Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Verlassen des Backs-Flusses. – Verlust von Hunden. – Die Sonne als erster Neujahrsgruß. – Niedrige Temperatur. – Deren Wirkung auf Menschen und Thiere. – Eskimokniffe. – Aeußere Zeichen großer Kälte. – Gute Eigenschaften der Eskimohunde. – Eine Mittagsrast. – Kalte Arbeit. – Die Zunge als Wärm-Apparat. – Umständliches Rauchen. – Ein kaltes Nachtquartier. – Bedenkliche Situation – Spirituosen. – Wölfe. – Frechheit. – Mordmaschinen der Eskimos. – Aufreibende Marschweise. – Genaue Marschrechnung. – Eine Ueberraschung.
Den Eingebornen war es lange ein Räthsel gewesen, warum wir denn den Fluß in einer südsüdwestlichen Richtung verfolgten, wenn Pekijulak (Depot-Insel), ihr Hauptaufenthaltsort in Hudsons-Bai, südöstlich von uns lag. Heute am letzten Jahrestage, wo wir die letztere Richtung einschlugen, schienen sie alle zufriedener zu sein. Es war überhaupt eine bessere Stimmung in der ganzen Marschcolonne, als wir um neun Uhr Morgens den Fluß verließen, und langsam die Uferhöhen hinauffuhren. Gleichmäßiges, wellenförmiges Hügelland bildete unsere Bahn, die wir beinahe ohne Rast bis gegen Abend verfolgten, worauf wir an einem kleinen Teiche Halt machten. Doch schon der heutige Tag bewies uns, wie nothwendig es ist, bald wildreichere Gegenden zu erreichen. Zwei unserer Hunde brachen zusammen, wurden sogleich ausgespannt und liegen gelassen. Unser Lieblingshund Niki (der Kleine), den wir in der Hudsonsstraße noch ganz jung gekauft hatten, hatte seither alle Ausflüge und Wanderungen mitgemacht, und heute stürzte er zusammen und war todt.
Am Neujahrstage blieben wir in unserem Campirungsplatze, um zu jagen, und sowohl Tuluak als Netchillik Joe gingen aus, um, falls sie heute keiner Rennthiere ansichtig würden, auch noch den morgigen Tag auszubleiben. Für uns Zurückgebliebene hatte der Neujahrstag eine, wenn auch nur unbedeutende, so doch heitere Ueberraschung. Nicht gerade in der besten Laune saßen wir düster und stumm in unseren Schneehütten beisammen, als um die Mittagsstunde plötzlich der erste Sonnenstrahl durch das Eisfenster in's Innere drang und selbst bei den Eskimos ein Gefühl dankbarer Freude erweckte. »Mamakpuk mana sikirnik kajit« (Jetzt ist es gut, die Sonne, sie kommt wieder), war der allgemeine Ausruf. Zum erstenmale seit langer Zeit hatte sich die Sonne mit ihrer ganzen Scheibe über den Horizont erhoben, und dieses bedeutete für die Eskimos den Anfang eines neuen Jahres, den Beginn eines längeren Tages und damit die Ankunft besseren, wärmeren Wetters. Die sonnenlosen Tage sind auch den Eskimos verhaßt und ich muß gestehen mit vollkommenem Recht. Wenn es auch etliche Stunden Tag ist, so trägt doch die ganze Landschaft ein eigenthümliches, schwer zu schilderndes Gepräge, dem sozusagen eine lebenbringende Quelle fehlt. Die Nüancen des klaren und doch nicht als blau zu bezeichnenden Firmamentes deuten mit schwachen, blauröthlichen Streifen den Ort an, wo unter dem Horizonte für bessere Gegenden eine Sonne existirt, und von dieser Stelle, die mit dem Vorschreiten und Enden des Tages wechselt und verschwindet, erhebt sich gegen den Zenith eine stets dunkler werdende Schattirung, ein eigenthümliches Grau. Heute ist das Bild anders geworden. Die Sonne, so niedrig sie ist, sie ist doch da, es kann kein Zweifel sein, diese blaßrothe, außergewöhnlich große Scheibe, sie muß die Sonne sein, denn sie wirft Strahlen und erzeugt Schatten, die wir seit langer Zeit auf den weiten, von ihrer sonstigen düsteren, blaßbläulichen Stimmung befreiten Schneeflächen zum erstenmale mit Wohlgefallen betrachten. Sowohl Eskimos, als wir, haben die Hütten verlassen, um uns an dem vollen Anblick unserer Neujahrsgabe zu laben – doch lange währt sie nicht. Als ob schon des Guten zu viel gethan, eilt die Sonne, man kann ihre rasche Fortbewegung leicht beobachten, an dem Horizonte dahin, sinkt und ist wieder fort. Ein kleines Abendroth folgt und der Tag hat geendet. Mit einer gewissen Zufriedenheit blicken wir dann dem nördlichen Horizonte zu und sehen dort kein Zeichen, daß eine Sonne ihren ersten Gruß gebracht hätte. Die dunkle Nacht hatte über die Gegenden, aus denen wir kamen, schon lange ihre Fittiche ausgebreitet. Wir hatten auf Cap Felix einen langen ewigen Tag gesehen, doch einer ewigen Nacht waren wir entronnen.
Am Abende kam Netchillik Joe mit einem Rennthier zurück, und erzählte, er habe massenhaft Fußspuren derselben, gleichzeitig aber auch die ganzer Rudel Wölfe gesehen. Unser anderer Jäger, der erst spät am folgenden Abend kam, bestätigte dieselben Wahrnehmungen, war jedoch glücklicher gewesen. Er mußte den folgenden Tag seine Beute, vier Stück an Zahl, mit einem Schlitten holen. Also auf einem Tagemarsch vom Backs-Flusse war der Unterschied in Betreff des Reichthums an Wild schon ein so großer. Der Grund, warum die Ufer des Flusses selbst nicht belebt waren, mag in dem Umstande zu suchen sein, daß die zur Nahrung der Thiere nothwendigen Moose dortselbst fehlen, anderntheils aber, daß die Rennthiere vor den Ueberfällen durch Wölfe in einer offeneren Landschaft viel sicherer sind.
In touristischer Beziehung bot aber der Fluß jedenfalls den Vortheil, daß der Wind sich dort nicht so bemerkbar machen konnte. Bei den Temperaturen, wie sie jetzt vorkamen, wurde selbst der leiseste Lufthauch empfindlich fühlbar.
Am 3. Januar 1880 erreichte unser Thermometer seinen tiefsten Stand. Die drei Beobachtungen um acht Uhr Morgens, zwölf Uhr Mittags und sechs Uhr Abends zeigten -56º, -55º und -57º, somit im Tagesdurchschnitt eine Temperatur von -56º Celsius; eine der niedrigsten Temperaturen, die je beobachtet wurden. Der Tag war sonst schön, klar, vollkommen windstill und Melms legte mit seinem Schlitten einen Tagemarsch von 11 Meilen zurück.
Die Durchführung meteorologischer Beobachtungen war in solchen Tagen keine besonders angenehme Aufgabe, und doch mußte dabei die größte Vorsicht gebraucht werden. Unsere mit der Fahrenheit'schen Gradeintheilung versehenen Weingeist-Thermometer erwiesen sich als sehr feine Instrumente; bei so niedrigen Temperaturen zeigten diese schon, wenn man sie, statt auf einen Hügel, auf Schneeblöcken von außen auf die bewohnte Schneehütte legte, einen Unterschied von etwa 1–1½º Celsius. Unter gewöhnlichen Umständen stand das Thermometer gegen die zehnte Morgenstunde, also kurz vor dem Merkbarwerden der Tageshelle, am niedrigsten, und erreichte gegen ein Uhr seinen höchsten Standpunkt.
Die Einflüsse der Kälte auf den Menschen machten sich etwa schon vom 45. Grad Celsius unter Null bemerkbar, denn selbst bei der wärmsten Bekleidung durfte man bei einem Aufenthalte im Freien nie länger als höchstens fünf Minuten auf ein und demselben Platze stille stehen, und mußte sich, wenn sonst unbeschäftigt, wenigstens durch Auf- und Abgehen den Einfluß der körperlichen Wärme zu bewahren trachten.
Bei windstillem Wetter ist die Kälte, wie sie sich in diesen Regionen geltend macht, für den Menschen so lange nicht gefährlich als er hinreichend quantitative Nahrung hat, in der Lage ist, in hinreichender Menge Fettstoffe zu sich zu nehmen, und genau die kleinen Kniffe zu beobachten weiß, wie sie die Eskimos unter niedrigen Temperatur-Einflüssen anwenden.
Alle drei dieser Bedingungen haben den Zweck, die körperliche Wärme zu erhalten, womöglich zu erhöhen, ohne dadurch eine Transpiration zu bewirken. Fettstoffe, sei es nun der landesübliche Thran, Rennthiertalg, Salm-Oel, oder das Fett der im Sommer zu diesem Zwecke massenhaft gefangenen Geflügelarten, werden von jedem arktischen Reisenden angewendet, sind ein Bedürfniß und beseitigen mit der Zeit jeden Ekel, den der Weiße, seiner gastronomischen Verfeinerung halber, anfangs gegen dieselben fühlt. Ebenso hat den Verlust unserer Hunde weniger das ungenügende Nahrungsquantum, als der gänzliche Mangel an gehörigen Fettgehalten des Fleisches verschuldet.
In Bezug auf die dritte Bedingung ist die schärfste Beobachtung des Eskimos in jeder seiner Bewegungen eine dankbare Schulperiode gegen den Einfluß der niedrigen Temperatur auf den Menschen. Hat der Eskimo mit den Händen nichts zu thun, so zieht er seine Arme aus den Aermeln und kreuzt dieselben an der Brust, geht stets mit geballten Fäusten, und zwar so, daß sein Daumen zunächst der Handfläche liegt, und falls ein Wind geht, und er demselben, sei es schief, oder direct, entgegengehen muß, hält er den Kopf stets gegen die eine Seite gewendet. Auf diese Weise bildet die über den Kopf gezogene und an der Windseite vorspringende Kapuze dann einen Windschutz, wie ihn auch die österreichischen Nordpolfahrer an ihrer Kopfkleidung anzubringen pflegten. Im Falle von direct entgegenkommenden Luftströmungen aber ist es nothwendig, gegenseitig sehr achtsam zu sein, da das Aufhören des brennenden, stechenden Schmerzes im Gesichtstheil den Beginn einer Erfrostung bedeutet, welche sich durch einen wachsgelben, mit scharfen Rändern gegen die Gesichtsfarbe abstechenden Flecken sichtbar macht und durch Auflegung der warmen Hand leicht behoben werden kann. Besonders der Achtsamkeit der Eskimofrauen hatten wir es zu danken, daß auf unserem langen Wintermarsche keine bedeutenden Erfrostungen vorkamen, und es schien ihnen ein besonderes Vergnügen zu bereiten, ihre heilsame Handauflegung ausüben zu dürfen. Jeder von uns hatte seine besonders empfindliche Stelle. Gilder hatte mit seiner Nase, Schwatka mit seinen Nasenflügeln und Augenlidern, Melms mit seinen Backen und ich mit meinen Handgelenken zu thun, wenn ich nicht besonders aufmerksam war, dieselben mit dem Handschuh vollends zu bedecken. Die Aeußerung der Kälte auf das Aussehen der Partie, ebenso wie auch auf die Umgebung derselben, ist eine vielfache.
Jeder meiner Leser wird sich kalter Tage zu erinnern wissen, die den menschlichen Athem in Form eines Dunstes oder sogar leichten Nebels sichtbar machten. In unseren kältesten Tagen wurde dieses »Ha«, wie es der Volksmund gern zu nennen pflegt, zu einer Rauchwolke, die, wie der Wasserdampf der Gefährlichen Stromschnellen, jedes lebende Wesen begleitet. Es kommt aus dem Munde des Menschen, aus den Athmungsorganen des Hundes, verräth das Rennthier und macht dessen Vorhandensein in größerer Zahl meilenweit sichtbar. Ein in Bewegung befindlicher Schlitten sieht auf einige Entfernung wie in Nebel gehüllt aus, und eine fliehende Rennthierheerde gleicht einem Eisenbahnzug, so deutlich zeigt sich der heiße Athem im Contrast zu niedrigen Temperaturverhältnissen. Ja noch mehr, wo immer ein warmer Gegenstand mit einem natürlich kalten zusammenkommt, giebt es Rauch und selbst die Stelle am Boden, von der man soeben den Fuß gehoben hat, zeigt Dunst. Von dem Reisenden selbst will ich gar nicht sprechen, sein Bart, seine Kopfhaare, sowie alle Kleidungsstücke, die dem Kopfe nahe liegen, sind weiß. Am meisten ist ein Tabakkauer zu bemitleiden, denn der ganze süße Saft sammelt sich zuerst in braunen Eiszapfen, später aber in Form eines Eisberges an seinem Barte, und ein Hammer oder eine kleine Axt ist am Abend das Instrument, das ihn von seiner Tageslast befreien muß. Ist ein Wasserloch fertig und sorgfältig von allem Eis gesäubert, so überzieht es sich binnen fünf Minuten mit einer Kruste, die man nicht mehr mit dem Finger eindrücken kann, und zu deren Durchbruch ein schwacher Schlag nothwendig ist. Ich versuchte diesen Schlag gelegentlich mit einem Trinkbecher der Eingebornen zu thun, doch das Horn des betreffenden Moschusochsen, der das Rohmaterial dazu geliefert, war nicht stark genug, und statt des Eises brach der Becher. Von der Eigenthümerin, meiner alten Hausfrau, bekam ich, nicht für den Schaden, nein, für die Idee, eine Predigt, die einer Schwiegermama alle Ehre gemacht hätte. Um unser steinhart gefrorenes Fleisch aufzuthauen, hingen wir es etwa zwei Fuß tief in das Wasserloch und in einer Stunde war es weich und genießbar, so groß ist der Unterschied in den Temperaturgraden. Die Fortpflanzung der Schallwellen ist bei großer Kälte ebenfalls bemerkenswerth. Auf eine Strecke von drei Meilen kann man den Schlitten hören, wie er mit einem knirschenden Tone über die blanke Schneefläche gleitet. Das Bemerkenswertheste ist aber die auffallend reine Atmosphäre. Ein Hügel in einer Entfernung von 15 Meilen, falls er am Horizonte sichtbar ist, zeigt seine Umrisse gerade so deutlich und scharf, als wäre er blos zwei Meilen entfernt.
Im Interesse des leichteren Jagens marschirten wir nicht immer zusammen, sondern theilten uns in zwei, sehr oft auch in drei Partien, und hatten dabei den Vortheil, daß die nachkommende Abtheilung stets die Hütte der ersten, falls diese dieselbe verlassen hatte, benützen konnte. Wir waren selten weiter als einen Tagmarsch von einander entfernt, kamen aber oft auch erst nach drei bis vier Tagen zusammen.
Das Terrain, welches sich vom Backs-Flusse aus langsam in monotonen Schneefeldern hob, erhielt weiter im Inlande ein steinigeres hügeligeres, zerrisseneres Aussehen, wurde immer ärmer an Teichen und Seen, bis wir endlich am 15. die Wasserscheide zwischen Hudsons-Bai und dem verlassenen Fluß überschritten. Die Rennthiere wurden dann häufiger, auch Spuren von Moschusochsen zeigten sich, und doch verging bei nunmehr besserer Fütterung kaum ein Marschtag, der uns nicht einen Hund kostete. Wir hatten, obwohl unsere Thranvorräthe stark auf die Neige gingen, in der Hoffnung, die Hunde zu erhalten, bereits den Inhalt eines ganzen Seehundsfelles an dieselben verfüttert, doch ohne besonderen Erfolg. Namentlich diejenigen Zugthiere, welche wir theils von den Netchilliks, theils von den Ukusiksillik-Eskimos gekauft hatten, und die anfangs stark und stattlich aussahen, waren unter den ersten, die zu Grunde gingen. Sie waren gewohnt, nur von Seehundsfleisch und Fischen genährt zu werden und das Rennthierfleisch war ihnen eine zu magere Nahrung. Auch die anhaltende Arbeit mag zu ihrem schnellen Verenden beigetragen haben.
Ich hatte bereits viel Gelegenheit, von Eskimohunden zu sprechen, deren Anhänglichkeit an den Menschen zeigte sich jedoch erst in deren letzten Tagen im vortheilhaftesten Lichte. Gegen die Kinder, die auch bei den Eskimos gerne mit Hunden spielen, und sie ebenso oft auch maltraitiren, sind sie besonders geduldig und zahm. Ich habe nie gesehen und von einem Falle gehört, wo ein Kind oder ein Erwachsener gebissen wurde. Kommt derselbe aber vor, dann muß der Hund nach Eskimo-Sitten augenblicklich erschlagen werden. Wie sehr ein Hund ermattet ist, bemerkt man im Vorhinein nicht. Unsere Hunde waren bis zu dem Augenblicke hart und gut ziehend mit dem ganzen Gespanne gegangen, in welchem sie kraftlos zusammenbrachen.
Wir hatten in den ersten Fällen versucht, sie zu retten, haben sie auch einigemale auf den Schlitten geladen, doch umsonst – sie waren für uns verloren. In der Folge wurde ihnen das Zuggeschirr abgenommen, sie blieben liegen, und eine Viertelstunde später schon hörten wir ein Rudel Wölfe im Streit um das liegen gebliebene Thier.
Die Wölfe machten sich gleich mit dem häufigeren Erscheinen der Rennthiere merkbar, beunruhigten unsere Hunde, doch kam es zu keinem bedauerungswerthen Angriff. Sie mußten in der wildreichen Gegend Nahrung genug finden, denn als Tuluak seine erlegten Rennthiere im Freien ließ, und sie erst am kommenden Tage mit dem Schlitten abholte, bemerkte er wohl eine Unmasse Wolfsspuren um sein Depot, doch die Beute selbst hatten die Wölfe nicht berührt.
Der Weitermarsch war eine sehr langsame Fortbewegung, bald über ein steinig-hügeliges Plateau, bald über gleichmäßig schneebeladenes Terrain. Auf letzterem waren uns die kurzen Schneewehen hinderlich, und, um unsere Zugkräfte zu sparen, zerlegten wir einen Schlitten, um mit den Schleifen zwei andere mit einander zu verbinden. Wir hatten auf diese Weise einen circa 24 Fuß langen Schlitten zusammengestellt, der durch verdoppelte Zugkraft leichter über die vielen Unebenheiten gelangte als die kurzen. Doch die Tage, an denen die Hunde unsere einzige Zugkraft bildeten, waren vorbei. Acht Hunde hatten bis zum 17. ihren Tod gesunden und wir waren sämmtlich gezwungen, selbst zu ziehen. Die flinke, leichtbewegliche Marschcolonne, wie wir sie das vergangene Frühjahr kennen gelernt haben, sie hat ihr Aussehen geändert. Statt des einen Führers, der sonst die Avantgarde der Schlittenabtheilung bildete, sahen wir heute drei bis vier Personen dem Gespanne vorangehen, deren jede sich mit ganzer Kraft in ein Geschirr stemmt. Auch der Rest der zum Schlitten gehörigen Personen, die Hundelenker nicht ausgenommen, ziehen an Leinen, die an den Seiten des Schlittens befestigt sind. Statt der 12, 15 und 19 Meilen, die wir am Marsche nach König Wilhelms-Land täglich zurücklegen konnten, sind heute zehn Meilen schon eine sehr gute Tagereise. Die Nothwendigkeit, Rast zu halten, machte sich auch öfters geltend, als im letzten Frühjahre, wo wir 1 ½ Stunden ununterbrochen fortfahren konnten, und namentlich um die Mittagszeit bietet die Partie ein charakteristisches Bild von winterlichem Nomadenleben. Die Sonne hat sich bis dahin schon etwa 6–7º über den Horizont erhoben, und der Temperaturunterschied unter dem directen Einfluß ihrer Strahlen variirte um circa zehn Grade. Eine Differenz von zehn Grad macht sich bei tiefen Thermometerständen bedeutend geltend, umsomehr, als wir uns gewöhnt hatten, jede Temperatur über -40º Celsius warmes Wetter zu nennen. Kein Wunder, daß sich sämmtliche Personen an die Sonne setzten und die alte Frau, die in etwa 55 Lebensjahren nach ihrem eigenen Geständnisse noch keinen so langen und beschwerlichen Marsch mitgemacht hatte, spricht wahr, wenn sie sagt sikirnik uku (die Sonne ist warm). Nur für die Hunde und die Führer der Marschrechnungen hat die Sonne keine Behaglichkeit. Die ersteren liegen im dicken Knäuel bei einander, um sich gegenseitig warm zu halten, und mit ihrem täglich auffallend werdenden Abmagern haben sie ihre ganze Wildheit, ihre ganze Energie verloren.
Für Lieutenant Schwatka und mich hat das Notiren der seit der letzten Rast zurückgelegten Marschrichtung und Distanz besonders unangenehme Seiten. Zuerst ist es nothwendig, bei jedesmaligem Antritt und Halten einer auch noch so kleinen Strecke auf die Uhr zu sehen und diese ist bei uns arktischen Wanderern nicht so rasch bei der Hand, als wenn man sie in der Westentasche zu tragen pflegt. Die Uhren, um sie überhaupt diensttauglich mitführen zu können, müssen von jeder, auch der geringsten Menge Oel vollkommen frei sein, und werden dann in einer um den Hals gehängten kleinen Tasche aus Rennthierfell am bloßen Leibe getragen. Will man aber auf die Uhr sehen, ist es nothwendig, die Tasche hervorzuholen, die Uhr herauszunehmen, diese dann so schnell als möglich wieder zu versorgen und die Tasche unter die Pelzkleider zu verstecken. Diese ganze Operation muß natürlich mit der bloßen Hand geschehen, so auch das Eintragen des Marsches in die Karte. Für diese kalte Beschäftigung hat die Sonne noch lange keine lindernde Kraft und dürfte sie nicht früher erhalten, als bis wir die Küste der Hudsons-Bai erreicht haben werden. Während wir uns mit dem Eintragen der betreffenden Daten befaßt haben, hat Tuluak von seinem Schlitten ein Stück Fleisch genommen. Freilich würde es der Laie der Form und Härte wegen nicht als solches ansehen, umsoweniger, als Tuluak mit einer Hacke und dem Eismeißel daran geht, es zu zerkleinern. Ist dies geschehen, so setzen sich Alle herum auf den Schnee zum frugalen Mahle und wer den Vortheil, das Fleisch erst anzuhauchen, bevor er es in den Mund steckt, noch nicht gelernt oder sich nicht gemerkt hat, wird erst durch Erfahrung klug werden müssen. Das Hängenbleiben festgefrorener Gegenstände hat wohl seine unangenehmen, doch manchmal auch seine guten Seiten. Der Eskimo kennt diese guten Seiten und weiß sie auszunützen. Um mit seinem Messer gefrorenes Fleisch oder einen anderen harten Gegenstand zu schneiden, muß man die Klinge desselben zuerst erwärmen, damit dieselbe nicht bricht oder abspringt. Ein seltsameres, eigenthümlicheres Verfahren, diese Erwärmung vorzunehmen, giebt es wohl nicht. Er berührt mit ein oder zwei Zoll der der Spitze nächstliegenden Klingenfläche die Zunge, die natürlich sofort am Messer haften bleibt, und läßt letztere so lange in dieser Position, bis die ausgeglichene Temperatur die Trennung ohne gleichzeitige Hautabschälung erlaubt. Die körperliche Erwärmung hat übrigens in allen Fällen die Aufgabe eines künstlichen Wärme-Apparates zu erfüllen und um aus den vielen täglich vorkommenden Beweisen nur ein Beispiel zu wählen, so betrachten wir zur Abwechslung einmal den Raucher.
Die reiche Ausstattung der Partie mit Rauchtabak erlaubte den Mitgliedern auf ihrer ganzen Reise, mit Ausnahme weniger Tage, den Genuß eines Pfeifchens. Die Herrichtung einer Pfeife zum Rauchen in diesem kalten Wetter war eine ziemlich umständliche und zeitraubende Operation. Die Pfeife selbst (nur Thonpfeifen mit Kopf und Röhre aus einem Stück sind verwendbar) war vor jedesmaligem Gebrauch erst aufzuthauen, und wenn sie auch gestopft war, so war es doch manchmal eine wahre Kunst, sie anzuzünden. Die Zündhölzchen, auf deren Trockenerhaltung die größte Sorgfalt verwendet wurde, hatten trotzdem auch eine niedrige Temperatur angenommen und diese mußte erst erhöht werden, um die Entzündung des Holzes durch den brennenden Schwefel zur Möglichkeit zu machen.
Das Zündhölzchen wurde zu diesem Zweck so lange zwischen den beiden Handflächen gerieben bis die Temperatur erhöht war, und da durch diese Operation auch wieder der Phosphor feucht wurde, so rieb sich der Eskimo das betreffende Ende so lange in den Haaren bis auch dieser Theil getrocknet war. Die Entzündung selbst geschah auf der Messerspitze oder einem zu diesem Zwecke von den Frauen, die allein so glücklich sind, Taschen zu besitzen, mitgeführten Steinchen. In ähnlicher Weise mußte man sich bei den verschiedensten kleinen Verrichtungen zu helfen wissen.
Kehren wir nach dieser Abschweifung zu unserem eigentlichen Thema, zum Marsche der Partie zurück.
Die Gegend ist eine mannigfaltige und mit ihr wechselt auch die Anwesenheit unserer Hauptnahrungsquelle, des Rennthieres. Eine Art Abschnitt in unserem Landmarsche bildete der Quoich-Fluß, der, wie die Karte zeigt, in einer der Hauptsache nach südlichen Richtung dem Chesterfield-Golf zufließt. Obwohl sein Lauf durch Dr. Rae in den einzelnen Details in die Karten eingetragen war, so hatten wir bezüglich der Richtigkeit der Angaben derselben unsere gerechten Bedenken. Dort, wo man sich namentlich bei Wintermärschen mit einer zu genauen Vermessung befassen will, macht man die größten Fehler, und sowohl unsere Beobachtungen im Frühjahre, wie die Auszeichnungen unserer Marschlinie im Wege der schon erwähnten todten Rechnung führten uns zu der Ueberzeugung, daß die bestehenden englischen Admiralitäts-Karten einen Fehler von wenigstens 12 bis 18 Meilen in der Darstellung ihrer Küsten und Flußlinien aufweisen. Wir wollten daher genau constatiren, wann und wo wir den oben besagten Fluß überschritten und uns von seiner genauen geographischen Ortslage überzeugen. Doch die Verfolgung eines Flusses ist, namentlich in flachem Terrain und zur Winterszeit, eine schwierige Aufgabe, da die Verbindung der Teiche, die die arktischen Flüsse in Massen aufzuweisen haben, in der genannten Jahreszeit meistens gänzlich aufhört und somit eine scheinbare Unterbrechung des Laufes eintritt. Wie oft man diesen Zusammenhang übersieht, davon sollten wir am 18. Januar ein Beispiel erleben. Wir hatten einen großen See erreicht, der in einer Länge von etwa 9 Meilen schon seit längerer Zeit durch Verfolgung seiner Verbindungsglieder uns als Theil eines Flusses bekannt war. Schnell schritten wir, ihn südlich verfolgend, darauf fort, doch siehe, um zwei Uhr bildeten hohe Hügel eine Barriere, die trotz mehr denn eineinhalbstündigem Suchen keinen Durchlaß gewährte. Wir hatten im Laufe des Marsches weiter nördlich am See selbst eine kleine Oeffnung nach Westen unberücksichtigt gelassen und diese Nichtbeachtung (wir glaubten, nach den schönen Uferwänden schließen zu können, daß der Lauf des Gewässers ein südlicher bleibt) war es, die uns nichts Anderes übrig ließ, als die Hügel zu besteigen. Diese wilden Granitkegel mit ihren Spitzen, Schluchten und Zerklüftungen, mit ihren kleinen Bergseen und Teichen waren jedenfalls eine westliche Fortsetzung der im Frühjahre schon in ihren östlichen Ausläufern berührten Hazard'schen Hügel, und wenn auch aus bedeutend gewundenen Pfaden hielten wir doch bei ihrer Ueberschreitung im Allgemeinen eine südliche Marschdirection ein.
Noch an demselben Tage gegen Abend kreuzten wir die Fußspuren von sechs Moschusochsen, die keine zwei Tage alt sein konnten, und diese Wahrnehmung erregte augenblicklich das Interesse aller Eskimos. Von dem nahen Hügel glaubten dieselben in einer förmlichen Dampfsäule auch den nunmehrigen Standpunkt der Thiere, auf eine Distanz von etwa 8 Meilen sehen zu können und Lieutenant Schwatka gab ihrer Bitte, den morgigen Tag zu einer Moschusochsenjagd benützen zu dürfen, Gehör. Er und Gilder begannen in ihrer Gesellschaft mit allen zur Verfügung stehenden Hunden am folgenden Morgen schon die Verfolgung der Thiere, nachdem sie aber deren Spuren etwa 30 Meilen weit verfolgt hatten, zwang sie die einbrechende Dunkelheit die weitere Jagd aufzugeben. Ein Eskimo, der eines wehen Fußes halber schon früher umgekehrt war, stieß auf dem Rückwege, etliche 4 Meilen von den Schneehütten, plötzlich auf die verfolgte Heerde, hatte jedoch keine Hunde mit sich, um der leicht verscheuchten Thiere habhaft werden zu können, und so war der ganze Tag für uns verloren und die Jagd ein completer Mißerfolg. Selbst Eskimos setzen im strengsten Winter nur sehr selten eine Jagd dadurch fort, daß sie in den dunklen Nachtstunden sich eine kleine Schneehütte bauen und darin eine kleine Ruhezeit verschlafen.
Ein anderer Zwischenfall gab Melms Gelegenheit eine solche Nacht in einer Schneehütte zuzubringen. Wir hatten unsere letzte Kiste Pulver, die in einem großen Schneesturme verweht worden war, in einem Lagerplatz vergessen und meinen Kameraden traf das Los sie in Begleitung eines Eskimos zu holen. Schon kurz nach Mitternacht verließen Beide unseren Aufenthaltsort, um zurückzugehen und mußten zwei Tagemärsche machen, bevor sie ihr Ziel und den vergessenen Schatz erreichten. Bei einer Temperatur von -46ºC. ohne Licht, in fortwährender Bereitschaft gegen allenfallsigen Ueberfall durch Wölfe, ohne Schlafsack streckten sie sich in einer der verlassenen Schneehütten hin und suchten nach besten Kräften abwechslungsweise zu schlafen. Der Körper war wohl genügend geschützt. Die Hände wurden aus den Aermeln gezogen und blieben am bloßen Leibe auch warm, doch die Füße, die durch den langen Marsch in Schweiß gerathen waren, ließen keinen Schlaf zu. Dazu gesellte sich noch der Mangel an Trinkwasser, denn zum Bohren eines Wasserloches durch das wenigstens 6 Fuß dicke Eis hatten sie keine Mittel, und Schnee und Eis reizten nur noch das Verlangen nach einem guten Schluck. Nach einer beinahe 36stündigen Abwesenheit langten sie mit dem wiedergefundenen Gute wieder bei uns an, doch nach der Wiederholung eines solchen Nachtquartiers hatte Melms niemals wieder ein Verlangen.
Ich finde es hier auch am Platze zu erwähnen, daß das Mitführen von Spirituosen nur dann für die arktische Forschung gerathen ist, wenn deren Gebrauch auf die seltensten Fälle absoluter Nothwendigkeit beschränkt wird. Geistige Getränke, als Schnaps ec., wärmen wohl rasch, dabei aber machen sie auch schläfrig und die erste Rast könnte leicht der Grund zum Erfrieren der betreffenden Person sein. Die Schwatka'sche Partie hat während ihrer ganzen eigentlichen Reise keine geistigen Getränke mitgehabt und hat trotzdem oder eben deshalb die größten Strapazen und intensivsten Kälten ertragen. Sollte man Aehnliches aber doch mitführen wollen, so genügt hochgradiger Alkohol in verschlossenen Kannen unter besonderer und einziger Verwaltung des Führers der Abtheilung selbst, der in außergewöhnlichen Fällen denselben mit Wasser gemengt, verabfolgen kann. Alkohol erfüllt für die bescheidenen Bedürfnisse arktischen Lebens vollkommen den Zweck, den er haben soll und ist in kleinen Quantitäten weit ausreichend, also leicht transportirbar.
Den ganzen Monat Januar hindurch hatten wir ein schauderhaftes Wetter, welches uns Tage lang im Marschiren hinderte. Auch für das Jagen von Rennthieren war dasselbe ungünstig. Im Frühjahre konnten wir bei den größten Schneewehen hoffen, uns auf dem schon weicheren Schnee unbemerkt in die Nähe von Wild schleichen zu können, doch jetzt bot sich uns dieser Vortheil nicht. An ein unhörbares Nachschleichen war bei der sonst reinen Lust nicht zu denken, denn der Schall pflanzte sich trotz des Schneewehens weit fort und verscheuchte die Beute. Alle die vielen Rennthiere, die wir jetzt erlegten, waren auf große Distanzen geschossen, während sonst der Eskimo aus keiner weiteren Entfernung als höchstens von 100 Schritten schießt.
Es geschah nunmehr nur sehr selten, daß wir alle zusammen marschirten, gewöhnlich ging Lieutenant Schwatka mit seinem Schlitten voran, die anderen zwei Schlitten folgten, je nach Umständen, gemeinsam oder getrennt.
Da der erste Schlitten die wenigsten Leute, beiweitem aber den besten Jäger hatte, so ließ der Lieutenant in seinen verlassenen Hütten oft Fleisch für uns Nachfolgende zurück, doch mußte diese seine Fürsorge aufhören, als wir mit Anfang Februar in das Bereich der massenhaft vorkommenden Wölfe kamen. Dieselben wurden täglich zahlreicher und schlichen sogar bei Tageshelle in unserer nächsten Nähe herum. Sehr oft geschah es, daß, wenn wir Abends uns in Sicht der von der ersten Partie bereits verlassenen Hütte befanden, plötzlich am Eingang derselben ein Wolf erschien, ganz verwundert auf uns schaute, und bei unserer Annäherung nur langsam und ungern die ihm so behagliche Stelle verließ. Aber diese Frechheit war nur der Anfang der Unannehmlichkeiten, die uns diese stets zahlreicher werdenden Wölfe auf unserer Heimreise bereiteten.
Im arktischen Amerika sind drei Gattungen des Wolfes zu unterscheiden. Die kleinste ist eine Art, die von schwärzlich-brauner Färbung mit unserem mitteleuropäischen Wolfe viel Aehnlichkeit hat. Der eigentliche Polarwolf ist der größte, weißlich-grau, und kommt nur einzeln vor, während die dritte, der Größe nach mittlere Gattung von hellröthlich-brauner Färbung ist und an Raubthiermanieren alle anderen übertrifft. Diese letzte Gattung kommt stets in Rudeln vor und greift nach Angabe der Eskimos selbst den Menschen an. Unser Eskimo Joe erzählte aus seinem Leben ein lehrreiches Zusammentreffen mit denselben. Als er mit dem Polar-Reisenden Karl F. Hall in Repulse-Bai weilte, wurde er – es war im Hochsommer – von etwa acht Wölfen überfallen und wußte, da er damals nur mit einem Vorderlader bewaffnet war, keine andere Rettung, als bis an die Hüften in's Wasser eines nahen Teiches zu retiriren. Mehr als eine Stunde verging, Joe stand noch immer im Wasser und die Wölfe lauerten noch immer am Lande auf ihn. Endlich, als ihm der Spaß doch zu lange dauerte, erschoß er einen, lud sein Gewehr wieder (man kann sich denken, mit welcher umständlichen Manipulation) und erlegte einen zweiten der Rotte, die sich nun sämmtlich über ihre getödteten Genossen hermachte, um sie auszufressen. Diese Befriedigung des Hungers gab Joe die Gelegenheit, sich durch einige Zeit fortgesetztes Gehen im Wasser davon zu machen.
In eine viel gräulichere Situation kam während unseres Marsches Tuluak. Er wurde von einem Rudel von etwa dreißig solcher Bestien überfallen und nur daß ein hoher Stein in der Nähe war, auf den er sprang, und von dem aus er anfing, mit seinem Magazingewehre den Wölfen aus ihrer eigenen Mitte Nahrung zu schaffen, rettete uns das Leben unseres besten Jägers. Derlei Geschichten fingen an, unheimlich zu werden, die Wölfe wurden täglich zahlreicher, frecher und hatten vor unseren Signallichtern, die wir im Frühjahre mit so viel Erfolg gebraucht, auch keinen Respect mehr. Der Lieutenant brannte eins, später auch zwei auf einmal ab, doch die Wölfe schienen sich an dem die Farben wechselnden Lichte zu amüsiren und wichen nicht. Schießen durften wir nicht, da unsere Munition schon zur Neige ging, die Hunde waren so matt, daß von ihrer Seite an keinen Widerstand zu denken war, und so lebten wir in beständiger Aufregung.
Am 9. Februar hatte Tuluak mehrere Rennthiere geschossen und fütterte am späten Abend im Dunkeln seine Hunde. Er hatte das Fleisch in große Stücke zerschnitten, den Hunden außerhalb der Schneehütte vorgeworfen, und stand dabei, als er plötzlich einen großen Hund zu bemerken glaubte, der einem kleineren die Nahrung wegzunehmen versuchte. Er stieß den vermeintlichen Hund mit dem Fuße, doch als derselbe nach ihm schnappte, wurde er seines Irrthums gewahr und erkannte bei schärferer Betrachtung, daß sich einige Wölfe unter die Hunde gemischt hatten, um mit diesen das Mahl zu theilen. Tuluak holte sein Gewehr und erlegte die Gäste auf der Stelle.
Ich und Melms waren mit den übrigen zwei Schlitten einen Tagemarsch weiter zurück und hatten dort eine noch traurigere Erfahrung zu machen. Ein Rudel Wölfe hatte uns schon den ganzen Tag begleitet, und da wir, wie gesagt, keine Munition an dieselben verschwenden durften, so begnügten wir uns, nur im allerhöchsten Nothfalle Gebrauch von unseren Gewehren zu machen. Die folgende Nacht war für uns eine sehr unruhige, denn beständig hörten wir das Angstgebell der Hunde und mußten jeden Augenblick heraus, um dieselben zu schützen. Netchillik Joe hatte bei dieser Gelegenheit einen Kampf mit einem der Raubthiere zu bestehen, und nur seiner Schnelligkeit und dem Umstande, daß er gerade ein Messer in der Hand hielt, hatte er es zu verdanken, daß er ohne Schaden davonkam. Trotz unserer Wachsamkeit führten aber die Wölfe noch dieselbe Nacht eine Attaque gegen uns aus, und vier Hunde wurden von denselben zerrissen. Dies wurde selbst den sonst gutmüthigen, nicht leicht aufgebrachten Eskimos zu toll, und diese setzten nun ihre heimatlichen Mordmaschinen in Bewegung.
Den kommenden Abend wurde für den Rest der Hunde eine eigene Gattung Schneehütten erbaut und die Gespanne darin über die Nacht eingesperrt. Netchillik Joe bestrich sodann zwei sehr scharfe Messer an den Schneiden mit Rennthierblut und vergrub diese mit den Schneiden nach aufwärts in den Schnee derart, daß blos das Blut sichtbar blieb. Es dauerte nicht lange, kamen die Wölfe, begannen an den Messern zu lecken, und zerschnitten sich, ihr eigenes Blut als Rennthierblut leckend, die Zungen so sehr, daß eine Verblutung der Bestien die Folge davon war. Drei Wölfe wurden auf diese Weise, die zwar sehr wie Jägerlatein klingt, aber Thatsache ist, ein Opfer dieser Vorrichtung. Aber noch eine andere Falle wurde denselben gestellt.
Netchillik Joe hatte aus einer schon lange mitgeführten Walfischbärte Streifen geschnitten, die etwa zwei Fuß lang waren, und befestigte an deren Enden kleine dreieckige Messer von etwa ¼ Zoll Höhe, die er scharf zufeilte. Diese Streifen wurden sodann fest zusammengerollt, mit einem Stückchen Rennthiersehne in dieser spiralförmigen Krümmung erhalten und in Fleisch verhüllt, welches durch Gefrieren steinhart wurde. Drei bis vier solcher Stücke Fleisch wurden in der nächsten Umgebung des Lagers herumgestreut und auch sehr bald von den Wölfen verschlungen. Die Hast, mit welcher diese Thiere das Ganze verschlingen, erlaubt es der seltsamen Vorrichtung, unversehrt in den Magen zu kommen, und nachdem das Ganze aufgethaut, und auch die Sehne durch die Wärme gelöst ist, dehnt sich das Fischbein plötzlich im Innern des Wolfes aus und bewirkt einen fürchterlichen Tod. Es sind dies wohl sehr gräuliche Mittel, deren sich die Eskimos hier bedient haben, doch boten sie die einzige Möglichkeit, die paar Hunde, die uns noch übrig blieben, zu erhalten. Die Wölfe kamen seltener, leider wurden aber auch die Rennthiere seltener und unser Rückmarsch mußte beschleunigt werden, um die Seeküste selbst zu erreichen. Mehreremale sah es mit unserer Nahrung sehr traurig aus und einmal äußerten wir große Freude, als einer unserer Jäger ausging, um Rennthiere zu suchen, und die Ueberreste eines solchen fand, das von Wölfen erlegt und dann liegen gelassen worden. Unsere Situation in der zweiten Hälfte des Monates war eine sehr traurige. Mit harter Arbeit schleppten wir unsere Schlitten durch das hügelige, jeder Abwechslung entbehrende Terrain langsam vorwärts, und wenn wir Abends müde unsere Schneehütten bauten, so war nicht mehr die Bequemlichkeit und die Gemüthlichkeit darin zu finden, wie einen Monat früher. Unsere Oelvorräthe waren auf das Minimum geschmolzen, und wir konnten nicht mehr im Bett darauf warten, bis die Frau jedem von uns seinen Theil gekochtes Fleisch und heiße Suppe als Abendmahl gab. Mit schwerer Mühe gruben wir unter dem Schnee Moos heraus, um mit diesem einige Mundvoll Fleisch zu kochen. Aber auch in sonstiger Beziehung ließen die Strapazen, die Nahrung und namentlich der Mangel an Fett Zeichen an uns merkbar werden, die ein baldiges Anlangen an einem Orte, wo mehr Bequemlichkeit ist, wünschenswerth machten. Die Schneehütten, sie waren nicht mehr Zeugen eines fröhlichen Lebens, wie vor Monaten; sondern stumm und schweigsam legte sich jeder in seinen Schlafsack und das monotone Aja, Aja der Frauen, die mit ihren der Situation ganz angepaßten Melodien einen beinahe rasend machen können, erhöhte die Unannehmlichkeit, die die Kälte und Finsterniß in den Behausungen ohnehin in so krasser Weise fühlen ließ. Unsere Schlitten waren von König Wilhelms-Land aus mit Hunderten von Pfunden Seehundsthran beladen gewesen – heute konnten wir den ganzen Vorrath in ein Literblech schütten, und doch hatten wir außer dem Sack, den wir den Hunden verfütterten, keines unnütz verbraucht.
Unter solchen Umständen erreichten wir endlich nach langem Suchen und Warten den Quoich-Fluß, und da wir uns entschlossen hatten, denselben nicht südlich zu verfolgen, sondern unsere südwestliche Richtung über Land beizubehalten, überschritten wir denselben, nahmen uns aber vor, zu dessen genauerer Bestimmung schon den nächsten Tag eine Observation der Sonnen-Altitude womöglich um die Mittagszeit vorzunehmen.
Am 20. Februar hatte die Sonne während der Kreuzung des Meridians eine Höhe von 14º 29' 30" und unsere geographische Breite entsprach der von 64º 21' Nord.
Seit Ende November hatten wir unsere todten Rechnungen nicht mit Beobachtungen rectificiren können, und nach einem Marsche von 300 Meilen zeigten die Rechnungen nur einen Fehler von 1 ½ bis 2 ½ Meilen, und dieser so verschwindend kleine Fehler bewies deutlich, was Uebung im Schätzen von Distanzen zu leisten im Stande ist.
Der 25. Februar brachte uns eine sehr angenehme Ueberraschung. Tuluak und Eskimo Joe gingen an diesem Tage, an dem wir nicht weiter marschirten, jagen, kehrten zwar ohne Rennthiere zurück, waren aber mit einem ihnen wohlbekannten Eskimo zusammengetroffen.
Am kommenden Morgen wurde trotz eines fürchterlichen Sturmes bei der niedrigen Temperatur von -52º Celsius doch aufgebrochen, und nach einem etwa zweistündigen Marsche gelangten wir endlich wieder an Hütten von Menschen. Asedlak (so hieß der gestern gesehene Eingeborne) hat kurz nach dem Aufbruche der Partie von der Marmor-Insel im März 1879 selbst die dort winternden Schiffe verlassen und ist mit seiner Familie in diese Gegend gekommen, wo er Rennthiere massenhaft, somit auch einen guten Aufenthaltsort vorfand. Beinahe ein volles Jahr hatte er mit seiner Frau und zwei Kindern abgeschlossen von jedem menschlichen Wesen gelebt – doch sein und der Seinen Aussehen bewies, daß er sich in guten Umständen, soviel man bei den Eskimos nach unseren Begriffen überhaupt von solchem Zustand sich denken kann, befindet. Dieser Asedlak hatte in mehrerer Beziehung ein großes Interesse für uns. Seine noch reichlich vorhandenen Vorräthe erlaubten uns eine gute Verproviantirung für die wenigen Tagemärsche, die wir noch bis zur Küste der Hudsons-Bai zurückzulegen hatten, und sein Vorsatz, noch einige Wochen am Platze zu verbleiben, erlaubte die schon lange gehegte Ausführung unseres Vorhabens, den schwereren Theil unserer Ladungen zurückzulassen, leicht und schnell die letzte Strecke zurückzulegen und die deponirten Gegenstände später zu holen.
Unser braver Asedlak, ein Eskimo des südlich von Chesterfield-Golf wohnenden Kinipetu-Stammes, erklärte sich bereit, für ein Gewehr mit entsprechender Quantität Munition uns in beiden Fällen allen nur möglichen Vorschub zu leisten, und so trafen wir denn unsere letzten Vorbereitungen, um in forcirten Märschen die letzte Strecke unserer Reise zurückzulegen.