Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Von Ausreißern, kleinen Vagabunden und einem kleinen Dichter

1.

Die Geschütze hatte man manchmal schonen, mit der Munition oft sparsam umgehen, den Verpflegungsnachschub hier und da aussetzen müssen, strategische Pläne konnten versagen, taktische Maßnahmen scheitern – Soldaten aber hatte der Zar immer, sie gegen die Fronten der Deutschen und Österreicher vorwärtszutreiben, unerschöpflich war das Menschenreservoir. (Dachte und denkt jemand an die Kinder, wenn man von den Masuren oder von Przemysl spricht?) Nachher: die Februarrevolution, die Oktoberrevolution, die Bürgerkriege gegen Denikin, Wrangel, Koltschak, Petljura, Judenitsch, die Entente, die Tschechoslowaken, die Finnen, die Baltikumer und die Polen, mit Massenjustifikationen, Vergeltungsmaßnahmen, Attentaten und Zwangseinreihungen, bei denen jeder an den Gegner und niemand an dessen Kinder dachte. Und dann die Hungersnot. Armeen von halbwüchsigen Tramps stahlen und bettelten sich durch Dörfer und Städte, nächtigten auf Steppen und Feldern, schlichen sich in Waggons ein, setzten sich auf die Puffer, preßten sich zwischen die Achsen, um als blinde Passagiere in reichere Gegenden zu kommen, nach Taschkent, der brotreichen Stadt, in das sagenhafte Lichtmeer vor Petersburg oder gar zum Mütterchen Rußlands. Neun Bahnhöfe hat Moskau, und aus jedem ankommenden Zug wissen die weitgereisten, welterfahrenen, menschenkennerischen Knaben an den Polizisten und Schaffnern vorbeizuhuschen, Kameraden zu finden, mit ihnen durch die Straßen zu streichen, in Mistkübeln, Kesseln, Plakatsäulen, Erdgruben und Neubauten zu nächtigen, zu betteln, zu stehlen und Handtäschchen zu rauben. Tausende solcher 214 Miniaturvagabunden gab es in Moskau und noch gibt es Hunderte, obgleich man alles versuchte, um dieser Gegenwarts- und Zukunftsgefahr zu begegnen. Dem »Spon« (Abkürzung für »Socialno pravovaja ochrana nessowerschenno letnich« – Sozialer Rechtsschutz für Minderjährige) unterstehen die Moskauer vier Sammelstellen (Prijomnije punkty) für Straßenkinder, zwei für Knaben, eine für Mädchen und eine für ganz kleine Obdachlose im Alter von vier bis sieben Jahren; in diesen Kollektoren verbleiben sie mindestens zwei Monate, vierzehn Tage hiervon entfallen auf physische Quarantäne, die restlichen sechs Wochen gelten der psychologischen und sozialen Beobachtung, nach der sich das weitere Schicksal des Aufgenommenen richtet. Gewöhnlich wird es von dort in eines der vierhundertsieben Kinderheime Moskaus abgegeben; von denen sind einhundert für normale Kinder, die öffentliche Schulen besuchen können, fünfundsechzig für normale Kinder, für die in der Anstalt eine Schule eingerichtet ist, vierundzwanzig mit Schulwerkstätten für asoziale Kinder, fünfzehn mit Lehrstellen für Gemüse-, Garten- und Feldbebauung gleichfalls für asoziale Kinder, vierzehn Häuser enthalten Kurse zur Berufsausbildung für Begabte und Vorbereitungszirkel für die Arbeiteruniversitäten, zehn dienen als Wohnstätten für die bereits in Betrieben arbeitenden Knaben und Mädchen, drei sind für blinde, acht für taube und stumme, zwei für geistesschwache, eins für venerisch erkrankte, eins für normal schwache, eins für die an Narkotika gewöhnten und eins für epileptische Straßenkinder, einhundertneun Häuser sind in Moskau den obdachlosen normalen Kindern der einzelnen Bezirke eingeräumt, es gibt sechsunddreißig Waldschulen mit Wohn- und Lehrgebäuden in der Umgebung, und sieben »Pasiolok«, Kinderstädte mit 4150 Bewohnern, Wohnhäusern, Werkstätten, Ställen, Scheunen, Schulen, Feldern und Gärten, von den Kindern selbst verwaltet; die größte dieser Kinderstädte ist Puschkino bei Moskau.

Außerdem besteht ein Nachtasyl für Kinder, in das sie um sechs Uhr abends kommen, baden und reine Wäsche erhalten können, und sich morgens wieder entfernen, wenn sie es nicht vorziehen, in das Nachbarhaus zu gehen, das als Tagasyl 215 eingerichtet ist, oder sich in einer Sammelstelle aufnehmen zu lassen. Fünfunddreißigtausend Minderjährige wohnen jetzt ständig in den Moskauer Heimen.

In die Kollektoren werden auch die von der Polizei festgenommenen und vom Jugendgericht verurteilten Verbrecher überstellt. Eigentlich gibt es kein Jugendgericht, sondern nur eine »Kommission in Angelegenheit der Minderjährigen«, keine Verurteilung, sondern eine »Rechtsbehandlung«, und keine jugendlichen Verbrecher, sondern bloß »minderjährige Rechtsverletzer«. Man will alles vermeiden, was an Gericht, Verbrechen und Strafe erinnert; nur in ganz schweren Fällen, deren Täter im Alter von vierzehn bis sechzehn Jahren stehen, übergibt man die Beschuldigten dem regulären Volksgericht, das sie verurteilen und in das Arbeitshaus für Minderjährige (»Trudowoj dom dla junoschej lischonich svobody ot 14–16 liet«) schicken kann. Die Kommission, die aus einer Pädagogin, einem Arzt und einem Volksrichter zusammengesetzt ist, hat die Aufgabe, sich weniger um das Delikt als um den Charakter und den Einfluß des Milieus auf das Kind zu kümmern; sie amtiert täglich und behandelt die Vorgeführten sofort, nachdem aus der im Haus befindlichen Registratur die eventuellen Vorakten geholt worden sind; auf Grund dieser Akten und des Vorfalls, der zur Arretierung Anlaß gab, erstattet ein angestellter Pädagoge Bericht, Akten, Anzeige und Pädagoge verschwinden und der minderjährige Rechtsverletzer tritt ein. Ein Gespräch entspinnt sich: »Hallo, Mitja, du bist also wieder hier! Was hast du wieder ausgefressen?« – »Ich hab' eine Apfelsine geklaut.« – »Eine Apfelsine? Ich dachte, es war ein ganzer Papiersack mit Apfelsinen, der auf der Wage lag. In der Twerskaja, nicht?« – »Na ja, bei einem Verkaufskasten.« – »Wann war denn das?« – »Vor einer Stunde erst oder vielleicht vor zweien.« – »Um halb zwölf also. Warst du denn nicht in der Schule?« – »Nein, ich bin heute nicht gegangen.« – »Nur heute? Es ist doch besser, in der Schule zu sitzen, als bei solch einer Kälte in den Straßen herumzulungern. Was sagen dein Vater und deine Mutter dazu, wenn du nicht in die Schule gehst?« – »Sie gehen in die Fabrik und kümmern sich nicht darum.« – »Da sollst du dich eben 216 selbst darum kümmern. Willst du ein Dieb werden?« – »Ich bin kein Dieb.« – »Natürlich nicht, wenn man ein paar Apfelsinen wegnimmt, so ist man noch kein Dieb. Aber das ist der Weg, ein Dieb zu werden, besonders wenn man nicht zur Schule geht. Versprich mir, daß du jetzt pünktlich in die Schule gehen wirst.« – »Das geht nicht. Der Lehrer wird mich bestrafen, weil ich schon acht Tage nicht dort war.« – »Er wird dir kein Wort sagen, wir werden dir einen Zettel mitgeben, daß du nicht kommen konntest. Bist du einverstanden?« – »Ja.« – »Kannst du dein Ehrenwort geben, daß du morgen in die Schule gehst, damit wir den Zettel nicht überflüssigerweise schreiben?« – »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich von morgen ab wieder in die Schule gehen werde.«

Der nächste Angeklagte, etwa dreizehn Jahre, zerlumpt, mit ungleichen Schuhen, fast stirnlos, breites Kinn, abstehende Ohren, hat am Marktplatz ein Paar Galoschen gestohlen. Ist rückfällig, bereits zweimal aus Anstalten entlaufen. »Also mit dir ist nichts zu machen, was? Du willst in keine Kommune und in keine Schule gehen, nicht wahr?« – »Kann das nicht, was die andern können.« – »So mußt du es eben lernen.« – »Kann es nicht lernen. Möchte wieder aufs Land.« – »Du kannst ja in eine Feldkolonie gehen.« – »Will als Knecht zu Kühen und Ochsen. Mein Onkel nimmt mich gleich.« – »Wo ist dein Onkel?« – »Bei Leningrad ist er Bauer, er läßt mich im Stall schlafen und gibt mir zu essen.« – »Wann würdest du denn fahren?« – »Wenn ich Geld hätte, noch heute.« – »Wir werden dir also eine Fahrkarte kaufen und dich heute abend in den Zug setzen.« – »Ist das wirklich wahr?« – »Du mußt uns nur versprechen, daß du dort zur Schule gehen wirst.« – »Kann ich schon versprechen, aber lernen werde ich nichts, das sag' ich gleich, in meinen Kopf geht nichts hinein . . .«

Die nächste: ein Mädchen, kaum fünfzehnjährig, räudige Astrachanmütze, kurzes Haar, in zerfetztes Zeug gehüllt, betreibt Prostitution, unterstandslos, vom Hauswirt vor zwei Jahren vergewaltigt, wird wegen Wäschediebstahls vorgeführt, und bittet, nicht dem »Sud«, dem Gericht, übergeben zu werden. Sie wird dem entsprechenden Mädchenheim zugewiesen. »Soll der 217 Milizionär Sie begleiten?« – »Nein, ich bin froh, daß ich hinkomme.« – »Hier haben Sie Geld für die Elektrische.« – »Ich brauche es nicht, ich gehe zu Fuß. Werde ich dort gleich Tee bekommen?« – »Ja, wir werden das sofort veranlassen.« Man telephoniert in das Heim, daß der Ankommenden gleich Tee und Butterbrot verabreicht werde, und sie geht ab.

Ein Dreizehnjähriger mit roter Krawatte, dem Abzeichen der »Pioniere« (Pfadfinder) tritt ein. Hat in einem der staatlichen Warenhäuser einen Stoß Notizbücher gestohlen. »Was, du trägst die rote Binde und klaust?« – Der Junge (weinend): »Ich hab' noch nicht das Gelöbnis abgelegt.« – »Und wenn du den Pionierschwur geleistet hast, wirst du weiter aus den Geschäften Sachen wegtragen?« – »Entweder werde ich stehlen oder ich werde schwören. Man kann nicht ein Pionier und ein Dieb zugleich sein.« – »Und was würdest du mit dir machen, wenn du hier an meiner Stelle säßest?« – Angeklagter (nachdenkend): »Ich würde mir eine Rüge geben – mehr verdiene ich nicht, weil ich es ja das erstemal gemacht habe und es wahrscheinlich nicht wieder tun werde.« – »Siehst du, und wir erteilen dir eine Belobung. Denn wenn jemand einsieht, daß ein Dieb kein Pionier sein kann, so wird er sicherlich ein brauchbarer Mensch.« Handschlag.

In einem andern Saal amtiert die »Opeka«, Kommission für Rechtsberatung der Jugendlichen. Hier treten Kinder als Ankläger gegen ihre Eltern oder Vormünder auf. Ein Mädchen beschwert sich über ihren Stiefvater, der ihr Gewalt anzutun versucht, ein Lehrbub führt Klage gegen seinen Meister, der ihn exploitiert und mehr als acht Stunden im Tag arbeiten läßt, ein Vater vertrinkt seinen Lohn, den der Frau auch, und die Familie hungert, ein Vater erlaubt dem Sohn nicht, in den Pionierklub einzutreten, ein Vater verprügelt den zwölfjährigen Kläger grundlos. In den meisten Fällen soll die Person des Anzeigers nicht bekannt werden, der Inspektor, den die Kinderkommission in allen Straßenblocks unterhält, hat – wie zufällig – der Sache nachzugehen und womöglich in flagranti einzuschreiten. Das bedarf besonderer Geschicklichkeit, denn in vielen Fällen, wie in dem der Stieftocher zum Beispiel, sind die Tragödien für 218 einen Dritten kaum zu erfahren. Ergibt sich die Stichhaltigkeit einer Bezichtigung, wird der Beschuldigte vorgeladen, verwarnt oder dem Volksgericht übergeben, das mit den Vätern strenger umgeht, als das Jugendgericht mit den Söhnen.

2.

Verpackt und vermummt, um den Nächten in Eis und Schnee und Wind zu trotzen, verlaust und verfloht, wie es nicht anders sein kann, wenn man jeden aufgelesenen Lappen als Kleidungsstück willkommen heißt, verdreckt und verrußt, wie man eben ist, wenn man monatelang in Müllkästen, ausrangierten Kesseln, auf Ziegelhaufen und im Innern der Plakatsäulen nächtigt, einen zerschlissenen Sack und eine zerbeulte Eßschale in der Hand, so kommen die kleinen Straßenlumpen, vom Sozialinspektor, vom Polizisten, von einem Passanten hergeführt, oder aus eigenem Antrieb in den Kollektor. Man fragt sie nichts, und wenige Minuten später verwandeln sich diese Jammerbilder des Nordens in Kinder, toben im Badesaal splitternackt umher, springen in die Wannen, prusten unter der Dusche, werden vom gleichaltrigen Bademeister mit Seife und Bürste abgerieben, und sind sie trocken, schneidet ihnen der Barbier die Locken ratzekahl ab. Bettelsack und Bettelnapf sind inzwischen durch den Desinfektor gewandert und von dort ins Depot.

Jeder kriegt reine Wäsche und einen schwarzen, hochgeschlossenen Anzug, und derart eingekleidet, wird er rezipiert, jetzt fragt man ihn nach Namen, Alter, Herkunft, Erlebnissen und Beschwerden, ob er lesen und schreiben könne, was er werden möchte und was er getrieben. Kranke finden im Hausspital Aufnahme, viele sind augenleidend, haben Krätze, Hautausschläge, verschmutzte Wunden, die sie sich bei einem Raufhandel oder vielleicht bei einem Einbruch zugezogen haben, zwei bis drei Prozent sind tuberkulös und nicht weniger als ein Prozent luetisch. Die Gesunden kommen in einen der großen Schlafsäle, wo je fünfzig Betten stehen. Fast sechshundert Kinder nimmt jede Moskauer Sammelstelle auf, und im Jahre 1921, als an den Ufern der Wolga die Hungerfurie tobte, flüchteten 219 so viele Waisen in den Schutz der weißen Mauern von Moskau, daß bis zweitausend Kinder in einem Heim beherbergt werden mußten. Platz war genug da. Einer der Kollektoren ist in einem Komplex untergebracht, der das typische Schicksal zaristischer Gebäude mitgemacht hat: zuerst Kaserne, dann, baufällig geworden, Massenasyl für Witwen der Staatsbediensteten; die wurden bei Kriegsbeginn aufs Pflaster gesetzt, man brauchte die Riesenräume als Lazarett, Blessierte und Kranke besserten das Gemäuer aus und machten es bewohnbar. Nach der Revolution wurde es für Kinder bestimmt, Arbeiter des Bezirks tünchten, weißten und richteten es auch her, in den Abendstunden, freiwillig, unentgeltlich – Arbeit für die Gemeinschaft.

Im Alter von acht bis sechzehn Jahren stehen die Knaben, die hier aufgenommen werden, und acht Schulen gibt es. Manche der Kinder kennen die Geographie Rußlands von Jekaterinoslaw bis Odessa, die Mechanik der Türschlösser, die Warenkunde der Eisenbahnfrachten, die Rechnungsarten der Hehler und die Naturgeschichte aller eßbaren Tiere und Pflanzen, aber das Alphabet kennen sie nicht und nicht das Einmaleins und keinen ehrlichen Handgriff. Andere wieder haben Erziehung genossen, doch starben die Eltern in den Tagen der Intervention und des Bürgerkrieges, so daß das Kind dem Banditentum verfiel. Noch andere, kaum zwölf Jahre alt, erlernten das Handwerk des Vaters, dem sie von klein auf helfen mußten, sind Schuster, Korbmacher, Schneider oder Tischler, haben nur pausiert und können, wenn das Erziehungswerk gelingt, bald der alten Arbeit nachgehen. Mehrere verstehen mehrere Sprachen (Turkestanisch, Polnisch, Tatarisch), und eines der Kinder »spricht Deutsch«. Der Kleine sagt: »Komm rin!« – So, und was kannst du noch? Da ballt er die Faust und ruft: »Verfluchter Kerl!« Das ist keine Beschimpfung, sondern die zweite Hälfte seiner deutschen Kenntnisse, mehr hat er nicht gelernt, als er in der Wolga-Republik bettelte: ein freundliches »Komm rin!« oder ein wütendes »Verfluchter Kerl!«

Mit den andern muß man schon russisch reden, um zu erfahren, was ein Kind von Rußland weiß. Man zeigt auf ein Bild Lenins und fragt, wer das ist. »Lenin war der Führer der 220 Arbeiter und Bauern und hat sie frei gemacht, damit sie zu essen haben und lesen und schreiben lernen.« So, und wer ist die Frau an der Wand? – »Das ist die Rosa Luxemburg, die hat in Deutschland dasselbe machen wollen wie der Lenin, aber der Zar hat sie dort erschossen.« – Und Liebknecht? – »Das war der Mann von der Rosa Luxemburg und auch ein guter Mensch.« Und wer ist der Mann dort mit dem großen Bart? – »Das ist der Karl Marx. Das war der Lehrer von Lenin und hat ihm gesagt, wie er alles machen soll.« – Habt Ihr etwas von Christus gehört? – »Natürlich. Die Bauern glauben, daß er ein Gott ist, aber es gibt keinen Gott.«

Drei Klaviere und ein Pianino sind im Haus, auf jedem klimpert ein Autodidakt. Die meisten Jungen liegen im Klubzimmer bäuchlings über den Tischen und spielen Dame. Ein Sechzehnjähriger und ein kaum Achtjähriger machen eine Schachpartie, der Kleine wird seinen Gegner in vier bis fünf Zügen matt setzen. An den Wänden hängen bunt bemalte und kalligraphierte Riesenkartons: die Wandzeitungen. Sie erscheinen monatlich und befassen sich mit den aktuellen Fragen des Hauses, satirisch und ernst, aber sehr naiv. (Wandzeitungen findet man übrigens in jedem Betrieb, in jedem Haus und in jedem Magazin Rußlands, die verschüttet gewesene Kunst der Journaux d'affiche aus der großen französischen Revolution ist neu im Werden.) Im größten Saal eine Bühne, auf der die Zöglinge jede Woche ein Stück aufführen. Montag findet die Premiere von Tschaikowskys Oper »Stenka Rasin« statt – ohne Tschaikowskys Musik, der Text wird gesprochen, und das Balalaika-Orchester bringt im Zwischenakt die »Internationale«, die »Marseillaise« und einige Volkslieder zum Vortrag, die Musiker sind gerade bei der Probe, aber sie unterbrechen, da Besuch kommt, und spielen, dem deutschen Gast zu Ehren, »Mädel, ruck, ruck, ruck an meine grüne Seite«; ihre Instrumente sind aus ungehobelten Brettern plump zusammengefügt und der Triangel ist ein altes Hufeisen. Der Lehrer, ein Berufsmusiker, korrigiert, es wäre kaum nötig, die Burschen sind mit unglaublicher Musikalität bei der Sache, und sogar die zwei Orchestermitglieder, die nicht mitspielen können, weil nicht genügend 221 Instrumente da sind, sitzen todernst auf ihren Plätzen und zupfen mit der Hand nicht vorhandene Saiten einer nicht vorhandenen Balalaika.

Im Zeichensaal malen Knaben, ein Lehrer unterweist sie in der Handhabung von Pinsel, Papierpalette oder Pastellstiften und im Modellieren aus Ton. Ganz kleine Kinder sind mit Zusammenlegspielen und Bilderbüchern beschäftigt. Die Schlosserwerkstätte, ein elektrischer Betrieb, steht bereits leer, die vierstündige Arbeitszeit ist abgelaufen, aber in der Tischlerei arbeiten noch einige Kinder. Sie erwirkten sich die Erlaubnis dazu, weil sie ihre Rodelschlitten so schnell als möglich fertigstellen wollen, sie haben Eile – morgen oder übermorgen verlassen sie den Kollektor.

Zwei Monate ist die Maximaldauer des Aufenthaltes, dann muß sich herausgestellt haben, in welches der vierhundert Institute für Minderjährige das Kind gehört: in die Arbeitskommunen, die selbständig den landwirtschaftlichen oder industriellen Betrieb aufrechterhalten, in die Anstalten für Psychopathische oder Kranke, in die Kinderstädte, in die verschiedenen Arbeitsschulen oder in ein großes Kinderheim. In jedem dieser Kinderheime herrscht Disziplin, eine Disziplin, die von den gewählten Kindersowjets ausgeübt wird und dermaßen streng ist, daß die Pädagogen manchmal zugunsten der Bestraften einschreiten müssen. Ein kleiner Arrestant sitzt seit acht Tagen während der Mahlzeiten allein im Schlafsaal, Kollegen bringen ihm das Essen, ohne mit ihm zu sprechen, und wenn man ihn fragt, was er denn Furchtbares begangen hat, so weint er, er hat die Rauferei gar nicht angefangen, und bis er das nächste Mal Richter sein wird, wird er es ihnen schon zeigen und ihnen eine noch längere Strafe aufdonnern. Die vier Mitglieder der Menagekommission, die gemeinsam keine vierzig Jahre alt sind, stellen an Hand eines Verzeichnisses von achtzig Speisen den Küchenzettel für die Woche zusammen. Sehr wichtig kommt sich der Redaktionsausschuß der Wandzeitung vor, besonders eines der Mitglieder, das schon zum zweitenmal für eine Amtsdauer von drei Monaten gewählt worden ist; dieser zwölfjährige Kollege erzählt, wie schwer es war, die Festnummer für die Hundertjahrfeier des 222 Dekabristenaufstandes zu redigieren und doch auch Witze und Karikaturen zu bringen, ohne daß der festliche Charakter der Nummer gestört werde. Den Pionierklub bildet die Elite der Anstalt, die Mitglieder lassen keinen Unwürdigen in ihren Kreis. Eben sitzen sie wie die Alten auf den Beratungsstühlchen, der Präsident hat eine Glocke vor sich, ein Komsomol (Mitglied der kommunistischen Jünglingsorganisation), gibt nur hier und da sachliche Aufklärungen. Man diskutiert Fragen der Selbstverwaltung und hält Gericht über einen Jungen, der seinem Nachbar ein Pennal mit Buntstiften weggenommen hat – geborgt oder gestohlen? Eine rote Fahne steht, flankiert von zwei Trommeln und zwei Trompeten, in der Ecke, sie trägt die Inschrift »Pionierklub des Kinderheims A. I. Herzen«. Daneben eine illuminierte Krippe, Kampf auf der Barrikade darstellend. Dicht beklebt mit Zeichnungen ist alles Mauerwerk, Motive aus dem Anstaltsleben, Bilder von Fabriken und Bauernhöfen, die beängstigend nahe nebeneinandergekritzelt sind, so daß eine Kuh leicht in den Schornstein fallen, oder ein Treibriemen das Bauernhaus erwischen kann. Dieses Sujet – Vereinigung von Industrieproletariat und Bauernschaft, die sogenannte »Smitschka« – ist häufig verwendet, Hammer und Sichel reichen sich die gemalten Hände, das was die Partei gerade propagiert, ist Gegenstand aller Zeichnungen. Sogar Traktoren sieht man idealisiert goldfarben, aus ihren Gliedern quellen Brot, Geld und Früchte, die Elektrifizierung und ihre segensreichen Wirkungen sind mit grellen Tinten auf das geduldige Papier geworfen. Nicht nur in der Lenin-Ecke Lenins Bild, zwanzigmal ist's an jeder Wand, und wo Genrebilder hängen, die z. B. einen Polizisten zeigen oder einen dicken Mann, der mit Weib und Kind am Flußufer angelnd sitzt, haben Polizist und Angler die Züge Lenins . . . Eine Wanddekoration anderer Art sind die mit noch plumperer Hand geschriebenen Briefe der Bauern, bei denen die Kinder im Sommer Erntearbeiten geleistet haben, und die bestätigen, daß die kleinen Helfer von Nutzen waren.

Keine Wache steht vor dem Haus, und das Tor ist tagsüber offen. Allerdings versieht ein Knabe den Dienst des »Schweizers«, täglich ein anderer, und er darf keinen hinaus- oder 223 hereinlassen, der nicht die Bewilligung des Kindersowjets hat. Sich eigenmächtig aus der Kommune zu entfernen gilt als Desertion, wer sie begangen hat, ist ehrlos, hat das Band zerschnitten zwischen sich und seinen verbrecherischen, obdachlosen Altersgenossen, die das Verbrechen verlassen und ein Obdach gefunden haben.

3.

Anders als sonst in Moskaus Kinderheimen öffnet sich das Anstaltstor auf dem Denischni Pereulok. Kein Knabe versieht hier mit drolliger Wichtigkeit das ihm von den Kollegen anvertraute Amt des Türhüters, nein, eine alte berufsmäßige Pförtnerin. Es ist eine geschlossene Anstalt: »Haus der jugendlichen Narkomanen«.

Kinder haben sich, charakteristische Erben eines verfluchten Zeitalters, an den Genuß von Drogen gewöhnt, mit denen die Erwachsenen sich zur Flucht aus der Wirklichkeit von Kriegsnot und Hungersnot verhalfen. Die Revolution hatte Alkohol verboten, da entstand in jedem zwanzigsten Haus der russischen Dörfer eine Spritbrennerei; das Korn, das man so dringend gebraucht hätte, wurde zu Schnaps; vergeblich zerstörten Patrouillen von Rotarmisten Hunderte, Tausende der Giftkessel, immer wieder wurden neue geheizt, überall auf dem Flachland gab es »Samagon«, illegale Wodka. 1921 gestattete die Regierung den Ausschank von Bier, später auch von turkmenischen und kaukasischen Weinen, die Schwarzbrennereiindustrie ging zurück, verschwand aber nicht, der Staat erzeugte selbst Branntwein, dreißigprozentigen, die Schwarzbrennereiindustrie ging noch mehr zurück, verschwand aber immer noch nicht, denn sie erzeugte vierzigprozentigen, der Staat macht nun vierzigprozentigen, die Schwarzbrennereiindustrie geht noch mehr zurück, verschwindet aber nicht ganz, denn die legale Flasche kostet einen Rubel sechzig Kopeken, die Flasche Samagon nur einen Rubel. So vollzog und vollzieht sich der Alkoholkrieg auf dem Lande, und wird mit dem Sieg der organisierten, antialkoholischen Jugend enden, die der Alten Schnapskessel vernichtet. 224

In den Städten gab es neue Gifte. Noch war die Blockade um Rußland lückenlos geschlossen, noch sperrten die Fronten der Intervention von allen Seiten das Land – und doch waren bereits Schmuggler hereingelangt, aus Polen und Deutschland kamen sie mit Kokain und Morphium, und die chinesischen Hausierer, von denen es wimmelt, boten öffentlich Spielzeug und geheim Opium zum Verkauf, fast alle Chinesen Moskaus sind leidenschaftliche Opiophagen, und hatten noch genügende Mengen aus der Heimat mitgebracht, um gegen Bezahlung davon abgeben zu können. Die Kokainhändler verschenkten in den Spelunken und auf den Straßen eine Dosis des weißen Pulverchens an fremde Leute – sie wußten, morgen werden die fremden Leute wiederkommen, die neue Dosis um so besser bezahlen, ständige Kunden bleiben. Die Seuche entstand, verbreitete sich rapid, da jeder Narkomane bemüht ist, den Nebenmenschen des gleichen »Glückes« teilhaftig werden zu lassen, Proselyten zu werben. Und so gelangten auch die Straßenkinder zu dem weißen Gift; in einem einzigen Heim für verwahrloste Jugendliche erwiesen sich von fünfhundert Insassen sechsundvierzig als Kokainomane oder wenigstens als Kokainisten. Da das Gramm »Koks« acht bis neun Rubel kostet (ein Rubel ist mehr als zwei Mark), und manches Kind drei Gramm im Tag schnupft, kann man ausrechnen, wieviel es zusammenbetteln und zusammenstehlen muß, um zu seinem Quantum zu gelangen. Es gibt noch jetzt zehnjährige Kinder, die täglich drei Flaschen Wodka konsumieren, was gleichfalls ein starkes Budget erfordert, vermehrt um das für »Papyrosy«; hundert Prozent der Moskauer Straßenkinder sind Zigarettenraucher, Sechsjährige, die oft dreißig Stück am Tage verpaffen, also stehlen oder von gestohlenem Geld kaufen müssen. Die strengen Maßnahmen der Behörden waren nicht bloß von sanitären Gründen diktiert, sondern auch von solchen der öffentlichen Sicherheit.

Auf dem Denischni Pereulok, in jenem Haus, dessen Tür sich anders als sonst in Moskaus Kinderheimen öffnet, sind die vergifteten Kinder untergebracht, hierhergeführt von der Polizei, die sie berauscht in einem Winkel fand, von den Gerichten, deren ärztlicher Experte in dem kleinen Angeschuldigten einen 225 Narkomanen diagnostizierte, oder aus dem Kindernachtasyl, wo es das Personal war, das die Feststellung machte.

Zurückgeblieben im Wachstum sind die alkoholischen Jugendlichen, sie haben die aufgeschwemmten geröteten Gesichter erwachsener Trunkenbolde. Der Kokainist magert ab, vermag fünf bis sechs Tage ohne Essen und Schlafen zu verbringen, und verkauft seine Kleider, um eine neue Portion zu ergattern. Die Opiophagen stecken zumeist in stumpfem Rausch, der außerhalb der unmittelbaren Wirkung als Apathie anhält.

Im Narkomanenheim erhält jeder Junge täglich nach dem Mittagessen und nach dem Abendbrot zwei Zigaretten -– eine Verminderung dieser Ration würde ihn das Rauchen noch begehrenswerter und die Internierung noch schwerer empfinden lassen. (Die angestellten Pädagogen und Ärztinnen dürfen übrigens im Hause nicht rauchen, damit gezeigt werde, daß sie nicht selbst einer Gewohnheit rettungslos verfallen sind; und so besteht das Faktum einer Wohnstätte, in der Kinder rauchen dürfen und Erwachsene nicht.) Von Alkohol, Kokain, Morphium oder Opium werden die Kleinen keineswegs durch eine allmähliche, sondern durch eine radikale Entziehungskur zu heilen versucht, es gibt kein Narkotikum in der Anstalt. Das hat zur Folge, daß sie in den ersten drei bis vier Wochen ungebärdig, wütend sind, stundenlang schreien, im Affekt die Fensterscheiben zerschlagen und ausbrechen wollen; wiederholt ist ihnen auch trotz aller Vorsichtsmaßregeln die Flucht gelungen. Nach vier Wochen pflegen sie zumeist das Gift zu vergessen und können nach Verlauf eines weiteren Monats einer Arbeitskommune für Jugendliche zugewiesen werden – wenn nicht die Abgabe in die neurologisch-psychiatrische Kinderklinik notwendig erscheint. Die Halbgeheilten kommen während des Sommers nach dem Ort Talgren, der dreißig Kilometer nördlich von Moskau, nahe der Kinderstadt Puschkino gelegen ist und ein Dorf der jugendlichen Narkomanen bildet; hier, bei autonomer Werkstätten- und Landarbeit in schönem Terrain, verlieren sie auch den Rest ihrer Sehnsucht nach dem präkox erworbenen Koks und den andern Lastern typischen Großstadtcharakters.

Im Haus auf dem Denischni Pereulok würde man den 226 Bewohnern die Heilungsmöglichkeit schwerlich ansehen – das sind nicht Insassen von Kinderheimen, mit denen der Staat Staat machen kann. Hier gibt es keinen Pionierklub (die russischen Pfadfinder sind ebenso wie die Jünglingsorganisationen gegen Alkohol und Nikotin verschworen), hier gibt es keine Selbstverwaltung, hier gibt es wenig Schul- und wenig Werkstättenunterricht. Die Knaben laufen oder lungern umher, den Rauch der Zigarette inhalierend, manche haben einen Verband auf beiden Händen – verletzt, als sie im Sehnsuchtsaffekt die Fensterscheibe zertrümmerten, oder sie haben sich selbst gebissen. Man kann nicht viel mit ihnen anfangen, selbst zur experimentalpsychologischen Prüfung, die einmal wöchentlich vorgenommen werden soll, bequemen sie sich nicht. Ungeniert betteln sie den Besucher um Zigaretten an oder um seine Handschuhe, und man muß darauf achten, nicht bestohlen zu werden. Dabei stellen die Narkomanenkinder in einem hohen Prozentsatz die begabteste Schicht des Moskauer Vagabundentums dar, was zum Teil eine Folge der nervenreizenden Toxine ist, zum Teil darauf zurückzuführen, daß der unbezähmbare Trieb, sich die teuren Drogen zu verschaffen, erfinderisch und geschickt und waghalsig macht. Diese Begabung ergibt sich nicht bloß aus den experimentalpsychologischen Versuchen, sondern auch die Bilder beweisen es, die an der Wand hängen, meist Motive aus der Lebensweise der Obdachlosen, in eigenwilligerer Art dargestellt, als Kinderzeichnungen sonst zu sein pflegen. Etlichen Gemälden merkt man schon den Einfluß der Erziehungsarbeit an, auf einem ist das Elend im Asphaltkessel dem Glück des Kindes gegenübergestellt, das im Entgiftungsheim Aufnahme gefunden hat. Darunter steht: »Wer ein guter Bürger der U.S.S.R. werden will, muß das Kokain wegwerfen und sich im Narko-Dispensaire heilen lassen.« Auch ein Dichter ist da, der zwölfjährige Beglow, genannt »Zigeuner«, von dem bereits Verse veröffentlicht sind, u. a. in der vom Moskauer Kommissariat für Gesundheitswesen herausgegebenen Zeitschrift »Für neues Sein«. In der Kanzlei lese ich die Gedichte und äußere den Wunsch, eines davon mit persönlicher Autorisation des Dichters ins Deutsche zu übertragen. Die Erzieherin ist gleich bereit, den Jungen zu holen, aber sie kommt allein 227 zurück, Beglow hat sich ins Bett gelegt und denkt gar nicht daran, aufzustehen; wolle jemand etwas übersetzen, so brauche er den Verfasser nicht dazu. Das flößt mir Respekt ein, denn es gibt kaum einen Literaten auf der Erde, der nicht herbeiliefe, wenn sich die Chance bietet, in einer Weltsprache berühmt zu werden. Ich gehe also selbst ins Schlafzimmer zu Beglow, schwarzhaarig liegt der Knirps im Bett, sein Gesicht: ein Dreieck mit zwei hellblauen Kugeln, und rät mir ab, das Poem zu übersetzen, das ich mir ausgesucht. »Nehmen Sie lieber den Njuchoder (Der Schnupfer), der ist, unter uns gesprochen,« die hellblauen Kugeln blinzeln, »viel ehrlicher«. Als Honorar will er drei Zigaretten, die ich ihm leider nicht geben darf, und so muß das Gedicht hiermit unbefugt publiziert werden:

                          Der Schnupfer
Den ganzen Tag hab' ich mich heut herumgetrieben,
Ich lief und stahl und stritt mit anderen Dieben,
Ich fror fast nicht, erst abends ward mir kalt,
So kroch ich denn in meinen lieben Kessel für Asphalt.
Rund rollte ich mich ein in meinem runden Haus,
Auf meinem alten Stroh schlief ich mich aus.
Doch jetzt bin ich erwacht, darf mich nicht länger freuen,
Auf Diebstahl geh' ich aus von neuem;
Ich habe gut geschlafen, neue Kraft,
Fünf Rubel sind für Beglow leicht geschafft.
Ich kaufe Koks und schnupfe mit Gefühl.
Ist es vorbei, beginnt das Kartenspiel,
Und ist die letzte Kopeke verschwunden,
Kehr' ich zurück zu meinem Haus, dem runden.

                                Gregor Beglow, genannt »Zigeuner«.

 


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