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[An Fräulein Louise v. Zenge Hochw. zu Berlin, abzugeben bei dem Kaufmann Clausius]
Berlin, den 11. (und 12.) Januar 1801
Liebe, teure Wilhelmine, ja wenn Du mir so aus Deinem Herzen zu meinem Herzen schreibst, so muß ich Dir gleich antworten und wenn ich noch zehnmal mehr zu tun hätte. O wie schmerzt es mich, daß ich vorgestern in meiner übeln Laune jenen trüben Brief an Dich abschickte, den Du grade heute empfangen haben wirst, grade heute, wo ich den Deinigen empfing, der mir so herrlich den Mut und die Liebe von neuem belebte. Verzeihe mir diesen letzten Ausbruch meiner Unzufriedenheit mit mir, antworte mir gar nicht auf diesen Brief, verbrenne ihn lieber ganz und lies dafür diesen recht oft durch, den ich froh und heiter und mit Innigkeit für Dich niederschreibe.
– – Als ich so weit geschrieben hatte, klingelte jemand; ich mache auf, und wer war es? Dein kleiner Bruder von den Kadetten, den ich noch nie sah und jetzt zu sehen mich sehr freute. Er wollte Carln besuchen, der aber nicht zu Hause war. Ich teilte ihm, an Carls Stelle, Nachrichten von seiner Familie mit, küßte dann den kleinen Schwager (der Jettchen gleicht, und dessen Gesicht etwas Gutes verspricht), leuchtete dann dem armen Jungen durch die öden noch nicht bewohnten Zimmer und Treppen dieses Hauses und kehre nun wieder zu Dir zurück. –
Ja, liebes Mädchen, so oft ich Dir gleich nach Empfang Deines Briefes antworte, kannst Du immer überzeugt sein, daß er mir herzliche Freude gewährt hat; nicht etwa, weil er schön oder künstlich geschrieben ist – denn das achte ich wenig, und darum brauchst Du Dir wenig Mühe zu geben – sondern weil er Züge enthält, die mir Dein Herz liebenswürdiger und Deine Seele ehrwürdiger machen. Denn da ich Dich selbst nicht sehen und beurteilen kann, was bleibt mir übrig, als aus Deinen Briefen auf Dich zu schließen? Denn das glaube ich tun zu dürfen, indem ich Deine Worte nicht bloß für Worte, sondern für Deinen Schattenriß halte. Daher ist mir jeder Gedanke, der Dich in ein schöneres Licht stellt, jede Empfindung, die Dich schmückt, teuer, wie das Unterpfand einer Tat, wie das Zeichen Deines moralischen Wertes; und ein solcher Brief, der mir irgend eine schönere Seite Deiner Seele zeigt und dadurch unwillkürlich, unerwartet, überraschend mir das Bewußtsein Dich zu besitzen plötzlich hell und froh macht, ein solcher Brief, sage ich, wirkt auf meine Liebe, wie ein Öltropfen auf die verlöschende Flamme, die von ihm benetzt plötzlich hell und lustig wieder herauflodert.
Ja, liebe Wilhelmine, wenn jemals die Erinnerung an Dich in mir immer kälter und kälter werden sollte, so bin ich in meinem heiligsten Innern überzeugt, daß es einzig Deine Schuld sein würde, nie die meinige. Nur dann könnte und müßte ich gleichgültig gegen Dich werden, wenn die Erfahrung mich lehrte, daß der Stein, den ich mit meiner ganzen Seele bearbeitete, den Glanz aus ihm hervorzulocken, kein Edelstein wäre – Ich würde Dich darum nicht verlassen, – denn warum solltest Du den Irrtum büßen, den ich beging? Aber unglücklich würde ich sein, und Du würdest nicht glücklich sein, weil ich es nicht sein kann; denn das Gemeine kann man nur brauchen, nur das Edlere kann man lieben, und nur die Liebe macht das Leben süß.
Aber sei der Liebe würdig und nie wird es Dir daran fehlen. Nicht als ein Geschenk fordre sie von mir, Du kannst sie Dir erwerben, Du kannst sie von mir erzwingen, und nur so wird sie Dich und mich glücklich machen; denn das Herz ist das einzige Eigentum, das wir uns lieber rauben lassen, als auf Bitten und Gesuche verschenken. Nie ist es einem Mädchen leichter gewesen, sich die Liebe ihres Geliebten zu erhalten als Dir, denn ganz unglücklich würde ich selbst sein, wenn ich sie Dir je entziehen müßte. Ich würde Dich dann nicht verlassen – denn meine Pflicht ist mir höher selbst als mein Glück; aber eben das würde mich ganz unglücklich machen.
Daher kann ein Wechsler die Echtheit der Banknote, die sein Vermögen sichern soll, nicht ängstlicher untersuchen, als ich Deine Seele; und jeder schöne Zug, den ich an ihr entdecke, ist mir lieber, ja lieber selbst, als wenn ich ihn an mir selbst entdeckte. Manches Mädchen habe ich schon mit Dir verglichen, und bin ernst geworden, z. B. die Lettow, die Duhattois etc.; manches ist auch hier in Berlin, das ich gegen Dich halte, und ernst macht mich jedesmal diese Vergleichung; aber Du hast eine jahrelange Bekanntschaft, die innigste Vertraulichkeit, eine beispiellose Tat und ebenso beispiellose Verzeihung für Dich, und wenn Du nur ein weniges noch, nur die Ähnlichkeit mit meinem Ideale, nur den ernsten Willen, es einst in Dir darzustellen, in Deine Waagschale legst, so sinkt die andere mit allen Mädchen und mit allen Schätzen der Erde.
Ein Gedanke, Wilhelmine, steht in Deinem Briefe, der mich mit unbeschreiblicher Freude und Hoffnung erfüllt; ein Gedanke, nach dem meine Seele dürstete, wie die Rose in der Mittagsglut nach dem Tau – den ich Dir aber nicht in die Seele zu pflanzen wagte, weil er, wie die Orange, keine Verpflanzung leidet und nur dann Früchte trägt, wenn ihn die Kraft des eignen Bodens hervortreibt –: Du schreibst mir, daß Dir jetzt ein Gefühl die Seele bewegte, als ob eine neue Epoche für Dich anheben würde. – Liebe Wilhelmine! Soll ich Dir gestehen, daß ich mich oft schon, sinnend, mit Ernst und Wehmut fragte, warum sie nicht schon längst eingetreten war? So viele Erfahrungen hatten die Wahrheit in mir bestätigt, daß die Liebe immer unglaubliche Veränderungen in dem Menschen hervorbringt; ich habe schwache Jünglinge durch die Liebe stark werden sehen, rohe ganz weichherzig, unempfindliche ganz zärtlich; Jünglinge, die durch Erziehung und Schicksal ganz vernachlässigt waren, wurden fein, gesittet, edel, frei; ihr ganzes Wesen erlitt schnell eine große Reform, und gewöhnlich fing sie bei dem Anzuge an; sie kleideten sich sorgsamer, geschmackvoller, gewählter; dann kam die Reform an dem Körper, seine Haltung ward edler, sein Gang sichrer, seine Bewegungen zierlicher, offner, freimütiger, und hierbei blieb es, wenn die Liebe nicht von der höheren Art war; aber war sie es, so kam nun auch die große Revolution an die Seele; Wünsche, Hoffnungen, Aussichten, alles wechselte; die alten rohen Vergnügungen wurden verworfen, feinere traten an ihre Stelle; die vorher nur in dem lauten Gewühl der Gesellschaft, bei Spiel und Wein, vergnügt waren, überließen sich jetzt gern in der Einsamkeit ihren stillen Gefühlen; statt der abenteuerlichen Ritterromane, ward eine simple Erzählung von Lafontaine, oder ein erhebendes Lied von Hölty die Lieblingslektüre; nicht mehr wild mit dem Pferde strichen sie über die Landstraßen, still und einsam besuchten sie schattige Ufer, oder freie Hügel; und lernten Genüsse kennen, von deren Dasein sie sonst nichts ahndeten; tausend schlummernde Gefühle erwachten, unter ihnen die Wohltätigkeit meistens am lebhaftesten; wo ein Hülfloser lag, da gingen sie, ihm zu helfen; wo ein Auge in Tränen stand, da eilten sie, sie zu trocknen; alles was schön ist und edel und gut und groß, das faßten sie mit offner, empfänglicher Seele auf, es darzustellen in sich; ihr Herz erweiterte sich, die Seele hob sich ihnen unter der Brust, sie umfaßten irgend ein Ideal, dem sie sich verähnlichen wollten – Ich selbst hatte etwas Ähnliches an mir erfahren; und nun mußte ich mich wohl bei Dir fragen: Warum – warum –? Das war meine erste Frage; und die zweite: liebt sie mich etwa nicht? War doch meine erste Ahndung, daß sie mich nur zu lieben glaubt, weil ich sie liebe, gegründet –?
Das, liebes Mädchen, war, im Vorbeigehn gesagt, die eigentliche Ursache meiner Traurigkeit an jenem Abende. Damals wollte und konnte ich sie Dir nicht sagen, und auch jetzt würde ich sie Dir verschwiegen haben, wenn Du mir den Gedanken nicht selbst aus der Seele genommen hättest. Du selbst fühlst nun, daß Dir eine Epoche bevorstehe, und ich ahnde mit unaussprechlicher Freude, daß es die Liebe ist, die sie Dir eröffnet.
Unsre Väter und Mütter und Lehrer schelten immer so erbittert auf die Ideale, und doch gibt es nichts, das den Menschen wahrhaft erheben kann, als sie allein. Würde wohl etwas Großes auf der Erde geschehen, wenn es nicht Menschen gäbe, denen ein hohes Bild vor der Seele steht, das sie sich anzueignen bestreben? Posa würde seinen Freund nicht gerettet, und Max nicht in die schwedischen Haufen geritten sein. Folge daher nie dem dunkeln Triebe, der immer nur zu dem Gemeinen führt. Frage Dich immer in jeder Lage Deines Lebens ehe Du handelst: wie könntest Du hier am edelsten, am schönsten, am vortrefflichsten handeln? – und was Dein erstes Gefühl Dir antwortet, das tue. Das nenne ich das Ideal, das Dir immer vorschweben soll.
Aber wenn Deine Seele diese Gedanken bestätigt, so gibt es doch noch mehr für Dich zu tun – Weißt Du, welchen Erfolg an jenem vorletzten Abend Dein guter, vernünftiger Rat hatte, doch zuweilen mit Deinem Vater ein wenig zu sprechen? Ich tat es auf der Stelle.
Daß Du endlich auch jenen guten Rat mit dem Tagebuche befolgst, freut mich herzlich, und ich verspreche Dir davon im voraus viel Gutes. An dem meinigen arbeite ich auch fleißig und aufmerksam, und gelegentlich können wir sie einmal, wenigstens stellenweise, austauschen.
Ich eile zum Schlusse, liebes Minchen, denn es ist spät, und morgen früh kann ich nicht schreiben.
Deine Gefühle auf dem Universitätsberge, Deine Erinnerung an mich, Deine Gedanken bei dem trocknen Fußsteige, der neben dem beschwerlichen Pfad unbetreten blieb, sind mir wie Perlen, die ich in Gold fassen möchte.
Hier noch einige Nüsse zum Knacken.
1. Wenn die Flamme sich selbst den Zugwind verschafft und so immer höher herauflodert, inwiefern ist sie mit der Leidenschaft zu vergleichen?
2. Wenn der Sturm kleine Flammen auslöscht, große aber noch größer macht, inwiefern ist er mit dem Unglück zu vergleichen?
3. Wenn du den Nebel siehst, der andere Gegenstände verhüllt, aber nicht den, der Dich selbst umgibt, womit ist das zu vergleichen?
————
Schreibe bald und lang und oft, Du weißt, warum? H. K.
Nachschrift, den 12. Januar 1801
Als ich eben diesen Brief einsiegeln wollte, reichte mir Carl das Versprochne. Liebe Wilhelmine, ich küsse Dich. Das Ideal, das Du für mich in Deiner Seele trägst, macht Dich dem ähnlich, das ich für Dich in der meinigen trage. Wir werden glücklich sein, Wilhelmine – o fahre fort mir diese Hoffnung immer gewisser und gewisser zu machen. Schenke mir oft einen solchen, oder ähnlichen Aufsatz, der mir, wenn er so unverwartet kommt, wie dieser, das Vergnügen seiner Lesung verdoppelt. Es atmet in dieser Schrift, ein Ernst, eine Würde, eine Ruhe, eine Bescheidenheit, die mich mit unbeschreiblicher Freude erfüllt, wenn ich sie mir an Deinem Wesen denke. – Hat Carl vielleicht noch einen Aufsatz bei sich, den er mir erst heute abend, oder morgen früh geben wird – –?
*
Berlin, den 21. (und 22.) Januar 1801
Liebe Wilhelmine, ich habe bei Clausius zu Mittag gespeiset und mich gegen Abend (jetzt ist es 7 Uhr) weggeschlichen, um ein Stündchen mit Dir zu plaudern. Wie froh macht mich die stille Einsamkeit meines Zimmers gegen das laute Gewühl jener Gesellschaft, der ich soeben entfloh! Ich saß bei Minna, und das war das einzige Vergnügen, das ich genoß – die andern waren lauter Menschen, die man sieht und wieder vergißt, sobald man die Türe hinter sich zu gemacht hat. Eine magdeburgische Kaufmannsfamilie waren die Hauptpersonen des Festes. Der Vater, ein Hypochonder, gesteht, er sei weit fröhlicher gewesen, als er ehemals nur 100 000 Rth. besaß – – Mutter und Tochter tragen ganz Amerika an ihrem Leibe, die Mutter das nördliche, Labrador, die Tochter das südliche, Peru. Jene trägt auf ihrem Kopfe einen ganzen Himmel von Diamanten, Sonne, Mond und Sterne, und es scheint, als ob sie mit diesem Himmel zufrieden sei; diese hat ihren Busen in zehnfache Ketten von Gold geschlagen, und es hat das Ansehn, als ob er, unter diesen Fesseln, nichts Höheres begehrte. Man wird, wenn man vor ihnen steht, ganz kalt, wie der Stein und das Metall, womit sie bepanzert sind. Leckerbissen sind es, die der Fischer über den Angelhaken zieht, damit der Fisch ihn nicht sehe – und auf gut Glück wirft er ihn aus in den Strom – aber wer den Betrug kennt, schaudert; denn so schön der Schmuck auch ist, so fürchte ich doch, daß er an ihnen das – Schönste ist.
Doch nichts mehr von ihnen – von Dir, liebes Minchen, laß mich sprechen; ihnen konnte ich aus meiner Seele kein Wort schenken – für Dich habe ich tausende auf dem Herzen.
Ich muß Dir auf zwei Briefe antworten; aber ich kann es nur kurz – o über jeden Gedanken möchte ich tagelang mit Dir plaudern, aber Du kennst es, das einzige, was ich höher achte – Nicht verloren nenne ich die Stunden, die ich Dir widme, aber ich sollte sie doch meinen, oder vielmehr unseren Zwecken nicht entziehen. Daher hatte ich auch zu Anfange nur etwa auf einen Brief für jede 14 Tage gerechnet; aber wie könnte ich schweigen, wenn Du mir so schreibst? Deinen ersten Brief (vom 15.) empfing ich eine ¼ Stunde vorher, ehe Clausius' Wagen vor meine Türe fuhr, mich abzuholen zum Kolonieball – o wie gern hätte ich mich gleich niedergesetzt Dir zu antworten. So tief kannst Du empfinden, Mädchen –? Ich kenne die Erzählung vom »Las Casas« nicht und weiß nicht, ob sie ein so inniges Interesse verdient, obschon es von einem Schriftsteller, wie Engel, zu erwarten ist. Aber das ist gleichviel – daß Du so tief und innig empfinden kannst, war mir eine neue, frohe Entdeckung. Große Empfindungen zeigen eine starke, umfassende Seele an. Wo der Wind das Meer nur flüchtig kräuselt, da ist es flach, aber wo er Wellen türmt, da ist es tief – Ich umarme Dich mit Stolz, mein starkes Mädchen. Der Zweifel, der Dir bei der Lesung des »Ätna« einfiel, ob ich nämlich nicht gleichgültig gegen Dich werden würde, wenn mir Dein Besitz gewiß wäre, möge Dich nicht beunruhigen. Laß nur Deine Liebe immer für mich den Preis der Tugend sein, so wie es die meinige für Dich sein soll – dann wird es immer für uns etwas geben, das des Bestrebens würdig ist, und wenn es nicht mehr das Geschenk der Liebe selbst ist, die wir schon besitzen, so ist es doch die Erhaltung derselben, da wir sie immer noch verlieren können.
Du hast ein gutes Vertrauen zu dem Strome, der die Eisscholle trug, ein Vertrauen, das wir beide rechtfertigen können und wollen und werden. So weit auch die Klippe hervorragt in den Lauf des Stromes, die Scholle, die er trägt, scheiternd an sich zu ziehn – sein Lauf ist zu sicher, er führt sie, wenn sie auch die Klippe berührt, ruhig fort ins Meer – –
Ganz willige ich [in] Deinen Vorschlag, ein oder ein paar Wochen mit Schreiben zu pausieren, um nur dann desto mehr schreiben zu können. Sorge und Mühe muß Dir dieser Briefwechsel nie machen, der nur die Stelle eines Vergnügens, nämlich uns mündlich zu unterhalten, ersetzen soll.
Die älteste Schulz ist allerdings ein Mädchen, das mir sehr gefällt, und von dem Du viel lernen kannst. Sie hat Nutzen gezogen aus dem Umgange mit aufgeklärten Leuten und gute Bücher nicht bloß gelesen, sondern auch empfunden – Aber ich sehe nach der Uhr, es ist Zeit, daß ich wieder von Dir scheide. Ich muß wieder zu Clausius, so gern ich auch bei Dir bliebe. Wann werde ich mich nie von Dir trennen dürfen?
den 22. Januar
Ich komme nun zu Deinem andern Briefe.
Schmerzhaft ist es mir, wenn Du mir sagst, daß ich selbst an der Vernachlässigung Deines eignen Äußern schuld bin – – So freilich, wie Du diesen Gegenstand betrachtest, kannst Du recht haben. Du verstehst unter dem Äußern nur Deine Kleidung, und daß diese nicht mehr so gewählt und preziös ist und nicht mehr so viel Geld und was noch schlimmer ist so viel Zeit kostet, daran mag ich freilich schuld sein und es reut mich nicht. Ich bin immer in Wohnzimmern lieber als in den sogenannten Putzstuben, wo ich mich eng und gepreßt fühle, weil ich kaum auftreten und nichts anrühren darf. Fast auf eine ähnliche Art unterscheide ich die bloß angezognen, und die geschmückten Mädchen. Dieser künstliche Bau von Seide und Gold und Edelsteinen, die Sorge, die daraus hervorleuchtet, die vergangne für seine Aufführung, die gegenwärtige für seine Erhaltung, die hervorstechende Absicht, Augen auf sich zu ziehn, und in Ermangelung eignen Glanzes durch etwas zu glänzen, das ganz fremdartig ist und gar keinen innern Wert hat, das alles führt die Seele auf einen Ideengang, der unmöglich den Mädchen günstig sein kann. Daher schaden sie sich meistens selbst durch den Staat – daß Du aber diesen abgelegt hast, das habe ich nie an Dir getadelt. Ich habe Dich nie ordnungs- und geschmacklos angezogen gefunden, und das würde ich Dir gewiß haben merken lassen; denn eine einfache und gefällige Unterstützung ihrer natürlichen Reize ist den Mädchen mehr als bloß erlaubt und die gänzliche Vernachlässigung desselben ist gewiß tadelnswürdig. Aber, liebes Mädchen, an Deiner Kleidung habe ich ja nie etwas ausgesetzt, und wenn ich einmal stillschweigend Dich fühlen ließ, daß mir an Deinem Äußern etwas zu wünschen übrig blieb, so verstand ich darunter etwas ganz anderes. – – Doch dieses ist gar kein Gegenstand für die Sprache, noch weit weniger für die Belehrung. Dieses Äußere kann nicht zugeschnitten werden, wie ein Kleid, es gründet sich in der Seele, von ihr muß es ausgehen, und sie muß es der Haltung, der Bewegung mitteilen, weil es sonst bloß theatralisch ist.
Wenn Du mich nicht verstehen solltest, so halte darum diese unverständliche Sprache nicht für Geschwätz. Fahre nur fort Dich auszubilden, und wenn sich einst auch Dein Sinn für das Schöne erhöht und verfeinert hat, so lies dies einmal wieder. Dann wirst Du es verstehn.
Deine Übereilung in der Teegesellschaft bei Tante Massow darf ich nicht mehr richten; Du hast Dich schon selbst gerichtet. Fahre fort so aufmerksam auf Dich selbst zu sein, und wenn auch jetzt zuweilen Blicke in Dein Inneres Dich schmerzen, künftig werden sie Dich entzücken. – Keine Tugend ist weiblicher, als Duldsamkeit bei den Fehlern andrer. Darüber will ich Dir künftig etwas schreiben. Erinnere mich daran. Adieu. Ich danke für das Geld, bald empfängst Du es wieder. H. K.
*
[An das Stiftsfräulein Wilhelmine v. Zenge Hochwürden und Hochwohlgeboren zu Frankfurt a. O.]
Berlin, den 31. Januar 1801
Liebe Wilhelmine, nicht, weil mir etwa Dein Brief weniger lieb gewesen wäre, als die andern, nicht dieses, sage ich, war der Grund, daß ich Dir diesmal etwas später antworte, als auf Deine andern Briefe – Denn das habe ich mir zum Gesetz gemacht, jedes Schreiben, das mir irgend eine schönere Seite von Dir zeigt, und mir darum inniger an das Herz greift, gleich und ohne Aufschub zu beantworten. Aber diesmal war es mir doch ganz unmöglich. Leopold ist hier, Huth hat mich in sein Interesse gezogen und mich aus meiner Einsamkeit ein wenig in die gelehrte Welt von Berlin eingeführt, – worin es mir aber, im Vorbeigehn gesagt, so wenig gefällt, als in der ungelehrten. Allein Du selbst kannst daraus schließen, wie karg ich mit der Zeit sein mußte, um notwendige Arbeiten nicht ganz zu versäumen. Gern möchte ich für Geld Stunden kaufen, wenn dies möglich wäre, und manchem würde damit gedient sein, der daran einen Überfluß hat und nicht weiß, was er damit anfangen soll. Die wenigen Stunden, die mir nach so vielen Zerstreuungen übrig blieben, mußte ich ganz meinem Zwecke widmen – heute endlich hat mir der Himmel einen freien Abend geschenkt und Dir soll er gewidmet sein. – Aber ich hebe das Gesetz nicht auf, und künftig beantworte ich jeden Brief von Dir, wenn er so ist wie der letzte, sogleich – Du mußt dann nur zuweilen mit wenigem zufrieden sein.
Besonders der Blick, den Du mir diesmal in Dein Herz voll Liebe hast werfen lassen, hat mir unaussprechliche Freude gewährt – obschon das Ganze, um mir Vertrauen zu der Wahrheit Deiner Neigung einzuflößen, eigentlich nicht nötig war. Wenn Du mich nicht liebtest, so müßtest Du verachtungswürdig sein und ich, wenn ich es von Dir nicht glaubte. Ich habe Dir schon einmal gesagt, warum? – Also dieses ist ein für allemal abgetan. Wir lieben uns, hoffe ich, herzlich und innig genug, um es uns nicht mehr sagen zu dürfen, und die Geschichte unsrer Liebe macht alle Versicherungen durch Worte unnötig.
Laß mich jetzt einmal ein Wort von meinem Freunde Brokes reden, von dem mein Herz ganz voll ist – Er hat mich verlassen, er ist nach Mecklenburg gegangen, dort ein Amt anzutreten, das seiner wartet – – und mit ihm habe ich den einzigen Menschen in dieser volkreichen Königsstadt verloren, der mein Freund war, den einzigen, den ich recht wahrhaft ehrte und liebte, den einzigen, für den ich in Berlin Herz und Gefühl haben konnte, den einzigen, dem ich es ganz geöffnet hatte und der jede, auch selbst seine geheimsten Falten kannte. Von keinem andern kann ich dies letzte sagen, niemand versteht mich ganz, niemand kann mich ganz verstehen, als er und Du – ja selbst Du vielleicht, liebe Wilhelmine, wirst mich und meine künftigen Handlungen nie ganz verstehen, wenn Du nicht für das, was ich höher achte, als die Liebe, einen so hohen Sinn fassen kannst, als er.
Ich habe Dir schon oft versprochen, Dir etwas von diesem herrlichen Menschen mitzuteilen, der gewiß von den wenigen, die die Würde ihrer Gattung behaupten, einer ist, und nicht der schlechteste unter diesen wenigen. – Eigentlich weiß ich jetzt gar nichts von ihm zu reden, als bloß sein Lob, und ob ich schon gleich mich entsinne, zuweilen auch an diesem den Charakter der Menschheit, nämlich nicht ganz vollkommen zu sein, entdeckt zu haben, so ist doch jetzt mein Gedächtnis für seine Fehler ganz ausgestorben, und ich habe nur eines für seine Tugenden. Ich füge dieses hinzu, damit Du etwa nicht glaubst, daß mein Lob aus einer verblendeten Seele entsprang. Wahr ist es, daß die Menschen uns, wie die Sterne, bei ihrem Verschwinden höher erscheinen, als sie wirklich stehen; aber dieser ist in dem ganzen Zeitraume unsrer vertrauten Bekanntschaft nie von der Stufe herabgestiegen, auf welcher ich ihn Dir jetzt zeigen werde. Ich habe ihn anhaltend beobachtet und in den verschiedensten Lagen geprüft und mir das Bild dieses Menschen mit meiner ganzen Seele angeeignet, als ob es eine Erscheinung wäre, die man nur einmal, und nicht wieder sieht.
Ja wenn Du unter den Mädchen wärest, was dieser unter den Männern – – Zwar dann müßte ich freilich auch erschrecken. Denn müßte ich dann nicht auch sein, wie er, um von Dir geliebt zu werden?
Ich sage Dir nichts von seiner Gestalt, die nicht schön war, aber sehr edel. Er ist groß, nicht sehr stark, hat ein gelbbräunliches Haar, ein blaues Auge, viel Ruhe und Sanftmut im Gesicht, und ebenso im Betragen.
Ebensowenig kann ich Dir von seiner Geschichte sagen. Er hatte eine sehr gebildete und zärtlich liebende Mutter, seine Erziehung war ein wenig poetisch, und ganz dahin abzweckend, sein Herz weich und für alle Eindrücke des Schönen und Guten schnell empfänglich zu machen. Er studierte in Göttingen, lernte in Frankfurt am Main die Liebe kennen, die ihn nicht glücklich machte, ging dann in dänische Militärdienste, wo es sein freier Geist nicht lange aushielt, nahm dann den Abschied, konnte sich nicht wieder entschließen, ein Amt zu nehmen, ging, um doch etwas Gutes zu stiften, mit einem jungen Manne zum zweitenmale auf die Universität, der sich dort unter seiner Anleitung bildete, dessen Eltern interessierten sich für ihn am mecklenburgschen Hofe, der ihm nun jetzt ein Amt anträgt, das er freilich annehmen muß, weil es sein Schicksal so will.
Auch von seinen Tugenden kann ich Dir nur weniges im allgemeinen sagen, weil sonst dieser Bogen nicht hinreichen würde. Er war durchaus immer edel, nicht bloß der äußern Handlung nach, auch dem innersten Bewegungsgrunde nach. Ein tiefes Gefühl für Recht war immer in ihm herrschend, und wenn er es geltend machte, so zeigte er sich zu gleicher Zeit immer so stark und doch so sanft. Sanftheit war überhaupt die Basis seines ganzen Wesens. Dabei war er von einer ganz reinen, ganz unbefleckten Sittlichkeit und ein Mädchen könnte nicht reiner, nicht unbefleckter sein, als er. Frei war seine Seele und ohne Vorurteil, voll Güte und Menschenliebe, und nie stand ein Mensch so unscheinbar unter den andern, über die er doch so unendlich erhaben war. Ein einziger Zug konnte ihn schnell für einen Menschen gewinnen; denn so wie es sein Bedürfnis war, Liebe zu finden, so war es auch sein Bedürfnis, Liebe zu geben. Nur zuweilen gegen Gelehrte war er hart, nicht seine Handlung, sondern sein Wort, indem er sie meistens Vielwisser nannte. Sein Grundsatz war: Handeln ist besser als Wissen. Daher sprach er selbst zuweilen verächtlich von der Wissenschaft, und nach seiner Rede zu urteilen so schien es, als wäre er immer vor allem geflohen, was ihr ähnlich sieht – – aber er meinte eigentlich bloß die Vielwisserei, und wenn er, statt dieser, wegwerfend von den Wissenschaften sprach, so bemerkte ich mitten in seiner Rede, daß er in keiner einzigen ganz fremd und in sehr vielen ganz zu Hause war. Von den meisten hatte er die Hauptzüge aufgefaßt und von den andern wenigstens doch diejenigen Züge, die in sein Ganzes paßten – denn dahin, nämlich alles in sich immer in Einheit zu bringen und zu erhalten, dahin ging sein unaufhörliches Bestreben. Daher stand sein Geist auf einer hohen Stufe von Bildung, obgleich nur eigentlich, wie er sagte, die Ausbildung seines Herzens sein Geschäft war. Denn zwischen diesen beiden Parteien in dem menschlichen Wesen, machte er einen scharfen, schneidenden Unterschied. Immer nannte er den Verstand kalt, und nur das Herz wirkend und schaffend. Daher hatte er ein unüberwindliches Mißtrauen gegen jenen, und hingegen ein ebenso unerschütterliches Vertrauen zu diesem gefaßt. Immer seiner ersten Regung gab er sich ganz hin, das nannte er seinen Gefühlsblick, und ich selbst habe nie gefunden, daß dieser ihn getäuscht habe. Er sprach immer wegwerfend von dem Verstande, obgleich er in einer solchen Rede selbst zeigte, daß er mehr habe, als andere, die damit prahlen. Übrigens war das Sprechen über seinen innern Zustand eben nicht, wie es scheinen möchte, sein Bedürfnis, selten teilte er sich einzelnen mit, vielen nie. In Gesellschaften war er meist still und leidend, wie überhaupt in dem ganzen Leben, und dennoch war er in Gesellschaft immer gern gesehen. Ja ich habe nie einen Menschen gesehen, der so viel Liebe fand bei allen Wesen – und oft habe ich mich sinnend in Gedanken vertieft, wenn ich sah, daß sogar Deines Bruders Spitz, der gegen seinen Herrn und gegen mich nie recht zärtlich war, dagegen unbeschreiblich freudig um dieses Menschen Knie sprang, sobald er in die Stube trat. Aber er war von einem ganz liebenden, kindlichen Wesen, ein natürlicher Freund aller Geschöpfe – liebe Wilhelmine, es ist keine Sprache vorhanden, um das Bild dieses Menschen recht treu zu malen –
Ich will daher von seinem Wesen nur noch das ganz Charakteristische herausheben – das war seine Uneigennützigkeit. – Liebe Wilhelmine! Bist Du wohl schon recht aufmerksam gewesen auf Dich und auf andere? Weißt Du wohl, was es heißt, ganz uneigennützig sein? Und weißt Du auch wohl, was es heißt, es immer, und aus der innersten Seele und mit Freudigkeit es zu sein? – Ach, es ist schwer – Wenn Du das nicht recht innig fühlst, so widme einmal einen einzigen Tag dem Geschäft, es an Dir und an andern zu untersuchen. Sei einmal recht aufmerksam auf Dich und auf die Dich umgebenden Menschen, – Du wirst Dich und sie oft, o sehr oft, wenn auch nur in Kleinigkeiten, in Lagen sehen, wo das eigne Interesse mit fremdem streitet – dann prüfe einmal das Betragen, aber besonders den Grund, und oft wirst Du vor andern oder vor Dir selbst erröten müssen – Vielleicht hat die Natur Dir jene Klarheit, zu Deinem Glücke versagt, jene traurige Klarheit, die mir zu jeder Miene den Gedanken, zu jedem Worte den Sinn, zu jeder Handlung den Grund nennt. Sie zeigt mir alles, was mich umgibt, und mich selbst, in seiner ganzen armseligen Blöße, und der farbige Nebel verschwindet, und alle die gefällig geworfnen Schleier sinken und dem Herzen ekelt zuletzt vor dieser Nacktheit – O glücklich bist Du, wenn Du das nicht verstehst. Aber glaube mir, es ist sehr schwer immer ganz uneigennützig zu sein.
Und diese schwerste von allen Tugenden, o nie hat ihr Heiligenschein diesen Menschen verlassen, so lange ich ihn kannte auch nicht auf einen Augenblick. Immer von seiner liebenden Seele geführt, wählte er in jedem streitenden Falle nie sein eignes, immer das fremde Interesse; und das tat er nicht nur in wichtigen Lagen, nicht nur in solchen Lagen, wo die Augen der Menschen auf ihn gerichtet waren (denn da zeigt sich freilich mancher durch eine Anstrengung uneigennützig, der es ohne diese Anstrengung nicht wäre), – auch in den unscheinbarsten, unbemerktesten Fällen (und das ist bei weitem mehr) zeigte sich seine Seele immer von derselben unbefleckten Uneigennützigkeit, selbst in solchen Augenblicken, wo wir im gemeinen Leben gern einen kleinen Eigennutz verzeihen, und das immer ganz im Stillen, ganz anspruchlos, ohne die mindeste Rechnung auf Dank, ja selbst dann, wenn es ohne meine, durch das Entzücken über diese nie erblickte Erscheinung, immer rege Aufmerksamkeit, gar nicht empfunden und verstanden worden wäre.
Ich kann Dir zu dem allen Beispiele geben. – Als ich ihm in Pasewalk meine Lage eröffnete, besann er sich nicht einen Augenblick, mir nach Wien zu folgen. Er sollte schon damals ein Amt nehmen, er hing innig an seiner Schwester und sie noch inniger an ihm. Ja es ist eine traurige Gewißheit, daß diese plötzliche, geheimnisvolle Abreise ihres Bruders, und das Gefühl, nun von ihrem einzigen Freunde verlassen zu sein, einzig und allein das arme Weib bewogen hat, einen Gatten sich zu wählen, mit dem sie jetzt doch nicht recht glücklich ist – So teuer, Wilhelmine, ward unser Glück erkauft. Werden wir nicht auch etwas tun müssen, es zu verdienen?
Doch ich kehre zurück. Er – ich brauche ihn doch nicht mehr zu nennen? er vergaß sein ganzes eignes Interesse, und folgte mir. Um mir den Verdacht zu ersparen, als sei ich der eigentliche Zweck der Reise, und als hätte ich ihn nur bewegt mir zu folgen, welches meiner Absicht schaden konnte, gab er bei seiner Familie der ganzen Reise den Anstrich, als geschehe sie nur um seinetwillen. Er selbst hat nur ein kleines Kapital, von mir wollte er sich die Kosten der Reise nicht vergüten lassen, er opferte 600 Rth. von seinem eignen Vermögen, mir zu folgen, und uns beide glücklich zu machen – Du liebst ihn doch auch?
Aber das ist doch noch nicht die Uneigennützigkeit, die ich meine. Es ist wahr, daß ich ihr die ganze glückliche Wendung meines Schicksals verdanke, aber doch ist das nicht die Uneigennützigkeit, die mich entzückt. Das alles, fühle ich, würde ich für ihn auch getan haben – – aber er hat noch weit mehr getan, o weit mehr! Es ist ganz unscheinbar, und Du wirst vielleicht darüber lächeln, wenn Du es nicht verstehst – aber mich hat es entzückt. Höre.
Wenn wir beide in den Postwagen stiegen, so nahm er sich immer den Platz, der am wenigsten bequem war. – Von dem Stroh, das zuweilen in den Fußboden lag, nahm er sich nie etwas, wenn es nicht hinreichte, die Füße beider zu erwärmen. – Wenn ich in der Nacht zuweilen schlafend an seine Brust sank, so hielt er mich, ohne selbst zu schlafen – Wenn wir in ein Nachtquartier kamen, so wählte er für sich immer das schlechteste Bett. – Wenn wir zusammen Früchte aßen, blieben immer die schönsten, saftvollsten für mich übrig. – Wenn man uns in Würzburg Bücher aus der Lesegesellschaft brachte, so las er nie in dem zuerst, das mir das liebste war – Als man uns zum erstenmale die französischen und deutschen Zeitungen brachte, hatte ich, ohne Absicht, zuerst die französischen ergriffen. So oft die Zeitungen nun wieder kamen gab er mir immer die französischen. Ich merkte das, und nahm mir einmal die deutschen. Seitdem gab er mir immer die deutschen. – Um die Zeit, in welcher mein Arzt mich besuchte, ging er immer spazieren. Ich hatte ihm nie etwas gesagt, aber es mochte schlechtes oder gutes Wetter sein, er verließ das Zimmer und ging spazieren. – Nie kam er in meine Kammer, auch darum hatte ich ihn nicht gebeten, aber er erriet es, und nie ließ er sich darin sehen. – Ich brannte während der Nacht Licht in meiner Kammer, und der Schein fiel durch die geöffnete Tür grade auf sein Bett. Nachher habe ich gelegentlich erfahren, daß er viele Nächte deswegen gar nicht geschlafen habe; aber nie hat er es mir gesagt. O noch einen Zug werde ich Dir einst erzählen, aber jetzt nicht – noch ein Opfer, das ihn nötigte jede Nacht mit dem bloßen übergeworfnen Mantel über den kalten Flur zu gehen, und von dem ich auch nicht das mindeste erfuhr, bis spät nachher –
Aber Du lächelst wohl über diese Kleinigkeiten. –? O Wilhelmine, wie schlecht verstehst Du Dich dann auf die Menschen! Große Opfer sind Kleinigkeiten, die kleinen sind es, die schwer sind; und es war leichter, mir nach Wien zu folgen, leichter mir 600 Rth. zu opfern, als mit nie ermüdendem Wohlwollen und mit immer stiller und anspruchloser Beeiferung meinen Vorteil mit dem seinigen zu erkaufen und in der unendlichen Mannigfaltigkeit von Lagen sich nie, auch nicht auf einen Augenblick, anders zu zeigen, als ganz uneigennützig.
Du glaubst doch wohl nicht von mir, daß ich nur darum dieser Uneigennützigkeit so lebhaft das Wort rede, weil sie grade meinem Vorteil schmeichelte –? O pfui. Ich gebe Dir darauf kein Wort zur Antwort.
O wenn Du ahnden könntest, warum ich grade Dir das alles schrieb! – Denke einmal an alle die Abscheulichkeiten, zu welchen der Eigennutz die Menschen treibt – denke Dir einmal die glückliche Welt, wenn jeder seinen eignen Vorteil, gegen den Vorteil des andern vergäße – denke Dir wenigstens die glückliche Ehe, in welcher diese innige, herzliche Uneigennützigkeit immer herrschend wäre – O Du ahndest gewiß die Absicht dieser Zeilen, die Du darum auch gewiß recht oft durchlesen wirst – nicht, als ob ich Dich für eigennützig hielte, o behüte, so wenig als mich selbst. Aber in mir selbst finde ich doch nicht ein so reines, so hohes Wohlwollen für den andern, keine solche innige, unausgesetzte Beeiferung für seinen Vorteil, keine so gänzliche Vergessenheit meines eignen – und das ist jetzt das hohe Bild, das ich mit meiner ganzen Seele mir anzueignen strebe. O möchte es auch das Deinige werden – ja, Wilhelmine, sagte ich nicht, daß unser Glück teuer erkauft ward? Jetzt können wir es verdienen. Laß uns dem Beispiel jenes vortrefflichsten der Menschen folgen – mein heiligster Wille ist es. Immer und in allen Fällen will ich meines eignen Vorteils ganz vergessen, wie er, und nicht bloß gegen Dich, auch gegen andere und wären es auch ganz Fremde ganz uneigennützig sein, wie er. O mache diesen herrlichen Vorsatz auch zu dem Deinen. Verachte nun immer Deinen eignen Vorteil, er sei groß oder klein, gegen jeden anderen, gegen Deine Schwestern, gegen Freunde, gegen Bekannte, gegen Diener, gegen Fremde, gegen alle. Was ist der Genuß eines Vorteils gegen die Entzückung eines freiwilligen Opfers! Auch in dem geringfügigsten Falle erfülle diese schöne Pflicht, ja geize sogar begierig auf Gelegenheit, wo Du sie erfüllen kannst. Rechne aber dabei niemals auf Dank, niemals, wie er. Auch wenn Dein stilles bescheidnes Opfer gar nicht verstanden würde, ja selbst dann wenn Du vorher wüßtest, daß es von keinem verstanden werden würde, so bringe es dennoch – Du selbst verstehst es, und Dein Selbstgefühl möge Dich belohnen. Verlange aber nie ein Gleiches von dem andern, o niemals. Denn wahre Uneigennützigkeit zeigt sich in dem Talent, sich durch den Eigennutz andrer nie gekränkt zu fühlen, ebenso gut, ja selbst noch besser, als in dem Talent ihm immer zuvor zu kommen. Daher klage den andern nie um dieser Untugend an. Wenn er Dein freiwilliges Opfer nicht versteht, so schweige und zürne nicht, und wenn er ein Opfer von Dir verlangt, vorausgesetzt daß es nur möglich ist, so tue es, und er mag es Dir danken, oder nicht, schweige wieder und zürne nicht. – O Wilhelmine! Gibt es etwas, das Dich mit so hohen Erwartungen in Deine neue Epoche einführen kann, als diese herrlichen Vorsätze? Ich freue mich darauf, daß ich Dich nicht wiederkennen werde, wenn ich Dich wiedersehe. Auch Du sollst besser mit mir zufrieden sein. Adieu. Dein Geliebter H. K.
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Berlin, den 5. Februar 1801
Mein liebes teures Ulrikchen, ich hatte, als ich Schönfeld im Schauspielhause sah, in dem ersten Augenblicke eine unbeschreiblich frohe Hoffnung, daß auch Du in der Nähe sein würdest und noch jetzt weiß ich nicht recht, warum Du diese gute Gelegenheit, nach Berlin zu kommen, so ungenutzt gelassen hast. Recht herzlich würde ich mich darüber gefreut haben, und ob ich gleich weiß, daß Du daran nicht zweifelst, so schreibe ich es doch auf, weil ich mich noch weit mehr darüber gefreut haben würde, als Du glaubst. Denn hier in der ganzen volkreichen Königsstadt ist auch nicht ein Mensch, der mir etwas Ähnliches von dem sein könnte, was Du mir bist. Nie denke ich anders an Dich, als mit Stolz und Freude, denn Du bist die einzige, oder überhaupt der einzige Mensch, von dem ich sagen kann, daß er mich ganz ohne ein eignes Interesse, ganz ohne eigne Absichten, kurz, daß er nur mich selbst liebt. Recht schmerzhaft ist es mir, daß ich nicht ein Gleiches von mir sagen kann, obgleich Du es gewiß weit mehr verdienst, als ich; denn Du hast zu viel für mich getan, als daß meine Freundschaft, in welche sich schon die Dankbarkeit mischt, ganz rein sein könnte. Jetzt wieder bietest Du mir durch Schönfeld Deine Hülfe an, und mein unseliges Verhältnis will, daß ich nie geben kann und immer annehmen muß. Kann Wackerbarth mir 200 Rth. geben, so denke ich damit und mit meiner Zulage den äußerst teuren Aufenthalt in Berlin (der mir eigentlich durch die vielen Besuche aus Potsdam teuer wird) bestreiten zu können. Besorge dies, und fürchte nicht, daß ich, wenn ich dankbarer sein muß, Dich weniger aus dem Innersten meiner Seele lieben und ehren werde. –
Ich habe lange mit mir selbst gekämpft, ob ich Schönfelds Vorschlag, ihm nach Werben zu folgen, annehmen sollte, oder nicht. Allein ich mußte mich für das letztere bestimmen, aus Gründen, die ich Dir kürzlich wohl angeben kann. Ich wünsche nämlich von ganzem Herzen diesen für mich traurigen Ort so bald als möglich wieder zu verlassen. So bald ich nach meinem Plan das Studium einiger Wissenschaften hier vollendet habe, so kehre ich ihm den Rücken. Daher wollte ich diesen ersehnten Zeitpunkt nicht gern durch eine Reise weiter herausschieben, als er schon liegt, und daher versagte ich mir das Vergnügen Dich zu sehn – Ach, wie gern hätte ich Dich gesehen in dem stillen Werben, wie vieles hätte ich Dir mitteilen, wie manches von Dir lernen können – Ach, Du weißt nicht, wie es in meinem Innersten aussieht. Aber es interessiert Dich doch? – O gewiß! Und gern möchte ich Dir alles mitteilen, wenn es möglich wäre. Aber es ist nicht möglich, und wenn es auch kein weiteres Hindernis gäbe, als dieses, daß es uns an einem Mittel zur Mitteilung fehlt. Selbst das einzige, das wir besitzen, die Sprache taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht malen, und was sie uns gibt sind nur zerrissene Bruchstücke. Daher habe ich jedesmal eine Empfindung, wie ein Grauen, wenn ich jemandem mein Innerstes aufdecken soll; nicht eben weil es sich vor der Blöße scheut, aber weil ich ihm nicht alles zeigen kann, nicht kann, und daher fürchten muß, aus den Bruchstücken falsch verstanden zu werden. Indessen: auf diese Gefahr will ich es bei Dir wagen und Dir so gut ich kann, in zerrissenen Gedanken mitteilen, was Interesse für Dich haben könnte.
Noch immer habe ich mich nicht für ein Amt entscheiden können und Du kennst die Gründe. Es gibt Gründe für das Gegenteil, und auch diese brauche ich Dir nicht zu sagen. Gern will ich immer tun, was recht ist, aber was soll man tun, wenn man dies nicht weiß? Dieser innere Zustand der Ungewißheit war mir unerträglich, und ich griff um mich zu entscheiden zu jenem Mittel, durch welches jener Römer in dem Zelte Porsennas diesen König, als er über die Friedensbedingungen zauderte, zur Entscheidung zwang. Er zog nämlich mit Kreide einen Kreis um sich und den König und erklärte, keiner von ihnen würde den Kreis überschreiten, ehe der Krieg oder der Friede entschieden wäre. Fast ebenso machte ich es auch. Ich beschloß, nicht aus dem Zimmer zu gehen, bis ich über einen Lebensplan entschieden wäre; aber 8 Tage vergingen, und ich mußte doch am Ende das Zimmer unentschlossen wieder verlassen. – Ach Du weißt nicht, Ulrike, wie mein Innerstes oft erschüttert ist – – Du verstehst dies doch nicht falsch? Ach, es gibt kein Mittel, sich andern ganz verständlich zu machen, und der Mensch hat von Natur keinen andren Vertrauten, als sich selbst.
Indessen sehe ich doch immer von Tage zu Tage mehr ein, daß ich ganz unfähig bin, ein Amt zu führen. Ich habe mich durchaus daran gewöhnt, eignen Zwecken zu folgen, und dagegen von der Befolgung fremder Zwecke ganz und gar entwöhnt. Letzthin hatte ich eine äußerst widerliche Empfindung. Ich war nämlich in einer Session, denen ich immer noch beiwohne, weil ich nicht recht weiß, wie ich mich davon losmachen soll, ohne zu beleidigen. Da wird unter andern Berichten, auch immer im kurzen Nachricht erteilt von dem Inhalt gewisser Journale über Chemie, Mechanik etc. Eines der Mitglieder schlug einen großen Folianten auf, der der 5. Teil eines neu herausgekommenen französischen Werkes über Mechanik war. Er sagte in allgemeinen Ausdrücken, er habe das Buch freilich nur flüchtig durchblättern können, allein es scheine ihm, als ob es wohl allerdings manches enthalten könne, was die Deputation und ihren Zweck interessiert. Darauf fragte ihn der Präsident, ob er glaubte, daß es nützlich wäre, wenn es von einem Mitgliede ganz durchstudiert würde; und als er dies bejahend beantwortete, so wandte sich der Präsident schnell zu mir und sagte: nun Herr v. K. das ist etwas für Sie, nehmen Sie dies Buch zu sich, lesen Sie es durch und statten Sie der Deputation darüber Bericht ab. – Was in diesem Augenblicke alles in meiner Seele vorging kann ich Dir wieder nicht beschreiben. Ein solches Buch kostet wenigstens 1 Jahr Studium, ist neu, folglich sein Wert noch gar nicht entschieden, würde meinen ganzen Studienplan stören etc. etc. Ich hatte aber zum erstenmal in 2 Jahren wieder einen Obern vor mir und wußte in der Verlegenheit nichts zu tun, als mit dem Kopfe zu nicken. Das ärgerte mich aber nachher doppelt, ich erinnerte mich mit Freuden, daß ich noch frei war, und beschloß das Buch ungelesen zu lassen, es folge daraus, was da wolle. – Ich muß fürchten, daß auch dieses mißverstanden wird, weil ich wieder nicht alles sagen konnte.
In Gesellschaften komme ich selten. Die jüdischen würden mir die liebsten sein, wenn sie nicht so pretiös mit ihrer Bildung täten. An dem Juden Cohen habe ich eine interessante Bekanntschaft gemacht, nicht sowohl seinetwillen, als wegen seines prächtigen Kabinetts von physikalischen Instrumenten, das er mir zu benutzen erlaubt hat. Zuweilen bin ich bei Clausius, wo die Gäste meistens interessanter sind, als die Wirte. Einmal habe ich getanzt und war vergnügt, weil ich zerstreut war. Huth ist hier und hat mich in die gelehrte Welt eingeführt, worin ich mich aber so wenig wohl befinde, als in der ungelehrten. Diese Menschen sitzen sämtlich wie die Raupe auf einem Blatte, jeder glaubt seines sei das beste, und um den Baum bekümmern sie sich nicht.
Ach, liebe Ulrike, ich passe mich nicht unter die Menschen, es ist eine traurige Wahrheit, aber eine Wahrheit; und wenn ich den Grund ohne Umschweif angeben soll, so ist es dieser: sie gefallen mir nicht. Ich weiß wohl, daß es bei dem Menschen, wie bei dem Spiegel, eigentlich auf die eigne Beschaffenheit beider ankommt, wie die äußern Gegenstände darauf einwirken sollen; und mancher würde aufhören über die Verderbtheit der Sitten zu schelten, wenn ihm der Gedanke einfiele, ob nicht vielleicht bloß der Spiegel, in welchen das Bild der Welt fällt, schief und schmutzig ist. Indessen wenn ich mich in Gesellschaften nicht wohl befinde, so geschieht dies weniger, weil andere, als vielmehr weil ich mich selbst nicht zeige, wie ich es wünsche. Die Notwendigkeit, eine Rolle zu spielen, und ein innerer Widerwillen dagegen machen mir jede Gesellschaft lästig, und froh kann ich nur in meiner eignen Gesellschaft sein, weil ich da ganz wahr sein darf. Das darf man unter Menschen nicht sein, und keiner ist es – Ach, es gibt eine traurige Klarheit, mit welcher die Natur viele Menschen, die an dem Dinge nur die Oberfläche sehen, zu ihrem Glücke verschont hat. Sie nennt mir zu jeder Miene den Gedanken, zu jedem Worte den Sinn, zu jeder Handlung den Grund – sie zeigt mir alles, was mich umgibt, und mich selbst in seiner ganzen armseligen Blöße, und dem Herzen ekelt zuletzt vor dieser Nacktheit – – Dazu kommt bei mir eine unerklärliche Verlegenheit, die unüberwindlich ist, weil sie wahrscheinlich eine ganz physische Ursache hat. Mit der größten Mühe nur kann ich sie so verstecken, daß sie nicht auffällt – o wie schmerzhaft ist es, in dem Äußern ganz stark und frei zu sein, indessen man im Innern ganz schwach ist, wie ein Kind, ganz gelähmt, als wären uns alle Glieder gebunden, wenn man sich nie zeigen kann, wie man wohl möchte, nie frei handeln kann, und selbst das Große versäumen muß, weil man vorausempfindet, daß man nicht standhalten wird, indem man von jedem äußern Eindrucke abhängt und das albernste Mädchen oder der elendeste Schuft von Elegant uns durch die matteste Persiflage vernichten kann. – Das alles verstehst Du vielleicht nicht, liebe Ulrike, es ist wieder kein Gegenstand für die Mitteilung, und der andere müßte das alles aus sich selbst kennen, um es zu verstehen.
Selbst die Säule, an welcher ich mich sonst in dem Strudel des Lebens hielt, wankt – – Ich meine, die Liebe zu den Wissenschaften. – Aber wie werde ich mich hier wieder verständlich machen? – Liebe Ulrike, es ist ein bekannter Gemeinplatz, daß das Leben ein schweres Spiel sei; und warum ist es schwer? Weil man beständig und immer von neuem eine Karte ziehen soll und doch nicht weiß, was Trumpf ist; ich meine darum, weil man beständig und immer von neuem handeln soll und doch nicht weiß, was recht ist. Wissen kann unmöglich das Höchste sein – handeln ist besser als wissen. Aber ein Talent bildet sich im Stillen, doch ein Charakter nur in dem Strome der Welt. Zwei ganz verschiedne Ziele sind es, zu denen zwei ganz verschiedne Wege führen. Kann man sie beide nicht vereinigen, welches soll man wählen? Das höchste, oder das, wozu uns unsre Natur treibt? – Aber auch selbst dann, wenn bloß Wahrheit mein Ziel wäre, – ach, es ist so traurig, weiter nichts, als gelehrt zu sein. Alle Männer, die mich kennen, raten mir, mir irgend einen Gegenstand aus dem Reiche des Wissens auszuwählen und diesen zu bearbeiten – Ja freilich, das ist der Weg zum Ruhme, aber ist dieser mein Ziel? Mir ist es unmöglich, mich wie ein Maulwurf in ein Loch zu graben und alles andere zu vergessen. Mir ist keine Wissenschaft lieber als die andere, und wenn ich eine vorziehe, so ist es nur wie einem Vater immer derjenige von seinen Söhnen der liebste ist, den er eben bei sich sieht. – Aber soll ich immer von einer Wissenschaft zur andern gehen, und immer nur auf ihrer Oberfläche schwimmen und bei keiner in die Tiefe gehen? Das ist die Säule, welche schwankt.
Ich habe freilich einen Vorrat von Gedanken zur Antwort auf alle diese Zweifel. Indessen reif ist noch keiner. – – Goethe sagt, wo eine Entscheidung soll geschehen, da muß vieles zusammentreffen. – Aber ist es nicht eine Unart nie den Augenblick der Gegenwart ergreifen zu können, sondern immer in der Zukunft zu leben? – Und doch, wer wendet sein Herz nicht gern der Zukunft zu, wie die Blumen ihre Kelche der Sonne; – Lerne Du nur fleißig aus dem Gaspari, und vergiß nicht die Laute. Wer weiß ob wir es nicht früh oder spät brauchen. Gute Nacht, es ist spät. Grüße Deine liebe Wirtin und alle Bekannte. H. K.
N. S. Soeben erfahre ich, daß Minette und. Gustel mit der Moltken und Emilien nach Berlin kommen. Heute werden sie ankommen und bei der Schlichting wohnen.
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[An das Stiftsfräulein Wilhelmine v. Zenge Hochwürden und Hochwohlgeboren zu Frankfurt a. O.]
Berlin, den 22. März 1801
Liebe Herzens-Wilhelmine, diese Stunde ist seit unsrer Trennung eine von den wenigen, die ich vergnügt nennen kann, ja vielleicht die erste – Nach vielen unruhigen Tagen kam ich heute von einer Fußreise aus Potsdam zurück. Als ich zu Carln in das Zimmer trat, fragte ich nach Briefen von Dir, und als er mir den Deinigen gab, brach ich ihn nicht ganz ohne Besorgnis auf, indem ich fürchtete, er möchte voll Klagen und Scheltwörter über mein langes Stillschweigen sein. Aber Du hast mir einen Brief geschrieben, den ich in aller Hinsicht fast den liebsten nennen möchte – Es war mir fast, als müßte ich stolz darauf sein; denn, sagte ich zu mir selbst, wenn W.s Gefühl sich so verfeinert, ihr Verstand sich so berichtigt, ihre Sprache sich so veredelt hat, wer ist daran – – wem hat sie es zu – – – Kurz, ich konnte mir den Genuß nicht verweigern, den Brief, sobald ich ihn gelesen hatte, Carln zu überreichen, welches ich noch nie getan habe – Ich küsse die Hand die ihn schrieb, und das Herz, das ihn diktierte. Fahre so fort nach dem Preise zu ringen, mein Bestreben soll es sein, ihn so beneidenswürdig zu machen, als möglich. Du sollst einst einen Mann an Deine Brust drücken, den edle Menschen ehren, und wenn jemals in Deinem Herzen sich eine Sehnsucht nach etwas regt, was ich Dir nicht leiste, so ist mein Ziel verfehlt, so wie das Deinige, wenn Du nicht immer dieses Bestreben wach in mir erhältst. Ja, Wilhelmine, meine Liebe ist ganz in Deiner Gewalt. Schmerzhaft würde es mir sein, wenn ich Dir jemals aus bloßer Pflicht treu sein müßte. Gern möchte ich meine Treue immer nur der Neigung verdanken. Ich bin nicht flatterhaft, nicht leichtsinnig, nicht jede Schürze reizt mich, und ich verachte den Reichtum; wenn ich doch jemals mein Herz Dir entzöge, Dir selbst, nicht mir, würdest Du die Schuld zuzuschreiben haben. Denn so wie meine Liebe Dein Werk, nicht das meinige war, so ist auch die Erhaltung derselben nur Dein Werk, nicht das meinige. Meine Sorge ist nichts als Deine Gegenliebe, für meine eigne Neigung zu Dir kann ich nichts tun, gar nichts, Du aber alles. Dich zu lieben wenn ich Dich nicht liebenswürdig fände, das wäre mir das Unmögliche. Die Hand könnte ich Dir geben, und so mein Wort erfüllen, aber das Herz nicht – denn Du weißt, daß es das seltsame Eigentum ist, welches man sich nur rauben lassen darf, wenn es Zinsen tragen soll. Also sorge nie, daß ich gleichgültig gegen Dich werden möchte, sorge nur, daß Du mich nicht gleichgültig gegen Dich machst. Sei ruhig, so lange Du in Deinem Innersten fühlst, daß Du meiner Liebe wert bist, und wenn Du an jedem Abend nach einem heiter verflossenen Tage in Deinem Tagebuche die Summe Deiner Handlungen ziehest, und nach dem Abzüge ein Rest bleibt für die guten, und ein stilles, süßes, mächtig-schwellendes Gefühl Dir sagt, daß Du eine Stufe höher getreten bist als gestern, so – – so lege Dich ruhig auf Dein Lager, und denke mit Zuversicht an mich, der vielleicht in demselben Augenblicke mit derselben Zuversicht an Dich denkt, und hoffe – nicht zu heiß, aber auch nicht zu kalt – auf bessere Augenblicke, als die schönsten in der Vergangenheit – – auf bessere noch? – Ich sehe das Bild, und die Nadeln, und Vossens »Luise« und die Gartenlaube und die mondhellen Nächte, – und doch – – Still! – »Wer rief?« – Mir wars, als drücktest Du mir den Mund mit Küssen zu.
Ich wollte nun auf Deinen Brief, Punkt vor Punkt, antworten, und las ihn darum zum zweitenmale durch (immer noch mit derselben Freude) – Aber du hast diesmals in jede Zeile ein besonderes Interesse gelegt, und jede verdiente einen eignen Bogen zur Antwort. Ich kann aber nur einen Gedanken herausheben, den, der mir der liebste ist. Über die andern muß ich kurz weg eilen.
Fahre fort, dem schönen Beispiel zu folgen, das Dir die Blume an Deinem Fenster gibt. So oft Du auf ein Diner, oder Souper oder Ball gehest, kehre sie um, und wenn sie bei Deiner Rückkehr doch wieder den Kelch der Sonne entgegenneigt, so laß Dich nicht von ihr beschämen, und tue ein Gleiches.
Ich wünsche Dir aus meinem Herzen Glück zu Deinem weiblichen Brokes. Nicht leicht würde ich in diese Vergleichung einstimmen, aber diese muß ich doch billigen. Mir selbst hat das Mädchen sehr gefallen. Du hast mir ein paar unbeschreiblich rührende Züge von ihr aufgezeichnet, und wenn gleich das Wesen, dem sie eigen sind, sehr viel wert ist, so ist doch auch das Wesen, das sie verstand, etwas wert. Denn immer ist es ein Zeichen der eignen Vortrefflichkeit, wenn die Seele auch aus den unscheinbarsten Zügen andrer das Schöne herauszufinden weiß.
Es hätte sich nicht leicht ein Umstand ereignen können, der imstande wäre, Dich so schnell auf eine höhere Stufe zu führen, als Deine Neigung für Rousseau. Ich finde in Deinem ganzen Briefe schon etwas von seinem Geiste – das zweite Geschenk, das ich Dir, von heute an gerechnet, machen werde, wird das Geschenk von Rousseaus sämtlichen Werken sein. Ich werde Dir dann auch die Ordnung seiner Lesung bezeichnen – für jetzt laß Dich nicht stören, den »Emil« ganz zu beendigen. –
Ich komme jetzt zu dem Gedanken aus Deinem Briefe, der mir in meiner Stimmung der teuerste sein mußte, und der meiner verwundeten Seele fast so wohl tat, wie Balsam einer körperlichen Wunde.
Du schreibst: »Wie sieht es aus in Deinem Innern! Du würdest mir viele Freude machen, wenn Du mir etwas mehr davon mitteiltest, als bisher; glaube mir, ich kann leicht fassen, was Du mir sagst, und ich möchte gern Deine Hauptgedanken mit Dir teilen.«
Liebe Wilhelmine, ich erkenne an diesen fünf Zeilen mehr als an irgend etwas, daß Du wahrhaft meine Freundin bist. Nur unsre äußern Schicksale interessieren die Menschen, die innern nur den Freund. Unsere äußere Lage kann ganz ruhig sein, indessen unser Innerstes ganz bewegt ist – Ach, ich kann Dir nicht beschreiben, wie wohl es mir tut, einmal jemandem, der mich versteht, mein Innerstes zu öffnen. Eine ängstliche Bangigkeit ergreift mich immer, wenn ich unter Menschen bin, die alle von dem Grundsatze ausgehen, daß man ein Narr sei, wenn man ohne Vermögen jedes Amt ausschlägt. Du wirst nicht so hart über mich urteilen, – nicht wahr?
Ja, allerdings dreht sich mein Wesen jetzt um einen Hauptgedanken, der mein Innerstes ergriffen hat, er hat eine tiefe erschütternde Wirkung auf mich hervorgebracht – Ich weiß nur nicht, wie ich das, was seit 3 Wochen durch meine Seele flog, auf diesem Blatte zusammenpressen soll. Aber Du sagst ja, Du kannst mich fassen – also darf ich mich schon etwas kürzer fassen. Ich werde Dir den Ursprung und den ganzen Umfang dieses Gedankens, nebst allen seinen Folgerungen einst, wenn Du es wünschest, weitläufiger mitteilen. Also jetzt nur so viel.
Ich hatte schon als Knabe (mich dünkt am Rhein durch eine Schrift von Wieland) mir den Gedanken angeeignet, daß die Vervollkommnung der Zweck der Schöpfung wäre. Ich glaubte, daß wir einst nach dem Tode von der Stufe der Vervollkommnung, die wir auf diesem Sterne erreichten, auf einem andern weiter fortschreiten würden, und daß wir den Schatz von Wahrheiten, den wir hier sammelten, auch dort einst brauchen könnten. Aus diesen Gedanken bildete sich so nach und nach eine eigne Religion, und das Bestreben, nie auf einen Augenblick hienieden still zu stehen, und immer unaufhörlich einem höhern Grade von Bildung entgegenzuschreiten, ward bald das einzige Prinzip meiner Tätigkeit. Bildung schien mir das einzige Ziel, das des Bestrebens, Wahrheit der einzige Reichtum, der des Besitzes würdig ist. – Ich weiß nicht, liebe Wilhelmine, ob Du diese zwei Gedanken: Wahrheit und Bildung, mit einer solchen Heiligkeit denken kannst, als ich – Das freilich, würde doch nötig sein, wenn Du den Verfolg dieser Geschichte meiner Seele verstehen willst. Mir waren sie so heilig, daß ich diesen beiden Zwecken, Wahrheit zu sammeln, und Bildung mir zu erwerben, die kostbarsten Opfer brachte – Du kennst sie. – Doch ich muß mich kurz fassen.
Vor kurzem ward ich mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie bekannt – und Dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er Dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird, als mich. Auch kennst Du das Ganze nicht hinlänglich, um sein Interesse vollständig zu begreifen. Ich will indessen so deutlich sprechen, als möglich.
Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich –
Ach, Wilhelmine, wenn die Spitze dieses Gedankens Dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr –
Seit diese Überzeugung, nämlich, daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist, vor meine Seele trat, habe ich nicht wieder ein Buch angerührt. Ich bin untätig in meinem Zimmer umhergegangen, ich habe mich an das offne Fenster gesetzt, ich bin hinausgelaufen ins Freie, eine innerliche Unruhe trieb mich zuletzt in Tabagien und Kaffeehäuser, ich habe Schauspiele und Konzerte besucht, um mich zu zerstreuen, ich habe sogar, um mich zu betäuben, eine Torheit begangen, die Dir Carl lieber erzählen mag, als ich; und dennoch war der einzige Gedanke, den meine Seele in diesem äußeren Tumulte mit glühender Angst bearbeitete, immer nur dieser: dein einziges, dein höchstes Ziel ist gesunken –
An einem Morgen wollte ich mich zur Arbeit zwingen, aber ein innerlicher Ekel überwältigte meinen Willen. Ich hatte eine unbeschreibliche Sehnsucht an Deinem Halse zu weinen, oder wenigstens einen Freund an die Brust zu drücken. Ich lief, so schlecht das Wetter auch war, nach Potsdam, ganz durchnäßt kam ich dort an, drückte Leopold, Gleißenberg, Rühle ans Herz, und mir ward wohler – –
Rühle verstand mich am besten. Lies doch, sagte er mir, den »Kettenträger« (ein Roman). Es herrscht in diesem Buche eine sanfte, freundliche Philosophie, die dich gewiß aussöhnen wird, mit allem, worüber du zürnst. Es ist wahr, er selbst hatte aus diesem Buche einige Gedanken geschöpft, die ihn sichtbar ruhiger und weiser gemacht hatten. Ich faßte den Mut diesen Roman zu lesen.
Die Rede war von Dingen, die meine Seele längst schon selbst bearbeitet hatte. Was darin gesagt ward, war von mir schon längst im voraus widerlegt. Ich fing schon an unruhig zu blättern, als der Verfasser nun gar von ganz fremdartigen politischen Händeln weitläufig zu räsonieren anfing – Und das soll die Nahrung sein für meinen glühenden Durst? – Ich legte still und beklommen das Buch auf den Tisch, ich drückte mein Haupt auf das Kissen des Sofa, eine unaussprechliche Leere erfüllte mein Inneres, auch das letzte Mittel, mich zu heben, war fehlgeschlagen – Was sollst du nun tun, rief ich? Nach Berlin zurückkehren ohne Entschluß? Ach, es ist der schmerzlichste Zustand ganz ohne ein Ziel zu sein, nach dem unser Inneres, froh-beschäftigt, fortschreitet – und das war ich jetzt –
Du wirst mich doch nicht falsch verstehen, Wilhelmine? – Ich fürchte es nicht.
In dieser Angst fiel mir ein Gedanke ein.
Liebe Wilhelmine, laß mich reisen. Arbeiten kann ich nicht, das ist nicht möglich, ich weiß nicht zu welchem Zwecke. Ich müßte, wenn ich zu Hause bliebe, die Hände in den Schoß legen, und denken. So will ich lieber spazieren gehen, und denken. Die Bewegung auf der Reise wird mir zuträglicher sein, als dieses Brüten auf einem Flecke. Ist es eine Verirrung, so läßt sie sich vergüten, und schützt mich vor einer andern, die vielleicht unwiderruflich wäre. Sobald ich einen Gedanken ersonnen habe, der mich tröstet, sobald ich einen Zweck gefaßt habe, nach dem ich wieder streben kann, so kehre ich um, ich schwöre es Dir. Mein Bild schicke ich Dir, und Deines nehme ich mit mir. Willst Du es mir unter diesen Bedingungen erlauben? Antworte bald darauf Deinem treuen Freunde Heinrich.
N. S. Heute schreibe ich Ulriken, daß ich wahrscheinlich, wenn Du es mir erlaubst, nach Frankreich reisen würde. Ich habe ihr versprochen, nicht das Vaterland zu verlassen, ohne es ihr vorher zu sagen. Will sie mitreisen, so muß ich es mir gefallen lassen. Ich zweifle aber, daß sie die Bedingungen annehmen wird. Denn ich kehre um, sobald ich weiß, was ich tun soll. Sei ruhig. Es muß etwas Gutes aus diesem innern Kampfe hervorgehn.
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Berlin, den 23. März 1801
Mein liebes Ulrikchen, ich kann Dir jetzt nicht so weitläufig schreiben, warum ich mich entschlossen habe, Berlin sobald als möglich zu verlassen und ins Ausland zu reisen. Es scheint, als ob ich eines von den Opfern der Torheit werden würde, deren die Kantische Philosophie so viele auf das Gewissen hat. Mich ekelt vor dieser Gesellschaft, und doch kann ich mich nicht losringen aus ihren Banden. Der Gedanke, daß wir hienieden von der Wahrheit nichts, gar nichts, wissen, daß das, was wir hier Wahrheit nennen, nach dem Tode ganz anders heißt, und daß folglich das Bestreben, sich ein Eigentum zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ganz vergeblich und fruchtlos ist, dieser Gedanke hat mich in dem Heiligtum meiner Seele erschüttert – Mein einziges und höchstes Ziel ist gesunken, ich habe keines mehr. Seitdem ekelt mich vor den Büchern, ich lege die Hände in den Schoß, und suche ein neues Ziel, dem mein Geist, froh-beschäftigt, von neuem entgegenschreiten könnte. Aber ich finde es nicht, und eine innerliche Unruhe treibt mich umher, ich laufe auf Kaffeehäuser und Tabagien, in Konzerte und Schauspiele, ich begehe, um mich zu zerstreuen und zu betäuben, Torheiten, die ich mich schäme aufzuschreiben, und doch ist der einzige Gedanke, den in diesem äußern Tumult meine Seele unaufhörlich mit glühender Angst bearbeitet, dieser: dein einziges, und höchstes Ziel ist gesunken – – Ich habe mich zwingen wollen zur Arbeit, aber mich ekelt vor allem, was Wissen heißt. Ich kann nicht einen Schritt tun, ohne mir deutlich bewußt zu sein, wohin ich will? – Mein Wille ist zu reisen. Verloren ist die Zeit nicht, denn arbeiten könnte ich doch nicht, ich wüßte nicht, zu welchem Zwecke? Ich will mir einen Zweck suchen, wenn es einen gibt. Wenn ich zu Hause bliebe, so müßte ich die Hände in den Schoß legen und denken; so will ich lieber spazieren gehen, und denken. Ich kehre um, sobald ich weiß, was ich tun soll. Ist es eine Verirrung, so läßt sie sich vergüten und schützt mich vielleicht vor einer andern, die unwiderruflich wäre. Ich habe Dir versprochen, das Vaterland nicht zu verlassen, ohne Dich davon zu benachrichtigen, und ich erfülle mein Wort. Willst Du mitreisen, so steht es in Deiner Willkür. Einen frohen Gesellschafter wirst Du nicht finden, auch würden die Kosten nicht gering sein, denn mein Zuschuß kann nicht mehr sein, als 1 Rth. für jeden Tag. Willst Du aber dennoch, so mache ich Dir gleich einige Vorschläge. Das Wohlfeilste würde sein, mit eigner Equipage zu reisen. Den Wagen könntest Du hier kaufen, ebenso ein paar alte ausrangierte polnische Husarenpferde, welche zu diesem Zwecke am besten tauglich sein möchten. Unser hiesiger Bedienter, ein brauchbarer guter Mensch, geht gern mit. Doch auf diesen Fall wäre zu viel zu verabreden, als daß es sich schriftlich leicht tun ließe. Das beste wäre daher, Du führest bis Eggersdorf, und schriebst mir, wann ich Dich dort abholen sollte. Kommt Dir dies alles aber zu rasch, so bleibe ruhig, unsre Reise aufs künftige Jahr bleibt Dir doch unverloren. In diesem Falle hilf mir doch (wenn Du nicht kannst, durch Minetten) mit 300 Rth. Aber so bald als möglich, denn die Untätigkeit macht mich unglücklich. Ich möchte gern mit dem 1. April abreisen, das heißt also schon in 8 Tagen. Mein Wille ist durch Frankreich (Paris), die Schweiz und Deutschland zu reisen. Ich kehre vielleicht in kurzem zurück, vielleicht auch nicht, doch gewiß noch vor Weihnachten. Heinrich.
N. S. Dieser Brief ist verspätet worden, und wenn ich nun auch nicht den ersten April reisen kann, so möchte ich doch gern in den ersten Tagen dieses Monats reisen.
Sage doch Tante Massow sie möchte mir sobald als möglich meine Zulage schicken. Auch außer dieser Zulage von 75 Rth. erhält sie noch 140 Rth. vom Vormund (worüber sie quittieren muß), die ich zugleich zu erhalten wünschte.
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Berlin, den 28. März 1801
Liebes Mädchen, ich antworte Dir, nach Deinem Wunsche, sogleich auf Deinen Brief, ob ich gleich voraussehe, daß diese Antwort nicht lang werden kann, indem ich schon in einer Stunde zu dem Maler gehen und dann Leopold und ein paar Freunde empfangen muß, die heute aus Potsdam hier ankommen werden, um mich vor meiner Abreise noch einmal zu sehen.
Liebe Wilhelmine, ich ehre Dein Herz, und Deine Bemühung, mich zu beruhigen, und die Kühnheit, mit welcher Du Dich einer eignen Meinung nicht schämst, wenn sie auch einem berühmten System widerspräche – Aber der Irrtum liegt nicht im Herzen, er liegt im Verstande und nur der Verstand kann ihn heben. Ich habe mich unbeschreiblich über den Aufwand von Scharfsinn gefreut, den Du bei dem Gegenstande der Kristallinse anwendest; ich habe Dich besser verstanden, als Du Dich selbst ausdrückst, und alles, was Du darüber sagst, ist wahr. Aber ich habe mich nur des Auges in meinem Briefe als eines erklärenden Beispiels bedient, weil ich Dir selbst die trockne Sprache der Philosophie nicht vortragen konnte. Alles, was Du mir nun dagegen einwendest, kann wahr sein, ohne daß der Zweifel gehoben würde – Liebe Wilhelmine, ich bin durch mich selbst in einen Irrtum gefallen, ich kann mich auch nur durch mich selbst wieder heben. Diese Verirrung, wenn es eine ist, wird unsre Liebe nicht den Sturz drohen, sei darüber ganz ruhig. Wenn ich ewig in diesem rätselhaften Zustand bleiben müßte, mit einem innerlich heftigen Trieb zur Tätigkeit, und doch ohne Ziel – ja dann freilich, dann wäre ich ewig unglücklich, und selbst Deine Liebe könnte mich dann nur zerstreuen, nicht mit Bewußtsein beglücken. Aber ich werde das Wort, welches das Rätsel löset, schon finden, sei davon überzeugt – nur ruhig kann ich jetzt nicht sein, in der Stube darf ich nicht darüber brüten, ohne vor den Folgen zu erschrecken. Im Freien werde ich freier denken können. Hier in Berlin finde ich nichts, das mich auch nur auf einen Augenblick erfreuen könnte. In der Natur wird das besser sein. Auch werde ich mich unter Fremden wohler befinden, als unter Einheimischen, die mich für verrückt halten, wenn ich es wage mein Innerstes zu zeigen. Lebe wohl. Dieser Zettel gilt für keinen Brief. Bald, wenn ich Antwort von Ulrike habe, schreibe ich Dir wieder. Bleibe mir so treu, wie ich Dir bleiben werde. H. K.
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An Fräulein Ulrike von Kleist, Hochwohlgeb. zu Frankfurt an der Oder.
Berlin, den 1. April 1801
Mein liebes Ulrikchen, Du kannst bei der Glogern, Verlorne Straße Nr. 22, absteigen.
Ich schreibe Dir hier folgende Berechnung auf, welche Du während Deiner Herreise prüfen kannst.
1. Die Pferde sind, da das Frühjahr und der Marsch (denn es rücken von hier einige Regimenter ins Feld) zusammenkommen, sehr teuer, und wir können rechnen, daß 2 Pferde jetzt wenigstens 10 Fr.dor mehr kosten, als sie unter günstigeren Umständen gekostet haben würden. Sie sind bei unsrer Rückkehr, wo der Winter (und vielleicht auch der Friede) eintritt, sehr wohlfeil, überdies auch nach der Wahrscheinlichkeit schlechter geworden; also kann man rechnen, daß wir wenigstens bei ihrem Verkauf 20 Fr.dor daran verlieren.
2. Sie kosten uns monatlich (mit dem Kutscher) wenigstens 6 Fr.dor, macht für 6 Monate 36 Fr.dor.
3. Man kann Unfälle nach der Wahrscheinlichkeit in Anschlag bringen und etwa annehmen, daß von 10 Reisen durch Krankwerden und Fallen der Pferde eine verunglückt. Man müßte also für jede Reise den 10. Teil des Pferdepreises in Anschlag bringen, macht, die Pferde zu 50 Fr.dor gerechnet, 5 Fr.dor.
Also | 20 | Fr.dor. |
36 | – | |
5 | – | |
––––––– | ||
Summa | 61 | Fr.dor. |
4. Dagegen kann man rechnen, daß man zwar, durch die Schikane der Postbedienten, der Wagen mag noch so leicht sein, nach der Regel 3 Extrapost-Pferde zu nehmen gezwungen ist; es muß aber durch Geschicklichkeit oft gelingen (besonders in Frankreich, wo man, wie ich häufig höre, sehr wohlfeil reisen soll), mit 2 Pferden wegzukommen; auch kann man gelegentlich mit Bauernpferden reisen. Gesetzt nun, man müßte die Hälfte der ganzen Reise nach Paris, das heißt 60 Meilen, 3 Pferde bezahlen, macht (in preuß. Staaten à 12 gr., in Frankreich aber weit wohlfeiler à 8 gr., also das Mittel à 10 gr.) 60 x 30 = 1800 gr., zweimal genommen (nämlich hin und zurück) 3600 gr. = 150 Rth. Gesetzt ferner, man könnte nur ¼ der ganzen Reise, also 30 Meilen, mit 2 Pferden wegkommen, macht 30 x 20 x 2 = 1200 gr. = 50 Rth. Gesetzt endlich, man könnte nur das letzte Viertel der Reise mit Bauernpferden à 6 gr. fahren, macht 30 x 12 x 2 = 720 gr. = 30 Rth.
Also | 150 | Fr.dor. |
50 | – | |
30 | – | |
––––––– | ||
Summa | 230 | Fr.dor. |
Gesetzt, da alles wohlfeil gerechnet, auch das Biergeld für Postillione vergessen ist, die ganze Reise kostete 70 Rth. mehr, als dieser Anschlag, so würde doch der Betrag nicht größer sein, als 300 Rth.
Dazu kommt, daß wir schneller nach Paris kommen, wo wir uns wohlfeil einmieten können, also in den Wirtshäusern nicht so viel ausgeben.
Endlich ist auch das Betrügen des Kutschers in einem fremden Lande und der Ärger, dem man auf diese Art ausweicht, in Anschlag zu bringen.
Willst Du doch nicht ohne Bedienung reisen (indem wir, wenn wir auf der Hinreise den Brocken besteigen, oder die herrliche Wasserfahrt von Mainz nach Koblenz machen, doch jemanden bei dem Wagen und den Sachen zurücklassen, auch in Paris einen haben müssen, der uns die Stube und Kleider reinigt, Essen holt etc. etc.), so will ich die Hälfte hinzutun, macht etwa 6 Fr.dor für jeden, wobei wir, bei der Ersparung der Biergelder, nicht viel mehr verlieren, als etwa die Hälfte.
Zu einem dritten Reisegesellschafter bin ich weder sehr geneigt, noch ist er leicht zu finden. Brokes und Rühle wären die einzigen, beide sind durch Ämter gefesselt.
Adieu. Ich erwarte Dich Sonnabend. Bringe mir mein Hutfutteral mit.
Heinrich.
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Berlin, den 9. April 1801
Liebe Wilhelmine! Meine teure, meine einzige Freundin! Ich nehme Abschied von Dir! – Ach, mir ist es, als wäre es auf ewig! Ich habe mich wie ein spielendes Kind auf die Mitte der See gewagt, es erheben sich heftige Winde, gefährlich schaukelt das Fahrzeug über den Wellen, das Getöse übertönt alle Besinnung, ich kenne nicht einmal die Himmelsgegend, nach welcher ich steuern soll, und mir flüstert eine Ahndung zu, daß mir mein Untergang bevorsteht –
Ach, ich weiß es, diese Zeilen sind nicht dazu gemacht, Dir den Abschied zu erleichtern. Aber willst Du nicht mitempfinden, wenn ich leide? O gewiß! Wärst Du sonst meine Freundin?
Ich will Dir erzählen, wie in diesen Tagen das Schicksal mit mir gespielt hat.
Du kennst die erste Veranlassung zu meiner bevorstehenden Reise. Es war im Grunde nichts, als ein innerlicher Ekel vor aller wissenschaftlichen Arbeit. Ich wollte nur nicht müßig die Hände in den Schoß legen und brüten, sondern mir lieber unter der Bewegung einer Fußreise ein neues Ziel suchen, da ich das alte verloren hatte, und zurückkehren, sobald ich es gefunden hätte. Die ganze Idee der Reise war also eigentlich nichts, als ein großer Spaziergang. Ich hatte aber Ulriken versprochen, nicht über die Grenzen des Vaterlandes zu reisen, ohne sie mitzunehmen. Ich kündigte ihr daher meinen Entschluß an. Als ich dies aber tat, hoffte ich zum Teil, daß sie ihn wegen der großen Schnelligkeit und der außerordentlichen Kosten nicht annehmen würde, teils fürchtete ich auch nicht, daß, wenn sie ihn annähme, dieser Umstand die eigentliche Absicht meiner Reise verändern könnte. Doch höre wie das blinde Verhängnis mit mir spielte. Ich erkundigte mich bei verschiedenen Männern, ob ich Pässe zur Reise haben müßte. Sie sagten mir, daß wenn ich allein auf der Post reisete, ich mit meiner Studentenmatrikel wohl durchkommen würde; in Gesellschaft meiner Schwester aber und eines Bedienten müßte ich durchaus einen Paß haben, weil sonst diese Reise eines Studenten mit seiner unverheirateten Schwester gewiß auffallen würde, wie ich selbst fürchte. Pässe waren aber nicht anders zu bekommen, als bei dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Herrn v. Alvensleben, und auch bei diesem nicht anders, als wenn man einen hinreichenden Zweck zur Reise angeben kann. Welchen Zweck sollte ich aber angeben? Den wahren? konnte ich das? Einen falschen? durfte ich das? – Ich wußte nun gar nicht, was ich tun sollte. Ich war schon im Begriff, Ulriken die ganze Reise abzuschreiben, als ich einen Brief bekam, daß sie in 3 Tagen hier schon eintreffen würde. Vielleicht, dachte ich nun, läßt sie sich mit einer kleineren Reise begnügen, und war schon halb und halb willens ihr dies vorzuschlagen; aber Carl hatte schon an so viele Leute so viel von meiner Reise nach Paris erzählt, und ich selbst war damit nicht ganz verschwiegen gewesen, so daß nun die Leute schon anfingen, mir Aufträge zu geben – – sollte sich nun mein Entschluß auf einmal wie ein Wetterhahn drehen? – Ach, Wilhelmine, wir dünken uns frei, und der Zufall führt uns allgewaltig an tausend feingesponnenen Fäden fort. Ich mußte also nun reisen, ich mochte wollen oder nicht, und zwar nach Paris, ich mochte wollen oder nicht. Ich erzählte Carln diese ganze seltsame Veränderung meiner Lage, er tröstete mich, und sagte, ich möchte mich jetzt nur in die Verhältnisse fügen, er hoffte, es würde vielleicht recht gut werden, und besser, als ich es glaubte. Denn das ist sein Glaube, daß wenn uns das Schicksal einen Strich durch die Rechnung macht, dies grade oft zu unserm Besten ausfalle. Darf ich es hoffen –? – Ich mußte also nun auch Pässe fordern. Aber welchen Zweck sollte ich angeben? – Ach, meine liebe Freundin, kann man nicht in Lagen kommen, wo man selbst mit dem besten Willen doch etwas tun muß, was nicht ganz recht ist? Wenn ich nicht reisete, hätte ich da nicht Ulriken angeführt? Und wenn ich reisete, und also Pässe haben mußte, mußte ich da nicht etwas Unwahres zum Zwecke angeben? – Ich gab also denjenigen Zweck an, der wenigstens nicht ganz unwahr ist, nämlich auf der Reise zu lernen (welches eigentlich in meinem Sinne ganz wahr ist) oder wie ich mich ausdrückte: in Paris zu studieren, und zwar Mathematik und Naturwissenschaft – – Ach, Wilhelmine, ich studieren? In dieser Stimmung? – – Doch es mußte so sein. Der Minister, und alle Professoren und alle Bekannten wünschen mir Glück – am Hofe wird es ohne Zweifel bekannt – soll ich nun zurückkehren über den Rhein, so wie ich hinüberging? Habe ich nicht selbst die Erwartung der Menschen gereizt? Werde ich nun nicht in Paris im Ernste etwas lernen müssen? Ach, Wilhelmine, in meiner Seele ziehen die Gedanken durcheinander, wie Wolken im Ungewitter. Ich weiß nicht, was ich tun und lassen soll – alles, was die Menschen von meinem Verstande erwarten, ich kann es nicht leisten. Die Mathematiker glauben, ich werde dort Mathematik studieren, die Chemiker, ich werde von Paris große chemische Kenntnisse zurückbringen – und doch wollte ich eigentlich nichts, als allem Wissen entfliehen. Ja ich habe mir sogar Adressen an französische Gelehrte müssen mitgeben lassen, und so komme ich denn wieder in jenen Kreis von kalten, trocknen, einseitigen Menschen, in deren Gesellschaft ich mich nie wohl befand. – Ach liebe Freundin, ehemals dachte ich mit so großer Entzückung an eine Reise – jetzt nicht. Ich versprach mir sonst so viel davon – jetzt nicht. Ich ahnde nichts Gutes – Ich hatte eine unbeschreibliche Sehnsucht Dich noch einmal zu sehen, und war schon im Begriff Dir selbst zu Fuße das Bild zu bringen. Aber immer ein neues Verhältnis und wieder ein neues machte es mir unmöglich. Ja, hätte mir Carl sein Pferd gegeben, ich hätte Dich doch noch einmal umarmt; aber er wollte und konnte auch nicht.
Und so lebe denn wohl! – Ach, Wilhelmine, schenkte mir der Himmel ein grünes Haus, ich gäbe alle Reisen, und alle Wissenschaft, und allen Ehrgeiz auf immer auf! Denn nichts als Schmerzen gewährt mir dieses ewig bewegte Herz, das wie ein Planet unaufhörlich in seiner Bahn zur Rechten und zur Linken wankt, und von ganzer Seele sehne ich mich, wonach die ganze Schöpfung und alle immer langsamer und langsamer rollenden Weltkörper streben, nach Ruhe!
Liebe Wilhelmine, Deine Eltern werden die Köpfe schütteln, Ahlemann wird besorgt sein, die Mädchen werden flüstern – wirst Du irgend jemandem jemals mehr Glauben beimessen, als mir? O dann, dann wärest Du meiner nicht wert! Denn diesen ganzen innerlichen Kampf, der eigentlich unsre Liebe gar nichts angeht, hat unaufhörlich der Wunsch, einst in Deinen Armen davon auszuruhen, unterbrochen; und hell und lebendig ist in mir das Bewußtsein, daß ich schnell lieber den Tod wählen möchte, als durch das ganze Leben das Gefühl, Dich betrogen zu haben, mit mir herum zu schleppen.
Ich werde Dir oft schreiben. Aber es mögen Briefe ausbleiben so lange sie wollen, Du wirst immer überzeugt sein, daß ich alle Abend und alle Morgen, wenn nicht öfter, an Dich denke. Dasselbe werde ich von Dir glauben. Also niemals Mißtraun oder Bangigkeit. Vertrauen auf uns, Einigkeit unter uns!
Und nun noch ein paar Aufträge. Beifolgendes Bild konnte ich, wegen Mangel an Geld, das ich sehr nötig brauche, nicht einfassen lassen. Tue Du es auf meine Kosten. Einst ersetze ich sie Dir. Möchtest Du es ähnlicher finden, als ich. Es liegt etwas Spöttisches darin, das mir nicht gefällt, ich wollte er hätte mich ehrlicher gemalt – Dir zu gefallen, habe ich fleißig während des Malens gelächelt, und so wenig ich auch dazu gestimmt war, so gelang es mir doch, wenn ich an Dich dachte. Du hast mir so oft mit der Hand die Runzeln von der Stirn gestrichen, darum habe ich in dem Gemälde wo es nicht möglich war dafür gesorgt, daß es auch nicht nötig war. So, ich meine so freundlich, werde ich immer aussehen, wenn wenn – – o Gott! Wann? – Küsse das Bild auf der Stirn, da küsse ich es jetzt auch.
Der zweite Auftrag ist dieser, mir anzukündigen, ob ich Dir 73 Rth., oder etwas weniger schuldig bin. Carl meint, ich hätte Dir schon etwas bezahlt, aber ich weiß von nichts. Schreibe mir dies, auch ob ich das Geld der Randow oder Carl geben oder Dir selbst überschicken soll.
Und nun lebe wohl. – Wenn Du mir gleich antwortest, so trifft mich Dein Brief noch in Berlin. Dann werde ich Dir zwar nicht mehr von hier, aber doch vielleicht schon von Potsdam schreiben.
Lebe wohl – Grüße alles, wenigstens Louise, der Du alle meine Briefe zeigen kannst. Mache wenn Du willst überhaupt gar kein Geheimnis mehr aus unsrer Liebe, trage das Bild öffentlich, ich selbst habe es hier bei Clausius, der Glogern, Ulrike etc. etc. gezeigt, und alle wissen, für wen es bestimmt war. Nenne mich Deinen Geliebten, denn ich bin es – und lebe wohl, lebe wohl – lebe wohl – Behalte mich lieb in Deinem innersten Herzen, bleibe treu, traue fest auf mich – lebe wohl – lebe wohl – Heinrich.
(Schicke mir doch das Bildfutteral sogleich zurück, denn es gehört zu Deinem Bilde.)
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Wohlgeborener Herr,
Hochzuverehrender Herr Geheimrat,
Das Wohlwollen, mit welchem Ew. Wohlgeb. meine erste Bitte, nämlich den Sitzungen der hochlöbl. techn. Deputation beiwohnen zu dürfen, unterstützten, macht mich schüchtern bei einer Erklärung, die ich doch, von höheren Rücksichten bestimmt, nicht unterdrücken darf; bei der Erklärung, daß ich, nach einer ernstlichen Prüfung meiner Kräfte, die Laufbahn, die ich betreten hatte, nicht verfolgen darf, weil sich meine Neigung für das Rein-Wissenschaftliche ganz entschieden hat. Bloß die Erinnerung, daß Ew. Wohlgeb. selbst, schon bei Ihrem ersten Urteile über meine Kräfte, die Wahl eines praktischen Wirkungskreises für mich nicht billigten, gibt mir den Mut, diesen Irrtum selbst offenherzig zu gestehen. Ich danke Ihnen herzlich für diesen einzigen aufrichtigen Rat, den ich in Berlin empfing, und den ich gewiß nicht anders, als zu meinem Besten, nutzen werde, bitte ferner, mich der hochlöbl. technischen Deputation, zu deren Zweck ich auf meiner bevorstehenden Reise nach Paris bei jeder kommenden Gelegenheit mitzuwirken bereit bin, gehorsamst zu empfehlen, und verbleibe in der Hoffnung, fortdauernd Ihres Wohlwollens zu genießen, mit der herzlichsten und vollkommensten Hochachtung
Ew. Wohlgeb. Ergebenster
Kleist,
ehemals Lieut. im Rgt. Garde.
Berlin, den 12. April 1801
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Berlin, den 14. April 1801
Liebe Freundin, die paar Zeilen, die Du mir geschrieben hast, atmen zugleich so viel Wehmut und Würde, daß selbst Dein Anblick mich kaum weniger hätte rühren können. Wenn ich mir Dich denke, wie Du in Deinem Zimmer sitzest, mein Bild vor Dir, das Haupt auf die Arme gedrückt, die Augen voll Tränen – ach, Wilhelmine, dann kommt dieser Gedanke noch zu meinem eignen Kummer, ihn zu verdoppeln. Dir hat die Liebe wenig von ihren Freuden, doch viel von ihrem Kummer zugeteilt, und Dir schon zwei Trennungen zugemessen, deren jede gleich gefährlich war. Du hättest ein so ruhiges Schicksal verdient, warum mußte der Himmel Dein Los an einen Jüngling knüpfen, den seine seltsam gespannte Seele ewig-unruhig bewegt? Ach, Wilhelmine, Du bist so vielen Glückes würdig, ich bin es Dir schuldig, Du hast mir durch so vielen Edelmut die Schuld auferlegt – warum kann ich sie nicht bezahlen? Warum kann ich Dir nichts geben zum Lohne, als Tränen? – O Gott gebe mir nur die Möglichkeit diese Tränen einst wieder mit Freuden vergüten zu können! – Liebe, teure Freundin, ich fordre nicht von Dir, daß Du mir den Kummer verheimlichst, wenn Du ihn fühlst, so wie ich selbst immer das süßeste Recht der Freundschaft, nämlich das schwere Herz auszuschütten, übe; aber laß uns beide uns bemühen, so ruhig und so heiter unter der Gewitterwolke zu stehen, als es nur immer möglich ist. Verzeihe mir diese Reise – ja verzeihen, ich habe mich nicht in dem Ausdrucke vergriffen, denn ich fühle nun selbst, daß die erste Veranlassung dazu wohl nichts, als eine Übereilung war. Lies doch meine Briefe von dieser Zeit an noch einmal durch und frage Carln recht über mich aus – Mir ist diese Periode in meinem Leben und dieses gewaltsame Fortziehen der Verhältnisse zu einer Handlung, mit deren Gedanken man sich bloß zu spielen erlaubt hatte, äußerst merkwürdig. Aber nun ist es unabänderlich geschehen und ich muß reisen – Ach, Wilhelmine, wie hätte sich mir noch vor drei Jahren die Brust gehoben unter der Vorempfindung einer solchen Reise! Und jetzt –! Ach, Gott weiß, daß mir das Herz blutet! Frage nur Carln, der mich alle Augenblicke einmal fragt: was seufzest Du denn? – Aber nun will ich doch so viel Nutzen ziehn aus dieser Reise, wie ich kann, und auch in Paris etwas lernen, wenn es mir möglich sein wird. Vielleicht geht doch noch etwas Gutes aus dieser verwickelten Begebenheit meines Lebens hervor – liebe Wilhelmine, soll ich Dir sagen, daß ich es fast hoffe? Ach, ich sehne mich unaussprechlich nach Ruhe! Alles ist dunkel in meiner Zukunft, ich weiß nicht, was ich wünschen und hoffen und fürchten soll, ich fühle daß mich weder die Ehre, noch der Reichtum, noch selbst die Wissenschaften allein ganz befriedigen können; nur ein einziger Wunsch ist mir ganz deutlich, Du bist es, Wilhelmine – O Gott, wenn mir einst das bescheidne Los fallen sollte, das ich begehre, ein Weib, ein eignes Haus und Freiheit – o dann wäre es nicht zu teuer erkauft mit allen Tränen, die ich, und mit allen die Du vergießest, denn mit Entzückungen wollte ich sie Dir vergüten. Ja, laß uns hoffen – Was ich begehre, genießen Millionen, der Himmel gewährt Wünsche gern, die in seinen Zweck eingreifen, warum sollte er grade uns beide von seiner Güte ausschließen? Also Hoffnung und Vertrauen auf den Himmel und auf uns! Ich will mich bemühen, die ganze unselige Spitzfindigkeit zu vergessen, die schuld an dieser innern Verwirrung ist. Vielleicht gibt es dann doch Augenblicke auf dieser Reise, in welchen ich vergnügt bin. O möchten sie auch Dir werden! Fahre nur fort, Dich immer auszubilden, ich müßte unsinnig sein mit den Füßen von mir zu stoßen, was sich zu meinem eignen Genuß von Tage zu Tage veredelt. Gewinne Deinen Rousseau so lieb wie es Dir immer möglich ist, auf diesen Nebenbuhler werde ich nie zürnen. Ich werde Dir oft schreiben, das nächstemal von Dresden, etwa in 8 Tagen. Dahin schreibe mir, aber gleich, und scheue Dich nicht mit eigner Hand die Adresse zu schreiben, unsre Liebe soll kein Geheimnis mehr sein. Den 28. April treffe ich ohngefähr in Leipzig ein, da kannst Du an Minna Clausius schreiben, die mit ihrem Vater dort zur Messe ist, und wieder einen Brief einlegen. Wohin Du auf der ganzen Reise schreibst, mußt Du aber immer den Brief bezeichnen: selbst abzuholen (in Frankreich französisch). – Und nun adieu. Die 73 Rth., wovon Du vergessen hast mir zu schreiben, habe ich Carln gegeben, in der Meinung, daß es Dir so recht sein wird. Adieu, adieu, sei mein starkes Mädchen.
Heinrich K.
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An Fräulein Wilhelmine v. Zenge Hochwohlgeb. zu Frankfurt a. Oder
Dresden, den 4. Mai 1801
Liebe Wilhelmine, heute lag ich auf den Brühlschen Terrassen, ich hatte ein Buch mitgenommen, darin zu lesen, aber ich war zerstreut und legte es weg. Ich blickte von dem hohen Ufer herab über das herrliche Elbtal, es lag da wie ein Gemälde von Claude Lorrain unter meinen Füßen – es schien mir wie eine Landschaft auf einen Teppich gestickt, grüne Fluren, Dörfer, ein breiter Strom, der sich schnell wendet, Dresden zu küssen, und hat er es geküßt, schnell wieder flieht – und der prächtige Kranz von Bergen, der den Teppich wie eine Arabeskenborde umschließt – und der reine blaue italische Himmel, der über die ganze Gegend schwebte – Mich dünkte, als schmeckte süß die Luft, holde Gerüche streuten mir die Fruchtbäume zu, und überall Knospen und Blüten, die ganze Natur sah aus wie ein fünfzehnjähriges Mädchen – Ach, Wilhelmine, ich hatte eine unaussprechliche Sehnsucht, nur einen Tropfen von Freude zu empfangen, es schien ein ganzes Meer davon über die Schöpfung ausgegossen, nur ich allein ging leer aus – Ich wünschte mir nur so viel Heiterkeit, und auch diese nur auf eine so kurze Zeit als nötig wäre, Dir einen heitern kurzen Brief zu schreiben. Aber der Himmel läßt auch meine bescheidensten Wünsche unerfüllt. Ich beschloß, auch für diesen Tag noch zu schweigen – Da sah ich Dich im Geiste, wie Du täglich auf Nachrichten harrest, täglich sie erwartest und täglich getäuscht wirst, ich dachte mir, wie Du Dich härmst und Dich mit falschen Vorstellungen quälst, vielleicht mich krank glaubst, oder wohl gar – Da stand ich schnell auf, rief Ulriken, die lesend hinter mir saß, mir zu folgen, ging in mein Zimmer, und sitze nun am Tische, Dir wenigstens zu schreiben, daß ich noch immer lebe und noch immer Dich liebe.
Liebe, teure Freundin, erlaß mir eine weitläufigere Mitteilung, ich kann Dir nichts Frohes schreiben, und der Kummer ist eine Last, die noch schwerer drückt, wenn mehrere daran tragen. Noch habe ich seit meiner Abreise von Berlin keine wahrhaft vergnügte Stunde genossen, zerstreut bin ich wohl gewesen, aber nicht vergnügt – Meine heitersten Augenblicke sind solche, wo ich mich selbst vergesse – und doch, gibt es Freude, ohne ruhiges Selbstbewußtsein? Ach, Wilhelmine, Du bist glücklich gegen mich, weil Du eine Freundin hast – ich kann Ulriken alles mitteilen, nur nicht, was mir das Teuerste ist. Du glaubst auch nicht, wie ihr lustiges, zu allem Abenteuerlichen aufgewecktes Wesen, gegen mein Bedürfnis absticht – Ach, könnte ich vier Monate aus meinem Leben zurücknehmen! Adieu, adieu, ich will vergessen, was nicht mehr zu ändern ist – Lebe wohl, mit dem ersten frohen Augenblick erhältst Du einen recht langen Brief von mir. Bis dahin laß mich schweigen – wenn Du fürchtest, daß ich Dich kälter lieben werde, so quälst Du Dich vergeblich. O Gott, wenn mir ein einziger Wunsch erfüllt würde, mich aus diesem Labyrinthe zu retten – Liebe Wilhelmine, schreibe mir doch gleich nach Leipzig. Umstände haben uns verhindert, bereits dort zu sein. Du wirst aber wahrscheinlich einen Brief für mich an Minna Clausius geschickt haben, den sie nun, da sie mich nicht in Leipzig gesprochen hat, wieder nach Berlin zurückgenommen haben wird. Also würde ich jetzt, wenn Du nicht gleich schreibst, keinen Brief von Dir in Leipzig finden, wo ich ohngefähr in 10 Tagen einzutreffen denke. Schreibe also doch gleich, wenn Du kannst, und es Dir nicht auch so schwer wird wie mir – Adieu, grüße Louisen, und denke nur ein halb mal so oft an mich, wie ich an Dich denke, und zur bestimmten Zeit – Du weißt sie doch noch? Vielleicht erhältst Du noch von Dresden aus einen Brief von mir.
H. K.
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An das Stiftsfräulein Wilhelmine v. Zenge Hochwürden und Hochwohlgeboren zu Frankfurt a. Oder.
Leipzig, den 21. Mai 1801
Liebe Wilhelmine, ich bin bei meiner Ankunft in dieser Stadt in einer recht großen Hoffnung getäuscht worden. Ich hatte nämlich Dir, und außer Dir noch Leopold, Rühle, Gleißenberg etc. etc. teils schriftlich, teils mündlich gesagt, daß sie ihre Briefe an mich nach Leipzig adressieren möchten, weil ich die Messe hier besuchen würde. Da ich mich aber in Dresden so lange aufhielt, daß die Messe während dieser Zeit vorüberging, so würde ich nun diesen Umweg über Leipzig nicht gemacht haben, wenn ich nicht gehofft hätte, hier eine ganze Menge von Briefen vorzufinden, besonders da ich in Dresden keinen einzigen, außer vor 4 Wochen den Deinigen empfing. Nun aber denke Dir mein Erstaunen als ich auf der hiesigen Post auch nicht einen einzigen Brief fand, auch für Ulriken nicht, so daß es fast scheint, als wären wir aus dem Gedächtnis unsrer Freunde und Verwandten ganz ausgelöscht – – Liebe Wilhelmine, bin ich es auch aus dem Deinigen? Zürnst Du auf mich, weil ich von Dresden aus nur einmal, und nur so wenige Zeilen an Dich schrieb? Willst Du Dich darum mit Gleichem an mir rächen? Ach, laß diese Rache fahren – Wenn Du Dir einbildest, daß Du mir nicht mehr lieb und wert bist, so irrst Du Dich, und wenn Du die Kürze meines einzigen Briefes für ein Zeichen davon hältst, so verstehst Du Dich ganz falsch auf meine Seele – Sonst, ja sonst war es meine Freude, mir selbst oder Dir mein Herz zu öffnen, und meine Gedanken und Gefühle dem Papier anzuvertrauen; aber das ist nicht mehr so – Ich habe selbst mein eignes Tagebuch vernachlässigt, weil mich vor allem Schreiben ekelt. Sonst waren die Augenblicke, wo ich mich meiner selbst bewußt ward, meine schönsten – jetzt muß ich sie vermeiden, weil ich mich und meine Lage fast nicht ohne Schaudern denken kann – Doch nichts in diesem Tone. Auch dieses war ein Grund, warum ich Dir so selten schrieb, weil ich voraussah, daß ich Dir doch nichts von mir schreiben könnte, was Dir Freude machen würde. In den letzten Tagen meines Aufenthaltes in Dresden hatte ich schon einen Brief an Dich bis zur Hälfte vollendet, als ich einsah, daß es besser war, ihn ganz zurückzuhalten, weil er Dir doch nichts, als Kummer gewährt haben würde. Ach, warum kann ich dem Wesen, das ich glücklich machen sollte, nichts gewähren, als Tränen? Warum bin ich, wie Tankred, verdammt, das, was ich liebe, mit jeder Handlung zu verletzen? 䜣 Doch davon laß mich ein für allemal schweigen. Das Bewußtsein Dich durch meine Briefe, statt zu erfreuen, zu betrüben, macht sie mir selbst so verhaßt, daß ich bei diesen letzten Zeilen schon halb und halb willens war, auch dieses Schreiben zu zerreißen – Doch eines muß vollendet werden – und ich will Dir darum nur kürzlich die Geschichte meines Aufenthaltes in Dresden mitteilen, die Dich nicht betrüben wird, wenn ich Dir bloß erzähle, was ich sah und hörte, nicht was ich dachte und empfand.
Ich zweifle, daß ich auf meiner ganzen bevorstehenden Reise, selbst Paris nicht ausgenommen, eine Stadt finden werde, in welcher die Zerstreuung so leicht und angenehm ist, als Dresden. Nichts war so fähig mich so ganz ohne alle Erinnerung wegzuführen von dem traurigen Felde der Wissenschaft, als diese in dieser Stadt gehäuften Werke der Kunst. Die Bildergalerie, die Gipsabgüsse, das Antikenkabinett, die Kupferstichsammlung, die Kirchenmusik in der katholischen Kirche, das alles waren Gegenstände bei deren Genuß man den Verstand nicht braucht, die nur allein auf Sinn und Herz wirken. Mir war so wohl bei diesem ersten Eintritt in diese für mich ganz neue Welt voll Schönheit. Täglich habe ich die griechischen Ideale und die italienischen Meisterstücke besucht, und jedesmal, wenn ich in die Galerie trat, stundenlang vor dem einzigen Raphael dieser Sammlung, vor jener Mutter Gottes gestanden, mit dem hohen Ernste, mit der stillen Größe, ach Wilhelmine, und mit Umrissen, die mich zugleich an zwei geliebte Wesen erinnerten – Wie oft, wenn ich auf meinen Spaziergängen junge Künstler sitzen fand, mit dem Brett auf dem Schoß, den Stift in der Hand, beschäftigt die schöne Natur zu kopieren, o wie oft habe ich diese glücklichen Menschen beneidet, welche kein Zweifel um das Wahre, das sich nirgends findet, bekümmert, die nur in dem Schönen leben, das sich doch zuweilen, wenn auch nur als Ideal, ihnen zeigt. Den einen fragte ich einst, ob man, wenn man sonst nicht ohne Talent sei, sich wohl im 24. Jahre noch mit Erfolg der Kunst widmen könnte? Er antwortete mir, daß Wouwerman, einer der größten Landschaftsmaler, erst im 40. ein Künstler geworden sei. – Nirgends fand ich mich aber tiefer in meinem Innersten gerührt, als in der katholischen Kirche, wo die größte, erhebenste Musik noch zu den andern Künsten tritt, das Herz gewaltsam zu bewegen. Ach, Wilhelmine, unser Gottesdienst ist keiner. Er spricht nur zu dem kalten Verstande, aber zu allen Sinnen ein katholisches Fest. Mitten vor dem Altar, an seinen untersten Stufen, kniete jedesmal, ganz isoliert von den andern, ein gemeiner Mensch, das Haupt auf die höheren Stufen gebückt, betend mit Inbrunst. Ihn quälte kein Zweifel, er glaubt – Ich hatte eine unbeschreibliche Sehnsucht mich neben ihn niederzuwerfen, und zu weinen – Ach, nur einen Tropfen Vergessenheit, und mit Wollust würde ich katholisch werden –. Doch davon wollte ich ja eben schweigen. – Dresden hat eine große, feierliche Lage, in der Mitte der umkränzenden Elbhöhen, die in einiger Entfernung, als ob sie aus Ehrfurcht nicht näher zu treten wagten, es umlagern. Der Strom verläßt plötzlich sein rechtes Ufer, und wendet sich schnell nach Dresden, seinen Liebling zu küssen. Von der Höhe des Zwingers kann man seinen Lauf fast bis nach Meißen verfolgen. Er wendet sich bald zu dem rechten bald zu dem linken Ufer, als würde die Wahl ihm schwer, und wankt, wie vor Entzücken, und schlängelt sich spielend in tausend Umwegen durch das freundliche Tal, als wollte er nicht in das Meer – Wir haben von Dresden aus Moritzburg, Pillnitz, Tharandt, das Du schon kennst, und Freiberg besucht. In Freiberg sind wir beide in das Bergwerk gestiegen. Ich mußte es, damit ich, wenn man mich fragt: sind Sie dort gewesen; doch antworten kann: ja. Ein weiteres Interesse hatte ich jetzt nicht dabei, so sehr mich die Kenntnis, die man sich hier erwerben kann, auch sonst interessiert hätte. Denn wenn das Herz ein Bedürfnis hat, so ist es kalt gegen alles, was es nicht befriedigt, und nur mit halbem Ohre habe ich gehört, wie tief der Schacht ist, wohin der Gang streicht, wieviel Ausbeute er gibt, usw. – Ich hatte ein paar Adressen nach Dresden mit, von denen ich aber nur eine gebrauchte und die andern verbrannt habe. Denn für ein Herz, das sich gern jedem Eindruck hingibt, ist nichts gefährlicher, als Bekanntschaften, weil sie durch neue Verhältnisse das Leben immer noch verwickelter machen, das schon verwickelt genug ist. Doch diese Verstandesregel war es eigentlich nicht, die mich davon abhielt. Ich fand aber in Dresden ein paar so liebe Leute, daß ich über sie alle andern vergaß. Denn ob ich gleich Menschen, die ich kennen lerne, leicht lieb gewinne und dann gern unter ihnen bin, so habe ich doch kein Bedürfnis, viele kennen zu lernen. Diese lieben Leute waren zuerst der Hauptmann v. Zanthier, Gouverneur bei dem jungen Grafen v. Stolberg und Prinzen v. Pleß, ein Mann, dem das Herz an einer guten Stelle sitzt. Er machte uns zuerst mit Dresden bekannt und hat viel zu unserm Vergnügen beigetragen. Außer ihm fanden wir noch in Dresden ein paar Verwandte, den Lieut. v. Einsiedel und seine Frau, welche uns auch mit dem weiblichen Teil von Dresden bekannt machten. Unter diesen waren besonders zwei Fräulein v. Schlieben, arm und freundlich und gut, die Eigenschaften die zusammengenommen mit zu dem Rührendsten gehören, das ich kenne. Wir sind gern in ihrer Gesellschaft gewesen, und zuletzt waren die Mädchen auch so gern in der unsrigen, daß die eine am Abend bei unserem Abschied aus vollem Herzen weinte. – Von Dresden aus machten wir auch noch eine große Streiferei nach Töplitz, 8 Meilen, eine herrliche Gegend, besonders von dem nahegelegenen Schloßberge aus, wo das ganze Land aussieht, wie ein bewegtes Meer von Erde, die Berge, wie kolossalische Pyramiden, in den schönsten Linien geformt, als hätten die Engel im Sande gespielt – Von Töplitz fuhren wir tiefer in Böhmen nach Lowositz, das am südlichen Fuße des Erzgebirges liegt, da, wo die Elbe hineintritt. Wie eine Jungfrau unter Männern erscheint, so tritt sie schlank und klar unter die Felsen – Leise mit schüchternem Wanken naht sie sich – das rohe Geschlecht drängt sich, den Weg ihr versperrend, um sie herum, der Glänzend-Reinen ins Antlitz zu schauen – sie aber ohne zu harren, windet sich, flüchtig, errötend, hindurch – In Aussig ließen wir den Wagen zu Lande fahren, und fuhren noch 10 Meilen auf der Elbe nach Dresden. Ach, Wilhelmine, es war einer von jenen lauen, süßen, halb dämmernden Tagen, die jede Sehnsucht, und alle Wünsche des Herzens ins Leben rufen – Es war so still auf der Fläche des Wassers, so ernst zwischen den hohen, dunkeln Felsenufern, die der Strom durchschnitt. Einzelne Häuser waren hie und da an den Felsen gelehnt, wo ein Fischer oder ein Weinbauer sich angesiedelt hatte. Mir schien ihr Los unbeschreiblich rührend und reizend – das kleine einsame Hüttchen unter dem schützenden Felsen, der Strom, der Kühlung und Nahrung zugleich herbeiführt, Freuden, die keine Idylle malen kann, Wünsche, die nicht über die Gipfel der umschließenden Berge fliegen – ach, liebe Wilhelmine, ist Dir das nicht auch alles so rührend und reizend wie mir? Könntest Du bei diesem Glück nicht auch alles aufgeben, was jenseits der Berge liegt? Ich könnte es – ach, ich sehne mich unaussprechlich nach Ruhe. Für die Zukunft leben zu wollen – ach, es ist ein Knabentraum, und nur wer für den Augenblick lebt, lebt für die Zukunft. Ja wer erfüllt eigentlich getreuer seine Bestimmung nach dem Willen der Natur, als der Hausvater, der Landmann? – Ich malte mir ein ganzes künftiges Schicksal aus – ach, Wilhelmine, mit Freuden wollte ich um dieses Glück allen Ruhm und allen Ehrgeiz aufgeben – Zwei Fischer ruderten gegen den Strom, und trieften von Schweiß. Ich nahm unserm Schiffer das Ruder und fing aus Leibeskräften zu arbeiten [an]. Ja, fiel mir ein, das ist ein Scherz, wie aber wenn es Ernst wäre –? Auch das, antwortete ich mir, und beschloß eine ganze Meile lang unaufhörlich zu arbeiten. Es gelang mir doch nicht ohne Anstrengung und Mühe – aber es gelang mir. Ich wischte mir den Schweiß ab, und setzte mich neben Ulriken, und faßte ihre Hand – sie war kalt – ich dachte an den Lohn, an Dich – –
Adieu, adieu. Schreibe mir nach Göttingen, aber gleich, und Dein ganzes Schicksal während der verflossnen Zeit, Deine Verhältnisse, auch etwas von meiner Familie. Wenn es mir so leicht wird, wie heute, so schreibe ich bald wieder. Dein treuer Freund Heinrich.
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Göttingen, den 3. Juni 1801
Mein liebes Minchen, ich habe Deinen Brief, der mir aus mehr als einer Rücksicht herzlich wohl tat, gestern hier erhalten und eile ihn zu beantworten. – Du bist nicht zufrieden, daß ich Dir das Äußere meiner Lage beschreibe, ich soll Dir auch etwas aus meinem Innern mitteilen? Ach, liebe Wilhelmine, leicht ist das, wenn alles in der Seele klar und hell ist, wenn man nur in sich selbst zu blicken braucht, um deutlich darin zu lesen. Aber wo Gedanken mit Gedanken, Gefühle mit Gefühlen kämpfen, da ist es schwer zu nennen, was in der Seele herrscht, weil noch der Sieg unentschieden ist. Alles liegt in mir verworren, wie die Wergfasern im Spinnrocken, durcheinander, und ich bin vergebens bemüht mit der Hand des Verstandes den Faden der Wahrheit, den das Rad der Erfahrung hinaus ziehen soll, um die Spule des Gedächtnisses zu ordnen. Ja selbst meine Wünsche wechseln, und bald tritt der eine, bald der andere ins Dunkle, wie die Gegenstände einer Landschaft, wenn die Wolken drüber hinziehn. – Was Du mir zum Troste sagst, ist wirklich das Tröstlichste, das ich kenne. Ich selbst fange an, zu glauben, daß der Mensch zu etwas mehr da ist, als bloß zu denken – Arbeit, fühle ich, wird das einzige sein, was mich ruhiger machen kann. Alles was mich beunruhigt ist die Unmöglichkeit, mir ein Ziel des Bestrebens zu setzen, und die Besorgnis, wenn ich zu schnell ein falsches ergriffe, die Bestimmung zu verfehlen und so ein ganzes Leben zu verpfuschen – Aber sei ruhig, ich werde das rechte schon finden. Falsch ist jedes Ziel, das nicht die reine Natur dem Menschen steckt. Ich habe fast eine Ahndung von dem rechten – wirst Du, Wilhelmine, mir dahin folgen, wenn Du Dich überzeugen kannst, daß es das rechte ist –? Doch laß mich lieber schweigen von dem, was selbst in mir noch ganz undeutlich ist. Die Geschichte Deines Lebens während der Abwesenheit Deiner Eltern, und besonders die Art von Freude, welche Du da genossen hast, hat mich ganz unbeschreiblich gerührt – Diese Freude, Wilhelmine, ist Dir gewiß; aber wirst Du Dich mit dieser einzigen begnügen können –? Kann es ein Mädchen von Deinem Stande, so bist Du es, und dieser Gedanke stärkt mich ganz unbeschreiblich. – Sei zufrieden mit diesen wenigen Zügen aus meinem Innern. Es ist darin so wenig bestimmt, daß ich mich fürchten muß etwas aufzuschreiben, weil es dadurch in gewisser Art bestimmt wird. Errate daraus was Du willst – gewiß ist es, daß ich kein andres Erdenglück wünsche, als durch Dich. Fahre fort, liebes Mädchen, Dich immer fähiger zu machen, zu beglücken. Rousseau ist mir der liebste durch den ich Dich bilden lassen mag, da ich es selbst nicht mehr unmittelbar, wie sonst, kann. Ach, Wilhelmine, Du hast mich an frohe Zeiten erinnert, und alles ist mir dabei eingefallen, auch das, woran Du mich nicht erinnert hast. Glaubst Du wohl, daß ein Tag vergeht, ohne daß ich an Dich dächte –? Dein Bild darf ich so oft nicht betrachten als ich wohl möchte, weil mir jeder unbescheidner Zeuge zuwider ist. Mehr als einmal habe ich gewünscht, meinem ersten Entschluß, allein zu reisen, treu geblieben zu sein – Ich ehre Ulrike ganz unbeschreiblich, sie trägt in ihrer Seele alles, was achtungswürdig und bewundrungswert ist, vieles mag sie besitzen, vieles geben können, aber es läßt sich, wie Goethe sagt, nicht an ihrem Busen ruhen – Doch dies bleibt, wie alles, unter uns – Von unsrer Reise kann ich Dir auch manches wieder erzählen. Wir reisen, wie Du vielleicht noch nicht weißt, mit eignen Pferden, die wir in Dresden gekauft haben. Johann leistet uns dabei treffliche Dienste, wir sind sehr mit ihm zufrieden, und denken oft mit Dankbarkeit an Carln, der ihn uns freiwillig abtrat. – Carl ist wohl jetzt in Frankfurt? Oder ist er in Magdeburg? Wenn Du ihn siehst oder schreibst, so sage ihm doch auch ein Wörtchen von mir. Ich hatte versprochen, ihm auch zuweilen zu schreiben, aber das Schreiben wird mir jetzt so schwer, daß ich oft selbst die notwendigsten Briefe vernachlässige. Gestern endlich habe ich zum erstenmale an meine Familie nach Pommern geschrieben – sollte man wohl glauben, daß ein Mensch, der in seiner Familie alles fand, was ein Herz binden kann, Liebe, Vertrauen, Schonung, Unterstützung mit Rat und Tat, sein Vaterland verlassen kann, ohne selbst einmal schriftlich Abschied zu nehmen von seinen Verwandten? – Und doch sind sie mir die liebsten und teuersten Menschen auf der Welt! So widersprechen sich in mir Handlung und Gefühl – Ach, es ist ekelhaft, zu leben. – Schreibe also Carln, er solle nicht zürnen, wenn Briefe von mir ausblieben, großmütig sein, und zuweilen etwas von sich hören lassen, Neuigkeiten schreiben und dergleichen. Bitte ihn doch auch, er möchte sich einmal bei Rühle erkundigen, ob dieser denn gar keine Briefe von mir erhalten hat, auch nicht die große Schrift, die ich ihm von Berlin aus schickte? Er möchte ihn doch antreiben, einmal an mich zu schreiben, da mir sehr viel daran gelegen wäre, wenigstens zu wissen, ob die Schrift nicht verloren gegangen ist. – Ich will Dich doch von Leipzig nach Göttingen führen, aber ein wenig schneller, als wir reiseten. Denn wir wandern, wie die alten Ritter, von Burg zu Burg, halten uns auf und wechseln gern ein freundliches Wort mit den Leuten. Wir suchen uns in jeder Stadt immer die Würdigsten auf, in Leipzig Plattner, Hindenburg, in Halle Klügel, in Göttingen Blumenbach, Wrisberg etc. etc. Aber Du kennst wohl diese Namen nicht? Es sind die Lehrer der Menschheit. – In Leipzig fand endlich Ulrike Gelegenheit zu einem Abenteuer, und hörte verkleidet einer öffentlichen Vorlesung Plattners zu. Das geschah aber mit Vorwissen des Hofrats, indem er selbst wünschte, daß sie, Störung zu vermeiden, lieber in Mannskleidern kommen möchte, als in Weiberröcken. Alles lief glücklich ab, der Hofrat und ich, wir waren die einzigen in dem Saale, die um das Geheimnis wußten. – In Halberstadt besuchten wir Gleim, den bekannten Dichter, einen der rührendsten und interessantesten Greise, die ich kenne. An ihn waren wir zwar durch nichts adressiert, als durch unsern Namen; aber es gibt keine bessere Adresse als diesen. Er war nämlich einst ein vertrauter Freund Ewald Kleists, der bei Frankfurt fiel. Kurz vor seinem Tode hatte dieser ihm noch einen Neffen Kleist empfohlen, für den jedoch Gleim niemals hatte etwas tun können, weil er ihn niemals sah. Nun glaubte er, als ich mich melden ließ, ich sei es, und die Freude mit der er uns entgegen kam war unbeschreiblich. Doch ließ er es uns nicht empfinden, als er sich getäuscht, denn alles, was Kleist heißt, ist ihm teuer. Er führte uns in sein Kabinett, geschmückt mit Gemälden seiner Freunde. Da ist keiner, sagte er, der nicht ein schönes Werk schrieb, oder eine große Tat beging. Kleist tat beides und Kleist steht oben an – Wehmütig nannte er uns die Namen der vorangegangnen Freunde, trauernd, daß er noch zurück sei. Aber er ist 83 Jahr, und so die Reihe wohl auch bald an ihn – Er besitzt einige hundert Briefe von Kleist, auch sein erstes Gedicht. Gleim war es eigentlich, der ihm zuerst die Aussicht nach dem Parnaß zeigte, und die Veranlassung ist seltsam und merkwürdig genug. Kleist war nämlich in einem Duell blessiert, und lag krank im Bette zu Potsdam. Gleim war damals Regiments-Quartiermeister und besuchte den Kranken, ohne ihn weiter genau zu kennen. Ach, sagte Kleist, ich habe die größte Langeweile, denn ich kann nicht lesen. Wissen Sie was, antwortete Gleim, ich will zuweilen herkommen und Ihnen etwas vorlesen. Damals eben hatte Gleim scherzhafte Gedichte gemacht, im Geschmack Anakreons, und las ihm unter andern eine Ode an den Tod vor, die ohngefähr so lautet: Tod, warum entführst du mir mein Mädchen? Kannst du dich auch verlieben? – – Und so geht es fort. Am Ende heißt es: Was willst du mit ihr machen? Kannst du doch mit Zähnen ohne Lippen, wohl die Mädchen beißen, doch nicht küssen – Über diese Vorstellung, wie der Tod mit seinen nackten, eckigen Zähnen, vergebens sich in die weichen Rosenlippen drückt, einen Kuß zu versuchen, gerät Kleist so ins Lachen, daß ihm bei der Erschütterung, das Band von der Wunde an der Hand abspringt. Man ruft einen Feldscher. Es ist ein Glück, sagt dieser, daß Sie mich rufen lassen, denn unbemerkt ist der kalte Brand im Entstehen und morgen wäre es zu spät gewesen. – Aus Dankbarkeit widmete Kleist der Dichtkunst das Leben, das sie ihm gerettet hatte. – In Wernigerode lernten wir eine sehr liebenswürdige Familie kennen, die Stolbergsche. – In Goslar fuhren wir in den Rammelsberg, wo in großen Höhlen die Erze mit angezündeten Holzstößen abgebrannt werden, und alles vor Hitze nackend arbeitet. Man glaubt in der Hölle, oder doch wenigstens in der Werkstatt der Zyklopen zu sein. – Von Ilsenburg aus bestiegen wir am Nachmittage des 31. den Brocken, den Du schon aus meiner früheren Reisebeschreibung kennst. Ich habe auch Quedlinburg lange wieder, aber nur von weitem, angesehen – In Ilsenburg habe ich den Teich gesehen, auf welchem die Knobelsdorf als Kind herumgefahren ist. Schreibe doch Carl, der alte Otto ließe die Knobelsdorf grüßen. – Und nun lebe wohl. Heute sind wir hier auf einem Balle, wo die Füße springen werden, indessen das Herz weint. Dann geht der Körper immer weiter und weiter von Dir, indessen die Seele immer zu Dir zurück strebt. Bald an diesen, bald an jenen Ort treibt mich das wilde Geschick, indessen ich kein innigeres Bedürfnis habe, als Ruhe – Können so viele Widersprüche in einem engen Herzen wohnen? –? Lebe wohl. Hier hast Du meine Reiseroute. Morgen geht es nach Frankfurt, Mainz, Mannheim; dahin schreibe mir, und teile diese Adresse Carln mit. Wir werden dann unsre Tour über die Schweiz und Südfrankreich nehmen – Südfrankreich! Du kennst doch noch das Land? Und das alte Projekt –? In Paris werde ich schon das Studium der Naturwissenschaft fortsetzen müssen, und so werde ich wohl am Ende noch wieder in das alte Gleis kommen, vielleicht auch nicht, wer kann es wissen – Ich bin an lauter Pariser Gelehrten adressiert, und die lassen einen nicht fort, ohne daß man etwas von ihnen lernt. Lebe wohl, grüße die goldne Schwester, Carln, und alle die es gern hören, daß ich mich ihrer erinnere.
Heinrich Kleist.
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A Mademoiselle Mademoiselle Wilhelmine de Zenge à Frankfort sur l'Oder, franc.
Straßburg, den 28. Juni 1801
Liebe Wilhelmine, ich habe wieder in Mannheim und in Straßburg vergebens nach Briefen von Dir gefragt, und weiß nun seit 5 Wochen nicht wie Du Dich befindest, wie Du lebst, was Du tust, nichts, als daß Du mich liebst. Diese Nachricht bleibt treuen Liebenden nie aus, und ich hoffe, Du wirst sie auch von mir empfangen haben. Täglich habe ich mit der alten Innigkeit an Dich gedacht, und jede einsame Stunde benutzt, meine Wünsche im Traume zu erfüllen – Im Traume – denn in der Wirklichkeit – – Ach Wilhelmine, wird es nicht einst einen Augenblick geben, wo wir uns in die Arme drücken und rufen werden: endlich – endlich sind wir glücklich –? –
– Ich muß von andern Dingen reden. – Ich wollte Dir heute von Straßburg aus einen recht langen Brief schreiben, wozu ich auch so ziemlich gestimmt war. Aber höre, auf welche Art Du um diesen langen Brief gekommen bist. Man hat uns hier so viel von den Friedensfesten die am 14. Juli in Paris gefeiert werden sollen vorerzählt, daß wir uns entschlossen haben, die Schweiz im Stiche zu lassen, und direkt nach Paris zu gehen. Nun aber dürfen wir keinen Tag verlieren, um zur rechten Zeit hinzukommen. Wir reisen also in einer Stunde schon ab, und ich nutze diese Frist bloß, um Dir im kurzen einige Nachricht von mir zu geben. Sobald in Paris das Friedensfest vorbei ist, schreibe ich Dir gleich, und zwar einen langen Brief – Ach, Wilhelmine, von der einen Seite ist es mir lieb, endlich einmal wieder ein wenig zur Ruhe zu kommen, von der andern ist es mir, als ob sich mein Herz vor der Stadt, die ich betreten soll, sträubte – Noch habe ich von den Franzosen nichts, als ihre Greuel und ihre Laster kennen gelernt – Und die Toren werden denken, man komme nach Paris, um ihre Sitten abzulernen! Als ich in Halberstadt bei Gleim war, trauerte er, daß ich nach Frankreich ginge. Auf meine Frage: warum? antwortete er: weil ich ein Franzose werden würde. Ich versprach ihm aber, als ein Deutscher zurück zu kehren. – Doch ich muß eilen, der Koffer ist eingepackt. Schreibe mir sogleich nach Paris: A Mon. de Kleist, ci-devant lieut. au reg. des gardes prussiennes, poste-restante, recht viel von Dir, aber auch etwas von den Freunden. Du bist die einzige, von der ich Briefe empfange aus meinem Vaterlande. Adieu, Dein treuer Heinrich.
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Paris, den 18. Juli 1801
Liebe Freundin. Entsinnen Sie sich wohl noch eines armen kleinen Menschen, der vor einigen Monaten an einem etwas stürmischen Tage, als die See ein wenig hoch ging, mit dem Schiffchen seines Lebens in Dresden einlief, und Anker warf in diesem lieben Örtchen, weil der Boden ihm so wohl gefiel, und die Lüfte da so warm wehten, und die Menschen so freundlich waren? Entsinnen Sie sich des Jünglings wohl noch, der zuweilen an kühlen Abenden unter den dunkeln Linden des Schloßgartens, frohe Worte wechselnd, an Ihrer Seite ging, oder schweigend neben Ihnen stand auf der hohen Elbbrücke, wenn die Sonne hinter den blauen Bergen unterging? Entsinnen Sie sich dessen wohl noch, der Sie zuweilen durch den Olymp der Griechen voll Göttern und Heroen führte, und oft mit Ihnen vor der Mutter Gottes stand, vor jener hohen Gestalt, mit der stillen Größe, mit dem hohen Ernste, mit der Engelreinheit? Der Ihnen einst, am Abhange der Terrasse an jenem schönen Morgen die Halme hielt, aus welchen Sie den Glückskranz flochten, der Ihre Wünsche erfüllen soll? Dem Sie ein wenig von Ihrem Wohlwollen schenkten und Ihr Andenken für immer versprachen; Blättern Sie in Ihrem Stammbuch nach – und wenn Sie ein Wort finden, das warm ist, wie ein Herz, und einen Namen, der hold klingt, wie ein Dichternamen, so können Sie nicht fehlen; denn kurz, es ist Heinrich Kleist.
Ja, liebe Freundin, aus einem fernen fremden Lande fliegt der Geist eines Freundes zu Ihnen zurück, und versetzt sich in das holde, freundliche Tal von Dresden, das mehr seine Heimat ist, als das stolze, ungezügelte, ungeheure Paris. Da fand er Wohlwollen bei guten Menschen, und es ist nichts, was ihn inniger rühren, nichts was ihn tiefer bewegen kann, als dieses. O möchte das Gefühl, es mir geschenkt zu haben, Sie nur halb so glücklich machen, als mich, es von Ihnen empfangen zu haben. Von Ihnen denn ach, es bricht durch die kalte Kruste der Konvenienz, die von Jugend auf unsre Herzen überzieht, so selten, besonders bei den Weibern so selten, ein warmes Gefühl hervor – Sie dürfen nur immer so viel fühlen, als der Hof erlaubt, und keinen Menschen mehr lieben, als die französischen Gouvernanten vorschreiben. Und doch – den Mann erkennt man an seinem Verstande; aber wenn man das Weib nicht an ihrem Herzen erkennt, woran erkennt man es sonst? Ja, es gibt eine gewisse himmlische Güte, womit die Natur das Weib bezeichnet hat, und die ihm allein eigen ist, alles, was sich ihr mit einem Herzen nähert, an sich zu schließen mit Innigkeit und Liebe: so wie die Sonne, die wir darum auch Königin, nicht König nennen, alle Weltkörper, die in ihrem Wirkungsraum schweben, an sich zieht mit sanften unsichtbaren Banden, und in frohen Kreisen um sich führt, Licht und Wärme und Leben ihnen gebend, bis sie am Ende ihrer spiralförmigen Bahn an ihrem glühenden Busen liegen –
Das ist die Einrichtung der Natur, und nur ein Tor oder ein Bösewicht kann es wagen, daran etwas verändern zu wollen. Die Tugend hat ihren eignen Wohlstand, und wo die Sittlichkeit im Herzen herrscht, da bedarf man ihres Zeichens nicht mehr. Wozu wollte man das Gold vergolden? Lassen Sie sich also nicht irren, was auch der Herold der Etikette dagegen einwendet. Das ist die Weisheit des Staubes; was Ihnen Ihr Herz sagt, ist Goldklang, und der spricht es selbst aus, daß er echt sei. Alle diese Vorschriften für Mienen und Gebärden und Worten und Handlungen, sie sind nicht für den, dem ein Gott in seinem Innern heimlich anvertraut, was recht ist. Sie sind nur Zeichen der Sittlichkeit, die oft nicht vorhanden ist, und mancher hüllt sein Herz nur darum in diesen klösterlichen Schleier, die Blößen zu verstecken, die es sonst verraten würden. Ihr Herz aber, liebe Freundin, hat keine – warum wollten Sie es nicht zeigen? Ach, es ist so menschlich zu fühlen und zu lieben – O folgen Sie immer diesem schönsten der Triebe; aber lieben Sie dann auch mit edlerer Liebe, alles was edel und gut ist und schön.
Ob Sie dabei glücklich sein werden – Ach, liebe Freundin, wer ist glücklich? –? Der kalte Mensch, dem nie ein Gefühl die Brust erwärmte, der nie empfand, wie süß eine Träne, wie süß ein Händedruck ist, der stumpf bei dem Schmerze, stumpf bei der Freude ist, er ist nicht glücklich; aber das warme, weiche Herz, das unaufhörlich sich sehnt, immer wünscht und hofft, und niemals genießen kann, das etwas ahndet, was es nirgends findet, das von jedem Eindrucke bewegt wird, jedem Gefühle sich hingibt, mit seiner Liebe alle Wesen umfaßt, an alles sich knüpft, wo es mit Wohlwollen empfangen wird, sei es die Brust eines Freundes, die ihm Trost, oder der Schatten eines Baumes, der ihm Kühlung gab – – ist es glücklich –?
Ich habe auf meiner Reise so viele guten lieben Menschen gefunden, in Leipzig einen Mann (Hindenburg), der mir wie ein Vater so ehrwürdig war, in Halberstadt Gleim, der ein Freund von allen ist, die Kleist heißen, in Wernigerode eine treffliche Familie (die Stolbergsche), in Rödelheim bei Frankfurt am Main einen Menschen, den ich fast den besten nennen möchte, in Straßburg eine Frau, die ein fast so weiches fühlbares Herz hat, wie Henriette, – – Aber zu schnell wechseln die Erscheinungen im Leben und zu eng ist das Herz, sie alle zu umfassen, und immer die vergangnen schwinden, Platz zu machen den neuen – Zuletzt ekelt dem Herzen vor den neuen, und matt gibt es sich Eindrücken hin, deren Vergänglichkeit es vorempfindet – Ach, es muß öde und leer und traurig sein, später zu sterben, als das Herz –
Aber noch lebt es – Zwar hier in Paris ist es so gut, als tot. Wenn ich das Fenster öffne, so sehe ich nichts, als die blasse, matte, fade Stadt, mit ihren hohen, grauen Schieferdächern und ihren ungestalteten Schornsteinen, ein wenig von den Spitzen der Tuilerieen, und lauter Menschen, die man vergißt, wenn sie um die Ecke sind. Noch kenne ich wenige von ihnen, ich liebe noch keinen, und weiß nicht, ob ich einen lieben werde. Denn in den Hauptstädten sind die Menschen zu gewitzigt, um offen, zu zierlich, um wahr zu sein. Schauspieler sind sie, die einander wechselseitig betrügen, und dabei tun, als ob sie es nicht merkten. Man geht kalt an einander vorüber; man windet sich in den Straßen durch einen Haufen von Menschen, denen nichts gleichgültiger ist, als ihresgleichen; ehe man eine Erscheinung gefaßt hat, ist sie von zehn andern verdrängt; dabei knüpft man sich an keinen, keiner knüpft sich an uns; man grüßt einander höflich, aber das Herz ist hier so unbrauchbar, wie eine Lunge unter der luftleeren Campane, und wenn ihm einmal ein Gefühl entschlüpft, so verhallt es, wie ein Flötenton im Orkan. Darum schließe ich zuweilen die Augen und denke an Dresden – Ach, ich zähle diesen Aufenthalt zu den frohsten Stunden meines Lebens. Die schöne, große, edle erhabene Natur, die Schätze von Kunstwerken, die Frühlingssonne, und so viel Wohlwollen – Was macht Ihre würdige Frau Mutter? Und ihre Tante? Und Einsiedels? Und Ihre liebe Schwester? Wenn ein fremder Maler eine Deutsche malen wollte, und fragte mich nach der Gestalt, nach den Zügen, nach der Farbe der Augen, der Wangen, der Haare, so würde ich ihn zu Ihrer Schwester führen und sagen, das ist ein echtes deutsches Mädchen. Was macht auch mein liebes Dresden? Ich sehe es noch vor mir liegen in der Tiefe der Berge, wie der Schauplatz in der Mitte eines Amphitheaters – ich sehe die Elbhöhen, die in einiger Entfernung, als ob sie aus Ehrfurcht nicht näher zu rücken wagten, gelagert sind, und gleichsam von Bewunderung angewurzelt scheinen – und die Felsen im Hintergrunde von Königstein, die wie ein bewegtes Meer von Erde aussehen, und in den schönsten Linien geformt sind, als hätten da die Engel im Sande gespielt – und die Elbe, die schnell ihr rechtes Ufer verläßt, ihren Liebling Dresden zu küssen, die bald zu dem einen, bald zu dem andern Ufer flieht, als würde ihr die Wahl schwer, und in tausend Umwegen, wie vor Entzücken, durch die freundlichen Fluren wankt, als wollte sie nicht ins Meer – und Lokowitz, das versteckt hinter den Bergen liegt, als ob es sich schämte – und die Weißritz, die sich aus den Tiefen des Plauenschen Grundes losringt, wie ein verstohlnes Gefühl aus der Tiefe der Brust, die, immer an Felsen wie an Vorurteilen sich stoßend, nicht zornig, aber doch ein wenig unwillig murmelt, sich unermüdet durch alle Hindernisse windet, bis sie an die Freiheit des Tages tritt und sich ausbreitet in dem offnen Felde und frei und ruhig ihrer Bestimmung gemäß ins Meer fließt –
Einige große Naturszenen, die freilich wohl mit der dresdenschen wetteifern dürfen, habe ich doch auch auf meiner Reise kennen gelernt. Ich habe den Harz bereiset und den Brocken bestiegen. Zwar war an diesem Tage die Sonne in Regenwolken gehüllt, und wenn die Könige trauren, so trauert das Land. Über das ganze Gebirge war ein Nebelflor geschlagen und wir standen vor der Natur, wie vor einem Meisterstücke, das der Künstler aus Bescheidenheit mit einem Schleier verhüllt hat. Aber zuweilen ließ er uns durch die zerrißnen Wolken einen Blick des Entzückens tun, denn er fiel auf ein Paradies –
Doch der schönste Landstrich von Deutschland, an welchem unser großer Gärtner sichtbar con amore gearbeitet hat, sind die Ufer des Rheins von Mainz bis Koblenz, die wir auf dem Strome selbst bereiset haben. Das ist eine Gegend wie ein Dichtertraum, und die üppigste Phantasie kann nichts Schöneres erdenken, als dieses Tal, das sich bald öffnet, bald schließt, bald blüht, bald öde ist, bald lacht, bald schreckt. Pfeilschnell strömt der Rhein heran von Mainz und gradaus, als hätte er sein Ziel schon im Auge, als sollte ihn nichts abhalten, es zu erreichen, als wollte er es ungeduldig auf dem kürzesten Wege ereilen. Aber ein Rebenhügel (der Rheingau) tritt ihm in den Weg und beugt seinen stürmischen Lauf, sanft aber mit festem Sinn, wie eine Gattin den stürmischen Willen ihres Mannes, und zeigt ihm mit stiller Standhaftigkeit den Weg, der ihn ins Meer führen wird – – und er ehrt die edle Warnung und gibt, der freundlichen Weisung folgend, sein voreiliges Ziel auf, und durchbricht den Rebenhügel nicht, sondern umgeht ihn, mit beruhigtem Laufe dankbar seine blumigen Füße ihm küssend –
Aber still und breit und majestätisch strömt er bei Bingen heran, und sicher, wie ein Held zum Siege, und langsam, als ob er seine Bahn wohl vollenden würde – und ein Gebirge (der Hundsrück) wirft sich ihm in den Weg, wie die Verleumdung der unbescholtenen Tugend. Er aber durchbricht es, und wankt nicht, und die Felsen weichen ihm aus, und blicken mit Bewunderung und Erstaunen auf ihn hinab – doch er eilt verächtlich bei ihnen vorüber, aber ohne zu frohlocken, und die einzige Rache, die er sich erlaubt, ist diese, ihnen in seinem klaren Spiegel ihr schwarzes Bild zu zeigen –
Ich wäre auf dieser einsamen Reise, die ich mit meiner Schwester machte, sehr glücklich gewesen, wenn, – wenn – – Ach, liebe Freundin, Ulrike ist ein edles, weises, vortreffliches, großmütiges Mädchen, und ich müßte von allem diesen nichts sein, wenn ich das nicht fühlen wollte. Aber – so viel sie auch besitzen, so viel sie auch geben kann, an ihrem Busen läßt sich doch nicht ruhen – Sie ist eine weibliche Heldenseele, die von ihrem Geschlechte nichts hat, als die Hüften, ein Mädchen, das orthographisch schreibt und handelt, nach dem Takte spielt und denkt – – Doch still davon. Auch der leiseste Tadel ist zu bitter für ein Wesen, das keinen Fehler hat, als diesen, zu groß zu sein für ihr Geschlecht.
Seit 8 Tagen sind wir nun hier in Paris, und wenn ich Ihnen alles schreiben wollte, was ich in diesen Tagen sah und hörte und dachte und empfand, so würde das Papier nicht hinreichen, das auf meinem Tische liegt. Ich habe dem 14. Juli, dem Jahrestage der Zerstörung der Bastille beigewohnt, an welchem zugleich das Fest der wiedererrungenen Freiheit und das Friedensfest gefeiert ward. Wie solche Tage würdig begangen werden könnten, weiß ich nicht bestimmt; doch dies weiß ich, daß sie fast nicht unwürdiger begangen werden können, als dieser. Nicht als ob es an Obelisken und Triumphbogen und Dekorationen, und Illuminationen, und Feuerwerken und Luftbällen und Kanonaden gefehlt hätte, o behüte. Aber keine von allen Anstalten erinnerte an die Hauptgedanken, die Absicht, den Geist des Volks durch eine bis zum Ekel gehäufte Menge von Vergnügen zu zerstreuen, war überall herrschend, und wenn die Regierung einem Manne von Ehre hätte zumuten wollen, durch die mâts de cocagne, und die jeux de caroussels, und die theatres forains und die escamoteurs, und die danseurs de corde mit Heiligkeit an die Göttergaben Freiheit und Frieden erinnert zu werden, so wäre dies beleidigender, als ein Faustschlag in sein Antlitz. – Rousseau ist immer das 4. Wort der Franzosen; und wie würde er sich schämen, wenn man ihm sagte, daß dies sein Werk sei? –
Doch ich muß schließen – Diesen Brief nimmt Alexander von Humboldt, der morgen früh mit seiner Familie von Paris abreiset, mit sich bis Weimar; und jetzt ist es 9 Uhr abends. – Von mir kann ich Ihnen nur so viel sagen, daß ich wenigstens ein Jahr hier bleiben werde, das Studium der Naturwissenschaft auf dieser Schule der Welt fortzusetzen. Wohin ich dann mich wenden werde, und ob der Wind des Schicksals noch einmal mein Lebensschiff nach Dresden treiben wird? – Ach, ich zweifle daran. Es ist wahrscheinlich, daß ich nie in mein Vaterland zurückkehre. In welchem Weltteile ich einst das Pflänzchen des Glückes pflücken werde, und ob es überhaupt irgendwo für mich blüht –? Ach, dunkel, dunkel ist das alles. – Ich hoffe auf etwas Gutes, doch bin ich auf das Schlimmste gefaßt. Freude gibt es ja doch auf jedem Lebenswege, selbst das Bitterste ist doch auf kurze Augenblicke süß. Wenn nur der Grund recht dunkel ist, so sind auch matte Farben hell. Der helle Sonnenschein des Glücks, der uns verblendet, ist auch nicht einmal für unser schwaches Auge gemacht. Am Tage sehn wir wohl die schöne Erde, doch wenn es Nacht ist, sehn wir in die Sterne – –
Und soll ich diesen Brief schließen, ohne Sie mit meiner ganzen Seele zu begrüßen? O möchte Ihnen der Himmel nur ein wenig von dem Glücke schenken, von dem Sie so viel, so viel verdienen. Auf die Erfüllung Ihrer liebsten Wünsche zu hoffen, zu hoffen –? Ja, immerhin. Aber sie zu erwarten –? Ach, liebe Freundin, wenn Sie sich Tränen ersparen wollen, so erwarten Sie wenig von dieser Erde. Sie kann nichts geben, was ein reines Herz wahrhaft glücklich machen könnte. Blicken Sie zuweilen, wenn es Nacht ist, in den Himmel. Wenn Sie auf diesem Sterne keinen Platz finden können, der Ihrer würdig ist, so finden Sie vielleicht auf einem andern einen um so bessern.
Und nun leben Sie wohl – der Himmel schenke Ihnen einen heitern, frischen Morgen, – einen Regenschauer in der Mittagshitze, – und einen stillen, kühlen sternenklaren Abend, an welchem sich leicht und sanft einschlafen läßt.
Heinrich Kleist.
N. S. Ich habe vergessen, Sie um eine Antwort zu bitten; war diese Bitte nötig, oder würden Sie von selbst meinem Wunsche zuvorgekommen sein? – Noch eines. Ich wollte auch Einsiedeln mit dieser Gelegenheit schreiben, aber ich weiß seinen Wohnort nicht, auch ist es jetzt wegen Mangel an Zeit nicht mehr möglich. Er hat mir so viele Gefälligkeiten erzeigt, und ich fühle, daß ich ihm Dank schuldig bin. Wollen Sie es wohl übernehmen, ihm dies einmal gelegentlich mitzuteilen? Es wird ihn sehr interessieren, zu wissen, wie wir mit unsern Pferden, die er uns gekauft hat, zufrieden gewesen sind. Schreiben Sie ihm, daß es keine gesündern, dienstfertigern und fleißigern Tiere gab, als diese zwei Pferde. Wir haben sie unaufhörlich gebraucht, sie haben uns nie im Stiche gelassen, und wenn wir 14 Stunden an einem Tage gemacht hatten, so brauchten wir sie nur vollauf mit Haber zu füttern und ein wenig schmeichelnd hinter den Ohren zu kitzeln, so zogen sie uns am folgenden Tage noch 2 Stunden weiter. In 8 Tagen haben wir ohne auszuruhn von Straßburg bis Paris 120 Poststunden gemacht – Hier nun haben wir sie verkauft, und nie ist mir das Geld so verächtlich gewesen, als der Preis für diese Tiere, die wir gleichgültig der Peitsche des Philisters übergeben mußten, nachdem sie uns mit allen ihren Kräften gedient hatten. Übrigens war dieser Preis 13 französische Louisdor, circa 87 Rth., also nur 2 Taler Verlust. – Ein einziges Mal waren wir ein wenig böse auf sie, und das mit Recht, denke ich. Wir hatten ihnen nämlich in Butzbach, bei Frankfurt am Main, die Zügel abnehmen lassen vor einem Wirtshause, sie zu tränken und mit Heu zu futtern. Dabei war Ulrike so wie ich in dem Wagen sitzen geblieben, als mit einemmal ein Esel hinter uns ein so abscheuliches Geschrei erhob, daß wir wirklich grade so vernünftig sein mußten, wie wir sind, um dabei nicht scheu zu werden. Die armen Pferde aber, die das Unglück haben keine Vernunft zu besitzen, hoben sich hoch in die Höhe und gingen spornstreichs mit uns in vollem Karriere über das Steinpflaster der Stadt durch. Ich griff nach dem Zügel, aber die hingen ihnen, aufgelöset, über der Brust, und ehe ich Zeit hatte, an die Größe der Gefahr zu denken, schlug schon der Wagen mit uns um, und wir stürzten – Und an einem Eselsgeschrei hing ein Menschenleben? Und wenn es nun in dieser Minute geschlossen gewesen wäre, darum also hätte ich gelebt? Darum? Das hätte der Himmel mit diesem dunkeln, rätselhaften, irdischen Leben gewollt, und weiter nichts –? Doch für diesmal war es noch nicht geschlossen, – wofür er uns das Leben gefristet hat, wer kann es wissen? Kurz, wir standen beide ganz frisch und gesund von dem Steinpflaster auf und umarmten uns. Der Wagen lag ganz umgestürzt, daß die Räder zu oberst standen, ein Rad war ganz zerschmettert, die Deichsel zerbrochen, die Geschirre zerrissen, das alles kostete uns 3 Louisdor und 24 Stunden, am andern Morgen ging es weiter – Wann wird der letzte sein?
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Grüßen Sie alles, was mich ein wenig liebt, auch Ihren Bruder.
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Paris, den 21. Juli 1801
Mein liebes Minchen, recht mit herzlicher Liebe erinnere ich mich in diesem Augenblicke Deiner – O sage, bist Du mir wohl noch mit so vieler Innigkeit, mit so vielem Vertrauen ergeben, als sonst? Meine schnelle Abreise von Berlin, ohne Abschied von Dir zu nehmen, der seltsame Dir halbunverständliche Grund, meine kurzen, trüben, verwirrten und dabei sparsamen Briefe – o sage, hat Dir nicht zuweilen eine Ahndung von Mißtrauen ein wenig das Herz berührt? Ach, ich verzeihe es Dir, und bin in meiner innersten Seele froh durch das Bewußtsein, besser zu sein, als ich scheine. Ja, meine liebe Freundin, wenn mein Betragen Dich ein wenig beängstigt hat, so war doch nicht mein Herz, sondern bloß meine Lage schuld daran. Verwirrt durch die Sätze einer traurigen Philosophie, unfähig mich zu beschäftigen, unfähig, irgend etwas zu unternehmen, unfähig, mich um ein Amt zu bewerben, hatte ich Berlin verlassen, bloß weil ich mich vor der Ruhe fürchtete, in welcher ich Ruhe grade am wenigsten fand; und nun sehe ich mich auf einer Reise ins Ausland begriffen, ohne Ziel und Zweck, ohne begreifen zu können, wohin das mich führen würde – Mir war es zuweilen auf dieser Reise, als ob ich meinem Abgrunde entgegen ginge – Und nur das Gefühl, auch Dich mit mir hinabzuziehen, Dich, mein gutes, treues, unschuldiges Mädchen, Dich, die sich mir ganz hingegeben hat, weil sie ihr Glück von mir erwartet – Ach, Wilhelmine, ich habe oft mit mir gekämpft, – und warum soll ich nicht das Herz haben, Dir zu sagen, was ich mich nicht schäme, mir selbst zu gestehen? Ich habe oft mit mir gekämpft, ob es nicht meine Pflicht sei, Dich zu verlassen? Ob es nicht meine Pflicht sei, Dich von dem zu trennen, der sichtbar seinem Abgrunde entgegen eilt? – Doch höre, was ich mir antwortete. Wenn Du sie verlässest, sagte ich mir, wird sie dann wohl glücklicher sein? Ist sie nicht doch auch dann um die Bestimmung ihres Lebens betrogen? Wird sich ein andrer Mann um ein Mädchen bewerben, dessen Verbindung weltbekannt ist? Und wird sie einen andern Mann lieben können, wie mich –? Doch nicht Dein Glück allein, auch das meinige trat mir vor die Seele – ach, liebe Freundin, wer kann sich erwehren, ein wenig eigennützig zu sein? Soll ich mir denn, so fragte ich mich, die einzige Aussicht in der Zukunft zerstören, die mich noch ein wenig mit Lebenskraft erwärmt? Soll ich auch den einzigen Wunsch meiner Seele fahren lassen, den Wunsch, Dich mein Weib zu nennen? Soll ich denn ohne Ziel, ohne Wunsch, ohne Kraft, ohne Lebensreiz umherwandeln auf diesem Sterne, mit dem Bewußtsein, niemals ein Örtchen zu finden, wo das Glück für mich blüht – Ach, Wilhelmine, es war mir nicht möglich, allen Ansprüchen auf Freude zu entsagen, und wenn ich sie auch nur in der entferntesten Zukunft fände. Und dann – ist es denn auch so gewiß, daß ich meinem Abgrund entgegen eile? Wer kann die Wendungen des Schicksals erraten? Gibt es eine Nacht, die ewig dauert? So wie eine unbegreifliche Fügung mich schnell unglücklich machte, kann nicht eine ebenso unbegreifliche Fügung mich ebenso schnell glücklich machen? Und wenn auch das nicht wäre, wenn auch der Himmel kein Wunder täte, worauf man in unsern Tagen nicht eben sehr hoffen darf, habe ich denn nicht auch Hülfsmittel in mir selbst? Habe ich nicht Talent, und Herz und Geist, und ist meine gesunkene Kraft denn für immer gesunken? Ist diese Schwäche mehr als eine vorübergehende Krankheit, auf welcher Gesundheit und Stärke folgen? Kann ich denn nicht arbeiten? Schäme ich mich der Arbeit? Bin ich stolz, eitel, voll Vorurteile? Ist mir nicht jede ehrliche Arbeit willkommen, und will ich einen größern Preis, als Freiheit, ein eignes Haus und Dich?
Küsse mein Bild, Wilhelmine, so wie ich soeben das Deinige geküßt habe – Doch höre. Eines muß ich Dir noch sagen, ich bin es Dir schuldig. Es ist gewiß, daß früh oder spät, aber doch gewiß einmal ein heitrer Morgen für mich anbricht. Ich verdiene nicht unglücklich zu sein, und werde es nicht immer bleiben. Aber – es kann ein Weilchen dauern, und dazu gehört Treue. Auch werde ich die Blüte des Glückes pflücken müssen, wo ich sie finde, überall, gleichviel in welchem Lande, und dazu gehört Liebe – Was sagst Du dazu? Frage Dein Herz. Täusche mich nicht, so wie ich fest beschlossen habe, Dich niemals zu täuschen.
Jetzt muß ich Dir doch auch etwas von meiner Reise schreiben. – Weißt Du wohl, daß Dein Freund einmal dem Tode recht nahe war? Erschrick nicht, bloß nahe, und noch steht er mit allen seinen Füßen im Leben. Am folgenden Tage, nachdem ich meinen Brief an Dich in Göttingen auf die Post gegeben hatte, reiseten wir von dieser Stadt ab nach Frankfurt am Main. Fünf Meilen vor diesem Orte, in Butzbach, einem kleinen Städtchen, hielten wir an einem Morgen vor einem Wirtshause an, den Pferden Heu vorzulegen, wobei Johann ihnen die Zügel abnahm und wir beide sorglos sitzen blieben. Während Johann in dem Hause war, kommt ein Zug von Steineseln hinter uns her, und einer von ihnen erhebt ein so gräßliches Geschrei, daß wir selbst, wenn wir nicht so vernünftig wären, scheu geworden wären. Unsere Pferde aber, die das Unglück haben, keine Vernunft zu besitzen, hoben sich kerzengrade in die Höhe, und gingen dann spornstreichs mit uns über dem Steinpflaster durch. Ich griff nach der Leine – aber die Zügel lagen den Pferden, aufgelöset, über der Brust, und ehe wir Zeit hatten, an die Größe der Gefahr zu denken, schlug unser leichter Wagen schon um, und wir stürzten – Also an ein Eselsgeschrei hing ein Menschenleben? Und wenn es geschlossen gewesen wäre, darum hätte ich gelebt? Das wäre die Absicht des Schöpfers gewesen bei diesem dunkeln, rätselhaften irdischen Leben? Das hätte ich darin lernen und tun sollen, und weiter nichts –? Doch, noch war es nicht geschlossen. Wozu der Himmel es mir gefristet hat, wer kann es wissen? – Kurz, wir standen beide, frisch und gesund von dem Steinpflaster auf, und umarmten uns. Der Wagen lag ganz umgestürzt, die Räder zu oberst, ein Rad war ganz zertrümmert, die Deichsel zerbrochen, die Geschirre zerrissen. Das kostete uns 3 Louisdor und 24 Stunden; dann ging es weiter – wohin? Gott weiß es.
Von Mainz aus machten wir eine Rheinreise nach Bonn. – Ach, Wilhelmine, das ist eine Gegend, wie ein Dichtertraum, und die üppigste Phantasie kann nichts Schöneres erdenken, als dieses Tal, das sich bald öffnet, bald schließt, bald blüht, bald öde ist, bald lacht, bald schreckt. Am ersten Tag, bis Koblenz, hatten wir gutes Wetter. Am zweiten, wo wir bis Köln fahren wollten, erhob sich schon bei der Abfahrt ein so starker Sturm, in widriger Richtung, daß die Schiffer mit dem großen Postschiff, das ganz bedeckt ist, nicht weiter fahren wollten, und in einem trierischen Dorfe am Ufer landeten. Da blieben wir von 10 Uhr morgens den ganzen übrigen Tag, immer hoffend, daß sich der Sturm legen würde. Endlich um 11 Uhr in der Nacht schien es ein wenig ruhiger zu werden, und wir schifften uns mit der ganzen Gesellschaft wieder ein.
Aber kaum waren wir auf der Mitte des Rheins, als wieder ein so unerhörter Sturm losbrach, daß die Schiffer das Fahrzeug gar nicht mehr regieren konnten. Die Wellen, die auf diesem breiten, mächtigen Strome, nicht so unbedeutend sind, als die Wellen der Oder, ergriffen das Schiff an seiner Fläche, und schleuderten es so gewaltig, daß es durch sein höchst gefährliches Schwanken, die ganze Gesellschaft in Schrecken setzte. Ein jeder klammerte sich alle andern vergessend an einen Balken an, ich selbst, mich zu halten – Ach, es ist nichts ekelhafter, als diese Furcht vor dem Tode. Das Leben ist das einzige Eigentum, das nur dann etwas wert ist, wenn wir es nicht achten. Verächtlich ist es, wenn wir es nicht leicht fallen lassen können, und nur der kann es zu großen Zwecken nutzen, der es leicht und freudig wegwerfen könnte. Wer es mit Sorgfalt liebt, moralisch tot ist er schon, denn seine höchste Lebenskraft, nämlich es opfern zu können, modert, indessen er es pflegt. Und doch – o wie unbegreiflich ist der Wille, der über uns waltet! – Dieses rätselhafte Ding, das wir besitzen, wir wissen nicht von wem, das uns fortführt, wir wissen nicht wohin, das unser Eigentum ist, wir wissen nicht, ob wir darüber schalten dürfen, eine Habe, die nichts wert ist, wenn sie uns etwas wert ist, ein Ding, wie ein Widerspruch, flach und tief, öde und reich, würdig und verächtlich, vieldeutig und unergründlich, ein Ding, das jeder wegwerfen möchte, wie ein unverständliches Buch, sind wir nicht durch ein Naturgesetz gezwungen es zu lieben? Wir müssen vor der Vernichtung beben, die doch nicht so qualvoll sein kann, als oft das Dasein, und indessen mancher das traurige Geschenk des Lebens beweint, muß er es durch Essen und Trinken ernähren und die Flamme vor dem Erlöschen hüten, die ihn weder erleuchtet, noch erwärmt.
Das klang ja wohl recht finster? Geduld – Es wird nicht immer so sein, und ich sehne mich nach einem Tage, wie der Hirsch in der Mittagshitze nach dem Strome, sich hineinzustürzen – Aber Geduld! – Geduld –? Kann der Himmel die von seinen Menschen verlangen, da er ihnen selbst ein Herz voll Sehnsucht gab? Zerstreuung! Zerstreuung! – O wenn mir die Wahrheit des Forschens noch so würdig schiene, wie sonst, da wäre Beschäftigung hier in diesem Orte vollauf – Gott gebe mir nur Kraft! Ich will es versuchen. Ich habe hier schon durch Humboldt und Lucchesini einige Bekanntschaften französischer Gelehrter gemacht, auch schon einige Vorlesungen besucht – Ach, Wilhelmine, die Menschen sprechen mir von Alkalien und Säuren, indessen mir ein allgewaltiges Bedürfnis die Lippe trocknet – Lebe wohl, wohl, schreibe mir bald, zum Troste.
Dein H. K.
(künftig etwas von Paris)
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Paris, den 28. (und 29.) Juli 1801
Gnädigste Frau,
Erkennen Sie an diesen Zügen wohl noch die Schrift eines Jünglings, die seit sechs Jahren nicht mehr vor Ihren Augen erschien? Können Sie aus ihrer Form wohl noch, wie sonst, den Namen des Schriftstellers erraten, und regt sich dabei in Ihrer Seele wohl noch ein wenig von dem Wohlwollen, von dem sie ihm einst so viel schenkten? Oder ist diese Hand Ihnen unbekannt geworden? Hat sie sich mit dem Herzen verändert? Ist sie alt geworden mit ihm, und muß sie sein Schicksal teilen, weniger Teilnahme zu finden, als in der Blütenzeit der Jugend? – Ach, was ist das Leben eines Menschen für ein farbenwechselndes Ding! Sechs Jahre! Wie viele Gedanken, wie viele Gefühle, wie viele Wünsche, wie viele Hoffnungen, wie viele Täuschungen, wieviele Freuden, wie viele Leiden schließen sechs Jünglingsjahre ein! Wie der Felsen, dessen drohender Gipfel, wenn wir unter seinen Füßen stehen, Erstaunen und Verwunderung in unsrer Seele erregt, nach und nach, wenn wir uns von ihm entfernen, immer kleiner und kleiner wird, und endlich zu einem dämmernden Pünktchen schwindet, das wir mühsam suchen müssen, um es zu finden, so werden auch die großen Momente der Vergangenheit immer kleiner und kleiner – Selbst Gefühle an deren Ewigkeit wir nicht zweifelten, schwinden ganz aus dem Gedächtnis. Es war eine Zeit, wo ich nicht glaubte, daß diese Seele jemals einen andern Gedanken bearbeiten würde, als einen einzigen, jemals ein anderes Gefühl lieb gewinnen könnte, als ein einziges; und jetzt muß eine Zeitung mir in die Hände fallen, oder ein Komet über die Erde ziehen, um mich seiner zu erinnern –? Ach, die Liebe entwöhnt uns von ihren Freuden, wie die Mutter das Kind von der Milch, indem sie sich Wermut auf die Brust legt – Und doch ist die Erinnerung selbst an das Bitterste noch süß. Ja, es ist kein Unglück, das Glück verloren zu haben, das erst ist ein Unglück, sich seiner nicht mehr zu erinnern. So lange wir noch die Trümmern der Vergangenheit besuchen können, so lange hat das Leben auch immer noch eine Farbe. Aber wenn ein unruhiges Schicksal uns zerstreut, wenn die rohen Bedürfnisse des Daseins die leiseren übertäuben, wenn die Notwendigkeit uns zu denken, zu streben, zu handeln zwingt, wenn neue Gedanken sich zeigen und wieder verschwinden, neue Wünsche sich regen und wieder sinken, neue Bande sich knüpfen, und wieder zerreißen, wenn wir dann zuweilen, flüchtig, mit ermatteter Seele, die geliebten Ruinen besteigen, das Blümchen der Erinnerung zu pflücken, und dann auch hier alles leer und öde finden, die schönsten Blöcke in Staub und Asche gesunken, die letzten Säulen dem Sturze nah, bis zuletzt das ganze Monument matt und flach ist, wie die Ebene, die es trägt, dann erst verwelkt das Leben, dann bleicht es aus, dann verliert es alle seine bunten Farben – Wie viele Freuden habe ich auf dieser Reise genossen, wie viel Schönes gesehen, wie viele Freunde gefunden, wie viele großen Augenblicke durchlebt – Aber zu schnell wechseln die Erscheinungen im Leben, zu eng ist das Herz sie alle zu umfassen, und immer die vergangnen schwinden, Platz zu machen den neuen – Zuletzt ekelt dem Herzen vor den neuen, und matt gibt es sich Eindrücken hin, deren Vergänglichkeit es vorempfindet – Ach, es muß leer und öde und traurig sein, später zu sterben, als das Herz –
Mit welchen Empfindungen ich Mainz wiedererblickte, das ich schon als Knabe einmal sah – wie ließe sich das beschreiben? Das war damals die üppigste Sekunde in der Minute meines Lebens! Sechzehn Jahre, der Frühling, die Rheinhöhen, der erste Freund, den ich soeben gefunden hatte, und ein Lehrer wie Wieland, dessen »Sympathien« ich damals las – War die Anlage nicht günstig, einen großen Eindruck tief zu begründen?
Warum ist die Jugend die üppigste Zeit des Lebens? Weil kein Ziel so hoch und so fern ist, das sie sich nicht einst zu erreichen getraute. Vor ihr liegt eine Unendlichkeit – Noch ist nichts bestimmt, und alles möglich – Noch spielt die Hand, mutwillig zögernd, mit den Losen in der Urne des Schicksals, welche auch das große enthält – warum sollte sie es nicht fassen können? Sie säumt und säumt, indem schon die bloße Möglichkeit fast ebenso wollüstig ist, wie die Wirklichkeit – Indessen spielt ihr das Schicksal einen Zettel unter die Finger – es ist nicht das große Los, es ist keine Niete, es ist ein Los, wie es Tausende schon getroffen hat, und Millionen noch treffen wird.
Damals entwickelten sich meine ersten Gedanken und Gefühle. In meinem Innern sah es so poetisch aus, wie in der Natur, die mich umgab. Mein Herz schmolz unter so vielen begeisternden Eindrücken, mein Geist flatterte wollüstig, wie ein Schmetterling über honigduftende Blumen, mein ganzes Wesen ward fortgeführt von einer unsichtbaren Gewalt, wie eine Fürsichblüte von der Morgenluft – Mir wars, als ob ich vorher ein totes Instrument gewesen wäre, und nun, plötzlich mit dem Sinn des Gehörs beschenkt, entzückt würde über die eignen Harmonieen. –
Wir standen damals in Bieberich in Kantonierungsquartieren. Vor mir blühte der Lustgarten der Natur – eine konkave Wölbung, wie von der Hand der Gottheit eingedrückt. Durch ihre Mitte fließt der Rhein, zwei Paradiese aus einem zu machen. In der Tiefe liegt Mainz, wie der Schauplatz in der Mitte eines Amphitheaters. Der Krieg war aus dieser Gegend geflohen, der Friede spielte sein allegorisches Stück. Die Terrassen der umschließenden Berge dienten statt der Logen, Wesen aller Art blickten ah Zuschauer voll Freude herab, und sangen und sprachen Beifall – Oben in der Himmelsloge stand Gott. Hoch an dem Gewölbe des großen Schauspielhauses strahlte die Girandole der Frühlingssonne, die entzückende Vorstellung zu beleuchten. Holde Düfte stiegen, wie Dämpfe aus Opferschalen, aus den Kelchen der Blumen und Kräuter empor. Ein blauer Schleier, wie in Italien gewebt, umhüllte die Gegend, und es war, als ob der Himmel selbst hernieder gesunken wäre auf die Erde –
Ach, ich entsinne mich, daß ich in meiner Entzückung zuweilen, wenn ich die Augen schloß, besonders einmal, als ich an dem Rhein spazieren ging, und so zugleich die Wellen der Luft und des Stromes mich umtönten, eine ganze vollständige Sinfonie gehört habe, die Melodie und alle begleitenden Akkorde, von der zärtlichen Flöte bis zu dem rauschenden Kontra-Violon. Das klang mir wie eine Kirchenmusik, und ich glaube, daß alles, was uns die Dichter von der Sphärenmusik erzählen, nichts Reizenderes gewesen ist, als diese seltsame Träumerei.
Zuweilen stieg ich allein in einen Nachen und stieß mich bis auf die Mitte des Rheins. Dann legte ich mich nieder auf den Boden des Fahrzeugs, und vergaß, sanft von dem Strome hinabgeführt, die ganze Erde, und sah nichts, als den Himmel –
Wie diese Fahrt, so war mein ganzes damaliges Leben – Und jetzt! – Ach, das Leben des Menschen ist, wie jeder Strom, bei seinem Ursprunge am höchsten. Es fließt nur fort, indem es fällt – In das Meer müssen wir alle – Wir sinken und sinken, bis wir so niedrig stehen, wie die andern, und das Schicksal zwingt uns, so zu sein, wie die, die wir verachten –
Ich habe in der Gegend von Mainz jeden Ort besucht, der mir durch irgend eine Erinnerung heilig war, die Insel bei Bieberich, die ich mit Müllern, oft im größten Sturm, umschiffte – das Ufer zwischen Bieberich und Schierstein, an welchem Gleißenberg mich einmal mitten in der Nacht, als der Schiffer schelmisch aus unserm Kahn gesprungen war, hinanstieß – das Lager bei Marienborn, wo ich noch Spuren einer Höhle fand, die ich einmal mit Barßen, uns vor der Sonne zu schützen, in die Erde gegraben hatte –
Von Mainz aus fuhr ich mit Ulriken auf dem Rheine nach Koblenz – Ach, das ist eine Gegend, wie ein Dichtertraum, und die üppigste Phantasie kann nichts Schöneres erdenken, als dieses Tal, das sich bald öffnet, bald schließt, bald blüht, bald öde ist, bald lacht, bald schreckt. Pfeilschnell strömt der Rhein heran von Mainz, als hätte er sein Ziel schon im Auge, als sollte ihn nichts abhalten, es zu erreichen, als wollte er es, ungeduldig, auf dem kürzesten Wege ereilen. Aber ein Rebenhügel (der Rheingau) beugt seinen stürmischen Lauf, sanft aber mit festem Sinn, wie eine Gattin den stürmischen Willen ihres Mannes, und zeigt ihm mit stiller Standhaftigkeit den Weg, der ihn ins Meer führen wird – Und er ehrt die edle Warnung und gibt sein voreiliges Ziel auf, und durchbricht, der freundlichen Weisung folgend, den Rebenhügel nicht, sondern umgeht ihn, mit beruhigtem Laufe seine blumigen Füße ihm küssend –
Aber still und breit und majestätisch strömt er bei Bingen heran, und sicher, wie ein Held zum Siege, und langsam, als ob er seine Bahn doch wohl vollenden würde – Und ein Gebirge (der Hundsrück) wirft sich ihm in den Weg, wie die Verleumdung der unbescholtenen Tugend. Er aber durchbricht es, und wankt nicht, und die Felsen weichen ihm aus, und blicken mit Bewunderung und Erstaunen auf ihn hinab – doch er eilt verächtlich bei ihnen vorüber, aber ohne zu frohlocken, und die einzige Rache, die er sich erlaubt, ist diese, ihnen in seinem klaren Spiegel ihr schwarzes Bild zu zeigen –
Und hier in diesem Tale, wo der Geist des Friedens und der Liebe zu dem Menschen spricht, wo alles, was Schönes und Gutes in unsrer Seele schlummert, lebendig wird, und alles, was niedrig ist, schweigt, wo jeder Luftzug und jede Welle, freundlich-geschwätzig, unsere Leidenschaften beruhigt, und die ganze Natur gleichsam den Menschen einladet, vortrefflich zu sein – o war es möglich, daß dieses Tal ein Schauplatz werden konnte für den Krieg? Zerstörte Felder, zertretene Weinberge, ganze Dörfer in Asche, Festen, die unüberwindlich schienen, in den Rhein gestürzt – Ach, wenn ein einziger Mensch so viele Frevel auf seinem Gewissen tragen sollte, er müßte niedersinken, erdrückt von der Last – Aber eine ganze Nation errötet niemals. Sie dividiert die Schuld mit 30 000 000, da kömmt ein kleiner Teil auf jeden, den ein Franzose ohne Mühe trägt. – Gleim in Halberstadt nahm mir das Versprechen ab, als ein Deutscher zurückzukehren in mein Vaterland. Es wird mir nicht schwer werden, dieses Versprechen zu halten.
Ich wäre auf dieser Rheinreise sehr glücklich gewesen, wenn – wenn – – Ach, gnädigste Frau, es gibt nichts Großes in der Welt, wozu Ulrike nicht fähig wäre, ein edles, weises, großmütiges Mädchen, eine Heldenseele in einem Weiberkörper, und ich müßte von allem diesen nichts sein, wenn ich das nicht innig fühlen wollte. Aber – ein Mensch kann viel besitzen, vieles geben, es läßt sich doch nicht immer, wie Goethe sagt, an seinem Busen ruhen – Sie ist ein Mädchen, das orthographisch schreibt und handelt, nach dem Takte spielt und denkt, ein Wesen, das von dem Weibe nichts hat, als die Hüften, und nie hat sie gefühlt, wie süß ein Händedruck ist – Aber sie mißverstehen mich doch nicht –? O es gibt kein Wesen in der Welt, das ich so ehre, wie meine Schwester. Aber welchen Mißgriff hat die Natur begangen, als sie ein Wesen bildete, das weder Mann noch Weib ist, und gleichsam wie eine Amphibie zwischen zwei Gattungen schwankt? Auffallend ist in diesem Geschöpf der Widerstreit zwischen Wille und Kraft. Auf einer Fußreise in dem schlesischen Gebirge aß und trank sie nicht vor Ermüdung, ward bei dem Sonnenaufgang auf der Riesenkoppe ohnmächtig, und antwortete doch immer, so oft man sie fragte, sie befinde sich wohl. Vor Töplitz fuhren wir mit einem andern beladenen Wagen so zusammen, daß wir weder vor- noch rückwärts konnten, weil auf der andern Seite ein Zaun war. Der Zaun, rief sie, muß abgetragen werden – Es gab wirklich kein anderes Mittel, und der Vorschlag war eines Mannes würdig. Sie aber ging weiter, und legte, ihr Geschlecht vergessend, die schwache Hand an den Balken, der sich nicht rührte – Mitten in einer großen Gefahr auf einem See bei Fürstenwalde, wo die ganze Familie im Nachen dem Sturme ausgesetzt war, und alles weinte und schrie, und selbst die Männer die Besinnung verloren, sagte sie: kommen wir doch in die Zeitungen – Mit Kälte und Besonnenheit geht sie jeder Gefahr entgegen, erscheint aber unvermutet ein Hund oder ein Stier, so zittert sie an allen Gliedern – Wo ein anderer überlegt, da entschließt sie sich, und wo er spricht, da handelt sie. Als wir auf der Ostsee zwischen Rügen und dem festen Lande im Sturme auf einem Boote mit Pferden und Wagen dem Untergange nahe waren, und der Schiffer schnell das Steuer verließ, die Segel zu fällen, sprang sie an seinen Platz und hielt das Ruder – Unerschütterte Ruhe scheint ihr das glücklichste Los auf Erden. Von Bahrdten hörte sie einst, er habe den Tod seiner geliebten Tochter am Spieltische erfahren, ohne aufzustehen. Der Mann schien ihr beneidens- und nachahmungswürdig. – Wo ein andrer fühlt, da denkt sie, und wo er genießt, da will sie sich unterrichten. In Kassel spielte ein steinerner Satyr durch die Bewegung des Wassers die Flöte. Es war ein angenehmes Lied, ich schwieg und horchte. Sie fragte: wie geht das zu? – Einst sagte sie, sie könne nicht begreifen, wie üppige Gedichte, oder Malereien reizen könnten –? Doch still davon. Das klingt ja fast wie ein Tadel – und selbst der leiseste ist zu bitter für ein Wesen, das keinen andern Fehler hat, als diesen, zu groß zu sein für ihr Geschlecht.
den 29. Juli
Seit dem 3. bin ich nun (über Straßburg) in Paris. – Werde ich Ihnen nicht auch etwas von dieser Stadt schreiben müssen? Herzlich gern, wenn ich nur mehr zum Beobachten gemacht wäre. Aber – kehren uns nicht alle irdischen Gegenstände ihre Schattenseite zu, wenn wir in die Sonne sehen –? Wer die Welt in seinem Innern kennen lernen will, der darf nur flüchtig die Dinge außer ihm mustern. Ach, es ist meine angeborne Unart, nie den Augenblick ergreifen zu können, und immer an einem Orte zu leben, an welchem ich nicht bin, und in einer Zeit, die vorbei, oder noch nicht da ist. – Als ich in mein Vaterland war, war ich oft in Paris, und nun ich in Paris bin, bin ich fast immer in mein Vaterland. Zuweilen gehe ich, mit offnen Augen durch die Stadt, und sehe – viel Lächerliches, noch mehr Abscheuliches, und hin und wieder etwas Schönes. Ich gehe durch die langen, krummen, engen, mit Kot oder Staub überdeckten, von tausend widerlichen Gerüchen duftenden Straßen, an den schmalen, aber hohen Häusern entlang, die sechsfache Stockwerke tragen, gleichsam den Ort zu vervielfachen, ich winde mich durch einen Haufen von Menschen, welche schreien, laufen, keuchen, einander schieben, stoßen und umdrehen, ohne es übelzunehmen, ich sehe jemanden an, er sieht mich wieder an, ich frage ihn ein paar Worte, er antwortet mir höflich, ich werde warm, er ennuyiert sich, wir sind einander herzlich satt, er empfiehlt sich, ich verbeuge mich, und wir haben uns beide vergessen, sobald wir um die Ecke sind – Geschwind gehe ich nach dem Louvre und erwärme mich an dem Marmor, an dem Apoll vom Belvedere, an der mediceischen Venus, oder trete vor das herrliche niederländische Tableau, wo der Sauhiert den Ulysses ausschimpft – Auf dem Rückwege gehe ich durch das Palais royal, wo man ganz Paris kennen lernen kann, mit allen seinen Greueln und sogenannten Freuden – Es ist kein sinnliches Bedürfnis, das hier nicht bis zum Ekel befriedigt, keine Tugend, die hier nicht mit Frechheit verspottet, keine Infamie, die hier nicht nach Prinzipien begangen würde – Noch schrecklicher ist der Anblick des Platzes an der Halle au bléd, wo auch der letzte Zügel gesunken ist – Dann ist es Abend, dann habe ich ein brennendes Bedürfnis, das alles aus den Augen zu verlieren, alle diese Dächer und Schornsteine und alle diese Abscheulichkeiten, und nichts zu sehen, als rundum den Himmel – aber gibt es einen Ort in dieser Stadt, wo man ihrer nicht gewahr würde?
Lucchesini und Humboldt haben mich vorläufig bei einigen französischen Gelehrten eingeführt. Ich soll nämlich hier studieren, ich soll es, so will es ein jahrelang entworfener Plan, dem ich folgen muß, wie ein Jüngling einem Hofmeister, von dem er sich noch nicht los machen kann. Ich habe auch schon einigen Vorlesungen beigewohnt – Ach, diese Menschen sprechen von Säuren und Alkalien, indessen mir ein allgewaltiges Bedürfnis die Lippe trocknet – Liebe Freundin, sagen Sie mir, sind wir da, die Höhe der Sonne zu ermessen, oder uns an ihren Strahlen zu wärmen? Genießen! Genießen! Wo genießen wir? Mit dem Verstande oder mit dem Herzen? Ich will es nicht mehr binden und rädern, frei soll es die Flügel bewegen, ungezügelt um seine Sonne soll es fliegen, flöge es auch gefährlich, wie die Mücke um das Licht – Ach, daß wir ein Leben bedürfen, zu lernen, wie wir leben müßten, daß wir im Tode erst ahnden, was der Himmel mit uns will! – Wohin wird dieser schwankende Geist mich führen, der nach allem strebt, und berührt er es, gleichgültig es fahren läßt – Und doch, wenn die Jugend von jedem Eindrucke bewegt wird, und ein heftiger sie stürzt, so ist das nicht, weil sie keinen, sondern weil sie starken Widerstand leistet. Die abgestorbene Eiche, sie steht unerschüttert im Sturm, aber die blühende stürzt er, weil er in ihre Krone greifen kann – Ich entsinne mich, daß mir ein Buch zuerst den Gedanken einflößte, ob es nicht möglich sei, ein hohes wissenschaftliches Ziel noch zu erreichen? Ich versuchte es, und auf der Mitte der Bahn hält mich jetzt ein Gedanke zurück – Ach, ich trage mein Herz mit mir herum, wie ein nördliches Land den Keim einer Südfrucht. Es treibt und treibt, und es kann nicht reifen – Denn Menschen lassen sich, wie Metalle, zwar formen so lange sie warm sind; aber jede Berührung wirkt wieder anders auf sie ein, und nur wenn sie erkalten, wird ihre Gestalt bleibend. Ich möchte so gern in einer rein-menschlichen Bildung fortschreiten, aber das Wissen macht uns weder besser, noch glücklicher. Ja, wenn wir den ganzen Zusammenhang der Dinge einsehen könnten! Aber ist nicht der Anfang und das Ende jeder Wissenschaft in Dunkel gehüllt? Oder soll ich alle diese Fähigkeiten, und alle diese Kräfte und dieses ganze Leben nur dazu anwenden, eine Insektengattung kennen zu lernen, oder einer Pflanze ihren Platz in der Reihe der Dinge anzuweisen? Ach, mich ekelt vor dieser Einseitigkeit! Ich glaube, daß Newton an dem Busen eines Mädchens nichts anderes sah, als seine krumme Linie, und daß ihm an ihrem Herzen nichts merkwürdig war, als sein Kubikinhalt. Bei den Küssen seines Weibes denkt ein echter Chemiker nichts, als daß ihr Atem Stickgas und Kohlenstoffgas ist. Wenn die Sonne glühend über den Horizont heraufsteigt, so fällt ihm weiter nichts ein, als daß sie eigentlich noch nicht da ist – Er sieht bloß das Insekt, nicht die Erde, die es trägt, und wenn der bunte Holzspecht an die Fichte klopft, oder im Wipfel der Eiche die wilde Taube zärtlich girrt, so fällt ihm bloß ein, wie gut sie sich ausnehmen würden, wenn sie ausgestopft wären. Die ganze Erde ist dem Botaniker nur ein großes Herbarium, und an der wehmütigen Trauerbirke, wie an dem Veilchen, das unter ihrem Schatten blüht, ist ihm nichts merkwürdig, als ihr linnéischer Name. Dagegen ist die Gegend dem Mineralogen nur schön, wenn sie steinig ist, und wenn der alpinische Granit von ihm bis in die Wolken strebt, so tut es ihm nur leid, daß er ihn nicht in die Tasche stecken kann, um ihn in den Glasschrank neben die andern Fossile zu setzen – O wie traurig ist diese zyklopische Einseitigkeit! – Doch genug. Ich habe Ihnen so viel aus meinem Innern mitgeteilt; werden Sie mir diese kindische Neigung zur Vertraulichkeit verzeihen? Ich hoffe es. Ihre Antwort wird mir eine frohe Stunde schenken. Was macht Werdeck? O möchte der Würdigste unter den Menschen doch nicht zugleich der Unglücklichste sein! Grüßen Sie Fr. Schlegel, und wenn in der Tafel Ihres Gedächtnisses noch ein Plätzchen übrig ist, so heben Sie es auf für den Namen Ihres Freundes Heinrich Kleist.
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A Mademoiselle Mademoiselle Wilhelmine de Zenge à Francfort sur l'Oder.
Paris, den 15. August 1801
Mein liebes Minchen, Dein Brief, und die paar Zeilen von Carln und Louisen haben mir außerordentlich viele Freude gemacht. Es waren seit 10 Wochen wieder die ersten Zeilen, die ich von Deiner Hand las; denn die Briefe, die Du mir, wie Du sagst, während dieser Zeit geschrieben hast, müssen verloren gegangen sein, weil ich sie nicht empfangen habe. Desto größer war meine Freude, als ich heute auf der Post meine Adresse und Deine Hand erkannte – Aber denke Dir meinen Schreck, als der Postmeister meinen Paß zu sehen verlangte, und ich gewahr ward, daß ich ihn unglücklicherweise vergessen hatte –? Was war zu tun? Die Post ist eine starke halbe Meile von meiner Wohnung entfernt – Sollte ich zurücklaufen, sollte ich noch zwei Stunden warten, einen Brief zu erbrechen, den ich schon in meiner Hand hielt? – Ich bat den Postmeister, er möchte einmal eine Ausnahme von der Regel machen, ich stellte ihm die Unbequemlichkeit des Zurücklaufens vor, ich vertraute ihm an, wie viele Freude es mir machen würde, wenn ich den Brief mit mir zurücknehmen könnte, ich schwor ihm zu, daß ich Kleist sei und ihn nicht betrüge – Umsonst! Der Mann war unerbittlich. Schwarz auf weiß wollte er sehen, Mienen konnte er nicht lesen – Tausendfältig betrogen, glaubte er nicht mehr, daß in Paris jemand ehrlich sein könnte. Ich verachtete, oder vielmehr ich bemitleidete ihn, holte meinen Paß, und vergab ihm, als er mir Deinen Brief überlieferte. Ganz ermüdet lief ich in ein Kaffeehaus und las ihn – und der Ernst, der in Deinem Briefe herrscht, Deine stille Bemühung, Dich immer mehr und mehr zu bilden, die Beschreibung Deines Zustandes, in welchem Du Dich, so sehr ich Dich auch betrübe, doch noch so ziemlich glücklich fühlst, das alles rührte mich so innig, daß ich es in dem Schauspielhause, in welches ich gegangen war, ein großes Stück zu sehen, gar nicht aushalten konnte, noch vor dem Anfang der Vorstellung wieder herauslief, und jetzt, noch mit aller Wärme der ersten Empfindung, mich niedersetze, Dir zu antworten.
Du willst, ich soll Dir etwas von meiner Seele mitteilen? Mein liebes Mädchen, wie gern tue ich das, wenn ich hoffen kann, daß es Dich erfreuen wird. Ja, seit einigen Wochen scheint es mir, als hätte sich der Sturm ein wenig gelegt – Kannst Du Dir wohl vorstellen, wie leicht, wie wehmütig froh dem Schiffer zumute sein mag, dessen Fahrzeug in einer langen finstern stürmenden Nacht, gefährlich-wankend, umhergetrieben ward, wenn er nun an der sanftern Bewegung fühlt, daß ein stiller, heitrer Tag anbrechen wird? Etwas Ähnliches empfinde ich in meiner Seele – O möchtest Du auch ein wenig von der Ruhe genießen, die mir seit einiger Zeit zuteil geworden ist, möchtest Du, wenn Du diesen Brief liesest, auch einmal ein wenig froh sein, so wie ich es jetzt bin, da ich ihn schreibe. Ja, vielleicht werde ich diese Reise nach Paris, von welcher ich keinem Menschen, ja sogar mir selbst nicht Rechenschaft geben kann, doch noch segnen. Nicht wegen der Freuden, die ich genoß, denn sparsam waren sie mir zugemessen; aber alle Sinne bestätigen mir hier, was längst mein Gefühl mir sagte, nämlich daß uns die Wissenschaften weder besser noch glücklicher machen, und ich hoffe daß mich das zu einer Entschließung führen wird. O ich kann Dir nicht beschreiben, welchen Eindruck der erste Anblick dieser höchsten Sittenlosigkeit bei der höchsten Wissenschaft auf mich machte. Wohin das Schicksal diese Nation führen wird –? Gott weiß es. Sie ist reifer zum Untergange als irgend eine andere europäische Nation. Zuweilen, wenn ich die Bibliotheken ansehe, wo in prächtigen Sälen und in prächtigen Bänden die Werke Rousseaus, Helvetius', Voltaires stehen, so denke ich, was haben sie genutzt? Hat ein einziges seinen Zweck erreicht? Haben sie das Rad aufhalten können, das unaufhaltsam stürzend seinem Abgrund entgegeneilt? O hätten alle, die gute Werke geschrieben haben, die Hälfte von diesem Guten getan, es stünde besser um die Welt. Ja selbst dieses Studium der Naturwissenschaft, auf welches der ganze Geist der französischen Nation mit fast vereinten Kräften gefallen ist, wohin wird es führen? Warum verschwendet der Staat Millionen an alle diese Anstalten zur Ausbreitung der Gelehrsamkeit? Ist es ihm um Wahrheit zu tun? Dem Staate? Ein Staat kennt keinen andern Vorteil, als den er nach Prozenten berechnen kann. Er will die Wahrheit anwenden – Und worauf? Auf Künste und Gewerbe. Er will das Bequeme noch bequemer machen, das Sinnliche noch versinnlichen, den raffiniertesten Luxus noch raffinieren. – Und wenn am Ende auch das üppigste und verwöhnteste Bedürfnis keinen Wunsch mehr ersinnen kann, was ist dann –? O wie unbegreiflich ist der Wille, der über die Menschengattung waltet! Ohne Wissenschaft zittern wir vor jeder Lufterscheinung, unser Leben ist jedem Raubtier ausgesetzt, eine Giftpflanze kann uns töten – und sobald wir in das Reich des Wissens treten, sobald wir unsre Kenntnisse anwenden, uns zu sichern und zu schützen, gleich ist der erste Schritt zu dem Luxus und mit ihm zu allen Lastern der Sinnlichkeit getan. Denn wenn wir zum Beispiel die Wissenschaften nutzen, uns vor dem Genuß giftiger Pflanzen zu hüten, warum sollen wir sie nicht auch nutzen, wohlschmeckende zu sammeln, und wo ist nun die Grenze hinter welcher die Poulets à la suprême und alle diese Raffinements der französischen Kochkunst liegen; Und doch – gesetzt, Rousseau hätte in der Beantwortung der Frage, ob die Wissenschaften den Menschen glücklicher gemacht haben, recht, wenn er sie mit Nein beantwortet, welche seltsamen Widersprüche würden aus dieser Wahrheit folgen! Denn es mußten viele Jahrtausende vergehen, ehe so viele Kenntnisse gesammelt werden konnten, wie nötig waren, einzusehen, daß man keine haben müßte. Nun also müßte man alle Kenntnisse vergessen, den Fehler wieder gut zu machen; und somit finge das Elend wieder von vorn an. Denn der Mensch hat ein unwidersprechliches Bedürfnis sich aufzuklären. Ohne Aufklärung ist er nicht viel mehr als ein Tier. Sein moralisches Bedürfnis treibt ihn zu den Wissenschaften an, wenn dies auch kein physisches täte. Er wäre also, wie Ixion, verdammt, ein Rad auf einen Berg zu wälzen, das halb erhoben, immer wieder in den Abgrund stürzt. Auch ist immer Licht, wo Schatten ist, und umgekehrt. Wenn die Unwissenheit unsre Einfalt, unsre Unschuld und alle Genüsse der friedlichen Natur sichert, so öffnet sie dagegen allen Greueln des Aberglaubens die Tore – Wenn dagegen die Wissenschaften uns in das Labyrinth des Luxus führen, so schützen sie uns vor allen Greueln des Aberglaubens. Jede reicht uns Tugenden und Laster, und wir mögen am Ende aufgeklärt oder unwissend sein, so haben wir dabei so viel verloren, als gewonnen. – Und so mögen wir denn vielleicht am Ende tun, was wir wollen, wir tun recht – Ja, wahrlich, wenn man überlegt, daß wir ein Leben bedürfen, um zu lernen, wie wir leben müßten, daß wir selbst im Tode noch nicht ahnden, was der Himmel mit uns will, wenn niemand den Zweck seines Daseins und seine Bestimmung kennt, wenn die menschliche Vernunft nicht hinreicht, sich und die Seele und das Leben und die Dinge um sich zu begreifen, wenn man seit Jahrtausenden noch zweifelt, ob es ein Recht gibt? – kann Gott von solchen Wesen Verantwortlichkeit fordern? Man sage nicht, daß eine Stimme im Innern uns heimlich und deutlich anvertraue, was recht sei. Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinem Feinde zu vergeben, ruft dem Seeländer zu, ihn zu braten, und mit Andacht ißt er ihn auf – Wenn die Überzeugung solche Taten rechtfertigen kann, darf man ihr trauen? – Was heißt das auch, etwas Böses tun, der Wirkung nach? Was ist böse? Absolut böse? Tausendfältig verknüpft und verschlungen sind die Dinge der Welt, jede Handlung ist die Mutter von Millionen andern, und oft die schlechteste erzeugt die besten – Sage mir, wer auf dieser Erde hat schon etwas Böses getan? Etwas, das böse wäre in alle Ewigkeit fort –? Und was uns auch die Geschichte von Nero, und Attila, und Cartouche, von den Hunnen, und den Kreuzzügen, und der spanischen Inquisition erzählt, so rollt doch dieser Planet immer noch freundlich durch den Himmelsraum, und die Frühlinge wiederholen sich, und die Menschen leben, genießen, und sterben nach wie vor. – Ja, tun, was der Himmel sichtbar, unzweifelhaft von uns fordert, das ist genug – Leben, so lange die Brust sich hebt, genießen, was rundum blüht, hin und wieder etwas Gutes tun, weil das auch ein Genuß ist, arbeiten, damit man genießen und wirken könne, andern das Leben geben, damit sie es wieder so machen und die Gattung erhalten werde – und dann sterben – Dem hat der Himmel ein Geheimnis eröffnet, der das tut und weiter nichts. Freiheit, ein eignes Haus, und ein Weib, meine drei Wünsche, die ich mir beim Auf- und Untergange der Sonne wiederhole, wie ein Mönch seine drei Gelübde! O um diesen Preis will ich allen Ehrgeiz fahren lassen und alle Pracht der Reichen und allen Ruhm der Gelehrten – Nachruhm! Was ist das für ein seltsames Ding, das man erst genießen kann, wenn man nicht mehr ist? O über den Irrtum, der die Menschen um zwei Leben betrügt, der sie selbst nach dem Tode noch äfft! Denn wer kennt die Namen der Magier und ihre Weisheit? Wer wird nach Jahrtausenden von uns und unserm Ruhme reden? Was wissen Asien, und Afrika und Amerika von unsern Genien? Und nun die Planeten –? Und die Sonne –? Und die Milchstraße –? Und die Nebelflecke –? Ja, unsinnig ist es, wenn wir nicht grade für die Quadratrute leben, auf welcher, und für den Augenblick, in welchem wir uns befinden. Genießen! Das ist der Preis des Lebens! Ja, wahrlich, wenn wir seiner niemals froh werden, können wir nicht mit Recht den Schöpfer fragen, warum gabst Du es mir? Lebensgenuß seinen Geschöpfen zu geben, das ist die Verpflichtung des Himmels; die Verpflichtung des Menschen ist es, ihn zu verdienen. Ja, es liegt eine Schuld auf den Menschen, etwas Gutes zu tun, verstehe mich recht, ohne figürlich zu reden, schlechthin zu tun – Ich werde das immer deutlicher und deutlicher einsehen, immer lebhafter und lebhafter fühlen lernen, bis Vernunft und Herz mit aller Gewalt meiner Seele einen Entschluß bewirken – Sei ruhig, bis dahin. Ich bedarf Zeit, denn ich bedarf Gewißheit und Sicherheit in der Seele, zu dem Schritte, der die ganze Bahn der Zukunft bestimmen soll. Ich will mich nicht mehr übereilen – tue ich es noch einmal, so ist es das letztemal – denn ich verachte entweder alsdann meine Seele oder die Erde, und trenne sie. Aber sei ruhig, ich werde mich nicht übereilen. Dürfte ich auf meine eigne Bildung keine Kräfte verschwenden, so würde ich vielleicht jetzt schon wählen. Aber noch fühle ich meine eigne Blößen. Ich habe den Lauf meiner Studien plötzlich unterbrochen, und werde das Versäumte hier nachholen, aber nicht mehr bloß um der Wahrheit willen, sondern für meinen menschenfreundlicheren Zweck – Erlaß es mir, mich deutlicher zu erklären. Ich bin noch nicht bestimmt und ein geschriebenes Wort ist ewig. Aber hoffe das Beste – Ich werde Dich endlich einmal erfreuen können, Wilhelmine, und Deine Sorge sei es, mir die Innigkeit Deiner Liebe aufzubewahren, ohne welche ich in Deinen Armen niemals glücklich sein würde. Kein Tag möge vergehen, ohne mich zu sehen – Du kannst mich leicht finden, wenn Du in die Gartenlaube, oder in Carls Zimmer, oder an den Bach gehst, der aus den Linden in die Oder fließt – So möge die Vergangenheit und die Zukunft Dir die Gegenwart versüßen, so mögest Du träumend glücklich sein, bis – bis – – – Ja, wer könnte das aussprechen –?
Lebe wohl. Ich drücke Dir einen langen Kuß auf die Lippen – – Adieu adieu –
N. S. Gib das folgende Blatt Louisen, das Billett schicke Carln. Grüße Deine Eltern – sage mir, warum bin ich unruhig so oft ich an sie denke, und doch nicht, wenn ich an Dich denke? – Das macht, weil wir uns verstehen – O möchte doch die ganze Welt in mein Herz sehen! Ja, grüße sie, und sage ihnen daß ich sie ehre, sie mögen auch von mir denken, was sie wollen. – Schreibe bald (ich habe Dir schon von Paris aus einmal geschrieben) – aber nicht mehr poste restante, sondern dans la rue Noyer, No 21.
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Paris, den 16. August 1801
Empfangen Sie, goldnes Louischen, zum Lohne für Ihre lieben, in Carls Schreiben eingeschlossnen, Worte diesen Brief aus Paris. Sie beneiden mich, wie es scheint, um meinen Aufenthalt und wünschen an meiner Stelle zu sein. Wenn Sie mir folgen wollen, so will ich Ihren Geist in die Nähe der Kulissen führen, die aus der Ferne betrachtet, so reizend scheinen. Aber erschrecken müssen Sie nicht, wenn Sie die Gestalten ein wenig mit Farben überladen und ein wenig grob gezeichnet finden.
Denken Sie sich in der Mitte zwischen drei Hügeln, auf einem Flächenraum von ohngefähr einer Quadratmeile, einen Haufen von übereinandergeschobenen Häusern, welche schmal in die Höhe wachsen, gleichsam den Boden zu vervielfachen, denken Sie sich alle diese Häuser durchgängig von jener blassen, matten Modefarbe, welche man weder gelb noch grau nennen kann, und unter ihnen einige schöne, edle, aber einzeln in der Stadt zerstreut, denken Sie sich enge, krumme, stinkende Straßen, in welchen oft an einem Tage Kot mit Staub und Staub mit Kot abwechseln, denken Sie sich endlich einen Strom, der, wie mancher fremde Jüngling, rein und klar in diese Stadt tritt, aber schmutzig und mit tausend Unrat geschwängert, sie verläßt, und der in fast grader Linie sie durchschneidet, als wollte er den ekelhaften Ort, in welchen er sich verirrte, schnell auf dem kürzesten Wege durcheilen – denken Sie sich alle diese Züge in einem Bilde, und Sie haben ohngefähr das Bild von einer Stadt, deren Aufenthalt Ihnen so reizend scheint.
Verrat, Mord und Diebstahl sind hier ganz unbedeutende Dinge, deren Nachricht niemanden affiziert. Ein Ehebruch des Vaters mit der Tochter, des Sohnes mit der Mutter, ein Totschlag unter Freunden und Anverwandten sind Dinge, dont on a eu d'exemple, und die der Nachbar kaum des Anhörens würdigt. Kürzlich wurden einer Frau 50 000 Rth. gestohlen, fast täglich fallen Mordtaten vor, ja vor einigen Tagen starb eine ganze Familie an der Vergiftung; aber das alles ist das langweiligste Ding von der Welt, bei deren Erzählung sich jedermann ennuyiert. Auch ist es etwas ganz Gewöhnliches, einen toten Körper in der Seine oder auf der Straße zu finden. Ein solcher wird dann in einem an dem Pont St. Michel dazu bestimmten Gewölbe geworfen, wo immer ein ganzer Haufe übereinander liegt, damit die Anverwandten, wenn ein Mitglied aus ihrer Mitte fehlt, hinkommen und es finden mögen. Jedes Nationalfest kostet im Durchschnitt zehn Menschen das Leben. Das sieht man oft mit Gewißheit vorher, ohne darum dem Unglück vorzubeugen. Bei dem Friedensfest am 14. Juli stieg in der Nacht ein Ballon mit einem eisernen Reifen in die Höhe, an welchem ein Feuerwerk befestigt war, das in der Luft abbrennen, und dann den Ballon entzünden sollte. Das Schauspiel war schön, aber es war voraus zu sehen, daß wenn der Ballon in Feuer aufgegangen war, der Reifen auf ein Feld fallen würde, das vollgepfropft von Menschen war. Aber ein Menschenleben ist hier ein Ding, von welchem man 800 000 Exemplare hat – der Ballon stieg, der Reifen fiel, ein paar schlug er tot, weiter war es nichts.
Zwei Antipoden können einander nicht fremder und unbekannter sein, als zwei Nachbarn von Paris, und ein armer Fremdling kann sich gar an niemanden knüpfen, niemand knüpft sich an ihn – zuweilen gehe ich durch die langen, krummen, engen, schmutzigen, stinkenden Straßen, ich winde mich durch einen Haufen von Menschen, welche schreien, laufen, keuchen, einander schieben, stoßen, umdrehen, ohne es übel zu nehmen, ich sehe einen fragend an, er sieht mich wieder an, ich frage ihn ein paar Worte, er antwortet mir höflich, ich werde warm, er ennuyiert sich, wir sind einander herzlich satt, er empfiehlt sich, ich verbeuge mich, und wir haben einander vergessen, sobald wir um die Ecke sind – Geschwind laufe ich nach dem Louvre, und erwärme mich an dem Marmor, an dem Apoll von Belvedere, an der mediceischen Venus, oder trete unter die italienischen Tableaus, wo Menschen auf Leinwand gemalt sind –
Übrigens muß man gestehen, daß es vielleicht nirgends Unterhaltung gibt, als unter den Franzosen. Man nenne einem Deutschen ein Wort, oder zeige ihm ein Ding, darauf wird er kleben bleiben, er wird es tausendmal mit seinem Geiste anfassen, drehen und wenden, bis er es von allen Seiten kennt, und alles, was sich davon sagen läßt, erschöpft hat. Dagegen ist der zweite Gedanke über ein und dasselbe Ding dem Franzosen langweilig. Er springt von dem Wetter auf die Mode, von der Mode auf das Herz, von dem Herzen auf die Kunst, gewinnt jedem Dinge die interessante Seite ab, spricht mit Ernst von dem Lächerlichen, lachend von dem Ernsthaften, und wenn man dem eine Viertelstunde zugehört hat, so ist es, als ob man in einen Kuckkasten gesehen hätte. Man versucht es, seinen Geist zwei Minuten lang an einem heiligen Gegenstand zu fesseln: er wird das Gespräch kurzweg mit einem ah ba! abbrechen. Der Deutsche spricht mit Verstand, der Franzose mit Witz. Das Gespräch des erstern ist wie eine Reise zum Nutzen, das Gespräch des andern wie ein Spaziergang zum Vergnügen. Der Deutsche geht um das Ding herum, der Franzose fängt den Lichtstrahl auf, den es ihm zuwirft, und geht vorüber.
Zwei Reisende, die zu zwei verschiednen Zeiten nach Paris kommen, sehen zwei ganz verschiedene Menschenarten. Ein Aprilmonat kann kaum so schnell mit der Witterung wechseln, als die Franzosen mit der Kleidung. Bald ist ein Rock zu eng für einen, bald ist er groß genug für zwei, und ein Kleid, das sie heute einen Schlafrock nennen, tragen sie morgen zum Tanze, und umgekehrt. Dabei sitzt ihnen der Hintere bald unter dem Kopfe, bald über den Hacken, bald haben sie kurze Ärme, bald keine Hände, die Füße scheinen bald einem Hottentotten, bald einem Sineser anzugehören, und die Philosophen mögen uns von der Menschengattung erzählen, was sie wollen, in Frankreich gleicht jede Generation weder der, von welcher sie abstammt, noch der, welche ihr folgt.
Seltsam ist die Verachtung, in welcher der französische Soldat bei dem französischen Bürger steht. Wenn man die Sieger von Marengo mit den Siegern von Marathon, und selbst mit den Überwundenen von Cannä vergleicht, so muß man gestehen, daß ihnen ein trauriges Schicksal geworden ist. Von allen Gesellschaften, die man hier du ton nennt, sind die französischen Helden ausgeschlossen – warum? Weil sie nicht artig genug sind. Denn dem Franzosen ist es nicht genug, daß ein Mensch eine große, starke, erhabene Seele zeige, er will auch, daß er sich zierlich betrage, und ein Offizier möge eine Tat begangen haben, die Bayards oder Turennes würdig wäre, so ist das hinreichend, von ihm zu sprechen, ihn zu loben und zu rühmen, nicht aber mit ihm in Gesellschaften zu sein. Tanzen soll er, er soll wenigstens die 4 französischen Positionen und die 15 Formeln kennen, die man hier Höflichkeiten nennt, und selbst Achilles und Hektor würden hier kalt empfangen werden, weil sie keine éducation hatten, und nicht amusant genug waren.
Eine ganz rasende Sehnsucht nach Vergnügungen verfolgt die Franzosen und treibt sie von einem Orte zum andern. Sie ziehen den ganzen Tag mit allen ihren Sinnen auf die Jagd, den Genuß zu fangen, und kehren nicht eher heim, als bis die Jagdtasche bis zum Ekel angefüllt ist. Ganze Haufen von Affichen laden überall den Einwohner und den Fremdling zu Festen ein. An allen Ecken der Straßen und auf allen öffentlichen Plätzen schreit irgend ein Possenreißer seine Künste aus, und lockt die Vorübergehenden vor seinen Kuckkasten oder fesselt sie, wenigstens auf ein paar Minuten, durch seine Sprünge und Faxen. Selbst mit dem Schauspiele oder mit der Oper, die um 11 Uhr schließt, ist die Jagd noch nicht beendigt. Alles strömt nun nach öffentlichen Orten, der gemeinere Teil in das Palais royal, und in die Kaffeehäuser, wo entweder ein Konzert von Blinden, oder ein Bauchredner oder irgend ein andrer Harlekin die Gesellschaft auf Kosten des Wirtes vergnügt, der vornehmere Teil nach Frascati oder dem Pavillon d'Hannovre, zwei fürstlichen Hotels, welche seit der Emigration ihrer Besitzer das Eigentum ihrer Köche geworden sind. Da wird dann der letzte Tropfen aus dem Becher der Freude wollüstig eingeschlürft: eine prächtige Gruppe von Gemächern, die luxuriösesten Getränke, ein schöner Garten, eine Illumination und ein Feuerwerk – Denn nichts hat der Franzose lieber, als wenn man ihm die Augen verblendet.
Das, goldnes Louischen, sind die Vergnügen dieser Stadt. Ist es nicht entzückend, ist es nicht beneidenswürdig, so viel zu genießen? –? Ach, zuweilen wenn ich dem Fluge einer Rakete nachsehe, oder in den Schein einer Lampe blicke oder ein künstliches Eis auf meiner Zunge zergehen lasse, wenn ich mich dann frage: genießest du –? O dann fühle ich mich so leer, so arm, dann bewegen sich die Wünsche so unruhig, dann treibt es mich fort aus dem Getümmel unter den Himmel der Nacht, wo die Milchstraße und die Nebelflecke dämmern –
Ja, zuweilen, wenn ich einmal einen Tag widmete mit dem Haufen auf diese Jagd zu ziehen, die man doch auch kennenlernen muß, wenn ich dann, ohne Beute, ermüdet zurückkehre, und still stehe auf dem Pont-neuf, über dem Seine-Strom, diesem einzigen schmalen Streifen Natur, der sich in diese unnatürliche Stadt verirrte, o dann habe ich eine unaussprechliche Sehnsucht, hinzufliegen nach jener Höhe, welche bläulich in der Ferne dämmert, und alle diese Dächer und Schornsteine aus dem Auge zu verlieren, und nichts zu sehen, als rundum den Himmel – Aber gibt es einen Ort in der Gegend dieser Stadt, wo man ihrer nicht gewahr würde?
Überdrüssig aller dieser Feuerwerke und Illuminationen und Schauspiele und Possenreißereien hat ein Franzose den Einfall gehabt, den Einwohnern von Paris ein Vergnügen von einer ganzen neuen Art zu bereiten, nämlich das Vergnügen an der Natur. Der Landgraf von Hessen-Kassel hat sich auf der Wilhelmshöhe eine gotische Ritterburg, und der Kurfürst von der Pfalz in Schwetzingen eine türkische Moschee erbaut. Sie besuchen zuweilen diese Orte, beobachten die fremden Gebräuche und versetzen sich so in Verhältnisse, von welchen sie durch Zeit und Raum getrennt sind. Auf eine ähnliche Art hat man hier in Paris die Natur nachgeahmt, von welcher die Franzosen weiter, als der Landgraf von der Ritterzeit und der Kurfürst von der Türkei, entfernt sind. Von Zeit zu Zeit verläßt man die matte, fade, stinkende Stadt, und geht in die – Vorstadt, die große, einfältige, rührende Natur zu genießen. Man bezahlt (im Hameau de Chantilly) am Eingange 20 sols für die Erlaubnis, einen Tag in patriarchalischer Simplizität zu durchleben. Arm in Arm wandert man, so natürlich wie möglich, über Wiesen, an dem Ufer der Seen, unter dem Schatten der Erlen, hundert Schritte lang, bis an die Mauer, wo die Unnatur anfängt – dann kehrt man wieder um. Gegen die Mittagszeit (das heißt um 5 Uhr) sucht jeder sich eine Hütte, der eine die Hütte eines Fischers, der andere die eines Jägers, Schiffers, Schäfers etc. etc., jede mit den Insignien der Arbeit und einem Namen bezeichnet, welchen der Bewohner führt, so lange er sich darin aufhält. Fünfzig Lakaien, aber ganz natürlich gekleidet, springen umher, die Schäfer- oder die Fischerfamilie zu bedienen. Die raffiniertesten Speisen und die feinsten Weine werden aufgetragen, aber in hölzernen Näpfen und in irdenen Gefäßen; und damit nichts der Täuschung fehle, so ißt man mit Löffeln von Zinn. Gegen Abend schifft man sich zu zwei und zwei ein, und fährt, unter ländlicher Musik, eine Stunde lang spazieren auf einem See, welcher 20 Schritte im Durchmesser hat. Dann ist es Nacht, ein Ball unter freiem Himmel beschließt das romantische Fest, und jeder eilt nun aus der Natur wieder in die Unnatur hinein –
Große, stille, feierliche Natur, du, die Kathedrale der Gottheit, deren Gewölbe der Himmel, deren Säulen die Alpen, deren Kronleuchter die Sterne, deren Chorknaben die Jahreszeiten sind, welche Düfte schwingen in den Rauchfässern der Blumen gegen die Altäre der Felder, an welchen Gott Messe lieset und Freuden austeilt zum Abendmahl unter der Kirchenmusik, welche die Ströme und die Gewitter rauschen, indessen die Seelen entzückt ihre Genüsse an dem Rosenkranze der Erinnerung zählen – so spielt man mit dir? –
Zwei waren doch an diesem Abend in dem Hameau de Chantilly, welche genossen; nämlich ein Jüngling und ein Mädchen, welche, ohne zu tanzen, dem Spiele in einiger Entfernung zusahen. Sie saßen unter dem Dunkel der Bäume, nur matt von den Lampen des Tanzplatzes erleuchtet – nebeneinander, versteht sich; und ob sie gleich niemals lachten, so schienen sie doch so vergnügt, daß ich mich selbst an ihrer Freude erfreute, und mich hinter sie setzte in der Ferne, wo sie mich nicht sahen. Sie hatten beide die nachbarlichen Arme auf ein Geländer gelehnt, das ihren Rücken halb deckte. Das geschah aber bloß, um sich zu stützen. Die Kante war schmal, und die warmen Hände mußten zuweilen einander berühren. Das geschah aber so unmerklich, daß es niemand sah. Sie sahen sich meistens an, und sprachen wenig, oder viel, wie man will. Wenn sie mit eigentlichen Worten sprachen, so war es ein Laut, wie wenn eine Silberpappel im Winde zittert. Dabei neigten sie einander mehr die Wangen, als das Ohr zu, und es schien, als ob es ihnen mehr um den Atem, als um den Laut zu tun wäre. Ihr Antlitz glühte wie ein Wunsch – – Zuweilen sahen sie, mit feuchten Blicken, träumend in den Schein der Lampen – Es schien, als folgten sie der Musik in ein unbekanntes Land – Dann, schüchtern, mit einemmale zählten sie die Menschen und wogen ihre Mienen – Als sie mich erblickten, warfen sie ihre Augen auf den Boden, als ob sie ihn suchten – Da stand ich auf, und ging weg –
Wohin? Fragen Sie das –? Nach Frankfurt ging ich –
Ich wüßte nichts mehr hinzuzusetzen. Leben Sie wohl und behalten Sie lieb
Ihren Freund H. K.
N. S. Weil doch kein Blatt unbeschrieben die Reise von Paris nach Frankfurt machen soll, so schreibe ich Ihnen noch ein paar Moden. Das ist Ihnen doch lieb? Binden Sie die Bänder Ihrer Haube so, von dem Ohre an die Kante der Wangen entlang, daß die Schleife grade die Mitte des Kinns schmückt – oder werfen Sie, wenn Sie ausgehen, den Schleier, der an Ihrem Haupte befestigt ist, so um das Haupt Ihrer Schwester, daß er, à l'inséparable, beide bedeckt – und Sie sehen aus wie eine Pariser Dame au dernier gôut.
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[An das Stiftsfräulein Wilhelmine v. Zenge Hochwohlgeboren zu Frankfurt a. Oder.]
Paris, den 10. Oktober 1801
Liebe Wilhelmine. Also mein letzter Brief hat Dir so viele Freude gemacht? O möchte Dir auch dieser, unter so vielen trüben Tagen, ein paar froher Stunden schenken! Andere beglücken, es ist das reinste Glück auf dieser Erde. – Nur schwer ist es, wenn wir selbst nicht glücklich sind, und andere doch grade in unserm Glücke das ihrige setzen. – Indessen fühle ich mich doch wirklich von Tage zu Tage immer heiterer und heiterer, und hoffe, daß endlich die Natur auch mir einmal das Maß von Glück zumessen wird, das sie allen ihren Wesen schuldig ist. Auf welchem Wege ich es suchen soll, darüber bin ich freilich noch nicht recht einig, obgleich sich mein Herz fast überwiegend immer zu einem neigt – Aber ob auch Dein Herz sich dazu neigen wird? –? Ach, Wilhelmine, da bin ich fast schüchtern in der Mitteilung. Aber wenn ich denke, daß Du meine Freundin bist, so schwindet alle Zurückhaltung, und darum will ich Dir mancherlei Gedanken, die meine Seele jetzt für die Zukunft bearbeitet, mitteilen.
Ein großes Bedürfnis ist in mir rege geworden, ohne dessen Befriedigung ich niemals glücklich sein werde; es ist dieses, etwas Gutes zu tun. Ja, ich glaube fast, daß dieses Bedürfnis bis jetzt immer meiner Trauer dunkel zum Grunde lag, und daß ich mich jetzt seiner bloß deutlich bewußt geworden bin. Es liegt eine Schuld auf dem Menschen, die, wie eine Ehrenschuld, jeden, der Ehrgefühl hat, unaufhörlich mahnt. Vielleicht kannst Du Dir, wie dringend dieses Bedürfnis ist, nicht lebhaft vorstellen. Aber das kommt, weil Dein Geschlecht ein leidendes ist – Besonders seitdem mich die Wissenschaften gar nicht mehr befriedigen, ist dieses Bedürfnis in mir rege geworden. Kurz, es steht fest beschlossen in meiner Seele: ich will diese Schuld abtragen.
Wenn ich mich nun aber umsehe in der Welt, und frage: wo gibt es denn wohl etwas Gutes zu tun? – ach, Wilhelmine, darauf weiß ich nur eine einzige Antwort. Es scheint allerdings für ein tatenlechzendes Herz zunächst ratsam, sich einen großen Wirkungskreis zu suchen; aber – liebes Mädchen, Du mußt, was ich Dir auch sagen werde, mich nicht mehr nach dem Maßstabe der Welt beurteilen. Eine Reihe von Jahren, in welchen ich über die Welt im großen frei denken konnte, hat mich dem, was die Menschen Welt nennen, sehr unähnlich gemacht. Manches, was die Menschen ehrwürdig nennen, ist es mir nicht, vieles, was ihnen verächtlich scheint, ist es mir nicht. Ich trage eine innere Vorschrift in meiner Brust, gegen welche alle äußern, und wenn sie ein König unterschrieben hätte, nichtswürdig sind. Daher fühle ich mich ganz unfähig, mich in irgend ein konventionelles Verhältnis der Welt zu passen. Ich finde viele ihrer Einrichtungen so wenig meinem Sinn gemäß, daß es mir unmöglich wäre, zu ihrer Erhaltung oder Ausbildung mitzuwirken. Dabei wüßte ich doch oft nichts Besseres an ihre Stelle zu setzen – Ach, es ist so schwer, zu bestimmen, was gut ist, der Wirkung nach. Selbst manche von jenen Taten, welche die Geschichte bewundert, waren sie wohl gut in diesem reinen Sinne? Ist nicht oft ein Mann, der einem Volke nützlich ist, verderblich für zehn andere? – Ach, ich kann Dir das alles gar nicht aufschreiben, denn das ist ein endloses Thema. – Ich wäre auch in einer solchen Lage nicht glücklich, o gar nicht glücklich. Doch das sollte mich noch nicht abhalten, hineinzutreten, wüßte ich nur etwas wahrhaft Gutes, etwas, das mit meinen innern Forderungen übereinstimmt, zu leisten. – Dazu kommt, daß mir auch, vielleicht durch meine eigne Schuld, die Möglichkeit, eine neue Laufbahn in meinem Vaterlande zu betreten, benommen. Wenigstens würde ich ohne Erniedrigung kaum, nachdem ich zweimal Ehrenstellen ausgeschlagen habe, wieder selbst darum anhalten können. Und doch würde ich auch dieses saure Mittel nicht scheuen, wenn es mich nur auch, zum Lohne, an meinen Zweck führte. – Die Wissenschaften habe ich ganz aufgegeben. Ich kann Dir nicht beschreiben, wie ekelhaft mir ein wissender Mensch ist, wenn ich ihn mit einem handelnden vergleiche. Kenntnisse, wenn sie noch einen Wert haben, so ist es nur, insofern sie vorbereiten zum Handeln. Aber unsere Gelehrten, kommen sie wohl, vor allem Vorbereiten, jemals zum Zweck? Sie schleifen unaufhörlich die Klinge, ohne sie jemals zu brauchen, sie lernen und lernen, und haben niemals Zeit, die Hauptsache zu tun. – Unter diesen Umständen in mein Vaterland zurück zu kehren, kann unmöglich ratsam sein. Ja, wenn ich mich über alle Urteile hinweg setzen könnte, wenn mir ein grünes Häuschen beschert wäre, das mich und Dich empfinge – Du wirst mich, wegen dieser Abhängigkeit von dem Urteile anderer, schwach nennen, und ich muß Dir darin recht geben, so unerträglich mir das Gefühl auch ist. Ich selbst habe freilich durch einige seltsamen Schritte die Erwartung der Menschen gereizt; und was soll ich nun antworten, wenn sie die Erfüllung von mir fordern? Und warum soll ich denn grade ihre Erwartung erfüllen? O es ist mir zur Last – Es mag wahr sein, daß ich so eine Art von verunglücktem Genie bin, wenn auch nicht in ihrem Sinne verunglückt, doch in dem meinen. Kenntnisse, was sind sie? Und wenn Tausende mich darin überträfen, übertreffen sie mein Herz? Aber davon halten sie nicht viel – Ohne ein Amt in meinem Vaterlande zu leben, könnte ich jetzt auch wegen meiner Vermögensumstände fast nicht mehr. Ach, Wilhelmine, wie viele traurige Vorstellungen ängstigen mich unaufhörlich, und Du willst, ich soll Dir vergnügt schreiben? Und doch – habe noch ein wenig Geduld. Vielleicht, wenn der Anfang dieses Briefes nicht erfreulich ist, so ist es sein Ende. – Nahrungssorgen, für mich allein, sind es doch nicht eigentlich, die mich sehr ängstigen, denn wenn ich mich an das Bücherschreiben machen wollte, so könnte ich mehr, als ich bedarf, verdienen. Aber Bücherschreiben für Geld – o nichts davon. Ich habe mir, da ich unter den Menschen in dieser Stadt so wenig für mein Bedürfnis finde, in einsamer Stunde (denn ich gehe wenig aus) ein Ideal ausgearbeitet; aber ich begreife nicht, wie ein Dichter das Kind seiner Liebe einem so rohen Haufen, wie die Menschen sind, übergeben kann. Bastarde nennen sie es. Dich wollte ich wohl in das Gewölbe führen, wo ich mein Kind, wie eine vestalische Priesterin das ihrige, heimlich aufbewahre bei dem Schein der Lampe. – Also aus diesem Erwerbszweige wird nichts. Ich verachte ihn aus vielen Gründen, das ist genug. Denn nie in meinem Leben, und wenn das Schicksal noch so sehr drängte, werde ich etwas tun, das meinen innern Forderungen, sei es auch noch so leise, widerspräche. – Nun, liebe Wilhelmine, komme ich auf das Erfreuliche. Fasse Mut, sieh mein Bild an, und küsse es. – Da schwebt mir unaufhörlich ein Gedanke vor die Seele – aber wie werde ich ihn aussprechen, damit er Dir heiliger Ernst, und nicht kindisch-träumerisch erscheine? Ein Ausweg bleibt mir übrig, zu dem mich zugleich Neigung und Notwendigkeit führen. – Weißt Du, was die alten Männer tun, wenn sie 50 Jahre lang um Reichtümer und Ehrenstellen gebuhlt haben? Sie lassen sich auf einen Herd nieder, und bebauen ein Feld. Dann, und dann erst, nennen sie sich weise. – Sage mir, könnte man nicht klüger sein, als sie, und früher dahin gehen, wohin man am Ende doch soll? – Unter den persischen Magiern gab es ein religiöses Gesetz: ein Mensch könne nichts der Gottheit Wohlgefälligeres tun, als dieses, ein Feld zu bebauen, einen Baum zu pflanzen, und ein Kind zu zeugen. – Das nenne ich Weisheit, und keine Wahrheit hat noch so tief in meine Seele gegriffen, als diese. Das soll ich tun, das weiß ich bestimmt – Ach, Wilhelmine, welch ein unsägliches Glück mag in dem Bewußtsein liegen, seine Bestimmung ganz nach dem Willen der Natur zu erfüllen! Ruhe vor den Leidenschaften!! Ach, der unselige Ehrgeiz, er ist ein Gift für alle Freuden. – Darum will ich mich losreißen, von allen Verhältnissen, die mich unaufhörlich zwingen zu streben, zu beneiden, zu wetteifern. Denn nur in der Welt ist es schmerzhaft, wenig zu sein, außer ihr nicht. – Was meinst Du, Wilhelmine, ich habe noch etwas von meinem Vermögen, wenig zwar, doch wird es hinreichen mir etwa in der Schweiz einen Bauerhof zu kaufen, der mich ernähren kann, wenn ich selbst arbeite. Ich habe Dir das so trocken hingeschrieben, weil ich Dich durch Deine Phantasie nicht bestechen wollte. Denn sonst gibt es wohl keine Lage, die für ein reines Herz so unüberschwenglich reich an Genüssen wäre, als diese. – Die Romane haben unsern Sinn verdorben. Denn durch sie hat das Heilige aufgehört, heilig zu sein, und das reinste, menschlichste, einfältigste Glück ist zu einer bloßen Träumerei herabgewürdigt worden. – Doch wie gesagt, ich will Deine Phantasie nicht bestechen. Ich will die schöne Seite dieses Standes gar nicht berühren, und dies einem künftigen Briefe aufbewahren, wenn Du Geschmack an diesem Gedanken finden kannst. Für jetzt prüfe bloß mit Deiner Vernunft. Ich will im eigentlichsten Verstande ein Bauer werden, mit einem etwas wohlklingenderen Worte, ein Landmann. – Was meine Familie und die Welt dagegen einwenden möchte, wird mich nicht irre führen. Ein jeder hat seine eigne Art, glücklich zu sein, und niemand darf verlangen, daß man es in der seinigen sein soll. Was ich tue, ist nichts Böses, und die Menschen mögen über mich spötteln so viel sie wollen, heimlich in ihrem Herzen werden sie mich ehren müssen. – Doch wenn auch das nicht wäre, ich selbst ehre mich. Meine Vernunft will es so, und das ist genug.
Aber nun, Wilhelmine, wenn ich diese Forderung meiner Vernunft erfülle, wenn ich mir ein Landgut kaufe, bleibt mir dann kein Wunsch übrig? Fehlt mir dann nichts mehr? Fehlt mir nicht noch ein Weib? Und gibt es ein anderes für mich, als Du? Ach, Wilhelmine, wenn es möglich wäre, wenn Deine Begriffe von Glück hier mit den meinigen zusammenfielen! Denke an die heiligen Augenblicke, die wir durchleben könnten! Doch nichts davon, für jetzt – Denke jetzt vielmehr nur an das, was Dir in dieser Lage vielleicht weniger reizend scheinen möchte. Denke an das Geschäft, das Dir anheimfiele – aber dann denke auch an die Liebe, die es belohnen wird. – Wilhelmine! – Ach, viele Hindernisse schrecken mich fast zurück. Aber wenn es möglich wäre, sie zu übersteigen! – Wilhelmine! Ich fühle, daß es unbescheiden ist, ein solches Opfer von Dir zu verlangen. Aber wenn Du es mir bringen könntest! Deine Erziehung, Deine Seele, Dein ganzes bisheriges Leben ist von der Art, daß es einen solchen Schritt nicht unmöglich macht. – Indessen, vielleicht ist es doch anders. Ängstige Dich darum nicht. Ich habe kein Recht auf solche Aufopferungen, und wenn Du dies mir verweigerst, so werde ich darum an Deiner Liebe nicht zweifeln. – Indessen, liebes Mädchen, weiß ich nur fast keinen andern Ausweg. Ich habe mit Ulriken häufig meine Lage und die Zukunft überlegt, und das Mädchen tut alles Mögliche, mich, wie sie meint, auf den rechten Weg zurückzuführen. Aber das ist eben das Übel, daß jeder seinen Weg für den rechten hält. – Wenn Du einstimmen könntest in meinen innigsten Wunsch, dann, Wilhelmine, dann will ich Dir zeigen, welch ein Glück uns bevorsteht, an das kein anderes reicht. Dann erwarte einen froheren Brief von mir – Wenn ein solcher Schritt wirklich Dein Glück begründen könnte, so wird auch Dein Vater nichts dagegen einwenden. – Antworte mir bald. Mein Plan ist, den Winter noch in dieser traurigen Stadt zuzubringen, dann auf das Frühjahr nach der Schweiz zu reisen, und mir ein Örtchen auszusuchen, wo es Dir und mir und unsern Kindern einst wohlgefallen könnte. – Ich muß diesen Brief auf die Post tragen, denn mit Sehnsucht sehe ich Deiner Antwort entgegen.
H. K.
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A Mademoiselle Mademoiselle de Zenge l'ainée à Francfort sur l'Oder en Allemagne.
Paris, den 27. Oktober 1801
Liebe Wilhelmine, Du wirst ohne Zweifel schon meinen letzten Brief, in welchem ich Dir meinen Plan für die Zukunft mitteilte, nämlich mich in der Schweiz anzukaufen, empfangen haben. Was sagst Du dazu? Freiheit, die edelste Art der Arbeit, ein Eigentum, ein Weib – ach, liebes Mädchen, für mich ist kein Los wünschenswerter, als dieses. Aber auch für Dich? Stelle Dir Deine Lage nicht so reizlos vor. Sie ist es freilich für jeden dem der rechte Sinn fehlt. Aber darf ich das von Dir fürchten? Bist Du an Pracht und Verschwendung gewöhnt? Sind die Vergnügungen des Stadtlebens nicht auch flache Freuden für Dich? Kann Deine Seele sie genießen? Und bleibt nicht immer noch ein Wunsch unerfüllt, den nur allein eine solche Zukunft, wie ich sie Dir bereite, erfüllen kann? – Liebe Wilhelmine, ich habe, Deine Einbildungskraft nicht zu bestechen, in meinem letzten Briefe Dich gebeten, für die erste Zeit meinen Plan nur an seiner weniger reizenden Seite zu prüfen. Aber nun stelle Dir auch einmal seine reizende vor, und wenn Du mit dem rechten Sinn Vorteile und Nachteile abwägst, o tief, tief sinkt die Schale des Glückes. Höre mich einmal an, oder vielmehr beantworte mir diese eine Frage: Welches ist das höchste Bedürfnis des Weibes? Ich müßte mich sehr irren, wenn Du anders antworten könntest, als: die Liebe ihres Mannes. Und nun sage mir, ob irgend eine Lage alle Genüsse der Liebe so erhöhen, ob irgend ein Verhältnis zwei Herzen so fähig machen kann, Liebe zu geben und Liebe zu empfangen, als ein stilles Landleben? – Glaubst Du daß sich die Leute in der Stadt lieben? Ja, ich glaube es, aber nur in der Zeit, wo sie nichts Besseres zu tun wissen. Der Mann hat ein Amt, er strebt nach Reichtum und Ehre, das kostet ihm Zeit. Indessen würde ihm doch noch einige für die Liebe übrig bleiben. Aber er hat Freunde, er liebt Vergnügungen, das kostet ihm Zeit. Indessen würde ihm doch noch einige für die Liebe übrig bleiben. Aber wenn er in seinem Hause ist, so ist sein zerstreuter Geist außer demselben, und so bleiben nur ein paar Stunden übrig, in welchem er seinem Weibe ein paar karge Opfer bringt – Etwas Ähnliches gilt von dem Weibe, und das ist ein Grund, warum ich das Stadtleben fürchte. Aber nun das Landleben! Der Mann arbeitet; für wen? Für sein Weib. Er ruht aus; wo? bei seinem Weibe. Er geht in die Einsamkeit; wohin? zu seinem Weibe. Er geht in Gesellschaften; wohin? zu seinem Weibe. Er trauert; wo? bei seinem Weibe. Er vergnügt sich; wo? bei seinem Weibe. Das Weib ist ihm alles – und wenn ein Mädchen ein solches Los ziehen kann, wird sie säumen? – Ich sehe mit Sehnsucht einem Briefe von Dir entgegen. Deine Antwort auf meinen letzten Brief wird mich schwerlich noch in Paris treffen. Ich habe überlegt, daß es sowohl meines Vermögens, als der Zeit wegen notwendig sei, mit der Ausführung meines Planes zu eilen. Überdies fesselt mich Paris durch gar nichts, und ich werde daher noch vor dem Winter nach der Schweiz reisen, um den Winter selbst für Erkundigungen und Anstalten zu nutzen. – Sei nicht unruhig. Deine Einstimmung ist ein Haupterfordernis. Ich werde nichts Entscheidendes unternehmen, bis ich Nachricht von Dir erhalten habe. Auch wenn aus der Ausführung dieses Planes nichts werden sollte, ist es mir doch lieb aus dieser Stadt zu kommen, von der ich fast sagen möchte, daß sie mir ekelhaft ist. – Schreibe mir also sogleich nach Bern, und solltest Du mir auch schon nach Paris geschrieben haben. Ich werde mir diesen Brief nachschicken lassen. – Mit Ulriken hat es mir große Kämpfe gekostet. Sie hält die Ausführung meines Planes nicht für möglich, und glaubt auch nicht einmal, daß er mich glücklich machen wird. Aber ich hoffe sie von beiden durch die Erfahrung zu überzeugen. – So gern sie auch die Schweiz sehen möchte, so ist es doch im Winter nicht ratsam. Sie geht also nach Frankfurt zurück, ich begleite sie bis Frankfurt am Main. – Aber dies alles, liebe Wilhelmine, mußt Du aufs sorgfältigste verschweigen; sage auch noch Deinem Vater nichts von meinem Plane, er soll ihn erst erfahren, wenn er ausgeführt ist. Auch bei uns sage nichts, von dem ganzen Inhalt dieses Briefes. Sie möchten sich seltsame Dinge vorstellen, und es ist genug, daß Du im voraus von allem unterrichtet bist. Ulrike wird sie überraschen, und es ihnen beibringen. – Lebe wohl, und wünsche mir Glück. Ich kann nicht länger schreiben, denn der Brief muß auf die Post. – Schreibe Carln, daß er sich gefaßt machen möchte, seinen Johann wieder aufzunehmen. Ende Novembers ist er in Frankfurt a. Oder. H. K.
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[Paris, November 1801?]
Kam die Aufforderung zur Erfüllung eines Versprechens, das ich seit 10 Monaten unerfüllt lassen konnte, wirklich von Ihnen selbst, auf Ihre eigene Veranlassung; so beweist sie mehr für Sie, als Ihr gutes immer zärtliches, anspruchsloses Herz vielleicht ahndet. Tausend andere würden im Gefühl des beleidigten Stolzes über ein so langes Stillschweigen es für Erniedrigung gehalten haben, den Vergessenen an sein Versprechen zu erinnern, da er von selbst dessen sich nicht zu erinnern schien, oder wenigstens ihr Andenken für erloschen halten; und so vielleicht, ohne große Bemühung, den Überrest ihrer eigenen Empfindungen für den Strafbaren noch zu bewahren, allmählich eine Vereinigung gänzlich zugrunde gehen lassen, die schon Jahre zählte und auf unserer beider Laufbahn doch manche Blume entstehen ließ. Allein Sie, der Sie selbst so wahr und innig fühlen, was ungeheuchelte und ungekünstelte Freundschaft ist, wußten auch mich richtig zu beurteilen, und dafür sage ich Ihnen den wärmsten Dank. Sie wußten es wohl, daß ich nicht imstande sein könnte, weder Sie, noch die mannigfaltigen Beweise Ihrer Anhänglichkeit für mich, noch die Tage und Stunden zu vergessen, die wir zusammen verlebt haben, und daß also andere Ursachen, als eine solche, die Sie beleidigen und mich beschimpfen würde, mein Schweigen veranlaßt haben mußten. Keine Vorwürfe, keine Klagen, nur eine zärtliche Bitte setzen Sie ihm entgegen, und verraten auch nicht durch den leisesten Wink, daß Sie alle die Ansprüche fühlten, die Sie zu einem ganz andern Betragen von meiner Seite berechtigen. Wirklich ich glaube noch nie so wahr geliebt worden zu sein, aber gewiß ist auch meine Dankbarkeit ebenso wahr, und oft werfe ich mir vor, daß ich sie damals, als wir noch beisammen waren, wohl noch deutlicher manchmal hätte zu erkennen geben können. Und doch waren Sie immer mit mir zufrieden, immer gleich sanft, immer gleich gefällig und nachgebend gegen meine Eigenheiten, meine Launen, obgleich Sie nicht einmal die Ursache davon einsehen konnten. Ich wußte und sehe es täglich, daß ich den ersten Platz in Ihrem Herzen hatte, aber weit entfernt ein Gleiches von mir zu verlangen, erfüllte Sie jeder, auch der kleinste Beweis meiner Zufriedenheit mit der lebhaftesten Freude, und Sie verlangten für die liebevollen Bemühungen zu meinem Vergnügen keinen Dank, als den, daß ich nur froh war. Unverdorbene Seele, Zögling der liebenden Natur, wie wenige sind, die Dir gleichen!
Nicht wahr, Sie gedenken meiner jetzt oft, wenn Sie alle die bekannten Gegenden wieder betreten, wo wir mit einander die blühende Natur in ihren tausendfachen Szenen der sanften Freude genossen. Der grünende Wald, die flötende Nachtigall, der aufgehende Mond, die schweigende Nacht, der Abend, wenn er sich im stillen Flusse spiegelt, oder der strahlende Mittag, alles wird Sie an ihren abwesenden Freund und an die Vorzeit erinnern. Möchte Ihnen doch mein Verlust ganz ersetzt sein, ich wüßte Sie so gern recht glücklich, und ich weiß, daß Sie das ohne Freundschaft, wie Sie sie für mich empfanden, nicht sein können; das sagte mir so oft Ihr heitrer Blick, wenn wir uns trafen, das sagten mir Ihre Tränen, als wir schieden.
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[Paris und Frankfurt am Main, November 1801]
[Der Anfang fehlt] . . . Sie es nicht auch –? Doch nichts davon. Es gibt unschuldige Gestalten, welche erröten, wenn zwei Menschen sie ansehen. Einem zeigen sie sich gern. –
– Also an dem Arminiusberge standen Sie, an jener Wiege der deutschen Freiheit, die nun ihr Grab gefunden hat? Ach, wie ungleich sind zwei Augenblicke, die ein Jahrtausend trennt! Ordentlich ist heute die Welt; sagen Sie mir, ist sie noch schön? Die armen lechzenden Herzen! Schönes und Großes möchten sie tun, aber niemand bedarf ihrer, alles geschieht jetzt ohne ihr Zutun. Denn seitdem man die Ordnung erfunden hat, sind alle großen Tugenden unnötig geworden. Wenn uns ein Armer um eine Gabe anspricht, so befiehlt uns ein Polizeiedikt, daß wir ihn in ein Arbeitshaus abliefern sollen. Wenn ein Ungeduldiger den Greis, der an dem Fenster eines brennenden Hauses um Hilfe schreit, retten will, so weiset ihn die Wache, die am Eingange steht, zurück, und bedeutet ihn, daß die gehörigen Verfügungen bereits getroffen sind. Wenn ein Jüngling gegen den Feind, der sein Vaterland bedroht, mutig zu den Waffen greifen will, so belehrt man ihn, daß der König ein Heer besolde, welches für Geld den Staat beschützt. – Wohl dem Arminius, daß er einen großen Augenblick fand. Denn was bliebe ihm heutzutage übrig, als etwa Lieutenant zu werden in einem preußischen Regiment?
– Sie scheinen mit Goethens Person nicht so zufrieden zu sein, wie mit seinen Schriften. – Aber ums Himmels willen, gnädigste Frau, wenn wir von den Dichtern verlangen wollen, daß sie so idealisch sein sollen, wie ihre Helden, wird es noch Dichter geben? Und wenn die Menschen alles tun sollen, was sie in ihren Büchern lehren, wird uns jemand wohl noch Bücher schreiben?
– Ich soll Ihnen etwas von den hiesigen Kunstwerken mitteilen? Herzlich gern, so gut das nämlich durch die Sprache angeht. – Es ist seltsam, daß ich unter den hiesigen Bildern nicht das Vergnügen empfinde, das ich in der dresdenschen Galerie genoß. Es sind hier in drei großen Sälen eine ganz erstaunliche Menge von Gemälden, aus allen Schulen Europas und zwar fast bloß Meisterstücke vorhanden; aber ein Stück kann sehr gelehrt sein, ohne daß es darum gefällt. [Etwa 8 Zeilen fehlen] . . . und die, die ihn von unten empfangen, berühren ihn so wehmütig sanft, als wollten sie ihm noch im Tode Schmerzen ersparen. Dann zähle ich noch zu meinen Lieblingsstücken einen Guido [Reni], die Vereinigung der Zeichnung mit dem Kolorit, höchst sinnreich und gedankenvoll, ein Stück, das keinen andern Fehler hat, als diesen, daß es eine Allegorie ist. Zuletzt ist noch unter den wenigen aufgestellten Raphaelen ein Erzengel, von dem man recht sagen kann, daß er heranwettert, einen Teufel niederzuschmettern. Aber – Ach, in Dresden war eine Gestalt, die mich wie ein geliebtes, angebetetes Wesen in der Galerie fesselte – und ich kann mir jetzt die Schwärmerei der alten Chevalerie, Traumgestalten wie Lebende anzubeten, sehr wohl erklären. – Ich sprach von Raphaels Mutter Gottes. Mußte ich das noch hinzusetzen –? Sie sind ja, wie ich aus Ihrem Briefe sehe, in Kassel gewesen. Da werden Sie nicht versäumt haben, in dem Zimmer des Direktors Tischbein zwei seinem hannövrischen Bruder gehörige Stücke zu sehen, die alle landgräflichen Tableaus aufwiegen: nämlich der heilge Johannes von Raphael und ein Engel des Friedens von Guido [Reni]. Das sind ein paar Bilder, die man stundenlang mit immer beschäftigter Seele betrachten kann. Man steht vor einer solchen Gestalt, wie vor einem Schatze von Gedanken, die in üppiger Mannigfaltigkeit auf den Ruf einer Seele heraufsteigen. Wie schlecht verstehn sich die Künstler auf die Kunst, wenn sie, wie Lebrun ganze Wände mit einer zehnfach komplizierten Handlung bemalen. Eine Empfindung, aber mit ihrer ganzen Kraft darzustellen, das ist die höchste Aufgabe für die Kunst, und darum ist Raphael auch mir ein Liebling. In dem Antlitz eines einzigen Raphaels liegen mehr Gedanken, als in allen Tableaus der französischen Schule zusammengenommen, und während man kalt vor den Schlachtstücken, deren Anordnung das Auge kaum fassen kann, vorübergeht, steht man still vor einem Antlitz und denkt. – Viele der schönsten Tableaus aus der italienischen Schule sind hier noch nicht aufgestellt, und es ist verboten, Fremde in den Saal zu führen, wo sie auf dem Boden übereinander liegen. Ein freundliches Wort aber und ein kleiner Taler vermögen alles bei dem Franzosen, und der Aufseher ließ mich heimlich in den Saal schlüpfen, wo Raphaels Verklärung zu sehen war. – Unwürdig ist es, wie man hier mit den eroberten Kunstwerken umgeht. Nicht genug, daß einige Tableaus ganz verschwunden sind, niemand weiß, wohin? und daß eine Menge von Gemmen, statt in dem Antikenkabinett aufbewahrt zu werden, die Hälse der Weiber französischer Generale schmücken; auch die vorhandnen Kunstwerke werden nicht sorgsam genug aufbewahrt, und besonders in dem noch nicht vollendeten Saale liegen die Blätter, die das Entzücken der Seele sind, wild und bestaubt und mit Kreide beschrieben übereinander. Ja selbst die vollendeten Säle sind bei weitem nicht prächtig genug, um würdig solche Werke aufzubewahren. Der große, wenigstens 200 Schritt lange, aber sehr schmale Saal im Louvre, in welchem mit schlechten hölzernen Rahmen die Tableaus in ungleicher, übergehender Richtung aufgehängt sind, sieht aus wie eine Polterkammer. Der Saal, in welchem die Götter und Heroen der Griechen versammelt sind, ist, statt mit Marmor, mit Holz gefüttert, das den Zuschauer mit der Farbe des ewigen Steines betrügen soll. Recht traurig ist der Anblick dieser Gestalten, die an diesem Orte wie Emigrierte aussehen – Der Himmel von Frankreich scheint schwer auf ihnen zu liegen, sie scheinen sich nach ihrem Vaterlande, nach dem klassischen Boden zu sehnen, der sie erzeugte, oder doch wenigstens als Waisen hoher Abkunft würdig ihrer pflegte. – Ja, wahrlich, kann man weniger tun, als den Diamanten in Gold fassen? Und wenn man für diese ganze Sammlung von Kunstwerken, die kein König bezahlen kann, ein Gebäude aufführte nach allen Forderungen der Pracht und des Geschmacks, hieße das mehr tun, als wenn man ein einziges Tableau in einen vergoldeten Rahm hängt? – Sie können leicht denken, daß die Säle immer dichtgedrängt voll Menschen sind. Selbst der Wasserträger setzt an dem Eingange seine Eimer nieder, um ein Weilchen den Apoll vom Belvedere zu betrachten. Ein solcher Mensch denkt, er vertriebe sich die Zeit, indessen ihn der Gott große Dinge lehrt. – Viel freilich muß der Franzose noch lernen. Kürzlich stand einer neben mir und fragte: tout cela, est il fait à Paris? – In der Bildergalerie zu Versailles kann ein Künstler die französische Schule ganz vollständig studieren. Da ist doch ein Genie, vor dem sich eine Frau, wie Sie, beugen muß. Le Sueur ist sein unbekannter Name. Nahe dem Raphael ist er getreten, und wer weiß wohin er gestiegen wäre, wenn nicht der Neid seines Nebenbuhlers Lebrun ihn aus dem Wege geräumt hätte. Man sagt, daß er, noch ein Jüngling, an der Vergiftung starb. – Noch ein Museum ist hier vorhanden, das ich auch selbst in Hinsicht der äußern Einrichtung vortrefflich nennen möchte. Es ist einzig in seiner Art. Man hat nämlich alle französischen, in den Zeiten des Vandalismus ihrem Untergange nahe, Kunstwerke des Altertums aus Kirchen und Kirchhöfen nach Paris gebracht, und hier in einem Kloster, in seinem Kreuzgange, und in seinem Garten, aufgestellt; und so ist eine Sammlung entstanden, welche, den Kunstgeschichtsforscher über den ganzen Gang der Kunst in Frankreich, aufklären kann. Immer den Produkten eines jeden Jahrhunderts ist ein eigner, seinem Geiste entsprechender Saal gewidmet – In dem Garten stehen hier und dort Urnen voll heiliger Asche. Sie würde ich zuerst in einen Winkel des Gartens führen. Da steht unter einer dunkeln Plantane ein altes, gotisches Gefäß. Das Gefäß enthält die Asche Abälards und Heloïsens. – Es wird Ihnen wohl auch interessant sein, etwas von den neuern Kunstwerken zu hören, die während der 5 Ergänzungstage, welche das französische Jahr beschließen, in dem Louvre aufgestellt waren. Erwarten Sie aber nicht viel davon – Erwarten Sie überhaupt nicht viel von der neuern Kunst. Kunstwerke sind Produkte der Phantasie, und der ganze Gang unsrer heutigen Kultur geht dahin, das Gebiet des Verstandes immer mehr und mehr zu erweitern, das heißt, das Gebiet der Einbildungskraft immer mehr und mehr zu verengen.
Frankfurt am Main, den 29. November 1801
Liebe Freundin, wie soll ich Ihnen so vieles, das Ihnen bei dieser Überschrift auffallen wird, erklären? Ach, das Leben wird immer verwickelter und das Vertrauen immer schwerer. – Ich habe mit Ulriken Paris verlassen und sie bis Frft. am Main begleitet. Von hier aus geht sie allein in ihr Vaterland zurück. Ich gehe nach der Schweiz. – Beim Einpacken fand ich diesen unvollendeten Brief. Halten Sie, wenn es möglich ist, bei dieser Verzögerung meiner seltsamen Stimmung, die Sie nicht kennen, etwas zugute. Ich weiß es, daß Sie auch den Wert, den das Unvollkommene hat, empfinden. – Wenn Sie mir ein paar freundliche Worte nach Bern schreiben wollten, so wird es mir herzlich lieb sein. Könnten Sie nicht auch Leopold dazu aufmuntern, von dem ich seit unsrer Trennung nicht eine Zeile gesehen habe? – Wenn es noch Zeit ist, das Kapital von 500 Rth. an Werdeck für Weihnachten auszuzahlen, so ersuche ich ihn, ein paar Worte darüber an Wilhelm Pannwitz zu schreiben, der alle meine Geldgeschäfte besorgt. Wie geht es ihm? Ist er gesund? Und heiter? – Grüßen Sie Fr. Schlegel und Braut, und schenken Sie immer Ihr Wohlwollen Ihrem Freunde Heinrich Kleist.
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An Fräulein Wilhelmine v. Zenge zu Frankfurt a. Oder.
Frankfurt am Main, den 2. Dezember 1801
Liebe Wilhelmine, ich fürchte nicht, daß Dich Ulrikens Ankunft ohne mich schmerzhaft überraschen wird, da ich Dich bereits von Paris aus darauf vorbereitet, und Dir meinen Plan, noch in diesem Winter nach der Schweiz zu reisen, darin mitgeteilt habe.
Deinen Brief habe ich noch in Paris, noch an dem Morgen meiner Abreise, fast kaum eine Stunde ehe ich mich in den Wagen setzte, erhalten – Ob er mir Freude gemacht hat –?
Liebe Freundin, ich möchte nicht gern an Deiner Liebe zweifeln müssen, und noch wankt mein Glaube nicht – Wenn es auch keine hohe Neigung ist, innig ist sie doch immer, und noch immer, trotz Deines Briefes, kann sie mich glücklich machen.
Ich wüßte kein besseres, herzlicheres Mittel, uns beide wieder auf die alte Bahn zu führen, als dieses: laß uns beide Deinen letzten Brief vergessen.
Herzlich lieb ist es mir, daß ich ihn nicht gleich in der ersten Stimmung beantwortete, und daß ich auf einer Reise von 15 Tagen Zeit genug gehabt habe, Dich zu entschuldigen. Ich fühle nun, daß ich doch immer noch auf Deine Liebe rechnen kann, und daß Deine Weigerung, mir nach der Schweiz zu folgen, auf vielen Gründen beruhen kann, die unsrer Vereinigung gar keinen Abbruch tun.
Deine Anhänglichkeit an Dein väterliches Haus ist mir so ehrwürdig, und wird mir doch, wenn Du mich nur wahrhaft liebst, so wenig schaden, daß es gar nicht nötig ist, das mindeste dagegen einzuwenden. Sind nicht fast alle Töchter in demselben Falle, und folgen sie nicht doch, so schwer es ihnen auch scheint, dem weisen Spruche aus der Bibel: Du sollst Vater und Mutter verlassen und Deinem Manne anhangen?
Wenn Du mich nur wahrhaft liebst, wenn Du nur wahrhaft bei mir glücklich zu werden hoffst – Und da mochte freilich in meiner ersten Einladung, aus Furcht Dich bloß zu überreden, zu wenig Überzeugendes, zu wenig Einladendes liegen.
Deine ganze Weigerung scheint daher mehr ein Mißverständnis, als die Frucht einer ruhigen Prüfung zu sein. Du schreibst Dein Körper sei zu schwach für die Pflichten einer Bauersfrau – und dabei hast Du Dir wahrscheinlich die niedrigsten ekelhaftesten gedacht. Aber denke Dir die besseren, angenehmeren, denke daß Dir in einer solchen Wirtschaft, wie ich sie unternehmen werde, wenigstens 2 oder 3 Mägde zur Seite gehen – wirst Du auch jetzt noch zu schwach sein?
Liebe Wilhelmine, wenn Du Dich jetzt nicht recht gesund fühlst, so denke, daß vielleicht Dein städtisches Leben an manchem schuld sei, und daß gewiß die Art der Arbeit, die ich Dir vorschlage, statt Deine Kräfte zu übersteigen, sie vielmehr stärken wird. Aufblühn wirst Du vielleicht – Doch ich verschweige alles, was nur irgend einer Überredung ähnlich sehen könnte. Freiwillig und gern mußt Du mir folgen können, wenn nicht jeder trübe Blick mir ein Vorwurf sein soll. – Dennoch würde ich mehr hinzusetzen, wenn ich nur mit voller Überzeugung wüßte, daß Du mich nicht weniger innig liebst, als ich es doch notwendig bedarf. Manche Deiner Gründe der Weigerung sind so seltsam – Du schreibst, Kopfschmerzen bekämst Du im Sonnenschein – Doch nichts davon. Alles ist vergessen, wenn Du Dich noch mit Fröhlichkeit und Heiterkeit entschließen kannst. Ich habe Dir kurz vor meiner Abreise von Paris alles gezeigt, was auf dem Wege, den ich Dich führen will, Herrliches und Vortreffliches für Dich liegt. Die Antwort auf diesen Brief soll entscheidend sein. Du wirst ihn wahrscheinlich schon nach Bern geschickt haben, und ich ihn dort bei meiner Durchreise empfangen. Es wird der Augenblick sein, der über das Glück der Zukunft entscheidet.
Heinrich Kleist.
N. S. Louisens Vorschlag ist mir um des Wohlwollens willen, das ihn gebildet hat, innig rührend. Aber wenn ich auch, als ich Deinen Brief erhielt, meinen Koffer noch nicht durch die Post nach Bern geschickt gehabt hätte, so würde ich doch nicht haben nach Frkft. zurückkehren können, wenigstens jetzt noch nicht. Denn ob ich gleich alle die falschen Urteile, die von Gelehrten und Ungelehrten über mich ergehen werden, in der Ferne ertragen kann, so wäre es mir doch unerträglich gewesen, sie anzuhören, oder aus Mienen zu lesen. Ich kann nicht ohne Kränkung an alle die Hoffnungen denken, die ich erst geweckt, dann getäuscht habe – und ich sollte nach Frft. zurückkehren? Ja, wenn Frft. nicht größer wäre, als der Nonnenwinkel – Küsse Louisen, und bitte sie ein gutes Wort für mich bei Dir einzulegen. Sage ihr, daß wenn mir keine Jugendfreundin zur Gattin würde, ich nie eine besitzen würde. Das wird sie bewegen –
Carln hätte ich eigentlich notwendig schreiben müssen wegen Johann. Es ist mir aber unmöglich und ich bitte Dich, ihn zu benachrichtigen, daß dieser Mensch mich auf eine unwürdige Art, 2 Tage vor der Abreise, da schon die Pferde gekauft waren, in Paris verlassen hat. Wäre er mir nur halb so gut gewesen, als ich ihm, er wäre bei mir geblieben – Gibt es denn nirgends Treue? – – Ach, Wilhelmine –!
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Basel, den 16. Dezember 1801
Mein liebes, teures Ulrikchen, möchtest Du doch das Ziel Deiner Reise so glücklich erreicht haben, wie ich das Ziel der meinigen! Ich kann nicht ohne Besorgnis an Deine einsame Fahrt denken. Niemals habe ich meine Trennung von Dir gebilligt, aber niemals weniger als jetzt. Aber Gott weiß, daß oft dem Menschen nichts anders übrig bleibt als unrecht zu tun. – Vielleicht bist Du in diesem Augenblick damit beschäftigt, mir aus Frankfurt zu schreiben, daß Du mir alles verzeihst. Denn Deine unbezwungene Tugend ist es, ich weiß es – Ach, Ulrike, alles, was ich nach dem Trennungstage von Dir denken würde, habe ich monatelang vorhergesehen. Doch ich weiß, daß Du es nicht gerne hörst.
Ich habe auf meiner Reise oft Gelegenheit gefunden, mich Deiner zu erinnern, und wehmütiger, als Du glaubst. Denn immer sah ich Dich, so wie Du Dich in den letzten Tagen, ja auf der ganzen Fahrt von Paris nach Frankfurt mir zeigtest. Da warst Du so sanft – Deine erste Tagereise ging wahrscheinlich bis Hanau, die meinige bis Darmstadt. Das war ein recht trauriger Tag, der gar kein Ende nehmen wollte. Am andern Morgen, als wir über die schöne Bergstraße nach Heidelberg gingen, ward unsre Wanderung heiterer. Denn da war alles so weit, so groß, so weit, und die Lüfte wehten da so warm, wie damals auf dem Kienast in Schlesien. – Vergiß nicht Leopold zu sagen, daß er Gleißenberg von mir grüßen soll. – In Heidelberg bestieg ich wieder die schöne Ruine, die Du kennst. Daran haben wir damals nicht gedacht, daß Clairant und Clara wirklich einander bei dem tiefen Brunnen, der hier in den Felsen gehauen ist, zuerst wiedersahen, und daß doch etwas Wahres an dieser Geschichte ist. – Bei Durlach saßen wir einmal beide auf dem Turnberg, und sahen die Sonne jenseits des Rheins über den Vogesen untergehen. Entsinnst Du Dich wohl noch unsers Gesprächs? Mir war das alles wieder lebendig, als ich diesmal dicht an dem Fuße dieses Berges vorbeiging. – Ich bin diesmal auch in Karlsruhe gewesen, und es ist schade, daß Du diese Stadt, die wie ein Stern gebaut ist, nicht gesehen hast. Sie ist klar und lichtvoll wie eine Regel, und wenn man hineintritt, so ist es, als ob ein geordneter Verstand uns anspräche. – Bei Straßburg ging ich mit meinem Reisegefährten über den Rhein. Das ist wohl ein guter Mensch, den man recht lieb haben kann. Seine Rede ist etwas rauh, doch seine Tat ist sanft. – Wir rechneten ohngefähr, daß Du an diesem Tage in Leipzig sein könntest. Hast Du Hindenburg wieder gesprochen? Auch die jüngste Schlieben? Ich habe in Straßburg niemanden besucht, vorzüglich darum, weil die Zeit zu kurz war. Denn der schlechte Weg und die kurzen Wintertage hatten uns außerordentlich verspätet. Das Wetter für diese Reise war aber so ziemlich erträglich, fast ebenso erträglich wie auf der Lebensreise, ein Wechsel von trüben Tagen und heitern Stunden. Manche Augenblicke waren herrlich und hätten im Frühlinge nicht schöner sein können. – Von hier aus gingen wir durch das französische Elsaß nach Basel. Es war eine finstre Nacht als ich in das neue Vaterland trat. Ein stiller Landregen fiel überall nieder. Ich suchte Sterne in den Wolken und dachte mancherlei. Denn Nahes und Fernes, alles war so dunkel. Mir wars, wie ein Eintritt in ein anderes Leben. – Ich bin schon seit einigen Tagen hier, und hätte Dir freilich ein wenig früher schreiben können. Aber als ich mich am Morgen nach meiner Ankunft niedersetzte, war es mir ganz unmöglich. – Diese Stadt ist sehr still, man könnte fast sagen öde. Der Schnee liegt überall auf den Bergen, und die Natur sieht hier aus wie eine 80jährige Frau. Doch sieht man ihr an, daß sie in ihrer Jugend wohl schön gewesen sein mag. – Zuweilen stehe ich auf der Rheinbrücke, und es ist erfreulich zu sehen, wie dieser Strom schon an seinem Beginnen so mächtig anfängt. Aber man sagt, er verliert sich im Sande. – Heinrich Zschokke ist nicht mehr hier. Er hat seinen Abschied genommen und ist jetzt in Bern. Er hat einen guten Ruf und viele Liebe zurückgelassen. Man sagt, er sei mit der jetzigen Regierung nicht recht zufrieden. Ach, Ulrike, ein unglückseliger Geist geht durch die Schweiz. Es feinden sich die Bürger untereinander an. O Gott, wenn ich doch nicht fände, auch hier nicht fände, was ich suche, und doch notwendiger bedarf, als das Leben! – Ich wollte, Du wärest bei mir geblieben. – Sind wir nicht wie Körper und Seele, die auch oft im Widerspruche stehen und doch ungern scheiden? – Lebe wohl, schreibe mir nach Bern. Wenn mein liebes, bestes Tantchen ein freundliches Wort in Deinem Brief schreiben wollte, wenn auch Minette, Gustel, Leopold, Julchen das tun wollten, so würde mich das unbeschreiblich freun.
Heinrich Kleist.
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An HErrn Lohse
Liestal, den 23. (–29.) Dezember 1801
Mein lieber Lohse, Du empfängst durch einen Boten diesen eingeschlossnen Schlüssel, den ich nicht, wie ich gestern versprach, selbst nach Basel bringen kann, weil ich mich krankhaft ermattet fühle am Leibe und an der Seele. Sondre Dein Eigentum von dem meinigen ab, schicke den Schlüssel mir zurück, und bedeute unsre lieben Wirtsleute, daß sie meine beiden Koffer zurückbehalten sollen bis auf weitere Nachricht.
Und weiter hätte ich Dir nichts zu sagen? O doch, noch etwas. Aber sei unbesorgt. Du sollst keine Vorwürfe von mir hören. Ich will Abschied von Dir nehmen auf ewig, und dabei fühle ich mich so friedliebend, so liebreich, wie in der Nähe einer Todesstunde.
Ich bitte um Deine Verzeihung! Ich weiß, daß eine Schuld auch auf meiner Seele haftet, keine häßliche zwar, aber doch eine, diese, daß ich Dein Gutes nicht nach seiner Würde ehrte, weil es nicht das Beste war. O verzeihe mir! Es ist mein töricht überspanntes Gemüt, das sich nie an dem, was ist, sondern nur an dem, was nicht ist, erfreuen kann. Sage nicht, daß Gott mir verzeihen solle. Tue Du es, es wird Dir göttlich stehen.
Ich verzeihe Dir alles, o alles. Ich weiß jetzt nicht einmal, ja kaum weiß ich noch, was mich gestern so heftig gegen Dich erzürnt hat, und wenn ich mich in diesem öden Zimmer so traurig einsam sehe, so kann ich mir gar nicht Rechenschaft geben, gar nicht deutlich, warum Du nicht bei mir bist?
Und ich sollte Dich nicht lieben? Ach, wie wirst Du jemals einen Menschen überzeugen können, daß ich Dich nicht liebte! – Du hast wohl selten daran gedacht, was ich schon für Dich getan habe? Und es war doch so viel, so viel, ich hätte für meinen Bruder nicht mehr tun können. Denke nun zuweilen daran zurück, auch an Metz, ich muß Dich nur daran erinnern. Ach es ist nicht möglich, nicht möglich, es muß Dich doch immer rühren, so oft Du daran denkst.
Und doch konntest Du von mir scheiden? So schnell? So leicht –? Ach, Lohse, wenn Caroline Dich einst fragen wird, wie konntest Du so schnell, so leicht von einem Menschen scheiden, der Dir doch so viel Liebes, so viel Gutes tat, wie wirst Du Dich getrauen können zu antworten, es sei geschehen, weil er immer recht haben wollte –?
O weg von dem verhaßten Gegenstande. Du fühlst gewiß nicht einmal, was mich daran schmerzt. Ich habe mich in den vergangnen Tagen vergebens bemüht, auch mir diese Empfindlichkeit zu stumpfen. Aber noch die bloße Erinnerung erregt mir die Leidenschaft. – Was suchten wir wohl auf unserm schönen Wege? War es nicht Ruhe vor der Leidenschaft; Warum grade, grade Du –? Es war mir doch alles in der Welt so gleichgültig, selbst das Höchste so gleichgültig; wie ging es zu, daß ich mich oft an das Nichtswürdige setzen konnte, als gälte es Tod und Leben? Ach, es ist abscheulich, abscheulich, ich fühle mich jetzt wieder so bitter, so feindselig, so häßlich – Und doch hättest Du alle holden Töne aus dem Instrumente locken können, das Du nun bloß zerrissen hast –
Doch das ist geschehen. Ich will kurz sein. Unsere Lebenswege scheiden sich, lebe wohl – Und wir sollten uns nicht wiedersehen –? O wenn Gott diesmal mein krankhaftes Gefühl nicht betrügen wollte, wenn er mich sterben ließe! Denn niemals, niemals hier werde ich glücklich sein, auch nicht wenn Du wiederkehrst – Und Du glaubst, ich würde eine Geliebte finden? Und kann mir nicht einmal einen Freund erwerben? O geht, geht, ihr habt alle keine Herzen – – Wenn mir geholfen ist, wie ich es wünsche, so ist es auch Dir. Ich weiß wohl noch etwas, worüber Du Tränen des Entzückens weinen sollst. Dann wird auch Caroline Dir etwas von mir erzählen – O Gott, Caroline! – Wirst Du sie denn auch glücklich machen? – O verschmähe nicht eine Warnung. Es ist die letzte, die pflegt aus reiner Quelle zu kommen. Traue nicht dem Gefühl, das Dir sagt, an Dir sei nichts mehr zu ändern. Vieles solltest Du ändern, manches auch könntest Du. Lerne auch mit dem Zarten umzugehen. – Wenn aber die Lebensreise noch nicht am Ende wäre, dann weiß ich noch nichts Bestimmtes. Bei Heinrich Zschokke wirst Du aber immer erfahren können, wo ich bin. Schreibe mir, in ein paar Monaten, wo Du bist, dann will ich mein Versprechen halten, und Dir die Hälfte von allem überschicken, was mein ist.
Und nun, was ich noch sagen wollte – es wird mir so schwer das letzte Wort zu schreiben – wir waren uns doch in Paris so gut, o so gut – Bist Du nicht auch unsäglich traurig? Ach, höre, willst Du mich nicht noch einmal umarmen? Nichts, nichts gedacht, frage Dein erstes Gefühl, dem folge – – Und wenn es doch das letzte Wort wäre – O Gott, so sage ich Dir und allen Freuden das Lebewohl Lebewohl Lebewohl. Heinrich Kleist.
Bern, den 27. Dezember
Also Du bist nicht nach Basel gegangen? Ei der Tausend! Wie man doch die dummen Leute anführen kann! Denn ich habe Dich wirklich überall voll Betrübnis gesucht, und die ganze Szene von Metz wiederholt – Also Du bist frisch und gesund in Bern? Nun, das freut mich, freut mich doch – Aber Gott weiß, ich habe jetzt einen innerlichen Widerwillen vor Dir und könnte Dich niemals wieder herzlich umarmen. Ich nehme also das Obengesagte zurück. – Empfange Dein Eigentum in der Krone, schicke mir die Karte, Pantoffeln etc. etc. und lebe recht wohl.
den 29., mittags
Mein lieber Lohse, ich muß Dir jetzt doch mein unverständliches Betragen erklären! – Ich schrieb diesen Brief in Liechstal und empfing ihn in Basel zurück. – Als ich in Bern erfuhr, daß Du hier hier seist, schrieb ich die Nachschrift. Denn damals schien es mir noch süß, Dir wehe zu tun. – Am andern Tage dachte ich wieder, es [sei] so besser Dir das zu ersparen. Darum schickte ich Dir bloß die Sachen ohne den Brief – Heute morgen als ich Dich unter den Arkaden begegnete, Gott weiß, ich hatte das alles vergessen und mir war es wie vor 6 oder 8 Wochen. Aber das war doch wohl nur bloß ein vorübergehendes Gefühl – Prüfe selbst ruhig, ob wir wohl für einander passen – Du wirst wie ich, die Unmöglichkeit einsehen – Aber komm noch einmal zu mir, wir wollen ohne Groll scheiden.