Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Warschau am Tage nach dem Staatsstreich

Es ist der erste Zug, seit fünf Tagen der erste, der aus Rußland nach Polen fährt, wo seit fünf Tagen Revolution ist. Revolution? Zwischen Negorela, der russischen, und Stolpce, der polnischen Grenzstation, nehmen die Passagiere den harten Kragen aus dem Koffer, die Brillantringe aus der Tasche, binden seidene Krawatten um, sind alle bereit, sich aus Kleidern zu Leuten zu machen. Trotzdem niemand weiß, wie's in Polen aussehen mag – so arg, das weiß doch jeder Niemand, kann der Bürgerkrieg keinesfalls geworden sein, daß man einen dicken Herrn nicht respektieren wird, wenn er vier breite Ringe mit Brillanten an den Fingern hat. Diese Grenze ist wirklich eine Grenze, die einzige in der Welt. Die Zollbeamten und Grenzoffiziere haben goldglänzende Uniformen, verschwenderische Tuchwürfel als Mützen, weiße Glacéhandschuhe und Lackstiefel, die Brust und der Bauch sind mit Orden behängt – so viele Verdienste konnte man sich also in dem jungen Staat bereits erwerben – Hackenzusammenschlagen, tiefe Verbeugungen, Türenaufreißen . . . Schon stürzen sich Passagiere auf die Zeitungen des Westens, Finger tasten über das Kursblatt, die Augen kaufen und verkaufen, ins Kupee drängen sich Händler und fragen, ob man Kaviar mitgebracht habe, sie wollen das dreifache, das Vierfache vom Einkaufspreis bezahlen und drohen, wenn man ihnen nichts verkaufen will, daß die Büchse ohnedies beim Aussteigen oder beim Passieren der deutschen Grenze abgenommen werden wird, Farbstifte verwandeln schwülstige Mäuler in Rosenmündchen, Puderschwaden steigen hoch, Parfüm schwängert die Luft, überschlagene Damenknie kokettieren, und ihnen gegenüber wippt geil ein Shimmyschuh auf Plattfuß. Derart fährt der erste Zug in den Bürgerkrieg.

Man konstatiert mit Befriedigung, daß der Kurs des Zloty sich 312 seit dem Umsturz gebessert hat, selbstverständlich, ist's doch ein Sieg der Armee, die hat eine Kraftprobe geleistet und kann nicht abgebaut werden, die englische Börse hat ein Interesse daran, daß die Armee nicht abgebaut wird, man braucht sie gegen Deutschland und Rußland; wenn das arme Polen auch an der Unterhaltung des Heeres zugrunde geht, schadet das der Entente nichts, im Gegenteil, sie freut sich und revanchiert sich, indem sie auf ein paar Tage den Kurs des Zloty kräftigt. So schleppt der Zug seine Ladung von gefestigten Zloty, geschminkten Lippen und maskierten Plattfüßen durch die Masowischen Wälder in die »Revolution«, rattert über die Weichsel und nähert sich Warschau. Die Reisenden stehen an den Fenstern: wird er halten, wird er nicht halten? Er hält nicht, läuft an der Warschauer Zitadelle vorbei, eigentlich in die Zitadelle, denn auch links ist ein Fort, beschreibt einen Halbkreis um die Stadt und fährt ein.

Warschau ist bereits ruhig. Die Bevölkerung, die zuerst Pilsudski gehaßt hat, weil er ihre Ruhe störte, die Bevölkerung, die zuerst auf Seite der Regierungstruppen stand, weil diese in der Überzahl waren, ist jetzt für Pilsudski, weil er gesiegt hat. Ja, sie ist noch päpstlicher, schimpft, daß er den Präsidenten und den Ministerpräsidenten und die Minister aus der Haft entlassen hat, man fürchtet, sie könnten einen Widerstand organisieren. Pilsudski ist ein viel zu feiner Mensch, sagen alle; kaum ist jemand Staatspräsident, ist er schon ein feiner Mensch, das ist in der ganzen Welt so. Monarchismus der Republikaner. Im übrigen ist alles in Ordnung, die Prostitution sproßt auf den Hauptstraßen, und auch in den Ämtern wird gearbeitet; Glaser, Kranzgeschäfte, Geistliche haben ein gutes Leben, Beerdigungsanstalten und Plakatunternehmungen können den Aufträgen nicht nachkommen, in den Fahrbahnen werden die vorgestern aufgeworfenen Schützengräben wieder dem Erdboden gleichgemacht, die Kirchen stehen Tag und Nacht offen und sind voll von Menschen, die für ihre Toten und Verwundeten beten. Litfaßsäulen und Häuserwände sind beklebt mit schwarzumränderten Plakaten, Todesanzeigen der Erschossenen, Frauen, Kinder, Soldaten und Freiwillige, dazwischen die Programme der Theater 313 und die bunten Affichen der Revuebühne »Qui pro Quo«. An Straßenecken kreuzen sich drei bis vier Leichenbegängnisse, manchen geht ein glanzvoller Priester voran, und eine vierspännige Trauerkalesche trägt den Metallsarg, Herrschaften in Zylinder folgen, manche der Toten müssen sich mit einem schwarz ausgeschlagenen Lastwagen begnügen, sie haben nicht einmal einen Kaplan und nur einen kläglichen Kranz. Zweihundertfünfzig Menschen wurden gemeinsam beerdigt, Freunde und Feinde, Soldaten und Zivilisten, Kämpfer und Opfer. Und die Reden, die die Toten feiern, sprechen von Heldenmut, Opferfreudigkeit, Vaterlandsliebe, ewigem Ruhm, solcherart, daß es auf alle paßt, gleichgültig, ob sie diesseits oder jenseits der Barrikade durchlöchert wurden. Die Harmonie wird auch nicht gestört, als Feldkurat Panasch sich emphatisch die Orden von der Brust reißt und sie dem General vor die Füße wirft, »sie brennen mir auf der Brust!« Das steigert die Erregung, Trauergäste schreien auf und sind einverstanden mit der Geste, in der sie eine Huldigung für die Toten sehen.

Wie Furunkeln mit rotem Kern nehmen sich auf den Fassaden der Häuser und den Säulen der Kirchen die Flintenschüsse aus. Im Zentrum der Stadt wurde gekämpft, in der Gegend des Schlosses, wo einst Poniatowski wohnte, und jetzt, wenn auch nur in einem Kämmerchen, der Dichter Przybyszewski wohnt, beim Hauptbahnhof, in der Marschalkowska ist ein großer Balkon herabgeschossen worden, und die noble Ujazdowskie-Allee arg mitgenommen. Die schönen Kastanienbäume sind vernichtet, die Gitter der Villen verbogen, und selbst den Gesandtschaften wichen die Projektile nicht aus, trotzdem die Fahnen fremder Staaten gehißt waren, sausten die Gewehrkugeln kreuz und quer in die Häuser, zerfetzten Fenster, Möbel und Tapeten und Telephonleitungen. Das Sommercafé Lobzowianka war ein Truppenquartier, und die ungewohnten Gäste haben die freundliche Wirtsstätte übel zugerichtet. Den schrecklichsten Anblick bietet gegenüber das Gebäude des Kriegsministeriums, wo sich die Nowowiejska mit der Aleje Ujazdowskie kreuzt. Hier hat sich ein dreitägiges Gefecht abgespielt, das in der Geschichte von Krieg und Bürgerkrieg wohl nicht seinesgleichen hat: in den 314 Parterreräumen befanden sich Truppen, die dem Marschall Pilsudski anhingen, während im zweiten und dritten Stockwerk Regierungssoldaten ubiquierten. Die Hausbewohner beschossen einander ununterbrochen über den Treppenflur und durch die Plafonddecken, die teilweise herabstürzten, teilweise barsten; in diesem Gebäude gab es hundertachtzig Tote und Schwerverwundete, nicht eine Fensterscheibe ist ganz geblieben, nicht ein Möbelstück auf seinem Platz, nicht eine Stufe unzerschossen, alles ist übereinander geworfen, das Haus ist jetzt unbewohnt und wird es wohl noch geraume Zeit bleiben müssen. Die angrenzenden Straßen, besonders die Bagatela und der Platz Zbawiejela, sind verwüstet, unverwüstet bloß das Belvedere, um das der Kampf ging: die höchsten Kriegsherren pflegen einander persönlich nicht zu gefährden. Ums Schlößchen Wilanowo, dem letzten Sitz der gestürzten Regierung, sind Schützengräben aufgeworfen und Geschützstände ausgehoben, der Bau selbst unversehrt.

Das Warschauer Leben läuft weiter, elegant und leer. Es hat sogar einen Inhalt bekommen durch den Putsch, man kann wieder spekulieren, Kattowitz und Posen sind angeblich gegen das neue Regime, soll man sich mit Zloty eindecken oder soll man Zloty spritzen, soll man ins Ausland fahren oder soll man neue Rekrutenaushebungen abwarten, auf Nalewki wird das jüdische Laubhüttenfest gefeiert, die Kaffeehäuser sind voll, abends wird zum erstenmal wieder Theater gespielt. Das »Theater Narodnie« ist ausverkauft, man gibt ein antirussisches Stück, eine Kommunistin kommt darin vor, mit Schmuck behängt und sich unausgesetzt schminkend, zwei blutrünstige Tschekisten treten auf, der eine in der Maske Lenins, der andere in der Maske Trotzkis, auch sie tragen Brillantringe und schießen zum Spaß auf die Straße, – und das Publikum freut sich sehr, in einem geordneten Staatswesen zu leben und nicht in der bolschewistischen Hölle.

 


 


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