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Die Seereise. – Die Insel Resolution. – Die ersten Eskimos. – Die Landung der Partie. – Die Einrichtung im Lager. – Beschäftigung im Camp Daly. – Große Nachahmungstreue. – Die Eivili Eskimos. – Die ersten Jagd-Excursionen. – Die Eskimos auf den Herbstjagden. – Fünf Tage auf der Baley-Jnsel. – Der Uebergang zum Winter. – Schneegestöber im Innern des Zeltes. – Eishaus. – Der Schlafsack. – Die Pelzkleider. – Die erste Schneehütte. – Weihnachten. – Neujahr. – Nordlichter. – Die erste Schlittenreise. – Eine unangenehme Situation. – Die Marmor-Insel. – Das Winterquartier der Wallfischschiffe. – Scorbut. – Rückkehr nach Camp Daly. – Vorbereitungen zum Abmarsch.
Die Seefahrt in einem kleinen Segelschiffe bietet wenig Neues. Aus dem monotonen Alltagsleben seemännischer Thätigkeit, an der wir schon um der Langenweile los zu werden, gerne wenigstens so lange theilnahmen, als es nichts Besonderes zu thun gab, schüttelte uns der Anblick des ersten Eisberges, der dieses Jahr lange nach Ueberschreitung des gewöhnlichen Eisgürtels, der tief bis an die großen Bänke an der Küste von Amerika reicht, sichtbar wurde. Da wurde gezeichnet und gesprochen, und zu unserem größten Mißbehagen war Capitän Barry ein Mann, der es für einen Vorzug seemännischer Tüchtigkeit hielt, den Eisbergen so weit als möglich vom Leibe zu bleiben und in dieser Hinsicht oft zu weit ging. Mit scrupulöser Genauigkeit wurden täglich sämmtliche in Sicht kommende Eisberge gezählt, in die Tagebücher eingetragen, und es wäre viel zu umständlich, alle Notizen aus den Journalen citiren zu wollen, die dort, als am Anfange einer langdauernden Excursion, als wichtig eingetragen sind. In dieser Beziehung hat jeder meiner Leser seine eigenen Erfahrungen, und so genau und streng nach dem Vorhaben man auch anfangs im Tagebuchführen sein mag, so sind doch, gebietet es nicht Beruf oder specielle Pflicht – die Schlußseiten oft mangelhaft, noch öfter aber ganz leer.
Nach langem Hoffen und Wünschen passirten wir endlich am 20. Juli die Insel Resolution am Eingange der Hudson-Straße, nachdem wir beinahe acht Tage in dichtem Nebel versucht hatten, die daselbst sich gegenseitig hemmenden Eisfelder zu passiren.
Was den Charakter der Insel anbelangt, so ist ihr Anblick in den letzten Juli- und ersten Augusttagen genügend, ein Bild des Nordens zu bekommen. An Größe sowohl als auch an Höhe unbedeutend, ragt sie mit ihren kahlen, hie und da noch mit Schnee bedeckten Granithügeln aus einer Masse von Eisfeldern hervor und ein hier und da an deren Küste am Grund festsitzender Eisberg ist mit seiner Mächtigkeit beiweitem die schönste Zierde des ganzen Bildes. Dasselbe Gepräge trägt auch die nördliche Küste der Hudson-Straße, und nur die längere Anwesenheit auf dem Meere mit Land außer Sicht läßt uns ein Vergnügen daran finden, von Landspitze zu Landspitze immer wieder das Landpanorama zu betrachten.
Gegen 10 Uhr Abends, als wir bei vollkommener Windstille bewegungslos in einer Art Dämmerung etwa drei Seemeilen von Meta incognita (»unbekannte Landspitze«) in aufmerksamer Betrachtung unserer Segel auf einen günstigen Wind warteten, sahen wir drei kleine Punkte in der Nähe des Landes, die bald sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf uns zu bewegten und sich als lebende Wesen in Kajeks (Seehundsbooten) entpuppten. Sehr verwundert, vom Schiffe aus durch ein vom Joe gerufenes Teimo(Eskimogruß) in der eigenen Sprache zuerst begrüßt zu werden, kamen sie an Bord und baten den Capitän, zu warten, bis ein größeres, aus Holz und Wallroßhaut gemachtes sogenanntes Weiberboot (euni omiek) anlangen würde, in dem sich nebst mehreren Eingeborenen auch Fleischvorräthe und Kleidungsstücke befänden, welche erstere gegen ihren Bedarf an Munition ec. an uns zu vertauschen wünschen. In der That dauerte es auch nicht lange, bis in langsamen Ruderschlägen ein mit Menschen gefüllter Kasten, der auf die Bezeichnung Boot nur insoferne Anspruch hat, als er auf dem Wasser schwimmt, ankam, und diesem Gestalten entstiegen, die unter dem Namen Eskimos bekannt sind. Der Leser müßte selbst in die Lage kommen, eine erste Begegnung mit diesen Leuten zu erleben und die Erfahrungen mitmachen, welche die sogenannte civilisirte Lebensart bis auf's äußerste entrüsten, um die Scene zu verstehen, die sich diese Nacht am Verdeck der »Eothen« abspielte. Beschreiben läßt sich dieselbe nicht und es dauerte eine geraume Weile, bis beide Parteien sich auf den gewünschten Tauschhandel einließen. Die Auswahl der feilgebotenen Sachen war keine große, und drei Hunde, die Joe für die Expedition unter den mitgebrachten Kötern aussuchte, waren jedenfalls der wichtigste Handel, der gemacht wurde; noch spärlicher aber waren die Worte, die wegen Mangel an ausgedehnteren Sprachkenntnissen zum Handel gebraucht wurden. Das Wort piliti (geben) spielte die Hauptrolle und nach dem Vorzeigen des Artikels, als auch des Preises folgte, je nachdem beide Parteien einverstanden waren, ein amila (Ja) oder nakei (Nein). Damit war der Handel abgeschlossen. Wir werden im Laufe dieser Zeilen mehr mit Eskimos zu thun bekommen und nehmen deshalb hier vorläufig rasch von ihnen Abschied und benützen die sich einsetzende günstige Brise, um weiterzusegeln, die Hudsons-Bai nach Westen zu durchfahren und zum Ziele zu gelangen.
Ein günstiger Punkt zum Landen der Expedition wäre für ihr Ziel jedenfalls Repulse-Bai an der östlichen Küste des amerikanischen Festlandes (66° 30' N., 84-85° W.) gewesen, doch hat diese Bai das Unangenehme, daß sowohl sie selbst, wie die sie mit den übrigen Meerestheilen verbindenden Wasserstraßen des Rowes Welcome (zwischen dem Festlande und der Insel Southampton) und der Gefrorenen Straße (zwischen der Melville-Halbinsel und der genannten Insel) den größten Theil des Jahres durch schwimmende Eisfelder unfahrbar gemacht werden. Um den Stand des Eises zu erfahren, wurden die in der Nähe von Cap Fullerton (64° N.) am Festlande lebenden Eingeborenen besucht, mit diesen ein Concil abgehalten, und es stellte sich nach kurzer Besprechung mit ihnen heraus, daß ein Punkt südlich oder an Cap Fullerton genau dieselben Vortheile und weniger Nachtheile habe, wie die genannte Repulse-Bai, wenn man den Back- oder Großen Fischfluß als Fahrstraße nach König Wilhelms-Land zu benützen gesonnen ist.
Die westliche Küste von Hudsons-Bai besitzt zwischen dem 63. und 66. Breitengrade zwei tiefe Golfe, wovon der eine Wager-Golf, der andere Chesterfield-Golf heißt. Beide bilden im Frühjahre auf dem glatten Seeeis eine gute Fahrbahn, und es bedarf nur eines verhältnißmäßig kurzen Landmarsches, um nach dem genannten Flusse zu gelangen, der mit seinem nordöstlichen und nördlichen Unterlaufe wieder eine gute Schlittenbahn zu bieten verspricht. Aber auch in Bezug auf die Anwesenheit von Eskimos, die ja durch ihre Begleitung die Partie unterstützen und verstärken sollten, war es nothwendig, schon wegen des Ankaufs von Hunden und landesüblichen Kleidungsstücken, einen Punkt zu wählen, der in der Nähe einer Ansiedlung von Eingeborenen lag. Als ein solcher bot sich das Festland in der Nähe der Depot-Insel und die »Eothen« warf in dem zwischen derselben und der Küste gelegenen Hafen am 6. August 1878, 9 Uhr Abends, ihre Anker. Mit der Ausbarkirung der der Expedition gehörigen Sachen wurde schon am folgenden Morgen begonnen, und die Eingeborenen selbst, die mit jährlich hier haltenden Wallfischfängern verkehren, legten fleißig Hand an.
An Proviant wurde nur so viel an's Land geschafft, als zum Bedürfniß der Partie den Winter hindurch nothwendig war, und der Rest dem Capitän des Schiffes für einstweilige Deponirung unter seiner Aufsicht übergeben.
Am 9. August um 3 Uhr Nachmittags begaben sich die Mitglieder der Expedition an's Land und begannen die Einrichtung ihrer primitiven, aber vollkommen zweckdienlichen Behausung.
Gegen 11 Uhr Nachts erst hatten wir unser Zelt aufgeschlagen und unsere Vorräthe vorderhand oberhalb der Grenze der höchsten Fluth gebracht und mit einem vom Schiffe ausgeborgten überzähligen Segel bedeckt. Ein kurzer Schlaf auf festem Boden im Lande unserer Wünsche stärkte uns für die Arbeit am nächsten Morgen, und als wir erwachten, sahen wir die »Eothen« langsam am Horizonte verschwinden. Wir waren allein, abgeschlossen von aller Civilisation, unter einem uns neuen Volke, das von Cap Fullerton zu uns übersiedelte und seine Zelte neben unsere baute.
Die ersten Tage wurden benützt, um unsere Wohnstätte den Umständen gemäß so praktisch und bequem als möglich einzurichten, und Jeder von uns übernahm in der Einhaltung einer geordneten Haushaltung seinen Theil. Gilder, ein regelrechter Jack of all trades, übernahm die Stelle eines Ehrentischlers und machte sich sogleich daran, aus dem am Strande gefundenen Holze einst an den felsigen Küsten zugrunde gegangener Wallfischschiffe einen Tisch ec. zu zimmern; Melms übernahm die Verwaltung der Munitionsvorräthe und mir wurde auf einstimmigen Wunsch der Proviant übergeben, mit der Pflicht, nach besten Kräften für die Befriedigung der fünf Mägen zu sorgen. Eine so vielseitige Anstellung wie die meine als Zeichner, Geometer, Meteorolog und Koch hat gewiß seine idyllischen Seiten, am besten aber erschien ich mir selbst in den Morgen- und Abendstunden, wenn ich in meiner aus Steinen ohne Dach gebauten Küche mit Kesseln und Pfannen hantirte und mich nach gethaner Arbeit des herrlichen Appetites meiner Kostgänger freuen konnte.
Ein Sommeraufenthalt im Norden ist prachtvoll. Die Mutter Natur, die in einer kurzen Zeit von 6–8 Wochen diese Landstrecken rein granitärer Formation mit ihrem Schmucke beglückt, entfaltet in den bescheidenen Mitteln eine reiche Pracht und angenehme Abwechslung.
Wirkungslust und Neugierde leiteten im Allgemeinen das Tagesprogramm der kleinen Partie. Gleich nach eingenommenen Frühstück, welches aus einem guten Rennthiersteak, der von Amerika der obligaten Pfannenkuchen und einem wenig an die Vorzüge der arabischen Bezirke erinnernden Kaffee bestand, verschwand Jeder nach seinem Gutdünken. Gleich nach erfolgter Regulirung unseres Aufenthaltsortes maßen wir mit möglichster Genauigkeit und sehr bescheidenen Mitteln eine Basis für eine Triangulirungs-Aufnahme und begannen die Arbeit einer jedenfalls besseren Küstenvermessung als die, welche den bestehenden Karten zu Grunde lag. Mit den stets mitgenommenen Gewehren erlegten wir beinahe täglich auf den zahlreich vorhandenen kleineren und größeren Teichen einige Gänse oder Enten, von denen die Umgebung wimmelte, und manche meiner interessanten Local-Skizzen stammt aus der ersten Zeit unseres Aufenthaltes in Camp Daly, wie wir den Ort unserer Behausung zu Ehren des eifrigen Protectors und Präsidenten der Amerikanischen geographischen Gesellschaft, Herrn Karl P. Daly zu New-York, nannten. In das gewöhnliche Alltagsleben mischte sich manches komische Ereigniß. Davon diene als Beispiel:
Zur genauen Placirung der Karten ist der Compaß wegen seiner großen Variation unbrauchbar, und um den Südpunkt zu bestimmen, benützten wir den Durchgang des Planeten Jupiter durch den Meridian. Es war Nacht. Von Lieutenant Schwatka einige Hundert Fuß entfernt, hatte ich ein Licht, um dadurch sichtbar zu sein und mit einer Pfeife, ( Duckcall), die den schrillen Ton einer Ente nachahmte, sollte er meine Position nach links und rechts dirigiren. Im Anfange ging Alles gut, als aber Jupiter culminirte und der Augenblick der Feststellung kam, wurde ich durch schnell aufeinander folgende Töne verwirrt, und erst als Lieutenant Schwatka helllaut anfing zu lachen, wußte ich den Grund. Die Enten auf den nahen Teichen, aufgeweckt, glaubten den Morgenquak eines Stammesgenossen zu hören, und die ganze Umgebung ertönte in lauter Qua, Qua, während welcher Zeit Jupiter den Meridian durchschritt und unser Südpunkt unbestimmt blieb. Die Firma Holberton in New-York, von welcher wir die Pfeife erhalten, kann sich zur Nachahmungstreue ihres Fabrikats gratuliren.
So brachte jeder Tag seine angenehmen und unangenehmen Ereignisse und die Abende selbst fanden uns im lebhaften Verkehr mit den Eskimos. Diese kamen schon den nächsten Tag nach unserer Ansiedlung am Festlande von ihrem früheren Domicilirungspunkte auch dahin und schlugen ihre Zelte um das unserige auf. Camp Daly erhielt dadurch eine gewisse Lebhaftigkeit, und ob im Zelte oder außerhalb derselben betrachtet, die neue Amoustadt (wie wir das Dorf scherzweise zu nennen pflegten) bot ein beachtungswerthes Bild vom Standpunkte des Ethnographen.
Sämmtlich dem Stamme der Eivili angehörend, waren unsere Eskimos schon seit 14 Jahren oft mit Wallfischfängern in Berührung gekommen und der Umgang mit Weißen ihnen daher nicht fremd. Ihr ursprünglicher Wohnplatz war eigentlich Repulse-Bai. Da dieser Punkt, wie schon oben angedeutet, nur selten und der großen Eisfelder wegen ungerne von Schiffen besucht werden konnte, übersiedelten dieselben in diese Gegenden zwischen dem 63. und 65. Breitengrad und machten die Landstrecken zwischen dem Wager- und Chesterfield-Golf zu ihrer neuen Heimat. Mit unserer Ankunft fanden zwei Punkte ihre besondere Beachtung. Der erste waren die Vorräthe an Zwieback und Melasse, welche beide als besondere und einzige Delikatessen von ihnen angesehen wurden, der zweite unsere vorzüglichen Feuerwaffen, und namentlich diese waren es, welche uns schon nach kurzem Aufenthalte für die eigentliche Reise die Begleitung der Besten und Tauglichsten aus ihrer Mitte sicherten. Zu allen Tagesstunden waren Eskimos in unserem Zelte zu treffen, die, Klein und Groß, in Betrachtung vorgezeigter illustrirter Zeitungen ein besonderes Vergnügen fanden. Bei den Magazin- und Hinterladungsgewehren aber erreichte ihre Neugierde den Gipfelpunkt und sie begnügten sich nicht mit bloßer Bewunderung der schnell arbeitenden Mechanismen, sondern ersuchten Lieutenant Schwatka, der in dieser Beziehung gern einen Anhaltspunkt zur Anknüpfung eines auf die Reise bezüglichen Gespräches suchte, ihnen auch die Gewehre zu zerlegen. Die höchst einfache Sprache wurde schnell gelernt, und wenn es Keiner von uns auch zu der Fertigkeit brachte, diese vollkommen zu sprechen und zu verstehen (denn schon die Raschheit ihrer Ausdrucksweise bereitet namentlich bei dem Letzteren eine große Schwierigkeit), so gelang es uns doch, schon nach Ablauf weniger Wochen so viel zu lernen, um uns nothdürftig zu verständigen. Der zahlreiche Umgang mit Weißen hat ihrer Sprache das sogenannte Pigeon-Englisch, d.h. eine Mischungssprache zwischen ihrer eigenen und der englischen angehängt, und diese machte für die erste Zeit die Verständigung leicht, während sie sich im späteren Umgang mit nördlicheren, den Weißen noch fremden Eskimostämmen als dem Verständniß ihrer Sprache hinderlich erwies.
Waren wir den Eskimos schon als die ersten Weißen, die ihren Wohnsitz neben denen der Eingeborenen aufschlugen, ein besonderer Gegenstand instinctmäßiger Neugierde, so waren es diese für uns in noch höherem Grade, was Lebensart und Sitte anbelangt. Wußten wir doch nur zu gut, daß zur Ausführung unserer Pläne als erste Hauptbedingung die war, daß wir den Mantel civilisirter Lebensanschauungen so viel als möglich abwarfen und uns den Landesverhältnissen gemäß in ihre Kleidung, Kost, Wohnungsart eingewöhnten. Ob wir im Zelte der Eskimos deren innere Einrichtung studirten oder mit der männlichen Bevölkerung oft tagelang auf der Jagd herum streiften, stets blieb sich der Zweck gleich, wir konnten überall für uns nur Nützliches lernen. Auf den theils mit den Eingeborenen, theils ohne diese unternommenen Excursionen entwöhnten wir uns, was Kost und Schlafeinrichtungen anbelangt, immer mehr einer gewissen Bequemlichkeit, und schon in den letzten Septembertagen war öfter rohes Fleisch unsere Nahrung. Jeder von uns trug das Verlangen, seine Fähigkeiten als Renntierjäger zu versuchen, und als in den ersten Septembertagen die uns umgebende Ansiedelung täglich kleiner wurde und die einzelnen Eskimo-Familien sich zur leichteren Herbstjagd in's Innere des Landes vertheilten, begleiteten wir diese abwechselnd.
Ende August haben die Rennthiere ihre Pelze gewechselt und die Haare derselben sind schon lang genug, um zur Bereitung der Kleider für den kommenden Winter tauglich zu sein. Auch haben sich die Thiere an den prächtigen Moosweiden den Sommer hindurch gemästet und die Güte ihres Fleisches erreicht in dieser Periode ihren höchsten Grad, so wie sich dasselbe durch den großen Talgreichthum am Besten für die Aufbewahrung als Wintervorrath eignet.
Die Hunde, die den Sommer über auf einer nahen Insel zubrachten und sich bei dem großen Unterschiede im Wasserstande zwischen Ebbe und Fluth (circa 20 Fuß) und dem großen Reichthum des Küstenwassers an kleineren Fischgattungen selbst ihre Nahrung zu verschaffen wußten, werden von ihrem Asyle geholt, und eines schönen Morgens sieht man die Familien ihr Zelt plötzlich abbrechen und mit diesem, sowie den nothwendigsten Geräthschaften, theils die Hunde in der Weise, wie man dies bei den Mauleseln zu thun pflegt, theils sich selbst zu beladen.
Gegenstände, die nicht mitgenommen werden können, z.B. die Thranlampen ec., werden einfach auf einem gut wahrnehmbaren Punkte mit Steinen bedeckt und durch eine kleine Steinpyramide für die Zeit des Winters, falls eine Schneebank den Ort tief bedecken sollte, zum Wiederfinden kenntlich gemacht. Derartige Steinpyramiden, die von weitem auch das Ansehen eines Menschen haben, findet man auch im ferneren Inlande sehr oft und sie dienen entweder unter dem Namen inuksuk als eine Art Wegweiser für die Eingeborenen oder sie sind über dem deponierten Fleische eines erlegten Rennthieres errichtet, heißen dann tuktuksuk und aus den Steinen ragen dann noch zur leichteren Erkennung die Geweihe des Thieres selbst heraus. Auf die erwähnte Weise beladen, gehen die Eskimos dem Innern des Landes zu. Bekommen dieselben Rennthiere zu Gesicht, dann bleibt die Frau als Aufsicht der Hunde zurück, der Mann wirft seine Ladung ab und geht der Beute nach. Ist er so glücklich und tödtet eines oder gar mehrere Rennthiere, so wird das Zelt an Ort und Stelle wieder aufgeschlagen und so lange verblieben, als die Umgebung Nahrung schaffen kann. Sind die Rennthiere spärlich, dann wandern sie wieder weiter und erst mit dem ersten Schnee läßt sich die Familie an irgend einem Punkte, der als wildreich bekannt ist, permanent nieder.
Unter solchen Umständen geht es mit der Bequemlichkeit für eine geregelte Nachtruhe noch ganz erträglich. Ein solches Zelt ist noch immer ein annehmbarer Schutzort im Vergleich mit den Lagerplätzen, die sich die Eskimos aufsuchen, wenn sie allein ohne Begleitung der Frauen sind. Ist man den ganzen Tag von Hügelkuppe zu Hügelkuppe gerannt, hat dort nach Wild ausgelugt, sich durch das Stehen oder Sitzen aus dem verschwitzten Zustande in eine Art Frösteln gebracht, dann wird kurz nach Sonnenuntergang aus ein paar großen Steinen eine Schutzwehr gegen den Wind gebaut, über auf diese Weise errichteten parallelen zwei Wänden eine Decke oder ein Fell gespannt, die Unebenheiten des Innern mit Moos etwas ausgeglichen und die Lagerstätte für die Nacht ist fertig. Die ersten Nächte, die wir in ähnlichen Nachtquartieren neben unseren schnarchenden Eskimo-Begleitern zubrachten, waren nichts weniger als Ruhezeiten, doch gewöhnten wir uns bald daran, die bei Nacht schon sehr merklich werdende Kälte unbeachtet zu lassen.
Unser Zelt in Camp Daly wurde nach jedesmaliger Rückkehr fühlbar behaglicher, doch kaum waren wir einige Tage zu Hause, so trieb es uns immer wieder hinaus auf die Jagd. Am 5. August erhielten wir den Besuch dreier Capitäne erst eingelaufener Wallfischschiffe, die, von unserer Anwesenheit nicht unterrichtet, sich nicht wenig wunderten, in dem vermeintlichen Eskimo-Zelte die Sommerresidenz eigener Landsleute zu finden. Ihr Besuch hatte für uns den Vortheil, daß sie uns ein Boot zur Verfügung stellten, um eine größere Excursion unternehmen zu können. Der erste Zweck derselben war eine richtige Ortsbestimmung der Küste nach Osten und Norden hin, doch blieb dieselbe unausgeführt, da uns der eingetretene Aequinoctialsturm mit einem lecken Boot auf eine Felsenklippe (Bailey-Insel) trieb und uns daselbst durch volle fünf Tage festhielt. Hier erlebten wir die ersten unangenehmen Tage unseres nordischen Aufenthaltes. Im Angesichte unseres Zeltes auf Camp Daly lagen wir Drei: Lieutenant Schwatka, ich und Melms, mit ganz durchnäßten Kleidern unter einem ebenfalls von heftig fallendem Regen durchweichten Zelte auf unserem Bootsegel und hatten eben die letzten Reste unseres Zwiebackvorrathes verzehrt, die schon einmal gekochten Kaffeebohnen noch einmal gekocht und die Krähe, die Melms am Tage zuvor zufällig geschossen hatte, war das Einzige, was unser nächster Speisezettel aufweisen konnte. Die größte Sorge aber bereitete uns unser Boot. Die Insel war nämlich so klein und so felsig, daß uns trotz unserer geringen Zahl nur ein sehr kleiner Raum blieb, um dasselbe in Sicherheit zu bringen. Dazu gab es aber auch noch Hochfluth und jedesmal bei hohem Wasserstande mußten wir hinaus, um oft schon mit den Wellen, um den Besitz unseres Bootes zu kämpfen. Am sechsten Tage endlich ließ Wind und Wetter nach und wir kamen nach Camp Daly, wo Gilder schon im Begriffe war, eine Aufsuchungspartie nach uns abzusenden.
Mit dem Eintritte der benannten Stürme und eines beinahe drei Wochen anhaltenden Regenwetters hatte der schöne nordische Sommer sein Ende, die Kälte fing an, merklich zu werden, es kam Hagel, sodann Schnee, die Teiche überzogen sich, an den Küsten setzte sich auch Eis an und der Winter war gekommen. Im einfachen Segeltuchzelte hörte es auf, gemüthlich zu sein, die Tinte war gefroren, zum Schreiben wurden die Finger zu steif und bald waren die Tage gekommen, die unseren civilisirten Kleidern sammt unserer Wohnungsstätte deren Untauglichkeit bewiesen. Man stand, da in der Außenwelt durchaus nichts zum dortigen Aufenthalte einladen wollte, nur auf, wenn die Zeit zum Frühstück kam, fror, bis das Nachtessen fertig war, und um nicht kalt zu bleiben, krochen wir schnell wieder unter die paar Häute von Moschusochsen, die wir zum Glücke den Eskimos abgekauft hatten. Es war aber auch eine eigenthümliche Behausung, dieses Zelt. Der Athem setzte sich an den beiden Seiten des Zeltes fest. Die Frostkruste wuchs bis zur Dicke eines Zolles, und wenn der Sturm anfing, über Hügel und Thal einherzusausen und das Zeltgestell und das Segeltuch schüttelte, dann gab's im Innern ein ordentliches Schneegestöber. Jetzt mußten wir den Anfang mit der totalen Aenderung unserer Lebensweise machen, wir mußten Eskimos werden, und aufmerksam blickten wir täglich hinüber nach der Behausung unserer Nachbarn, die in der Stärke von zwei Familien bei uns geblieben waren und mit denselben Unannehmlichkeiten zu kämpfen hatten, wie wir; was diese dann thun werden, wollten wir ihnen so rasch als möglich nachmachen.
Noch immer zögerten diese, wahrscheinlich Thauwetter befürchtend, doch als am Morgen des 27. October sich eine besondere Kälte fühlbar machte und unser Thermometer auf -20 F (-23° R. oder -29° C.) fiel, da ging's an die Arbeit.
Auf dem nahen Teiche wurden aus dem circa acht Zoll dicken Eise sieben Fuß hohe und vier Fuß breite Tafeln geschnitten und diese in Form eines Kreises von etwa vierzehn Fuß Durchmesser so aneinander gestellt, daß die längeren Kanten aneinander kamen und die einzelnen Sectionen sich etwas nach einwärts neigten. In Wasser getauchter Schnee diente als Mörtel und leistete seinen Dienst vortrefflich, während eine zwei Fuß hohe und ebenso breite Oeffnung als Eingangsthüre gemacht wurde. Aus ein paar Stangen wurde über den oberen Theil eine Art flacher Dachstuhl gebildet, darüber ein altes Segel gespannt und das neue Eishaus war fertig.
Um dem Ganzen aber ein praktischeres Aussehen zu geben, wurden an den Hauptbau noch kleine, unseren Hundehütten nicht unähnlich sehende Anbaue als separate Schlafstätten beigefügt, das alte Zelt als Magazin und Küche unmittelbar vor dem Eingange wieder aufgestellt und durch eine Art Vorhang mit dem Ganzen verbunden. Gilder hatte aus ein paar Brettern eine Thüre gemacht, die, wenn auch nicht sehr luftdicht, den Eingang verschloß; am 1. November zogen wir mit Hab und Gut in die neue Behausung und schon nach Verlauf von zwei Tagen begannen wir uns heimisch zu fühlen. Alles wurde in Sicherheit gebracht bis auf ein Faß mit Kreide und ein Fäßchen Arsenik, welche beide uns von einem unbekannten Gönner zu noch unbekannterem Zwecke gespendet worden. Das, was aber am meisten in's Eishaus gehörte – das Bier – kam nicht hinein, denn die etlichen siebzig Flaschen, die wir an's Land brachten, sind, um sie vor dem Gefrieren zu schützen, schon mit dem Eintritte der ersten Fröste geleert worden. Die Erwärmung der Wohnung geschah durch zwei Eskimo-Lampen, die, aus Talkstein gehauen, Moos als Docht und Thran als Fütterung brannten und die Temperatur gegen die Außenwelt beträchtlich erhöhten. Auf einer solchen Lampe wurde auch manchmal gekocht, sowie alles Nöthige auf einem zu diesem Zwecke eigens angebrachten Gestelle getrocknet.
Als Haupt-Kochapparat aber diente der Partie für diese Periode ein Petroleumofen, der sich für eine permanente Station prächtig eignet, für die Mitnahme auf eine Schlittenreise aber der Zerbrechlichkeit halber untauglich sein dürfte.
Mit der Wohnungsänderung trat auch das Bedürfniß ein, wärmere Kleider, namentlich aber ein passenderes Bett zu bekommen. Die vielen Rennthiere, welche die bei uns gebliebenen Eskimos auf ihren von Camp Daly aus unternommenen Jagden erlegt hatten, lieferten die Felle, und vor Allem bestellte Lieutenant Schwatka die Zurichtung von Schlafsäcken. Die Eskimos bedienen sich als Bett der ungegerbten, blos getrockneten Rennthierfelle als Unterlage und des Kipik (einer aus den besten, gut und weich gegerbten Fellen zusammengesetzten großen Decke, unter der die ganze Familie Schutz findet) zum Zudecken, während wir uns aus gut gegerbten Fellen eine Art Sack machen ließen, der unten schmal, nach oben breiter wird und am oberen Rande ebenfalls aus Rennthierfell geschnittene Fransen besitzt, die wie auch beim Kipik die Bestimmung haben, sich an das Gesicht anzuschließen und so das bessere Anschmiegen des Schlafsackes bewirken. Ein solcher Sack heißt bei den Eskimos snikpik (von snikpu, schlafen) und er ist dem nordischen Reisenden, wie wir sehr oft zu sehen Gelegenheit bekommen werden, ein Kleinod, auf dessen Erhaltung in gutem und trockenem Zustande er nächst seinem Gewehre stets in erster Linie bedacht sein muß.
Mit der Benützung von Schlafsäcken hängt aber auch die Ablegung eines jeden civilisirten Kleidungsstückes, sei es aus was immer für einem Stoffe gemacht, in engstem Zusammenhange.
Mag die Temperatur noch so niedrig sein, beim Gehen in Pelzen schwitzt man immer, und trägt man Hemden von Stoff, so werden diese feucht; wenn man dann sich ruhig verhalten muß, fühlt man das Gefrieren der feuchten Unterkleider. Legt man sich aber mit solchen in den Schlafsack, so wird dieser feucht und trocknet nur schwer und langsam. Das Gegentheil tritt ein, wenn man das Hemd für eine wärmere Jahreszeit ablegt und sich ausschließlich in Pelze kleidet. Die Nachahmung der Adjustirung in Façon und Schnitt der Eskimos bietet die einzige Garantie für eine vortheilhafte Kleidung. Zu Hause trägt man die sogenannte Attiga, ein mit einer Capuze versehenes Hemd, mit den Haaren des Felles am bloßen Leibe. Die Hosen ( kadlins), breit, nur bis zu den Knieen reichend, sind ebenso gemacht, und als Fußbekleidung dienen zwei Paar Strümpfe, deren Inneres die Haarseite nach innen, das andere aber mit denselben nach außen getragen wird. Ueber diese letzteren kommen ein Paar Schuhe, wenn das Wetter kalt und vollkommen trocken ist, aus Rennthierfell, im entgegengesetzten Falle aus Seehundsfell gemachte. Für den Aufenthalt im Freien wird noch ein zweiter Anzug mit der Haarseite nach außen angezogen. Die Befestigung sämmtlicher Kleidungsstücke geschieht durch Geflechte aus Rennthiersehnen, die auch die Stelle unseres Zwirnes vertreten, und an den Rändern der Kleidungsstücke, dort, wo die Luft leicht zum Körper gelangen kann, sind Fransen, ebenfalls aus Rennthierfell geschnitten, angenäht, die einestheils den Wind abwehren, anderentheils aber auch eine Ventilation der Luft ermöglichen und jedes Inschweißkommen unmöglich machen.
Aber auch noch andere Vortheile hat diese Bekleidung. Sie ist in erster Linie leicht und bequem, erlaubt vollkommen freie Hantirung und ermöglicht ein schnelles An- und Auskleiden, was, wie wir später sehen werden, in Schneehäusern ein nicht zu übersehender Vorzug ist.
In einer solchen Ausrüstung begannen wir, wenigstens was den äußerlichen Menschen anbelangt, uns auf unsere allmähliche, langsame, stufenweise Umwandlung zu Eskimos etwas einzubilden und unternahmen alsbald aus eigene Faust Ausflüge in unserer neuen Uniform. Je mehr der Mensch aber lernt, desto mehr erkennt er, wie wenig er weiß, und auch uns sollte auf unseren Streifzügen diese Wahrheit klar werden. Ein Jeder von uns sammelte seine Erfahrungen.
Hier ein Beispiel davon.
Lieutenant Schwatka und ich unternahmen eines Tages in Folge einer kleinen Wette, daß sich in unserer Nähe bei vorherrschendem Südwinde Rennthiere befinden, einen Jagdausflug, der nebenbei noch den Zweck haben sollte, zu untersuchen, ob ein sich gegen acht Meilen in's Land ziehender Golf die Mündung eines Flusses ist oder nicht. Trotz der tiefhängenden Wolken wurde, nachdem wir unsere Schlafsäcke in Oelkleider gewickelt, auf den Rücken geschnallt, einige Stücke Zwieback mitgenommen und die Gewehre über die Schulter gehängt hatten, aufgebrochen. Lieutenant Schwatka hatte den heutigen Tag zum Aufbruche bestimmt, war aufgestanden, hatte sich in's Reisecostüm geworfen und da kümmerte ihn das Wetter gar nicht. Er ging und ich mit ihm. Eine halbe Stunde später fing es an zu schneien. Wir hatten nur Zeit, den Golf zu erreichen, da verhüllte das Gestöber schon beide Seitenufer, und ohne daß wir mehr an Rennthiere dachten, standen wir plötzlich so sehr in deren Nähe, daß sie uns sahen und das Weite suchten, bevor wir zum Anschlage kamen. Ein Schuß krachte, aber der Lärm, den er machte, war der einzige Erfolg, den er hatte. Gegen 12 Uhr Mittags erreichten wir das Ende des Golfes, und da wir nichts sehen konnten – der Schnee fiel dichter als zuvor – hieß es entweder umkehren oder Quartier schaffen. Das Letzte schien besser. In Gemeinschaft eines kleinen Jungen, den wir mitgenommen hatten und der sich freute, heute ein Gewehr tragen zu dürfen, machten wir uns daran, eine Schneehütte zu bauen. Langsam und höchst ungeschickt reihten wir aus dem ohnedies weichen Schnee geschnittene Tafeln an Tafel, und je höher wir mit unserem Baue kamen, desto mehr Vorsicht mußten wir aufbieten. Eine Schneehütte – ich meine hier eine, die der Eskimo baut und nicht die unsere – ist ein in spiralförmiger Aneinandersetzung aus Schneetafeln gebautes Kuppelgewölbe, das jedoch ohne jede innere Stütze aufgeführt wird. Der Eskimo fügt eine Tafel an die andere mit solcher Präcision und Sicherheit, daß es eine Freude ist, ihm nur zuzusehen, setzt dann den ganzen horizontalen Schluß ebenso kunstgerecht ein, und in den meisten Fällen läßt die Symmetrie für das freie Auge nichts zu wünschen übrig. Auch die Zeit, die er braucht, ist im Verhältniß zur Arbeit eine nur geringe; bei uns jedoch war es anders. Schon lange, bevor es zur Einsetzung des Schlußsteines kam, fingen die Tafeln an herunterzufallen, und nur nach großer Mühe blieb endlich dieser in der Decke hängen. Um 4 Uhr Nachmittags breiteten wir unsere Schlafsäcke, um sie vor dem Naßwerden auf dem Schnee zu schützen, aus einer Art Wachstuch aus und begannen die Art des Entkleidens. Die Form unserer Hütte, die weniger einein Kuppelgewölbe, mehr aber einer großen Glocke glich, flößte uns insoferne eine gewisse Achtung ein, als wir uns hüteten, an die Wände anzustoßen, und um genug Platz zum Hantiren zu gewinnen, warteten wir vor der Hütte, bis Einer nach dem Anderen sich entkleidet hatte. Die Temperatur war den ganzen Tag auf Null Grad gewesen, der Schnee war an den Kleidern und namentlich an der Fußbekleidung geschmolzen, hatte diese durchnäßt; da wir aber für eine schnelle Temperatursveränderung keine Fürsorge trugen, legten wir diese entweder unter die Schlafsäcke oder bildeten aus ihnen unsere Kopfpolster. Endlich staken wir alle Drei glücklich in den Säcken, der Lieutenant allein, ich mit dem Eskimo-Jungen in Compagnie. Eine kleine Stärkung, ein Pfeifchen, ein Plausch und der Tag war für uns beendet.
Der Morgen graute und die Köpfe aus den Schlafsäcken steckend, fühlten wir den Wind kalt in die Hütte hereinblasen und wagten kaum nach der Ursache zu forschen. Als aber die Zeit des Antrittes unserer Weiterreise kam und wir energische Anstalten machten, aufzustehen, welches jämmerliche Bild bot unsere Behausung! Der Schnee hatte sich gesetzt, in den Wänden hatten sich weit klaffende Sprungöffnungen gebildet, die Decke ist gesunken und der Schlußstein hing wie ein Damoklesschwert über unseren Häuptern. Dazu hatte sich der Wind nach Norden gedreht und den frisch gefallenen Schnee durch die vielen Fugen hereingeweht, und wir lagen gleichsam in einer kleinen Schneewehe. Durch die Schlafsäcke konnte man schon spüren, wie der Schnee in ihrer nächsten Umgebung durch die körperliche Wärme schmolz; es fing an, in den Fellen schon unangenehm zu werden, wie unbehaglich mußte es erst werden bei dem Versuche, herauszukriechen, im adamitischen Zustande die Kleider aus dem Schnee herauszugraben und dann in dieselben hineinzuschlüpfen. Die Form der Hütte mahnte zur Eile, langen Bestand konnte sie unmöglich haben, und so begannen wir endlich, die noch gefrorenen Kleidungsstücke anzuziehen. Obwohl Jeder mit dem Vollzuge dieser Aufgabe vollauf zu thun hatte, konnte sich doch Keiner des Lachens enthalten, wenn er durch einen Blick auf seinen Nachbar der angestrengten Evolutionen gewahr wurde, die dieser machte, um seine Strümpfe anzubekommen. So dauerte es circa eine gute halbe Stunde, bis wir endlich auf allen Vieren durch die kleine Oeffnung der Schneehütte die Außenwelt wieder erreichten. Unser erster Gedanke war: Wohin jetzt? Der Schnee lag achtzehn Zoll bis zwei Fuß hoch, das Schneewehen hinderte die Fernsicht, und so blieb uns denn eigentlich nichts Besseres übrig, als den Retourweg anzutreten. Mühsam arbeiteten wir uns durch, und wer je im tiefen Schnee gewatet war, dem wird es einleuchten, daß, da wir seit mehr als 24 Stunden keinen Tropfen Wasser getrunken hatten, wir von einem gehörigen Durste geplagt waren. Mit einem großen Messer machten wir uns abwechselnd daran, am Ende des Golfes die circa zwei Fuß tiefe Eiskruste zu durchbrechen. Der Junge hatte mit dem Worte imik (Wasser) die letzte Kruste des Eises durchbrochen und dieses kam in dem Loche heraufgeperlt. Hastig beugten wir uns und schlürften einen guten Zug, doch, o weh! unser Golf war nicht die Mündung eines Flusses – das Wasser war Salzwasser. Wir hatten den einen Zweck unseres Kommens erreicht, doch hüteten wir uns, Gilder und Melms, als wir müde nach Hause kamen, zu sagen, auf welche Weise wir uns diese Gewißheit verschafft haben. Diese Excursion hatte uns Manches gelehrt, und wir studirten fortan, wenn im Zweifel, ob auch Salz- oder Flußwasser, vor Allem das Gefüge des Eises selbst.
Jedesmal, wenn wir von ähnlichen Streifzügen zurückkehrten, gefiel uns das Eishaus besser als zuvor, und als wir Anfangs December dessen Eindachung durch ein ebenso kunstreiches als vortheilhaftes Gewölbe aus Schnee ersetzten, erreichte sowohl die Form unserer Behausung, als auch deren Werth den Gipfelpunkt ihrer Bequemlichkeit. Auch die Nebenanbaue aus Eis wurden entfernt und durch Schneehütten ersetzt und unsere Wohnungsstätte gewann an Ausdehnung. Ebenso wurde die Gemüthlichkeit im Innern durch die guten Acclimatisirungsfortschritte gefördert, und der gesunde Humor, den Lieutenant Schwatka in unerschöpflichem Maße besaß, würzte manche Speise, deren Material sowohl als Zubereitungsweise viel zu wünschen übrig ließ. Die Eskimos kamen allmählich von den Jagdgründen herein und Camp Daly wuchs zu einem stattlichen Schneehüttendorfe. Am schönsten präsentirte sich dasselbe in einer finsteren Nacht, die runden Formen der Hütten, hie und da durch Schneewehen halb verdeckt, haben das Aussehen von Erdaufwühlungen riesiger Thiere und doch dringt durch die Eistafeln aus dem wohlbeleuchteten Innern eine Helle, die den erstaunten Beobachter in ein Labyrinth kleiner Krystallpaläste versetzt. Die Schatten, die hie und da die transparenten Eistafeln verdunkeln, zeigen in ihrer emsigen Bewegung reges Leben. Es ist auch Leben, ja, es ist eine Welt für sich allein, und so spärlich die Bequemlichkeiten hier auch vertreten zu sein scheinen, ein solches Eishaus erscheint als Palast, wenn die kalten Nordwestwinde den Schnee dicht vor sich hertreiben und die Nachtzeit den Aufenthalt im Freien vereitelt.
Die Weihnachtstage gingen nicht unbemerkt an uns vorüber und Eskimo Joe wurde aufgefordert, seinen Landsleuten die Wichtigkeit des Festes begreiflich zu machen. Es wurde ein Festessen für uns und für die Eskimos arrangirt, ein Preisscheibenschießen veranstaltet, und wir folgten dann einer Einladung von Seite der Eskimos in ihre Hütten und nahmen an ihren gesellschaftlichen Spielen Theil, die später eine detaillirte Erwähnung finden werden.
Wenige Tage später verließ uns Lieutenant Schwatka mit einer Eskimo-Familie, um sich auf einer Recognoscirungstour von der Tauglichkeit der gewählten Route nach König Wilhelms-Land persönlich zu überzeugen, und wir Uebrigen machten Vorbereitungen zu einem Besuche der bei der Marmor-Insel winternden Schiffe. Ueber unseren ersten Aufenthalt wollten wir durch die Schiffe Briefe nach der Heimat senden, so wenig es eigentlich auch zu schreiben gab.
Nicht einmal das Nordlicht, das von so Vielen als so herrlich und großartig geschildert wurde, bekamen wir in seiner ganzen Pracht zu sehen. Und doch sahen wir beinahe täglich leicht lichte Flecken, die das Aussehen von Wolken zu haben schienen, am Firmamente, hie und da zeigten sich auch ein paar Zacken, ja, einmal sogar in mehreren Reihen, nie aber kam es meines Wissens zu einer vollkommenen Entwicklung des Nordlichtes, wie sie Herr Linienschiffs-Lieutenant Karl von Weyprecht nach seinen aufmerksamen Beobachtungen bei Gelegenheit seines Aufenthaltes mit der Oesterreichisch-ungarischen Polar-Expedition an der Küste von Franz Josefs-Land so schön, farbenreich und einzig treffend schildert.
Wir beobachteten die Erscheinung in ihrer langsamen Entwicklung, sahen mit Spannung nach dem westlichen Himmel, doch unser Aufenthaltsort war dem magnetischen Pole zu nahe, als daß wir eine Aurora borealis sich in ihrer ganzen Farbenpracht hätten entfalten sehen können. Alle Formen deuten mehr auf eine Corona borealis – doch auch ihre Entwicklung ist nur eine undeutliche.
Neujahr kam und ging, und mit der steigenden Sonne wünschten wir die Zeit herbei, die unseren Ausmarsch nach dem Ziele unserer Wünsche, nach König Wilhelms-Land, zuließ. Die verschiedenen Gerüchte, die als Basis unserer Forschungen gelten sollten, erwiesen sich zwar entweder als null und nichtig, die Erzählungen des Capitäns Thomas F. Barry, der in Gemeinschaft mit der Firma Morison u. Brown auf Kosten unserer Partie einen Wallfischfänger ausrüsten wollte, entpuppten sich als totale Unwahrheiten, und doch zog es Lieutenant Schwatka vor, den einmal betretenen Pfad zu verfolgen und durch einen Sommerbesuch des Schauplatzes der Franklin'schen Katastrophe entweder bezügliche Documente, falls solche deponirt waren, aufzufinden oder durch genau geleitete Forschungen die Sicherheit zu erlangen, daß nach Franklin, seinen Leuten und ihrem Schicksale zu fahnden nur mehr eine unfruchtbare Aufgabe sei. Die tüchtige Durchführung unseres Vorhabens war unser erster, unser einziger Neujahrswunsch.
Am 8. Januar traten Gilder und ich in Gesellschaft mehrerer Eskimo-Familien den Marsch nach der Marmor-Insel an. Die aus circa 60 Personen, 50 Hunden und 8 Schlitten zusammengesetzte Schlittenkarawane bot in den ersten Strahlen der Morgensonne auf der weiten Eisfläche ein farbenreiches Bild, die plump aussehenden Pelzcostüme der Frauen mit den an Achseln und Füßen sackartig erweiterten Kleidungsanhängseln standen im schroffen Gegensatze zu den munteren Spielen der Jugend, die im Gehen ihre Purzelbäume schlugen, auf und von den Schlitten sprangen und zwischen diesen Versteck spielten. In das rege Bild mischten sich die Zurufe der Hundelenker und das Geheul der Hunde, wenn die lange Peitsche mit dem Ende ihren Ohren zu nahe kam. So ging es durch sieben Tage fort, immer der Küste entlang, Abends wurde gehalten, die Schneehütten gebaut und Morgens wieder weiter gegangen. Eines Abends zeigte sich am Horizonte in matten Umrissen endlich unser Ziel und am nächsten Tag durften wir hoffen, es erreicht zu haben. Es war noch lange Nacht, als wir am 14. aufbrachen; der Sonnenaufgang fand uns an dieser Seite des neun Meilen breiten Canales, der die Marmor-Insel vom Festlande trennt. Die starken Strömungen der Fluth durch diesen Canal erlauben es nicht, daß sich das Eis früher stabil in demselben ansetzt, als bis eine in der Nähe gelegene große Bucht überfroren ist. Während die den Küsten zunächst gelegenen Meerstriche schon Ende November dickes Eis tragen, dauert es hier manchmal bis zum März, ehe sich eine natürliche Brücke über den Canal nach der Insel bildet. Auch diesesmal war die besprochene Wasserstraße nur mit schwimmendem Eise bedeckt, und während eine Abtheilung, der sich Gilder beigesellt hatte, mit Schlitten und Hunden den Uebergang begann, ließen wir Uebrigen dieselbe zurück, und selbst die Frauen mußten auf dieser Seite des Wassers bleiben. Mit einem Stocke bewaffnet, begannen wir den Uebergang und fanden bald zertrümmerte Eisstücke, auf denen wir hüpfend fortkommen mußten, oder wir schlichen mit möglichster Leichthaltung des Körpers in ziemlichen Distanzen von einander über dünne, etwa 2 bis 2½ Zoll dicke, neugebildete Eisflächen. Das Seewassereis ist im Gegensatze zu dem des Flußwassers nicht spröde, sondern biegsam, und unter jedem Schritte konnte man spüren, wie nachgiebig sich die Fläche senkte. Hatten wir wieder eine feste Eisplatte unter den Füßen, so ruhten wir einige Augenblicke, um dann unseren Trablauf fortzusetzen. So ging es ungefähr 1½ Stunden ungestört fort, schon begann sich die Insel selbst aus dem Nebel zu zeigen, ihre Formen aber verhüllte eine dunstige Masse, und diese war es, die unsere Befürchtungen, daß sich in der Nähe derselben eisfreies Wasser befinde, zur Wahrheit zu machen drohte. In der That war das Eis immer dünner geworden und die Abtheilung, der Gilder angehörte, hatte das Malheur, an einer schwachen Stelle durchzubrechen. Bei einer Temperatur von -41° Celsius gehört ein unfreiwilliges Seebad keinesfalls zu den angenehmsten Ueberraschungen, und falls Gilder allein gewesen wäre, hätte ihm dies (wie seinerzeit Dr. Sonntag, dem Begleiter des Dr. Hayes auf dessen Polar-Expedition 1859–61, der in Folge eines Eisdurchbruches starb) leicht sehr gefährlich werden können.
Hier machte sich wieder ein Eskimo-Hilfsmittel geltend, und so schnell Gilder, der bis über die Hüften in das naßkalte Element gerathen, herauskam, fielen die Eingebornen über ihn und eine Frau, die sein Schicksal theilte, her und fingen ihn, respective seine Kleider, an, mit Schnee zu reiben. Dadurch wurde freilich ein großer Theil des triefenden Wassers aufgesogen und das Gemenge aus Schnee und Eis, das sich durch diese Operation gebildet hatte, wieder abgeklopft, aber die Situation Gilder's war eine bedenkliche, und besonders die steifgefrornen Hosen, die sich nicht einmal abziehen und durch andere ersetzen ließen, erschwerten ihm sehr das Gehen. Und doch war es nothwendig, daß er sich unausgesetzt in Bewegung erhielt, um dem Körper die Abkühlung der Kleidung nicht fühlen zu lassen.
Gegen Mittag gelangten wir an das offene Wasser, welches, wie geahnt, sich wirklich in der Distanz von etwa einer halben Meile zwischen den beweglichen Eisfeldern und dem stabilen Landeise der Insel ausdehnte. Auch dieses war mit einer sehr dünnen Eiskruste überzogen, doch bewiesen einzig und allein schon die durch dasselbe auftauchenden zahlreichen Wallrosse, daß es zum Passiren vor dem Wechsel der Fluth zur Ebbe nicht stark genug werden dürfte, um uns zu tragen. Auf den Umschwung der Wasserbewegung legten die uns begleitenden Eskimos den größten Werth, denn durch das Seewärts-Strömen der Fluth wurden die beweglichen Eisfelder von dem Hauptlande gegen die Insel gedrängt. Zur Zeit des Fluthwechsels war aber noch eine geraume Zeit und der unthätige Aufenthalt auf dem freien Eise bei einer so niedrigen Temperatur keinesfalls ein Vergnügen. So saßen, standen und kauerten wir am Rande des Eises und blickten nach den Felsformen der Insel, die in der stark einbrechenden Dunkelheit sich weiter und weiter von uns zu entfernen schienen. Am meisten plagte uns der Durst und mit Schnee-Essen verbrachten wir die meiste Zeit, als der Eskimo-Ruf mana (jetzt) freudig an unsere Ohren klang. Wir standen bereit, um das der Insel zunächst liegende Landeis zu betreten, und konnten in der Dunkelheit nur bemerken, wie die vorher erwähnte dünne Eiskruste zwischen den sich nun treffenden Eisstücken wie ein Brei zerrieben wurde. Beim Ueberschreiten dieser gefährlichen Stelle nunmehr in stockfinsterer Nacht hieß es Acht geben – doch ein Schritt, und wir waren hinüber, erreichten einen größeren Teich und begannen vor Allem uns an den mit Messern herausgehackten Eissplittern zu laben. Wie die Eskimos überhaupt gerne gesellig sind, so legten sie sich auch diesmal in einen Kreis mit den Köpfen zusammen flach auf den Teich und fingen an zu hacken. Auf jedes Stückchen, bevor es in den Mund genommen wurde, wurde zuerst gehaucht, um dadurch die Temperatur der Gaumen und Zunge berührenden Theile so weit zu erhöhen, daß dieselben nicht an diesen hängen bleiben. Von einem wirklichen Durststillen kann beim Genießen weder von Eis, noch Schnee, am wenigsten aber bei letzterem die Rede sein. Daß die von den meisten arktischen Reisenden angewendete Manier auch von Allen verurtheilt wurde, ist selbstverständlich, denn die Quantität des Wassers, die durch die Auslösung der Eis- und Schneeparcellen im Munde gewonnen wird, ist im Verhältniß zu der darauf verwendeten Zeitdauer sehr klein und wird daher das Verlangen nach einem guten Schluck nur vermehren. Was aber die Herbeiführung von Krankheitsfällen, wie Halsentzündungen ec., anbelangt, so mag dieselbe beim Eis- und Schnee-Essen nur dann begründet sein, wenn die betreffenden Leute gewöhnt waren, ihr Trinkwasser durch Schmelzen von Schnee oder Eis zu gewinnen, bei welchem Processe das Wasser gewöhnlich weit über den Nullpunkt erwärmt getrunken wird. Bei uns, die wir unser Wasser, wenn immer nur möglich, aus den Teichen unter der Eiskruste zu bekommen trachteten, also stets nur sehr kaltes Wasser tranken, ließ das Eis- oder Schnee-Essen nie ein Symptom zurück, das zur Begründung obangeführter Annahme hätte dienen können.
Der Weitermarsch quer durch die sich von Osten nach Westen in einer Länge von 15 Meilen erstreckende Insel war eine, namentlich für Gilder mit dessen noch immer unbiegsamen Beinkleidern, anstrengende Tour. Die steile, äußerst felsige Südküste war erreicht, und diese westlich verfolgend, suchten wir lange Zeit vergeblich nach dem Hafen. Wir hatten die Eskimos, als Gilder ihnen nicht mehr nachkommen konnte, vorausgehen lassen und unternahmen nun einen Weg allein, der in Bezug auf Acclimatisirung ein recht hübsches Probestück unserer Leistungsfähigkeit abzugeben im Stande ist.
Auf einem schmalen Pfade, der auf dem schneebedeckten Hochflutheise wie ein Saum der Küste der Insel folgte, gingen wir langsam vorwärts. Zu unserer Rechten stiegen die steilen Wände auf, zu unserer Linken hatte sich mit Zurücklassung einer senkrechten Fläche das Eis mit der Ebbe etliche 20 Fuß gesenkt, und das Knirschen, welches die beiden sich reibenden Flächen da unten verursachten, ließ vermuthen, wie nothwendig es war, sich vor dem Abgrunde zu hüten. Bald standen wir vor einer Felswand, die, etliche 70 Fuß hoch, für Gilder's Unbeweglichkeit ein bedeutendes Hinderniß bot. Weiter ging unser Pfad nicht und wir begannen die Arbeit des Erklimmens. Auch war die Zeit des Ablaufens unseres Taschen-Chronometers gekommen, und so benützten wir die halbe Höhe der Schneebank, die wir hinauf krochen, um diesen aufzuziehen. Es war eine liebliche Arbeit in dieser Kälte und Finsterniß und die Zeit, die ich brauchte, bevor ich unter Gilbert's Pelzen Uhr und Schlüssel fand, ja, bis ich in der Dunkelheit das Geschäft selbst besorgte, war vollkommen genügend, meinem eisigen Begleiter die in solchem Zustande erlaubte Ruhe zu gönnen. Oben angelangt, gingen wir einige Minuten, dann aber mußte ich meinen Begleiter wieder einige Augenblicke ruhen lassen, und so war es gegen 12 Uhr Nachts, als wir im dunkelsten Fleck des ohnehin schwarzen, sternenlosen Himmels, welch ersterer als Wasserhimmel bekannt, stets die Gegend, wo sich im Winter offenes Wasser befindet, anzeigt, ein rothes Licht erblickten. Es verschwand, und schon dachte ich mir, das Opfer einer optischen Täuschung gewesen zu sein, als das Licht wieder erschien, und zwar in einer Nähe, die es erlaubte, auf unsere Rufe Antwort zu hören. Die Eskimos waren auf den Schiffen angekommen und von dort aus wurden Leute nach uns ausgesendet. Eine halbe Stunde später und wir waren nach einem ebenso unangenehmen, anstrengenden, wie gefährlichen Marsche geborgen.
In einem Hafen der Marmor-Insel (sie trägt den Namen nach dem weißlichen, marmorartigen Kalkstein, aus dem ihre Formation besteht) waren vier Wallfischschiffe in Winterquartier und bei Tage bot ihr Anblick, wie sie ohne Raaen im Schnee gleichsam eingemauert neben und hintereinander lagen, ein seltsames Bild.
Man hatte uns schon des Morgens am Eis gesehen, hatte auch ein Boot über die Insel geschafft, um uns, falls sich das Eis nicht schließen sollte, zu holen, doch waren wir bekanntlich mit dem Eise vom westlichsten Punkte nach dem östlichen Ende der Insel geführt worden, und trotzdem beinahe sämmtliche Officiere und Mannschaften der Schiffe, 120 an Zahl, uns mit Laternen entgegengingen, konnten sie uns doch erst jetzt, etwa um Mitternacht, wieder erblicken.
In gesellschaftlicher Beziehung war das Leben auf der Marmor-Insel sehr angenehm, besonders als auch die andere Partie mit Lieutenant Schwatka und Melms dahin kam; zugleich aber lernten wir in Bezug auf Acclimatisirung und den Gesundheitszustand erkennen, wie nothwendig und wohlthätig für uns die in Camp Daly verbrachten Monate waren. Der Gesundheitszustand der Leute auf den Schiffen war nämlich ein sehr kläglicher – der Scorbut hatte sich nicht nur in seinen Symptomen gezeigt, sondern war, wenn ich mich als Laie so ausdrücken darf, förmlich epidemisch aufgetreten.
Die Wallfisch-Rheder sind, wie die Mehrzahl anderer Schiffsherren, mehr auf ihren Gewinn, als auf den Gesundheitszustand ihrer Bediensteten bedacht, und Letztere sind darauf angewiesen, als einziges Mittel gegen den Scorbut rohes Fleisch zu genießen. Dieses war gerade dieses Jahr theils wegen der großen Zahl der winternden Schiffe, theils wegen der spärlich ausgefallenen Herbst- und Winterjagden der nahe wohnenden Eskimos des Kinipetu-Stammes nur in sehr geringen Mengen zu haben.
Namentlich die auf einem Schiffe als Matrosen dienenden Portugiesen (Eingeborne der Azoren- und Capverdischen Inseln) hatten viel zu leiden und zwei von ihnen lagen bereits anscheinend hoffnungslos darnieder; nächst ihrer kräftigen Constitution verdankten dieselben nur dem nachherigen bedeutenden Fang an Wallrossen und Seehunden ihre Wiedergenesung. Die Marmor-Insel hat überhaupt, was den Scorbut anbelangt, eine historische Bedeutung, die am deutlichsten auf dem kleinen Friedhof zu sehen ist, dessen Gräberzahl vom Jahre 1871-1880 von eins auf dreiundzwanzig stieg. Daß sich aber dem Scorbut begegnen läßt, beweist die Schwatka'sche Partie, die während eines mehr denn zweijährigen Aufenthaltes auch nicht das leiseste Symptom dieser Krankheit an sich verspürte. Der Aufenthalt auf den Schiffen war von längerer Dauer und wurde in Bezug auf Vorbereitung insoweit gut benützt, als wir Gelegenheit bekamen, unsere Hundezahl zu completiren und von den verschiedenen Capitänen, Officieren und Mannschaften manchen kleinen Beitrag erhielten, der uns auf der späteren Reise als Tauschwaare die allerbesten, förderlichsten Dienste leistete.
Am 1. März 1879 traten wir den Rückweg nach Camp Daly an. Auf der ganzen Reise heulten uns unaufhörlich die Aequinoctialstürme entgegen. Doch dieser arktische Sturm, er hatte für uns seine Schrecken verloren, wir waren nicht nur in der Kleidung Eskimos geworden, sondern auch die Haut war gestählt gegen das Klima, und je näher der Tag des Aufbruches nach Norden anrückte, desto sehnlicher, desto erwünschter war er uns. Auch die Bequemlichkeit, deren wir uns manchmal noch hingegeben, war gewichen und in rastlosester Thätigkeit, mit dem größten Eifer wurden die letzten Vorbereitungen getroffen. Jeder von uns hatte schon lange die wenigen Sachen zusammengepackt, die er mitnehmen wollte und konnte, und draußen im Küchenzelte stand Kiste an Kiste, Faß an Faß bereit für den Tag des Abmarsches. König Wilhelms-Land war unser Wunsch und Ziel, auf dasselbe bezogen sich das gesammte Wirken und all' unser Gespräch in den letzten Tagen unserer mit Nutz und Erfolg begleiteten Acclimatisirungsperiode.
Uebersichtstabelle des Thermometerstandes (nach Celsius) vom 14. August 1878 bis 31. März 1879.
Temperatur in Graden (nach Celsius) | ||||||
Monat | Durchschnitt für | Beobachtung im Schatten | ||||
1878 | den ganzen
Monat |
die erste
Hälfte des Monats |
die zweite
Hälfte des Monats |
höchste | niedrigste | |
1878 | August | – | – | +8 | +14 | +3 |
1878 | September | +0 | +2 | -2 | +8 | -6 |
1878 | Oktober | -7 | +0 | -14 | +9 | -30 |
1878 | November | -13 | -13 | -13 | -5 | -35 |
1878 | Dezember | -27 | -29 | -24 | -13 | -44 |
1879 | Januar | -34 | -30 | -38 | -19 | -45 |
1879 | Februar | -26 | -29 | -23 | -14 | -51 |
1879 | März | -22 | -27 | -17 | -6 | 37 |