Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Henker in Haft, Opfer befreit

Wer je etwas von Henkergeschlechtern gehört hat, von denen der Sanson, der Pipperger oder der Mydlar, der weiß, – und wäre es bloß aus ihren apokryphen Familienchroniken – daß nicht nur Vater und Sohn, sondern oft auch ein und derselbe Scharfrichter den verschiedensten aufeinanderfolgenden Regierungen »diente«, passiv und aktiv, dem König, dem Direktorium oder dem Kaiser. Jeden brachte er um, der sich gegen die herrschenden Herren verging, und dann die herrschenden Herren selbst, er aber, er blieb am Leben und im Amt.

In Sowjetrußland war das unmöglich. Hier hat man allen Machthabern der zarischen politischen Justiz den Prozeß gemacht, den Polizeimeistern, den Gefängniswärtern, den Verbannungsgendarmen und den Spitzeln. Das geschah teils aus agitatorischen Gründen, teils aus solchen der historischen Feststellung, was gewiß einen überzeugenden Anschauungsunterricht darstellt, wenn auch bedauerlicherweise der einzelne für Verbrechen eines ganzen Systems zu büßen hat. Und angesichts der großen Überschriften in den Zeitungen »Prozeß gegen die zaristischen Henker« fällt einem vor allem ein, die kleinen Henker hängt man, während man die großen laufen ließ, nach Paris und Prag, wo sie ein fideles Leben führen. Wirklich sind es auch diesmal zumeist dumpfe Menschen, die an der Barre stehen, und der Strom von Abscheu, den das Verfahren bewußt einschaltet, wendet sich nicht gegen die Angeklagten, die mechanische Vollstrecker fremder Befehle waren, sondern gegen die Welt, der sie dienten. Es ist ein blutrünstiges Milieu, von dem im Gerichtssaal der Vorhang gerissen wird, und erschüttert fragt 114 man sich, in welcher Zeit so etwas möglich war. In welcher Zeit? Das Substrat des Prozesses bilden Vorgänge bis zum Jahre 1917 . . .

Mitten in Moskau, dort wo gegen die Flußbiegung zu die Häuser dünner gesät sind, befand sich das Polizeirevier des Bezirkes Chamowniki, das eine besondere Aufgabe hatte. Wer der Ochranka nicht gefiel und aus dem Wege geräumt werden sollte, ohne daß man einen Prozeß entfesseln wollte, wurde mit kleinem Zettel, auf dem bloß eine Zeitangabe stand, dieser abgelegenen Wachstube überstellt. Die wußte, was zu tun sei. Der Eskortant wurde in eine Zelle gesperrt und zur festgesetzten Zeit, immer in der Nacht, über den Hof in einen Schuppen geführt.

Dieser Schuppen ist sozusagen der Hauptangeklagte. Sein Inventar: ein Tisch, ein Petroleumlämpchen, ein Schemel und ein in den Plafond eingeschlagener Haken. War der Gefangene hier eingetroffen, wurde ein Sack hinterrücks über seinen Kopf gestülpt, um seinen Hals die herabhängende Schlinge gelegt, man hob ihn auf den Schemel und mit diesem auf den Tisch, dann wurde das Möbel weggeschoben, und an der Decke baumelte ein Leichnam.

Der Arzt, der bei jeder Strangulierung anwesend war, um den eingetretenen Tod zu konstatieren, war nicht der einzige Zeuge: es wohnte ihr noch ein gespenstischer Gast bei, der allerdings bis zum heutigen Tage nicht ermittelt werden konnte; dieser fremde Herr, er fuhr im Gummiradler oder einem Schlitten erster Güte drei Minuten vor der festgesetzten Stunde in den Hof des Polizeihauses ein, trug eine blaue Brille, sein Gesicht war verschminkt und niemand wußte seinen Namen und sein Amt. Er schaute die Festgenommenen an, bevor ihnen die Henkersknechte den Sack über den Kopf warfen, und beobachtete, wie die Schlinge um den Hals gelegt, wie der Wehrlose gehoben, und wie durch das Umstürzen des Schemels die Prozedur beendet wurde, er sah der Todesprobe des Arztes zu und fuhr davon. Die anderen blieben, nahmen erst jetzt dem Leichnam Arm- und Fußfesseln ab, entkleideten und schafften ihn auf den Wagankowski-Friedhof, wo man ihn verscharrte, als »Unbekannter, von den Austrägern gebracht«. Niemals wurde im Schuppen ein Protokoll 115 über die Hinrichtung ausgefertigt, vielleicht vertraute man dem Mann mit der blauen Brille, vielleicht verließ man sich auf die Henker, – es gab nichts Schriftliches, der Delinquent war non in actis, non in mundo.

So dunkel es auch in dem Schuppen war (man mußte vor jeder Exekution das Öllämpchen anzünden), so rasch sich auch alles vollzog, so abgeschlossen der Hof auch dalag, die Tatsache, daß dort eine geheime Richtstätte sei, blieb der Umgebung nicht verborgen. Man wußte, wer von den Polizisten mit der schrecklichen Manipulation betraut war, man nannte diese Leute auf der Wachtstube und bald auch in der Umgebung »die Musketiere« und fürchtete sie mehr, als man sie verachtete.

Eines Morgens fanden die Polizisten an der Wand des Schuppens mit großen weißen Lettern aufgemalt: »Hier wird erdrosselt.« Die Buchstaben wurden in Eile abgewischt, am nächsten Tage jedoch standen sie wieder dort. Nun wurde ein Wachtposten im Hof aufgestellt, und die Mauer blieb unbeschmiert. An dem Tage, an dem der Posten eingezogen wurde, war die Aufschrift von neuem da und das Spiel wiederholte sich noch einige Male. Es war eine ebenso gefährliche wie sinnlose Demonstration, denn jene, die die Worte lasen, wußten ja, daß hier erdrosselt wurde, und ein Fremder kam nicht in den Hof. Aber was waren denn alle Auflehnungsversuche gegen die Blutherrschaft des Zarismus anderes als ebenso gefährliche wie sinnlose Demonstrationen, was vermochten denn die Revolutionäre in Rußland und in der Emigration anderes zu tun, als durch Bombenattentate oder Flugschriften an die Wand zu schreiben: »Hier wird erdrosselt!« Die Welt las zwar den Satz, doch war sie geneigt, alles für reichlich übertrieben zu halten, und der Zarismus konnte mit Statistiken dienen, denen zufolge Todesurteile und Vollstreckungen nur sehr selten vorkamen. (Justifikationen von der Art der in der Chamowniki-Wachstube standen allerdings nicht in den Tabellen und demnach non in mundo.)

Aus den Aussagen der Angeklagten und der Zeugen und aus den Wagankowsker Friedhofsbüchern geht hervor, daß die Zahl der in Chamowniki ohne Gerichtsverhandlung und ohne gesetzliche Begründung Getöteten über fünfhundert beträgt, die sich 116 auf kaum zwanzig Jahre verteilen; vor 1905 wurden hier nur gelegentlich Hinrichtungen vorgenommen, seit diesem Jahr war der Schuppen von Chamowniki die offiziell-inoffizielle Poliklinik des Kaiserreichs gegen revolutionäre Erkrankungen.

Wiederholt wurden zwei oder drei Häftlinge gleichzeitig in die Baracke geführt und mußten, wenn auch mit dem Sack über dem Kopf, anwesend sein, während ihr Genosse sich in Todesqualen wand; in manchen Nächten gab es neun solcher Meuchelmorde. Die Namen sind zumeist unbekannt, es waren fast durchwegs politische »Verbrecher«, darunter auch Ausländer, im Laufe des Kriegs besonders viele Deutsche.

Erst mit Ausbruch der Kerenski-Revolution wurden die Hinrichtungen in diesem Schuppen eingestellt; in ihrem Amt als Polizeidiener verblieben die einstigen Henker dennoch. Die Beschwerden, die sich dagegen erhoben, wurden von den Menschewiki abgewiesen: niemand könne für etwas bestraft werden, was er auf Befehl der alten Regierung begehen mußte.

Und so verteidigen sich auch heute noch die angeklagten drei Musketiere Djabin, Krolejew und Grudzin und ihr Faktotum Dschugunow: »Man hat mir gesagt, ich soll ihn aufhängen, also habe ich ihn aufgehängt, ich war doch im Amt, ich durfte die Ausführung eines Befehles nicht verweigern.« Der Arzt, Dr. Weselitzki, der laut Anklageschrift in vierzig Fällen den Tod der Strangulierten festgestellt hat, antwortet auf die Frage, ob er sich schuldig bekenne: »Ich bin bloß schuldig, kein Held zu sein. Den Heroismus, die Ausführung des Auftrages abzulehnen, besaß ich nicht. Ich tat übrigens nur das, was jeder Arzt tun muß, ich konstatierte bei einem Toten, daß er tot sei.« Vom Richtertisch aus wird ihm erwidert, zwei seiner Vorgänger hätten sofort ihren Dienst als Amtsarzt quittiert, als man von ihnen Assistenz bei diesen gesetzwidrigen Justifikationen forderte. Dr. Weselitzki gibt zu, das gewußt zu haben, fügt aber bei, der eine der beiden Doktoren sei nach Sibirien versetzt worden, der andere gelte seit seiner Demission als verschollen. Sicher ist, daß man ihn und die anderen nicht lange mit so gefährlichem Geheimnis in Freiheit belassen hätte, wenn sie aus dem Dienste getreten wären. 117

Das Gericht nahm das als Milderung an, und auch – wie jetzt gerichtsüblich – die Tatsache, daß die Verbrechen weit zurückliegen. So wurden die drei Henker zwar zum Tode verurteilt, aber gleichzeitig die Umwandlung der Strafe in zehnjährige Haft ausgesprochen, der Henkersknecht erhielt vier Jahre Haft. Dr. Weselitzki, der sich unter dem neuen Regime als Organisator einer Kinderkolonie Verdienste erworben hat, wurde vollständig freigesprochen mit der Begründung, daß er niemals Hand angelegt habe, – ein Urteil, das großes Aufsehen und Diskussionen hervorruft, da mit derselben Motivierung auch der Freispruch des geschminkten und blaubebrillten Herrn erfolgen könnte, wenn man jemals seiner habhaft würde. Mit Ausnahme der Angeklagten ist niemand von dem Urteilsspruch befriedigt, das Publikum, das mit Gruseln jeder Phase des Prozesses gefolgt war, verläßt offensichtlich enttäuscht den Verhandlungssaal. Es waren zumeist ältere Leute aus der Gegend der Moskwa-Schlinge, sie hatten die Angeklagten gekannt und gefürchtet und holten sich beim Prozeß die Aufklärung über die rätselhaften Todesschreie, die sie einst aus dem Schlaf hatten auffahren lassen. Eine alte Dame im Auditorium, ehemalige Lehrerin des Bezirkes, erinnert sich, daß ihr Nachbar von gegenüber, Lew Nikolajewitsch Tolstoi in einer Augustnacht wütend das Fenster zuschlug, weil das gellende Gebrüll zweier oder dreier Menschen hörbar war. Wahrscheinlich arbeitete Tolstoi damals an seinen Auslegungen des Evangeliums, er war wohl der einzige Bewohner des Chamowniki-Pereulok, der nicht ahnte, daß unter seinem Fenster die Werkstätte der Henker war, und schrieb das »Du sollst nicht töten« ebenso wirkungslos aufs Papier, wie ein ahnungsvollerer Hausgenosse an die Wand des Schuppens schrieb: »Hier wird erdrosselt!«

*

Man urteile selbst: eine Frau, viel älter als die siebzig Jahre, die sie wirklich alt ist, beider Augen Licht erloschen, spärlicher grauer Scheitel über verrunzelter Quitte, ein farbloses, fadenscheiniges Kleid, so sitzt sie wie ein Bettelweib zwischen den beiden Justizsoldaten; das Verbrechen liegt dreißig Jahre, ja 118 beinahe vierzig Jahre zurück. Will man die blinde Greisin, dieses Häufchen Unglück, wirklich zum Tode verurteilen?

Aber nun beginnt der Prozeß, Anklageschrift und ein Gutachten der akademischen Historiker werden verlesen, Zeugen marschieren auf, die dreißig Jahre und länger in sibirischen Zuchthäusern litten, der Ankläger spricht, Felix Kohn, einer aus der Zeit der Ersten Internationale und gleichfalls ergraut in der Katorga Alexanders III. und Nikolaus II. Die dünne, blinde Matrone wird von den Scheinwerfern dieser Angaben und Aussagen beleuchtet, farbig beleuchtet und sieht ganz anders aus.

Sie ist vierzig Jahre jünger, hübsch und reich, wohnt in der Prestschistenka, ihr Mann ist Beamter des neugegründeten Semstwo, einer Organisation, die für die achtziger Jahre schon beinahe revolutionär war, – denn es saßen die Vertreter des Großgrundbesitzes darin. Dieser Gatte, Serebrjakow, ist also ein Liberaler, aber seine schöne Frau mit pechschwarzem Haar und großen tiefblauen Augen, Anna Egorowna, ist liberaler als liberal, linker als links, sie sympathisiert mit den Sozialdemokraten und lädt alles ein, was oppositionell ist, sogar die Illegalen, besonders die Illegalen. In Paris, in der Schweiz, an den russischen Grenzen teilt man den mit konspirativen Aufträgen ins Zarenreich fahrenden Genossen mündlich die wichtige Adresse mit, und vom Bahnhof in Moskau kommen sie alle zu Anna Egorowna. Manchem vermittelt sie Wohnung, verschafft Räumlichkeiten für geheime Druckereien. Revolutionäre aus Nord und Süd treffen sich in ihrem Hause, besprechen etwas unter vier Augen und kehren in die Heimat zurück, um – verhaftet zu werden. Wer hat sie verraten?

Vor dem Kriege ging ein Privatdozent namens Leonid Menschikow nach Paris. Er war im Dienste der Ochrana gestanden, der berüchtigten politischen Geheimpolizei, und hatte erkannt, daß die im Recht seien, die er bekämpfte. Nun wollte sein Kampf der Ochrana gelten, der Demaskierung ihrer Methoden und ihrer Helfer. Er gab dem Journalisten Burzew das Material, den größten Attentäter Asew und viele Andere als Provokateure zu entlarven, und Menschikow schrieb dann auch selbst ein reichlich romantisch gefärbtes Buch, in welchem er als eine 119 Hauptlieferantin für die Zuchthäuser Anna Egorowna Serebrjakowa bezeichnete, – die schöne Frau mit dem vollen schwarzen Scheitel und den großen blauen Augen, die jetzt, ein erloschenes Weib mit weißen, schütteren Haarsträhnen, auf der Anklagebank sitzt.

Nach der Revolution von 1917 nahm man sie fest, und sie verbrachte einige Monate in Untersuchungshaft. Ihre Tochter beging Selbstmord, ihr Mann starb vor Kummer, ihr Sohn jedoch, Professor in Nishnij-Nowgorod, bot alles auf, um zu beweisen, daß seine Mutter niemals Lockspitzel gewesen, niemals von der Ochrana Geld genommen und niemals Verrat geübt habe. Ihm und anderen, von der Unschuld Anna Egorownas Überzeugten gelang es, die Freilassung zu erzielen, ja, die Alte bekam als Mutter eines Professors eine Pension vom »Zekubu«, dem Zentralkomitee zur Besserung der Wirtschaftslage von Gelehrten.

So lebte sie in Freiheit, bis 1925 aus aufgefundenen Schriftstücken des Staatsarchivs hervorging, daß die Serebrjakowa viele tausend Rubel für geleistete Dienste von der Ochrana und ein außerordentlich hohes Gnadengehalt vom Zaren erhalten hatte, auf Grund eines vom Polizeichef abgefaßten Berichtes, worin er die Verdienste der Pensionsbewerberin aufzählte.

Und nun sitzt sie vor der Barre. Niemand in Rußland glaubt mehr an ihre Unschuld, jeder in Rußland glaubt, man werde sie erschießen, hat sie doch jahrzehntelang die Revolution verraten, darunter Lenin und die andern Vorkämpfer.

Ihr Sohn richtet jetzt an die Prozeßleitung ein Schreiben, in dem er sich von seiner Mutter lossagt und seine Bereitwilligkeit erklärt, unter solchen Umständen als Belastungszeuge aufzutreten. Dieses Schriftstück ist es vielleicht, das der Greisin, für deren Leben kein Mensch mehr eine Kopeke gegeben hätte, das Leben gerettet hat, denn die Haltung des Professors wirkt peinlich, und einstimmig beschließt die Gerichtskammer, die angebotene Aussage abzulehnen. (Gleichzeitig findet in Baku der Prozeß gegen den Sozialrevolutionär Funtikow statt, der Agent der englischen Naphthatruppen gewesen und an der Erschießung der sechsundzwanzig Volkskommissare mitschuldig ist; er war 120 geflüchtet und hat in Sibirien unerkannt gelebt, bis ihn – seine Tochter, die ihn abgöttisch liebte, aber Mitglied der kommunistischen Jugendorganisation ist, aus politischem Pflichtgefühl anzeigte. Und der Tochter Funtikows wendet sich ebenso die Sympathie Rußlands zu wie dem Sohn der Serebrjakowa die Verachtung.)

Die Alte verteidigt sich selbst. Da sie ihr Leben erzählt, wird sie wieder jung, sie schildert ihre unglückliche Ehe mit Serebrjakow und wie sie sich einem Verehrer anschloß, bei dem sie häufig für ihre verfolgten Freunde intervenieren mußte. Dieser Verehrer war kein anderer als Sergej Wassilewitsch Subatow, der Chef der Ochrana, von dem der Plan stammt, die Arbeiter in legalen Vereinen zu organisieren, um sie besser überwachen zu können, der berühmte »Polizei-Sozialismus«.

Zwischen Anna Egorowna und Sergej Wassilewitsch entspann sich eine – wie die blinde Greisin zu versichern für notwendig hält: platonisch gebliebene – Freundschaft. Sie leugnet nicht, mit ihm über die Menschen gesprochen zu haben, die von der Polizei gehetzt wurden und in Moskau bloß in ihrem Hause eine Bleibe hatten, aber, fügt sie hinzu, sie habe nur zu deren Gunsten geredet, keinen verraten und, im Gegenteil, die Angaben in den Protokollen der Ochrana im Interesse ihrer Freunde rektifiziert. Als es ihr schlecht zu gehen begann und sie Geld brauchte, damit ihr Sohn seine Studien vollenden könne, habe ihr alter Verehrer sie unterstützt, sie nahm es als Cadeau, ohne zu ahnen, daß er die Summen auf den Spitzelfonds verrechne. Nach dem Tode ihres Gatten habe Subatow an den Zaren die Eingabe gerichtet, ihr eine hohe Pension zu gewähren; natürlich habe sie sich gegen die Begründung nicht gewehrt, trotzdem darin »Verdienste« aufgezählt waren, die sie sich nicht erworben hatte. »Hätte ich verraten wollen, so hätte ich alle meine Freunde ins Zuchthaus gebracht und alle konspirativen Aktionen verhindert, von denen ich wußte.« Sie nennt sie: das verrunzelte Weib mit den leeren Augenhöhlen spricht von Abenden und Nächten der Jahre 1888, 1902, des Sturmjahres 1905, des ersten Parteitages 1908 mit einem Elan, mit einem Gedächtnis, das in Erstaunen setzt.

Und sie hat Glück. Als Zeugen marschieren auf die, von denen 121 Menschikow behauptete, daß sie sie verraten habe: Lunatscharski, Anna Ilinitschna Elisarowna, die älteste Schwester Lenins, Maria Smidowitsch, die jetzt als Hauptgegnerin der Kollontay gegen die freie Liebe auftritt, Solz, der als Vorsitzender der Z. K. Z. oberster Richter über Parteimoral ist, Semaschko, Leo Deutsch, – die Überlebenden aus der Geschichte der russischen Sozialdemokratie und der bolschewistischen Fraktion. Zum Teil verteidigen sie ihre einstige Gastgeberin. Sie sei eine romantische Dame gewesen, etwas zum Plaudern geneigt, manche sagen sogar schwatzhaft, und man habe sich daher gehütet, allzu geheime Dinge vor ihr zu erörtern. Trotzdem seien diese Dinge, von denen die Serebrjakowa nichts wissen konnte, zur Kenntnis der Polizei gelangt, und es gab für jede Verhaftung auch eine andere, plausiblere Erklärung als die, daß ein Verrat der Serebrjakowa erfolgte.

Je weiter die Verhandlung vorrückt, deren agitatorischer Zweck klar ist (vor dem Richter steht ein Radiosender, und in jeder dörfischen Lesestube am Ural und im Kaukasus lauscht man dem Verhör), je weiter also die Verhandlung vorrückt, die die Zeit der Prosekutionen sinnfällig machen und Empörung gegen die Denunziantin wecken soll, desto stärker wächst das Mitgefühl für die blinde, weißhaarige, von ihrem Sohn verstoßene Frau, deren Delikte aus ihrer Liebe zu einem Menschen von verächtlichem Amt, zum Chef der Ochrana, erwuchsen.

Der öffentliche Ankläger erörtert die vierzehn nachgewiesenen Punkte der Anklageschrift: für jedes dieser Verbrechen an der Entwicklung der Freiheit und des sozialen Gedankens habe Anna Egorowna nicht einen, sondern vierzehn Tode verdient. Er beantragt, sie zu »zerschießen«, wie das russische Wort bildhafter und furchtbarer den Tod durch das Gewehr ausdrückt. Für Zubilligung mildernder Umstände plädiert der vom Gericht gestellte Verteidiger, er spricht kurz, man liebt die Advokaten nicht. Der Gerichtshof zieht sich zurück, dreiundzwanzig Stunden dauert die Beratung, ohne daß sich jemand aus dem Beratungszimmer entfernen darf. Da er wiederkehrt, wird anderthalb Stunden lang verlesen, Anna Egorowna ist in vierzehn Fällen schuldig, die Delikte werden aufgezählt und der Schuldspruch 122 begründet. Atemlos wartet Rußland, den Hörer am Ohr, auf das Wort »rastreljat«. Und das Wort fällt, Anna Egorowna ist verurteilt zum Tode durch Zerschießen, doch fügt der Gerichtshof hinzu, daß diese Höchststrafe angesichts des erblindeten Angesichts und der sonstigen Hilflosigkeit von Anna Egorowna in siebenjährige Einzelhaft umgewandelt wird, mit Anrechnung von einem Jahr sieben Monaten Untersuchungshaft. Von dem Rest – das weiß jeder im Auditorium – braucht man bloß die Hälfte abzubüßen, wenn die Führung während der Haft keinen Anlaß zu Klagen gibt. Stehend wird das endlose Urteil angehört, auch die beiden Justizsoldaten stehen. Nur die Alte sitzt. Sie sitzt eingesunken da, stützt die leeren Augenhöhlen in die Fäuste und zuckt nicht einmal bei der Verkündung des Höchstmaßes zusammen. Aber da die Umwandlung der Strafe ausgesprochen wird, richtet sie sich ganz froh und frisch auf, und nach Schluß der Verhandlung beginnt sie mit den Mitgliedern des Gerichtshofes zu plaudern. »Sind Sie zufrieden, Anna Egorowna?« – »Ich habe eigentlich nur fünf Jahre erwartet«, lacht sie.

Eine Frau kommt, nimmt sie unter den Arm und hilft ihr die Stufen vom Podium hinab, auf die Straße zum offenen Auto, das sie in den Kerker fährt. Photographen knipsen, die Menge steht Spalier, und ein achtjähriger Junge, der das so gewöhnt ist, schreit »Hoch«, die Leute lächeln, der Kleine hat etwas von der Sympathie ausgedrückt, die die menschliche Seele auch einem verabscheuungswürdigen Verbrecher entgegenbringt, und etwas von dem Mitleid mit einer Greisin, die zwar aus dem Kerker noch den Weg in die Freiheit finden kann, aber nicht mehr den Weg zu ihrem Sohn.

*

Im Moskauer Klub der ehemaligen politischen Sträflinge und Verschickten sind aufbewahrt Erinnerungsstücke an die Schlüsselburg, an die Peter-Pauls-Festung, an die Katorga von Nertschinsk, an den Amurschen Weg, auf dem sich die Verbannten schleppten, an das Orjoler, das Tobolsker und Alexandrowskische Zentralgefängnis und an die Sträflingsinsel Sachalin, sind aufbewahrt Knuten der Schergen, ein Schafott, der Stempel mit 123 den Buchstaben »S. K.«, der den Galeerensklaven des neunzehnten Jahrhunderts in den Rücken eingebrannt wurde, Handketten und Fußfesseln, Armseile und Schließeisen, Kerkervorschriften, Todesurteile und ihre Vollstreckungsrapporte, Brotknetereien und Holzschnitzereien der Gefangenen und Photographien jener Marterwerkstätten, von denen man außerhalb des Zarenreiches nur durch die Sibirienbücher des amerikanischen Journalisten George Kennan, durch das »Totenhaus« Dostojewskis, die Memoiren Kropotkins und Herzens, Trotzkis »Meine Flucht aus Sibirien« und durch einige Romane, wie Tolstois »Auferstehung«, erfuhr. In Rußland durften nicht einmal diese spärlichen Dokumente ungekürzt erscheinen, obschon sie eher idyllisierten als übertrieben, was man an den Beweisstücken erkennt.

Allerdings, der Imperialismus, das muß man ihm zugute halten, hatte sich waghalsiger Gegner zu erwehren. Hundert Jahre dauerte die latente Revolution, von aufgeklärten Aristokraten, den Dekabristen begonnen, von der Intelligenz, den Petraschewzen aufgenommen (eine Riesenseite der offiziellen »St. Peterburgskije Wjedomosti« vom 24. Dezember 1840 füllen die Namen der zum Tode Verurteilten, deren einer, ein entlassener Ingenieurleutnant namens Fjodor Dostojewski, begnadigt wurde), in den siebziger Jahren vom Bürgertum ins Volk getragen, zur Massenbewegung der Narodowolzen gemacht, die mit Dynamit arbeiteten, dann von der Arbeiterschaft organisiert, deren Aufstand im Jahre 1905 blutig niedergekämpft wurde und schließlich dreiviertel Jahre nach dem Zusammenbruch der Romanows von dem radikalen Flügel der Sozialdemokratie zum Siege geführt.

Die Schrecknisse der Kasematten und Verbannungssteppen haben die Kontinuität der gewaltsamen Auflehnungsversuche in Rußland nie zu unterbrechen vermocht. Am 1. März 1881 flog die Staatskalesche, in der Alexander II. saß, in die Luft, der Mann, der die Bombe geschleudert hatte, wurde gleichfalls zerrissen, und schon zwei Stunden später verkündete ein in tausend Häusern und an hundert Straßenecken liegendes Manifest des »Vereinigten Komitees«, der Zar sei »im Auftrage unserer Partei durch zwei unserer Mitglieder hingerichtet«. Fieberhaft suchte 124 die Polizei nach Drucker und Kolporteuren, sie fand sie nicht (im Keller des Hauses Lesnaja Nr. 5 in Moskau ist nunmehr eine dieser konspirativen Druckereien, die des kommunistischen Blattes »Rabotschi«, dem öffentlichen Besuch freigegeben), und als am 3. April 1881 um neun Uhr vormittags drei der Attentäter gehängt wurden, erschien das Flugblatt mit dem Bericht über die unerschrockene Haltung der Kameraden in ihrer Todesstunde und mit neuen Drohungen um elf Uhr. – Nun sind diese gefahrvoll erzeugten Druckschriften neben den Bildern und letzten Briefen der Justifizierten im Klub unter Glas und Rahmen zu sehen. Im Jahre 1887, am Jahrestage des Attentats auf Alexander II. erfolgte eines auf seinen Nachfolger, es mißglückte, und alle Teilnehmer, vor allem der Hauptschuldige, der Student Alexander Uljanow, endeten auf dem Galgen. Als 1921 der Verband der Verbannten und Katorganten gegründet wurde, konnte der jüngere Bruder dieses Uljanow (seither unter dem Pseudonym »Lenin« als unbestreitbarer Revolutionär bekannt), nicht Mitglied werden, da er bloß administrativ und nicht justitiär bestraft worden war, der Klub trägt seinen Vatersnamen, den Namen »Ilitsch«, der auch der seines hingerichteten Bruders ist.

Die Bilder und Erinnerungsstücke aus den Käfigen der Festungen und aus den Sträflingsplantagen, die hügellosen, kreuzlosen, tafellosen Massenfriedhöfe für die im Zuchthaus zu Tode Gepeinigten erschüttern nicht so sehr, wie menschliche Tragödien, deren Spur hier ausgestellt ist. In kleiner Vitrine eine Kassette, geschnitzt von Frolow, der wegen Ermordung des Gubernators von Samara im Jahre 1908 zu lebenslänglicher Verbannung verurteilt worden war. Sein Mitgefangener Jakowlew schickte dieses Kästchen der aus der Verbannung ins Ausland geflüchteten Genossin Jakimowa-Dikowskaja. Der Deckel der Schatulle war doppelt, und in die Höhlung hatte Jakowlew seine Memoiren und wichtige Mitteilungen über bevorstehende Parteiarbeit verschlossen. Die Empfängerin wußte jedoch nichts von diesem Geheimfach und führte das Geschenk vierzehn Jahre mit sich herum, ahnungslos. Und sie hat es nie erfahren? Natürlich hat sie es erfahren. Da sitzt sie ja, die alte Frau mit dem grauen 125 Haar, und auch Jakowlew lebt noch und kommt in den Klub, und Frolow. Der Umsturz von 1917 hat die Tore ihrer Bastillen geöffnet, Frau Jakimowa-Dikowskaja durfte nach Rußland zurück, mitsamt der Kassette, und hörte nun von ihren beiden Freunden, daß der kleine Schrank auch einen Inhalt habe. Die darin angeregten Maßnahmen waren allerdings überholt . . .

Auf einem Tableau sind Pläne und Photographien arrangiert, die veranschaulichen, wie sich im Jahre 1904 siebenundfünfzig Verbannte in einem Haus der Transportstation Romanowka in Jakutsk verschanzten, um zu erzwingen, daß ein ungerechtfertigter Ukas des Generals zurückgenommen werde. Länger als vierzehn Tage vermochten sie sich mit alten Jagdflinten und Revolvern gegen eine Kosakenschwadron zu halten, und nur durch den Hunger wurden sie zur Übergabe gezwungen, die sich übrigens unter glimpflichen Bedingungen vollzog, da der General den Eklat der Massenhinrichtung zu scheuen hatte. Wird das Interesse eines Klubgastes an der Verteidigungstechnik dieses unbekannten Fort Chabrol dadurch offenbar, daß er längere Zeit vor dem Tableau steht, so kommen ein paar alte Herren auf ihn zu, zeigen den Verlauf der Belagerung und wo damals der Posten der heutigen Erklärer war. Deserteure eines Friedhofes, die den Cicerone machen . . . Der eine war Berufsphotograph und hatte während der Belagerung die Stellungen aufgenommen, die Platten entwickelt und die Kopien versteckt. Seine Platten wurden zerbrochen, aber die Bilder brachte er nach dreizehn Jahren in die Heimat.

Über dem Saal, der den Greueln der Schlüsselburg geweiht ist, steht das Wort, das Kommandant Orschewski zu den Neuangekommenen zu sagen pflegte: »Von hier geht man nicht hinaus, von hier wird man hinausgetragen.« Bilder der berühmtesten Gefangenen an den Wänden: Michael Petrowitsch Saschin, der Freund Bakunins, Mitbegründer der 1. Internationale, hat an der Pariser Kommune von 1871 teilgenommen und an der russischen Kommune 1917. Saschin spielt hier im Klub Schach, den weißen Bart tief über das Brett gebeugt. Auch Wera Figner lebt und Leo Deutsch, der Nestor des Sozialismus, und Aschenbrenner und Frolenko und Bibergall, der zaristischen Hippe 126 entkommen. Fünfzig von den achthundert Mitgliedern des Moskauer Verbanntenklubs waren zum Tode verurteilt und sind am Leben. Die andern: expediert für mindestens zehn Jahre, zumeist für Lebensdauer in die furchtbaren Gluten und Fröste von Sachalin und Sibirien oder in die von Kettenklirren, Geißelhieben und Schmerzensschreien durchtönten Verliese der Zwingburgen oder in den gräßlichen Kreislauf der Tretmühlen – und doch leben noch zweitausend in ganz Rußland. Aber Tausende, Zehntausende, Hunderttausende kehrten nicht mehr zurück, niemand weiß, hinter welchen Gittern sie verendeten, niemand weiß, wo ihre Leichen liegen. Den Witwen und Kindern dieser Vorkämpfer zahlt der Klub »Ilitsch« eine Pension, den Invaliden, von denen achtzehn älter als siebzig Jahre sind, gleichfalls. Die Kosten erwirbt das Pritanäum der Revolution durch die Herausgabe einer Revue »Katorga i Ssilka« (»Zuchthaus und Verbannung«), die hauptsächlich Prozeßakten und Memoiren der Mitglieder enthält, und durch den Verlag von Büchern über das zaristische Justiz-, Polizei- und Gefängniswesen. Diese Literatur, deren Authentizität mehr als teuer bezahlt ist, wird in Rußland sehr stark gelesen.

 


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