Er selbst war dabei und leitete sie. Bequem auf eine Bahre gebettet, trug man Felicitas von Rödern zurück ins Elternhaus.
Die Dorfleute waren zusammengelaufen; irgendwie hatte sich das Gerücht verbreitet. Als die Männer mit ihrer traurigen Last die gewundene alte Treppe in der Halle niederstiegen, was man durch die weitgeöffnete Tür sah, da lief ein Murmeln des Mitleids durch die Menge und die Weiber heulten.
»So e arm jung Ding!«
»Alleweil die Beste trifft's!«
»Guckt emol des Gesicht!«
»Wie e Engel!«
»Akkerat wie e Engel!«
Der neue Inspektor, ein kräftiger, noch junger Mann, wollte die Menge fortschicken.
»Geht Leute! Die Herrschaft nimmt's übel. Es könnte der Kranken schaden.«
Sie ließen sich nicht vertreiben.
»Was will dann der? Mir derfe do sein! Der Herr weiß, wie mir zu em halte. Mir gehn nit ewech, mir bleiwe do!«
Und als sie mit der Bahre kamen, neben der Doktor Mähren, Klaus von Rödern und Muttchen Friedel herschritten, da nahmen die Männer die Hüte ab und die Weiber drängten mit ausgestreckten Händen herzu.
Muttchen Friedel hatte im ersten Augenblick wehren wollen; aber sie konnte nicht, sie mußte die gebotenen Hände schütteln. So viel ehrlich gebotenes Mitfühlen!
Ein Blick in ihres Kindes Gesicht zeigte ihr, daß auch Fee so dachte. Die lag mit weit offenen, glänzenden Augen und hob beide Hände den Leuten zu.
»Ich danke so, so sehr,« sagte sie wieder und wieder mit ihrer leisen, weichen Stimme.
Ein altes Mütterchen drängte herzu, zahnlos, voll Runzeln. Wie Rindenholz sah die harte braune Hand aus, die sie Fee bot.
»Ich bett for Ihne, Freileinche. Unser Herrgott is groß un is gut un weiß, was er dut. Des secht e alt Weib, die wo's wisse kann, dann a hart Lewe liegt hinner er. Groß is er un gut, wann mir's auch nit verstehe.«
»Ich glaube es,« sagte Fee leise, »und ich danke Ihnen.«
Doktor Mühren, der von der Erregung doch für die Kranke fürchtete, gab den Trägern ein Zeichen. Die nahmen die Bahre wieder auf und setzten sich in Bewegung. Die Leute wichen zurück.
Klaus von Rödern und Muttchen Friedel grüßten noch stumm, und dann bog der traurige Zug in den Wiesenpfad, der nach Rödershof führte.
Dort lag nun Fee in ihrem schönen, hellen Zimmer schon seit acht Tagen. Ihr Lager, ihr Zimmer war der Mittelpunkt, um den sich das Leben des Hauses abspielte. Denn von Fee war die Mattigkeit allmählich gewichen, die sie in Bann gehalten hatte. Sie war frischer und voll Liebe und Teilnahme für alle. Jeder brachte seine kleinen Leiden und Freuden zu Fees Lager und sie nahm teil an allem. Hätte sie nicht so hingestreckt daliegen müssen, man hätte meinen können, die alte frische Fee vor sich zu sehen.
Auch Tante Lisa war noch immer da. Tag für Tag kam sie von Dresdorf, Morgens und Nachmittags. Tag für Tag hoffte sie – sie wußte selbst nicht was. Da aber mußte Werner Horst ein Ende machen. Sein Geschäft forderte dringender und dringender seine Anwesenheit in London. Der Teilhaber schrieb mahnend, ungeduldig, fast scharf; Werner Horst mußte an die Abreise denken. Aber er stellte seiner Frau frei, zu bleiben.
»Wenn du einstweilen noch nicht fort kannst von dem Kind, Lisa, ich dränge dich nicht.« Aber es war etwas in Stimme und Auge, das Frau Lisa nicht zögern ließ.
»Ich komme mit, Werner. Fee ist bei den Ihren in treuester Hut. Du bist allein!«
Er widersprach nicht. Was sollte ein längeres Bleiben auch nutzen? Eine Änderung in Fees Zustand würde, wenn überhaupt, doch erst nach geraumer Zeit eintreten. Darüber war er sich völlig klar; er hatte noch eine oder zwei Privatbesprechungen mit Doktor Mühren gehabt.
»Es kann eine Besserung eintreten,« hatte der gesagt, »das ist keineswegs ausgeschlossen, Herr Horst. Wann aber und wie weit – das kann man unmöglich sagen.«
Die Abreise war also beschlossene Sache, und morgen vor Tau und Tag mußten die Reisenden von Dresdorf aufbrechen.
Jetzt eben waren Tante Lisa und Onkel Werner gekommen, von den Rödershofern Abschied zu nehmen, zuletzt von Fee.
»Du wirst sehr ruhig sein, Lisa,« hatte Werner Horst gesagt. »Versprich es!«
Und sie hatte stumm genickt.
Nun standen sie vor Fees Lager.
Die hatte sich Kissen unterschieben lassen, so daß sie halb saß. Und mit gefalteten Händen sah sie ins Himmelsblau.
»Da seid ihr also, ihr Liebsten,« sagte sie weich und streckte dem Onkel und der Tante beide Hände hin. »Ich kann nun nicht mit euch gehen und euer Kind sein. Ein anderer hat für mich entschieden. Dem müssen wir uns fügen.«
Tante Lisa, Onkel Werner standen rechts, und links vom Lager und hielten jeder eine von Fees Händen. Die sah sie mit ihren warmen, tiefen Augen an.
»Ich danke euch – o wie danke ich euch für all eure Liebe, ihr Guten! So gern hätte ich's mit der Tat getan. Aber –«
Einen Augenblick senkte sich der blonde Kopf, hob sich aber gleich wieder.
»Das ist nun schon so und wir müssen uns zurechtfinden. Und, ich glaube, es ist gut so. Klein-Muttchen braucht mich im Herzen innen, ich weiß es.«
Wie gern hätte Tante Lisa gerufen, geschluchzt: Ich auch, o ich auch, mein Liebling! Aber sie hielt die Lippen fest zusammengepreßt und hielt sich tapfer aufrecht.
Nun legte sie die Arme um Fee. »Leb wohl, Liebling, auf Wiedersehen! Und dann bist du frisch und kräftig und –«
Sie konnte doch nicht weiter, ihre Kraft ging zu Ende.
»Wie Gott will, Tante Lisa. Lebt wohl, lebt wohl! Grüßt mir mein England. Ich sehe es wohl nicht wieder.«
Da schluchzte Tante Lisa, aber Fee griff nach ihrer Hand.
»Nicht weinen, das tut weh! Wir sehen uns ja wieder, ihr kommt eben zu mir!«
Onkel Werner machte nun rasch ein Ende.
Er nahm Tante Lisa aus dem Zimmer. Und Muttchen Friedel ging hinein, ihr Kind zu trösten. Am anderen Morgen fuhren Onkel Werner und Tante Lisa allein in die Heimat zurück.