Alexander Lange Kielland
Schnee
Alexander Lange Kielland

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Alexander Lange Kielland

Schnee

Roman

1889

Erstes Kapitel.

Wenn der Schnee nach einem Sturme fällt – dicht, schwer und ebenmäßig – Vertiefungen ausfüllt, Spitzen und scharfe Ecken glättet; da ist es wunderbar, zu denken, es sei dasselbe Wasser, dem die Kraft verliehen ward, zu rauschen und zu springen, wie ein Rauch im Wasserfall zu sprühen und in mutigen Wellen den Weg hinaus zu dem freien, blauen Meer zu finden.

Und draußen – wenn die Sommersonne langsam und spät sich hinter den letzten schimmernden Streifen im äußersten Westen verbirgt, wo sich die pfadlose Bahn des Meeres um die Erde schlingt – dort wird es dir nicht leicht, zu verstehen, die frischen, goldgesäumten Wellen, wo der Fisch spielt und das Leben keimt, sei dasselbe Wasser, welches als schwerer, toter Schnee die Dächer der Häuser drücken, Bäume und Zweige beugen und die Wege vom Menschen zum Menschen versperren kann.

Da wird es ganz still in den großen Wäldern. Jeder Laut wird gedämpft und stirbt hin in der schneeerfüllten Luft, die sich nicht zu rühren vermag – eine schwere, weiche Stille wie in dichten Daunen, und das Glucksen des Baches unter dem Eise kommt in dumpfen Stößen, wie die tiefen Töne einer Spieldose.

Leicht und lautlos wie vorsichtige Gespenster senken sich aber die weißen Flocken herab – groß, wenn sie näher kommen, und immer winziger, je höher hinauf der Blick dringt, bis er von einem niedrigen, graugesprenkelten Himmel getrennt wird, welcher sich über die Bäume daniedersenkt.

Oben im Gebirge, wo der Wind einzelne Flecke reingefegt und das hohe Heidekraut geschüttelt hatte, breitete der Schnee frische Decken aus, deren Falten über die steilen Abhänge hinaushingen und die Hochebene wellenförmig verhüllten.

Aber weiter unten im Thal brach der Wald durch und erhob sich mit Schnee in den Haaren – still und finster, die Felder des Thalbodens umkränzend, wo alles weiß in weiß verschwamm, mit Ausnahme der tückischen schwarzen Stellen im Flusse, die niemals zufrieren.

Alles, was flach und schräg war, erhielt einen Mantel und verlor sich ohne Form. Das ganze Pfarrhaus wurde ebenmäßig zugeschneit bis zu der kleinsten Leiste am Fensterrahmen – selbst oben am Knopf der Fahnenstange stapelten die Schneeflocken sich vorsichtig auf zu einem spitzen Hut.

Der alte Schuppen vor den Fenstern der Wohnstube wurde von oben bis unten verhüllt, so daß niemand sehen konnte, wie baufällig und elend er war.

Der Kirchweg über die Felder verschwand ganz, und der Jasmin an der Laube des Pfarrhauses beugte sich zur Erde.

Alle Wege waren versperrt, und die Angehörigen jedes Hausstandes vereinigten sich in der Ofenecke, um dieselben Gesichter zu sehen und zusammen dem kleinen, kreisförmigen Pfade ihrer eignen weltfernen Gedanken zu folgen. Die kosige, gemütliche Wärme, sowie das Licht des Feuers, welches alles da drinnen gesund und munter machte, ließ sie alle in behaglicher Weise den Gegensatz zwischen ihrem kleinen Winkel und den kalten, öden Strecken, zwischen dem Heimischen und dem Fremden empfinden – eine stille, sichere Selbstzufriedenheit, bescheiden und grau, aber ganz undurchdringlich.

War nun die Lampe erst angesteckt, da war es die Zeitung der Hauptstadt, welche den Wiederhall von dem Lärm der Welt in alle Ofenecken des Landes hineintrug. Und diese Zeitung wußte den passenden Wiederhall zu bringen.

Da waren keine verzehrende Sehnsucht nach Sonne und Schönheit, keine weitschweifigen Gedanken und Zweifel, keine leichtsinnige Bewunderung des falschen Glanzes der großen Welt.

Von den Tiefen der Gesellschaft stieg aber ein Geschrei von Blut und Leidenschaft herauf; da waren Verderbnis und Verbrechen – bis zu den schmutzigsten und unnatürlichsten, die ein gesundes Denken kaum aufzufassen vermochte: da war Fäulnis auf dem Grunde, und diese stieg und stieg, bis sie an den Stufen des Thrones still hielt – dort, wo es noch Throne gab, aber überall sonst und unterhalb wälzten sich die Völker im Blute und Schmutze der losgelassenen Leidenschaften.

So war die Zeitung der Hauptstadt.

Und wenn diese doch dalag innerhalb des frommen Scheines der Lampe auf dem Familientisch in allen gemütlichen Ofenwinkeln des Landes, und wenn sich jede Hand danach ausstreckte – sowohl die des Hausvaters und der Männer, wie die blassen Finger des halberwachsenen Mädchens, da war der Grund hierzu der: dieser ganze widerwärtige Stoff wurde von dem echt christlichen Geiste durchdrungen, welcher die Mitarbeiter beseelte und den eigentlichen Kern und das Lebensprinzip des Blattes bildete.

Daher stieg der Gedanke getrost und ohne zurückzubeben in die schwärzeste Tiefe der Verderbnis und der Bosheit hinab: die Angst vor diesen Greueln wurde ja von der christlichen Vertröstung beschwichtigt, daß alles so fern sei; Gottes kleine Schar konnte die Welt lärmen lassen; die Wächter standen auf den Mauern; der Herr selbst wachte mit den Wächtern.

Und wenn ein Gedanke, ermüdet, dem gemächlichen Kreislauf des Tages zu folgen: um sich selbst, um sich selbst herum und zu sich selbst zurück – es tastend versuchte, sich in Sehnsucht nach andern Gedanken oder in qualvoller Teilnahme für die Leiden und Kämpfe der Millionen dort in der Ferne vorwärts zu wagen, da erhob die Zeitung der Hauptstadt sich in vollem Ornat und sagte: »Viele sind berufen, doch wenige auserwählt.«

Und gegen zehn Uhr, wenn weder die Revolver Amerikas noch die verdorbenen Sitten der Pariser es vermochten, sie wach zu halten, dann dankten sie Gott aus einem aufrichtigen Herzen, weil sie davor bewahrt waren, draußen bei den schlechten Menschen zu leben, und zu den Auserwählten des glücklichen Landes mit den gemütlichen Ofenwinkeln gehörten.

Indessen fiel der Schnee dicht in der Finsternis während der langen Winternacht und Licht nach Licht erlosch in der schläfrigen, toten Kälte. Die letzten Fenster im Thal, welche quer über den Fluß zu einander hinüberleuchteten, waren die des Pfarrers und des Vogts – und da saß man noch auf – las, dachte und wachte für die andern.

Des Morgens aber arbeiteten die Bauern mit dem Schneepfluge, um den Weg für die Post fahrbar zu machen – sie mußte jedenfalls freie Bahn haben – obgleich sie leider sowohl Gutes wie Schlechtes in die Thäler hineinbrachte. Die Zeitung der Hauptstadt mußte die Gesellschaft von allerlei Giftstoff dulden, der in das Land hineinsickerte.

Böse Zeiten und böse Menschen; Unruhe in den Gemütern und Aufruhr gegen Gott; die verderblichen Gedanken von der verdorbenen Welt da draußen – sie kamen – sie kamen, wie eine Seuche durch die Luft.

Aber noch herrschte Friede in den Thälern, in denen es still wie in einer Kirche herging; und lange hatte der Friede gedauert.

Halb erstickt unter dem Schnee lagen die Häuser der Bauern – schwer und niedrig, mutlos und einander gleich mit kleinen vorsichtigen Fenstern, die das Ihrige bewahrten und sich anstellten, als sähen sie nichts. Zwischen den Gehöften schlängelten sich enge Pfade, uneben und steil, mit großen tiefen Löchern im Sommer, verschneit im Winter, so daß man es vorzog, querfeldein zu fahren.

Das Pfarrhaus lag licht und freimütig an der Poststraße mit seiner Laube und seiner Fahnenstange. Inmitten des Hofes erhob sich das hohe Reck, wo sich die Jugend im Sommer schaukelte, während die Balancierstange halb im Schnee begraben war. In dem weitläufigen Gebäude lächelten zwei Reihen großer Fenster mit Blumen und Gardinen.

An der Einfahrt entlang war der Schnee zur Seite geschafft und erhob sich nun noch höher zwischen den Stämmen der jungen Tannen, die eine Hecke bildeten.

Inmitten des Thales, dort wo der Fluß eine Krümmung machte, lag die Kirche, von den Feldern des Pfarrers umgeben. Ohne Turm, weißgetüncht, einfältig und unansehnlich, aber stark mit dicken Mauern stand sie da, verschwiegen und verschlossen: und niemand rührte an die Thür, wenn der Pfarrer nicht den Küster mit dem Schlüssel sandte. Doch die Leute ringsum in den Thälern und drüben an den Halden und Abhängen der Berge – sie wußten, heute sei Gottes Haus offen, und der Diener des Herrn lasse alle herein.

Alle die Bekümmerten und Bedrängten, die in sich selbst vergraben saßen – in Zweifel oder Kümmernis, in hoffnungsloser Langeweile oder mit halbgezähmten Lüsten auf schreckliche Unthaten sinnend, verschüchterte Mädchen in der Versuchung der Jugend und alte Sünder mit der Reue im Halse – an sie alle erging der Ruf: »Kommet her, alle, die ihr mühselig und beladen seid, heute ist Sonntagspredigt.«

Und sie krochen hervor in der Morgendämmerung, schnallten Schneeschuhe an oder spannten das langhaarige Pferd vor den Schlitten; und auf dem Wege sann jeder darüber nach, was er mit Gott abzumachen wünschte.

In der Kirche saßen sie still und warteten – die Männer auf der einen, die Frauen auf der andern Seite; und sie hörten die kräftige Stimme über sich, welche in der feingebildeten Sprache redete.

Der Pfarrer legte die heilige Schrift aus mit Ernst und ohne schwierige Gelehrsamkeit. Aber klar und deutlich zeugte er gegen die bösen Zeiten, gegen Aufruhr und Trotz im großen wie im kleinen, gegen die falschen Propheten, welche die Herzen der Völker dem Herrn abspenstig machen.

Mit den Worten der Schrift züchtigte er die Selbstklugen und Widersetzlichen: er predigte Gehorsam unter der Zucht und dem Gesetz des Herrn, unter der vom Herrn eingesetzten gesetzlichen Obrigkeit; er schilderte die christliche Demut, welche sich selbst erniedrigt; den geduldigen Christen, der sich nicht sorgt.

Es war Gottes Wort rein und klar; das wahre, unverfälschte Christentum, ganz wie in der Zeitung der Hauptstadt.

Und die Leute traten den Heimweg an – bedrückt und so seltsam leer in den Augen, als ob ein jeder bei sich sagte: »Das nächste Mal wird er zu mir reden – das nächste Mal.«

An dem schneebedeckten Lande entlang wälzte aber das Meer seine kalten winterlichen Wellen in Erwartung des Frühjahrs, welches all jenen toten Schnee als mutige blaue Strömungen in die See schicken würde, während es die Thäler mit dem Duft des frischen Laubes und Vogelgezwitscher erfüllte und die stickigen Ofenwinkel auslüftete.

Und während des Harrens erhoben die ungeduldigen Brandungen ein Getöse, welches immer und immer zwischen den ersten Gebirgen wiederhallte, bis es langsam in der unendlichen Stille der Schneefelder erstarb.

Es gibt aber einen Laut, den das Ohr atemlos lauschend auffängt – ein lustiges helles Läuten von klingenden Schellen weit fort im Walde.

Wenn die Kunde aus der Küche erschallt, man habe Schellengeläute gehört, eilen alle hinaus – die Jungen zuerst, die Alten hinterher. Dicht zusammengedrängt stehen sie in der offnen Thür, ohne auf den Schnee und die elf Grad Kälte zu achten, mit klopfenden Herzen, ein zurückgedrängtes Lächeln auf den Lippen – horch, horch – still! Hast du es gehört?

Indessen traben müde Pferde, die von dem herabfallenden Schnee dampfen, dorthin nach den gemütlichen Ofenwinkeln ringsum in den Thälern, und aus den Pelzkragen spähen sehnsüchtige Augen nach einer Lichtung im Walde, nach den bekannten Fenstern mit den roten Gardinen. Und das feine Glockenspiel, die große Schelle, die vielen kleinen Messingglöckchen bis zu dem bescheidenen Schellengeschirr des Postpferdes – sie klingen und klingen, soweit sie können, reizen, täuschen, flüstern und schmeicheln den kleinen rosigen Ohren, welche in den Thüren lauschen.

Und aus den gemütlichen Winkeln fällt der gelbe Lichtschein hinaus in den Schnee, ehe sie sich sicher und warm hinter den neuen Ankömmlingen schließen. Draußen fällt der Schnee dicht wie zuvor, und das Postpferd schleicht sich heimwärts in der Dunkelheit. Der kleine Postillon schläft im Schlitten und die Schelle hat keinen Klang mehr, weil niemand jetzt darauf achtet.

Dann beginnt ein Gerede – die Angekommenen haben so viel zu berichten, es ist wie ein Strom von Erzählungen, in dem sich die Fragen überstürzen – ein Wirbel im Ofenwinkel, welcher die Stube mit Gelächter und Gespräch bis nach Mitternacht erfüllt.

Sowohl die Ankömmlinge wie die, welche sie erwarteten, glichen zurückgestauten Gewässern, die beim Wiedersehen ihre Dämme durchbrachen, und von einer ansteckenden Lust beseelt, Bescheid zu erhalten und Bescheid zu geben, eröffnen sich die Gemüter zu einer ungeahnten Vertraulichkeit, und ein Mut, ein Gefühl von Ueberlegenheit führt die Angekommenen weit hinaus in kühne Gedanken, so daß die, welche in den gemütlichen Ofenwinkeln zu Hause sind, einander mit weit offnen Augen ansehen.

Dies läßt aber bald nach.

Die unbändige Lebhaftigkeit des ersten Abends wird nach und nach wieder eingedämmt, je nachdem jeder seine Ereignisse erzählt und die der andern gehört hat; und allmählich bringt es das Zusammenleben am Tage mit sich, daß die Gedanken aller des Abends wieder den alten Kreislauf antreten, während sie das besprechen, was sie in der Zeitung der Hauptstadt gelesen haben.

Und zuletzt bleibt nicht viel zurück von dem wilden Mut des ersten Abends. Die kühnen Gedanken, welche durch die größeren Entfernungen der ersten Begegnung wehten, werden ein wenig hier und da beschnitten und nehmen kürzere Flügelschläge, je nachdem man einander näher kommt.

Und sollte noch etwas von dem jungen Uebermut übrig bleiben, so wird es glimpflich in die Zeitung der Hauptstadt untergeduckt, und da bleibt es. Kommt es aber doch wieder zum Vorschein, so muß es aus dem Kreise hinaus, hinaus aus dem Ofenwinkel.

Es gibt kein Mittelding: entweder draußen oder drinnen.

Entweder gemütlich und warm in einem Kreise, oder einsam über die weiten Strecken schweifen, entweder sicher und geschützt mit den andern den Kreislauf um sich selbst vollbringen, oder seinen eignen Weg im Schnee gehen.

Zweites Kapitel.

Der alte baufällige Schuppen lag gerade vor den Fenstern der Wohnstube und des Arbeitszimmers, und die Einfahrt bog dicht um seine schiefe Ecke. Er stand eben allen im Wege, drängte sich stets dem Blicke auf und war von wenig oder gar keinem Nutzen. Der Pächter setzte lieber Heu und Korn in Schober, als daß er es dem alten Gebäude anvertraute, und er konnte den Pfarrer nicht zu einer Reparatur bewegen.

Es verging kaum ein Tag, wo Daniel Jürges nicht den Blick zur Seite wandte, um die Gedanken zu verscheuchen, welche das alte Haus in ihm erweckte. Und selbst wenn es mit der Zeit seltener geschah, daß er sich all den Aerger zurückrief, den ihm das Gebäude bereitet hatte, so stand es doch immer da gerade vor ihm, und selbst, wenn er es nicht sah, kam es ihm nie ganz aus dem Sinn; war er nicht wohl oder verstimmt, so saß er am Fenster und starrte zu ihm hinüber.

Als er vor zehn Jahren hierher berufen wurde, erschien ihm das breite Thal mit den wogenden Aeckern und großen Wäldern wie ein fruchtbares Kanaan verglichen mit der Gegend, die er eben verlassen hatte. Dort oben war alles so kalt und so eng, hier konnte der Sinn sich erweitern, das Auge sich an Sonnenschein und schlankem Wachstum erfreuen nach all jener Verkrüppelung im fernen Norden.

Das erste, was aber sein Auge beleidigte, als er froh und eifrig aus dem Wagen sprang, um von seinem neuen Heim Besitz zu ergreifen, war das alte Gebäude, krumm und vernachlässigt, aber doch trotzig in aller seiner Gebrechlichkeit.

Pastor Jürges konnte nicht begreifen, wie sein Vorgänger ein solches Gerümpel ohne Reparatur gelassen habe: seine erste Frage bei einer Zusammenkunft mit den besten Männern der Gemeinde war auch die, wie es nur möglich sei, daß man ein Gebäude des Pfarrhauses in solcher Verfassung belassen konnte.

Ja, es war zu arg mit dem Schuppen – meinte einer, er hatte so oft gesagt, hier müsse man Hand anlegen; schon lange hätte es geschehen sollen, warf ein zweiter dazwischen; ein dritter hatte sich schon oft gewundert, daß er nicht von selbst zusammenstürzte.

Der Pfarrer wollte aber gern wissen, wem es eigentlich oblag, die Gebäude des Pfarrhauses zu reparieren.

Einer der Aeltesten hub an zu berichten, wie es mit diesen Dingen zur Jugendzeit seines Vaters bestellt gewesen sei; ein andrer erzählte, was er von seiner Muhme gehört hatte, deren Mutter im Pfarrhaus diente, als der Propst Bosse da war – derselbe, den sie den »Stampf-Gunnar« nannten und der am Weihnachtstage von der Kanzel herunterstürzte – dies war aber dem neuen Pfarrer zu langwierig.

Er scheute keineswegs geringe Kosten; sie konnten sich ja beistehen – Pfarrer und Gemeinde – in aller Eintracht – nicht wahr? Er – der Pfarrer – würde schon die Bäume fällen lassen, dann könnte die Gemeinde die Fuhren stellen; war dies nicht Landessitte seit alters her? Sie würden schon einig werden.

Pastor Jürges nickte und sah sich im Kreise um von einem zum andern.

Keiner sagte ja oder nein; sie fanden allerdings, daß es sehr schnell ging. Kaum war man aber nach dem Umzug ein wenig in Ordnung gekommen, so sandte der Pfarrer seine Kätner – ja er ging selbst mit in den Wald und ließ mit Lust und Liebe Holz schlagen, was sich gerade für seinen Zweck am besten eignete.

Wahrend sie in voller Thätigkeit waren, kamen zwei Männer dahergegangen. Der Pfarrer kannte sie und ging ihnen herzlich und frohen Mutes entgegen. Es war ihm etwas Ungewohntes, diese Menge Bäume zur Auswahl zu haben. Der Wald gehörte zum Pfarrhaus oder zum Kirchspiel, die Gerechtsame waren mannigfaltig und verwickelt: die Grenzscheiden weitläufig und unbestimmt – er hat allerlei Dokumente darüber durchstudiert; unmöglich konnte man aber das alles behalten. Der Wald war öffentliches Eigentum, Bäume genug standen da – dies war die Hauptsache.

»Schaut her, meine Freunde!« rief Pastor Jürges und streckte den beiden Männern die Hände entgegen; »jetzt soll der alte baufällige Kasten schon ein andres Aussehen bekommen! Seht nur, was für wundervolle Bäume ich mir ausgesucht habe.«

Die Bauern sagten erst »Guten Tag«, »Gott segne die Arbeit«, »Schönes Wetter« und manches andre – das war nun ihre Art, ein Gespräch zu beginnen, und sie ließen sich durch die schnelle Redeweise nicht beeinflussen. Pastor Jürges, der die Bauern gründlich kannte, achtete nicht viel auf ihr Gemurmel, sondern fuhr fort von seinen Balken zu reden.

Indessen sollten seine Leute einen neuen Baum in Angriff nehmen: sie zauderten aber, machten sich mit den Aexten zu schaffen und schienen auf etwas zu warten.

»Nun,« rief der Pfarrer, »frisch an die Arbeit – ihr Leute! Nehmet jene Tanne dort am Felsblock, die ich euch vorhin zeigte – nicht wahr? – Ein prächtiger Baum – von passender Größe!«

O ja, daran fehlte es nicht: der Baum war gut genug. Es gab sonst – meinte der eine der beiden Männer – einen Platz weiter östlich im Walde, wo die Pfarrersleute zu hauen pflegten; wenn nun der Herr Pastor – eh – mitgehen wollte, so würden sie ihm zeigen –. O keineswegs! Sie sollten sich wahrlich seinetwegen nicht bemühen; er würde schon das finden, was er brauchte. Und je näher dem Pfarrhause, je leichter für die Gemeinde, welche die Fuhren stellen sollte; Bäume gab es ja – Gott sei Dank – genug.

»Ja, das war ein wahres Wort, Bäume gibt es hier genug,« sagte der eine, und kurz darauf sagte der andre dasselbe.

Sie blieben stehen, bis die Kätner des Pfarrers nach wiederholten Befehlen desselben die Tanne zu fällen begannen. Darauf sagte der eine: »Ja, dann müssen wir uns so langsam auf den Heimweg machen – wir beide.«

»Ja, das müssen wir wohl,« meinte der andre.

Der Pfarrer nahm von ihnen herzlich Abschied, sandte Grüße an ihre Frauen und rief ihnen zuletzt nach: »Laßt mich nun sehen, daß ihr auch Sorge tragt, das Bauholz fortzuschaffen, wenn wir genug Schnee haben.«

»Ja, die beste Zeit, Holz zu fahren, ist die, wenn der Schnee lose liegt,« sagte der eine. »Es ist gleichsam leichter sowohl für das Pferd wie für den Mann,« fügte der andre hinzu, und damit gingen sie.

Der Schnee fiel in reichlicher Menge, und täglich wartete der Pfarrer auf den langen Zug dampfender Pferde, der ihm das Holz bringen sollte. Er wollte gleich damit anfangen, das Gebäude inwendig zu stützen, wenn die Tage ein wenig länger wurden.

Anfangs lachte er leise vor sich hin bei dem Gedanken an die zähen Bauern, die nie in Trab zu bringen sind. Und wenn der Vogt, welcher in der Gegend wohlbekannt war, sie mit den schlimmsten Scheltworten bedachte, so verteidigte der Pastor in aller Gutmütigkeit seine Pfarrkinder: es nahm zwar ein wenig Zeit, am Ende würde es aber doch früh genug da sein.

Als aber der Winter verging und der Landvogt zu Ostern frohlockend fragte, ob das Bauholz gebracht sei, da schien es dem Pfarrer doch zu arg; alles hatte seine Grenzen! Und zum erstenmal ließ er seinem Zorn freien Lauf bei einer Sitzung des Gemeinderates, indem er sich erhob, erst ihre unverzeihliche Trägheit und Langsamkeit rügte und dann mit Bestimmtheit verlangte, man solle augenblicklich die nötigen Fuhren stellen.

Nach einer langen Stille begann einer: »Von alters her war es nun hier bei uns Sitte, zwei Männer zu ernennen, welche zeigen, was gehauen werden muß und wo gehauen wird; und dann ist es weiter so, daß –«

»Aber davon ist ja hier nicht die Rede,« unterbrach ihn der Pfarrer, »das Holz ist ja gehauen und liegt fertig hart an der Fahrstraße.«

»Und es wurde vielleicht von den dazu ermächtigten Männern gezeichnet?« fragte eine friedfertige Stimme: »du warst vielleicht mit und zeigtest es dem Herrn Pfarrer – du, Hans? – denn es waren ja du und Eiwind, denen der Auftrag zuerteilt wurde.«

»Ja, wir waren da, alle beide – jawohl, das waren wir,« sagte der eine der beiden Männer, welche damals in den Wald gekommen waren.

Ein Weilchen nachher versetzte der andre: »O ja, wir waren da – ja! – alle beide.«

»Und dann habt ihr wohl die Bäume angegeben, welche der Pfarrer hauen sollte?« fragte dieselbe friedfertige Stimme.

Der Pfarrer unterbrach sie aber wieder etwas ungeduldig: »Darum handelt es sich doch gar nicht mehr; Bäume sind genug da, und ich nahm die paar, die wir nötig haben, dort, wo man sie am leichtesten fortschaffen kann.«

»Aber – aber – ob es doch nicht hätte ordentlich angewiesen werden müssen.«

»Es ist wohl möglich; ich bin ja noch wenig in diese Sachen eingeweiht, finde aber nicht, daß es sich verlohnt, deswegen Aufhebens zu machen.«

»Aber,« nahm einer wieder das Wort, »wenn es sich nun gerade so traf, daß sie zur Stelle waren – die beiden damit beauftragten Männer – gewillt, dem Herrn Pfarrer alles zu zeigen, obgleich sie nicht gerufen waren –«

»Zeigen – zeigen?« rief der Pfarrer ärgerlich, »Keiner sprach ein Wort von diesem Auftrag. Ich entsinne mich jetzt, ein paar Worte mit Hans und Eiwind gesprochen zu haben; sie erhoben aber keinen Widerspruch dagegen, daß ich hauen ließ, wo es mir beliebte.«

»Es ist nun – eh –« begann Hans langsam mit etwas zitternder Stimme, »es ist nun so, daß wir zwei Zeugen aufweisen können – außer mir selbst und dem Eiwind.«

»Zeugen? – Zeugen? – Wovon?« rief Pastor Jürges.

»Zwei recht gute Zeugen,« sagte Eiwind. Alle saßen nun gespannt und blickten vor sich nieder. Ob der neue Prediger es so weit treiben würde, noch gegen das Zeugnis zweier Männer zu leugnen?

Hans fuhr fort: »Es ist nun so, daß sowohl der alte Aslag wie sein Sohn, welche für den Herrn Pfarrer arbeiteten, gewillt sind, es eidlich zu bestätigen, daß der Herr Pfarrer sich zähe weigerte, mit nach der Halde zu gehen, wo die Pfarrersleute seit alters her ihr Holz geholt haben.«

»Das that er – ja; das ist ganz gewiß,« sagte Eiwind.

»Aber du lieber Gott! – Ihr Leute! Ich weiß nicht, ob ich über euch weinen oder lachen soll. Ist dies der Grund, daß ihr keine Fuhren stellt? Nicht wußte ich an jenem Tage, daß Hans und Eiwind im Auftrage kamen, ebensowenig teilten sie mir dies mit. Und dies Gerede – ich weiß gut, daß davon die Rede war, östlicher zu hauen – das nahm ich alles für einen wohlgemeinten Rat; und wenn ich ihn nicht befolgte, so geschah es ausschließlich aus Rücksicht auf die Gemeindemitglieder, welche die Fuhren stellen sollten; mir konnte es ja gleichgültig sein.«

Wer seine Leute nicht kannte, würde nicht aus den kurzen schielenden Blicken, welche die Männer wechselten, erraten haben, wie erbärmlich sie alle diese Ausrede fanden. Und die freundliche Stimme sprach in die Luft hinaus etwas davon, daß es immer am besten sei, nachzufragen, dann komme man nicht auf Irrwege.

»O, ein großer Schaden ist nun nicht geschehen,« entgegnete der Pfarrer scharf; die friedliche Stimme gefiel ihm nicht. »Ein andermal werde ich mit Vergnügen nach Anweisung hauen; an der Thatsache läßt sich aber jetzt nichts ändern: das Bauholz liegt fertig da, und ihr müßt es nun an Ort und Stelle schaffen – und das so schnell wie möglich, schmilzt erst der Schnee, dann sind ja die Wege unfahrbar.«

Wieder wurde es still, bis einer sagte: »Es ist kaum anzunehmen, daß zum Hauen noch vor Frühlingsanfang Zeit ist.«

»Hauen? – Noch einmal hauen? Ihr wollt doch nicht, daß ich noch einmal hauen soll?« rief Pastor Jürges.

Als er aber die unerschütterliche Ruhe der Gesichter bemerkte, verging ihm die Geduld.

»Ihr seid recht – hm! – recht sonderbare Menschen! Ihr macht euch einen kleinen Formfehler meinerseits zu Nutzen, um einen Zank vom Zaun zu brechen. Ist das freundlich gegen euren Pfarrer gehandelt? Ist das christlich gegen einen Bruder? Bedenkt nur, wenn wir in dieser Weise miteinander ins Gericht gehen würden – oder denkt daran, wie es wäre, wenn unser Herr Gott mit uns so streng vorginge.«

Der gespannte Ausdruck der Gesichter wich jetzt dem gewöhnlichen kirchlichen Ernste; sie erwarteten eine Predigt und eine Strafrede, und dessen waren sie gewohnt.

Sobald der Pfarrer innehielt, schickte der eine und der andre sich zum Fortgehen an, und in dem Wahne, daß sie sich jetzt beschämt fühlten, fragte dieser ernst, aber vertrauensvoll: »Laßt mich also hören, welchen Tag ihr das Holz vorzufahren gedenkt; ihr wißt alle, wo es liegt; viel ist es ja nicht.«

O nein, gar so viel sei es nicht, meinte einer.

Nein, was das beträfe, so sei die Sache wahrlich nicht der Rede wert, pflichtete ihm ein andrer bei.

Darauf versicherte einer, er mache sich anheischig, den ganzen Kram an einem Tage mit eignen Pferden zu fahren – mehr sei es nicht.

»Ja, ja, sprechen wir nicht mehr davon. Am Montag beginnt das Anfahren der Balken, und ich denke,« fügte der Pfarrer lächelnd hinzu, »Knud wird der Erste sein, dessen Gespann ich erblicke.«

Knud war der Mann mit der friedlichen Stimme, der sah sich aber nur kurz im Kreise um und erwiderte dann still und kalt: »Ich zweifle daran, daß sich in der Gemeinde ein einziger Mann findet, der dem Gesetze zuwiderhandeln wird – stellt sich auch der Pfarrer an die Spitze.«

Und darin stimmten ihm alle bei – das war deutlich zu sehen. Da wurde aber der Pfarrer ernstlich böse, und er las ihnen ordentlich den Text; die Sitzung schloß mit einer Art Gewitter, aus welchem der Pfarrer in heller Wut hinwegstürzte ohne Versöhnung und Abschied.

Der Vogt lachte laut und rieb sich die Hände, als er den Vorgang erfuhr: waren dem Pfarrer endlich die Augen aufgegangen? Sah er jetzt ein, daß dies Gesindel sich nicht schämte, jede Gelegenheit zu ergreifen, die es ihm ermöglichte, Zänkereien zu beginnen und der Erfüllung seiner Pflichten aus dem Wege zu gehen?

»Nein, nein, Herr Pastor! – Die hiesigen Bauern sind andre Kerle als jene armen Fischer dort im Norden; hier sind sie, hol' mich der Teufel, klüger als Bischof und Pfarrer zusammen – vom Vogt nicht zu reden – dem Aermsten!«

In der Gemeinde rief dieser erste Streit mit dem Prediger eine gewisse Erregung hervor. Da die Pfarre groß und gut war, wurde sie stets einem Geistlichen zuerteilt, der nach den mageren Jahren auf ein gemächliches, sorgenfreies Leben Anspruch erheben konnte. Es waren erfahrene, gestrenge Herren. Allgemein hieß es daher, dies Kirchspiel habe wenig Glück mit seinen Predigern.

Und dieser neue hatte nicht gut begonnen.

Jedes Kind – oder wenigstens jeder Erwachsene wußte, wie gefährlich es sei, ungesetzlich Holz zu hauen, wenn es erst zur Sprache gebracht wird, und wie viele für weniger als dies in Ungelegenheiten gekommen seien. Mußte nun nicht der Pfarrer, der so viel gelesen hatte und selbst alle Bücher besaß, noch besseren Bescheid darüber wissen? Und handelte er doch den klaren Worten des Gesetzes zuwider, so war es, weil er sich ein ebenso mächtiger Pfaffe dünkte wie der Propst Bosse in eigner Person.

Dann trat aber die Aussage des Pfarrers hinzu, er habe so nah am Pfarrhaus hauen lassen, damit es die Gemeinde bequemer habe – dies stimmte nicht, denn der alte Bosse war nicht dumm. Es war aber dumm, ihnen dergleichen einbilden zu wollen. Die Beamten konnten verschieden sein, einige waren schlimmer als die andern; aber niemand konnte einer Rede Glauben schenken, die keinen Sinn hatte. Sie vermochten sich deshalb nicht darüber zu einigen, was der Pfarrer gemeint habe, sie verstanden ihn nicht: daß aber etwas dahinterstecke, das begriffen sie sehr gut. Daher war es geraten, sich strikt an den Buchstaben des Gesetzes zu halten und sich nicht in Weitläufigkeiten einzulassen. Daß sich der Pfarrer für seine Person durch seine Handlungsweise Unannehmlichkeiten zuziehen könne, fiel ihnen nicht im entferntesten ein – ein Anwalt, der einen Pfarrer wegen ungesetzlichen Baumfällens unter Anklage stellte – das war ja zum Lachen.

Sie hatten aber oft das Gesetz blind und stumpf an Personen und Dingen vorübergleiten sehen, welche ihres Erachtens mitten im Wege lagen, um sich dann wieder mit seinen entsetzlichen Krallen anderswo anzuklammern, wo sie dazu gar keinen Anlaß erblickten.

Sie kannten sie recht gut – diese Juristen, welche gemeinsam ankamen und alle unter einer Decke steckten, mochten sie auch des Vormittags Komödie spielen mit Ankläger, Verteidiger und allerlei Kram. Thaten sie sich zusammen, dann konnten sie, was es auch sei, verschwinden machen und auch alles, was sie wollten, zwischen den Zeilen lesen oder es den Zeugen entlocken.

Nein – nein! Sicher war nur eins: mit keiner Fingerspitze irgend etwas zu berühren, worin sich etwas Ungesetzliches verbarg – und selbst dies Vorgehen konnte unter Umständen seine Gefahren haben.

Daher hegten sie alle die unerschütterliche Meinung, sie dürften um keinen Preis nachgeben. Sie kannten die Beamten und wußten, nichts sei weniger angebracht als eine derartige Handlungsweise.

Der Vogt sagte aber zum Pastor: »Eins möchte ich Sie aber bitten: geben Sie nicht nach! Merken jene erst eine Spur von Schwäche –«

»Seien Sie ruhig; ich werde keine Schwäche zeigen,« entgegnete der Pfarrer. Er kannte die Bauern und wußte, nichts sei verkehrter als dies.

Dieser unglückliche Anfang hatte das Verhältnis zwischen Prediger und Gemeinde bestimmt, obwohl der Zank allmählich im Sande verlief.

Der Prediger hatte sich selbst und jedem, der es hören wollte, gelobt, eher sollten die Balken verfaulen und das Gebäude von selbst zusammenstürzen, ehe er noch einmal nach Anweisung hauen ließe und sich ihrer bäurischen Starrköpfigkeit füge.

Und die Gemeinde gab sanftmütig zur Antwort, die beiden dazu ernannten Männer stünden zu Diensten, welchen Tag und welche Stunde es dem Herrn Prediger genehm sei – aber gegen das Gesetz handeln – nein, das wollten sie nie und nimmermehr.

Im übrigen gestaltete sich das Verhältnis äußerlich recht freundschaftlich. Die Bauern behandelten den Pfarrer und seine Familie mit ausgesuchter Höflichkeit – wie es die Sitte gebietet. Sie wußten jetzt, was in ihm wohnte; und sie waren froh, solange er nicht aus der Haut fuhr.

Drittes Kapitel.

Daniel Jürges litt aber mehr durch diesen Schuppen und diese Kränkung, als irgend jemand ahnte.

Es widerstrebte seiner ganzen Natur, das Häßliche vor Augen zu haben. Seine Lebensanschauung war ideal, und die klassischen Studien hatten seinen Geist für alles Schöne und Gute empfänglich gemacht. Als Student war er der erste Lateiner gewesen und später im Studentenverein ein großer Redner und Gelegenheitsdichter. Er gehörte zu den wenigen Theologen, die an mancherlei Dingen teilnehmen können, ohne sich etwas zu vergeben und ohne Spaßverderber zu sein.

Die Familie Jürges war eine jener alten Beamtenfamilien, die seit Generationen das Land durchzogen von einem Amt zum andern, das Gesicht stets nach einem Ministerium gerichtet.

Ursprünglich war ihr Blut dänisch oder deutsch gewesen: und obgleich es so oft vermischt worden war, ruhte doch über einer Familie wie dieser ein Hauch jenes Fremdartigen, das einst als vornehm galt.

Dies Wanderleben voller Sehnsucht nach bessern Aemtern konnte den aufwachsenden Kindern keine Liebe zu ihrem derweiligen Heim einflößen, und das ganze Land erschien ihnen daher wie ein großes Ministerium im Freien, wo man allmählich mit wenig Mühe und vieler Geduld avancierte.

Durch die steten Umzüge und das Wechseln der Aemter, welche man in der Zeitung der Hauptstadt und im Staatskalender verfolgen mußte, entwickelte sich in den Beamtenfamilien eine ganz außerordentliche Personalkenntnis.

Die juridischen Beamten mußten auch die Beförderungen der Geistlichen und der Aerzte verfolgen: denn durch Heiraten und allerlei Beziehungen hingen sie alle zusammen bis zu den Bischöfen und Ministern, welche die Fäden hielten. Das Interesse für dies ganze Netz von Beamtentum nahm ihre meisten Gedanken in Anspruch, so daß sie weniger den Unterschied oder die Veränderung verspürten, welche mit dem Volke vorging, über welches es gesponnen war.

Etwas Spannendes hatte ein neues Amt auf dem Lande: man konnte den angenehmsten Verkehr finden sowohl für den Kartentisch wie für Ausflüge – ja gar Partieen für die Kinder; aber auch eine Gegend, wo man ganz auf sich angewiesen war. Die Bauern waren überall ungefähr dieselben.

Den Bauern kannten sie aber gründlich seit alter Zeit, sowohl seine Schlauheit vor Gericht, wie seine unglaubliche Unsauberkeit von Krankenbesuchen her; sie kannten ihn in seiner Unwissenheit und seinem Aberglauben wie in seinen Sonntagskleidern von Tidemands Gemälden. Er war eine Gattung für sich, keineswegs uninteressant – es verlohnte sich schon, den Bauern zu studieren. Aber dies durften nur diejenigen thun, die ihn kannten, die mit ihm »zusammen gelebt hatten«.

Als daher die Gedanken und die Wißbegierde der Zeit von Göttern und erhabenen Menschen sich wegwandten, um die Kleinen und Einfachen zu umfassen, und alle Welt den Bauern zu vergöttern begann – da erweckte dies gerechte Entrüstung bei den alten erfahrenen Beamtenfamilien. Diese Entrüstung teilte sich den Söhnen und Neffen, den Tanten und Wirtschafterinnen der Vettern mit, erfaßte alles, was auf Geschmack und Intelligenz Anspruch machte – bis auf die Zeitung der Hauptstadt.

Daniel Jürges ließ sich aber nicht mit fortreißen. Ein freimütiger Zug in seinem Charakter regte ihn dazu an, gegen die alt festgewurzelten Ansichten zu opponieren. Ihm gefiel die neue Auffassung des Volkes gut, und als Jüngling hieß auch er den Bauern in der Litteratur und der Gesellschaft willkommen.

Sein Vater erreichte es, Stiftspropst in Christiania zu werden, und Daniel hatte daher seine Studienzeit dort als ein Einheimischer verbracht. Als Sohn eines hochstehenden Geistlichen standen ihm alle Kreise offen, und er hatte die Wahl, sobald er heiraten wollte.

Die gefeiertste Schönheit des Winters wurde denn auch seine Braut.

Und jetzt stand er am Eingang zu einer ehrenvollen, gesegneten Laufbahn.

Er brauchte nur auf ein Anfängeramt in der Hauptstadt oder Umgegend zu zeigen, um von da, sobald es mit Anstand geschehen konnte, in die guten Stellungen hinaufzusteigen, wo das Leben nicht allein das brachte, was die kleine Gesellschaft überhaupt den am meisten Bevorzugten bringen konnte – sondern wo die Würde des heiligen Amtes auch etwas von dem Frieden hineinlegt, der höher ist als alle Vernunft.

Er war wie zum Prediger in der Hauptstadt geschaffen, und das hatte er stets von sich sagen hören. Sein Aeußeres war schön und würde mit der Zeit stattlich werden, sein Organ wohlklingend und kräftig; und in seinem ganzen Wesen lag eine kleidsame Mischung vom gewandten Weltmann und jener abgerundeten Hoheit, die einem Diener des Herrn so wohl ansteht.

Kandidat Jürges war aber nicht der Mann, welcher träge sein Leben im Sonnenschein vom Strome dahintreiben lassen wollte. Es widerstrebte ihm, zu hören, er müsse für die feingebildeten Leute Prediger sein. Er wollte gerade zeigen, daß sich der schwere Ernst des Lebens sehr gut mit der geselligen Gewandtheit vereinigen ließe; und es ward ihm ein Bedürfnis, durch sein Leben davon Zeugnis abzulegen, wie gerade ihm, von dem es niemand glauben sollte, ein Herz und ein Verständnis für das in der Welt Geringe und Verachtete gegeben war.

Daher nahm er seine zarte junge Frau geradenweges aus dem Ballsaal und führte sie in Pelz wohlverpackt zu einer kleinen Pfarre im hohen Norden.

Er lachte, und sie lachten beide, wenn sie der Enttäuschung und Entrüstung gedachten, welche sie hinterließen. Er gehörte zu den interessantesten Erscheinungen in dem geselligen Leben, und sie hatte die besten Elemente der Stadt durch ihre Musik, ihre frohe Liebenswürdigkeit um sich versammelt.

Lasen sie zusammen die Briefe während der ersten Zeit ihres jungen Glücks in dem kleinen lächerlich unbequemen Pfarrhaus, da wuchs ihm das Herz in der Brust bei dem Gedanken an das, was er gethan hatte.

Und seine kleine Frau blickte zu ihm auf – suchte nach den Worten, wurde gleichsam von Bewunderung überwältigt und konnte nur sagen: »Mein Gott, wie groß du bist – Daniel!«

Er begann zu arbeiten und predigte mit Eifer und Beredsamkeit; und als es ihm allmählich klar wurde, daß sie nicht das Geringste verstanden – weder von dem, was er sagte, noch von dem, was er mit seiner Thätigkeit wollte, da kam er zu der Ueberzeugung, er habe sich doch geirrt – nicht hinsichtlich seines Berufes, sondern hinsichtlich dieses Wirkungskreises. So hoch im Norden waren die Leute noch nicht über den ersten harten Kampf ums Dasein hinaus, dieser nahm ihre ganzen Fähigkeiten in Anspruch. Selbst die einfachsten religiösen Begriffe waren unklar und stumpf, Kenntnisse gab es überhaupt nicht.

Daniel Jürges verlor aber nicht den Mut und bog nicht ab. Sie sollten doch unrecht bekommen, jene Leute in der Hauptstadt, welche ihm prophezeit hatten, er würde nicht ausharren; er wollte ihnen das Gegenteil beweisen.

Und das that er auch – Jahr um Jahr. Kräftig und gesund hielt er die Reisen zu Wasser und zu Lande aus. Er klagte nie, beschrieb aber gern seine Erlebnisse. Angstvoll lauschten die kleine Frau und die Kinder, als sie größer wurden, seiner Schilderung der gefährlichen Bootfahrten und Gebirgswanderungen, lächelnd schloß er dann: »Ja, gewiß, es war schlimm: aber ich komme doch gut davon – wie ihr seht – mit Gottes Hilfe.«

Allmählich gewöhnte er sich daran, sich selbst in seiner Einsamkeit alles zu erzählen, was er erlebte und was er dachte. Er wähnte dann, seine alten Freunde ständen vor ihm mit einem überlegenen Lächeln, welches allmählich verschwand, als er ihnen sein Leben, seine Prüfungen und Entbehrungen darlegte.

Allmählich bildete diese fingierte Unterhaltung, die stets ohne Antwort blieb, fast seinen ganzen Verkehr mit Verwandten und Freunden; in die tägliche Beschäftigung mit Kindern, Dienstleuten und Landwirtschaft brachten nur die Sonntagspredigt, die Armenverwaltung und Gespräche in der Amtsstube, die er zu kürzen lernte, eine Abwechslung.

Aber weder dies alles noch das Einzelne vermochten es, Daniel Jürges ganz in Anspruch zu nehmen. Sowohl seine Kenntnisse wie sein unternehmender Charakter befähigten ihn, dazu höhere Ziele zu verfolgen als die, welche ihm in dem kleinen Winkel geboten wurden, den er sich zum Wirkungskreise ausgesucht hatte.

Seine Jugend war in ernsten Studien voll lebhaften Interesses für ungefähr alles, was die Zeit bewegte, dahingegangen – nun sollte niemand von ihm sagen, daß sein Geist in der Einsamkeit seine Spannkraft verliere. Noch heute gab es keine brennende Frage, die er nicht kannte und seiner Kritik unterworfen hatte. Wie abgeschieden er auch lebte, so lag doch alles seinem Blicke offen; und oft mußte er lächeln, wenn er sah, wie sich die Menschen beirren ließen – wenn er bedachte, wie sich hier oben in einer Schlucht zwischen den Bergen ein einfacher norwegischer Landprediger fand, nach dessen Ansicht niemand fragte, der aber vielleicht im stande sei, wie kein Zweiter Antwort zu geben.

Anfangs las er ausschließlich die Zeitung der Hauptstadt. Je mehr aber das umfangreiche Blatt mit den vielen Beilagen seine Zeit in Anspruch nahm, desto mehr erwachte wieder die Lust zum Lesen, welche ihm die Examina verleidet hatten. Er begann Studien auf eigene Faust zu treiben mit der Zeitung als Grundlage. Außer der väterlichen Büchersammlung ließ er sich auch durch seinen Kommissionär in Christiania allerlei Werke zustellen, welche in der Zeitung besprochen wurden, und übte in dieser Weise eine Kontrolle, die in hohem Grade sein selbständiges Denken verschärfte.

Konnte er auch nicht in allem den ausgezeichneten Mitarbeitern der Zeitung beipflichten, so erwiesen diese sich doch so wohl unterrichtet, dachten so scharf, daß es für ihn von hohem Interesse war, zu sehen, wie sie zu denselben Resultaten kamen, wie er selbst. Diese Uebereinstimmung erschien ihm immer auffallender, je länger er seinen einsamen Studien oblag; und manchmal erregte es seine Bewunderung, wie jene Männer, in manchem von ihm so weit verschieden, doch zu denselben Gedanken wie er selbst gelangten – wenn auch auf Wegen, die ihm mitunter imponierten, oft aber unleidlich dünkten.

Im Laufe der Jahre merkte er zu seiner großen Freude, daß es ihm durchaus nicht so erging, wie zu erwarten stand und wie seine Freunde in der Stadt sicherlich wähnten: daß sein Geist erlahmen und die Begeisterung schwinden würde, womit er einen Gedanken oder eine Anschauung ergriff und umfaßte.

Er fühlte im Gegenteil mit einer gewissen Ueberraschung, wie ein reger Eifer für Wahrheit und Recht in ihm wuchs. Las er von den glimmenden Kohlen auf dem großen Herd der Thorheit und Bosheit, von dem Häßlichen, das sich Hand in Hand mit dem Bösen vordrängte, da erhob er sich empört, und der Haß, den dies alles in seinem Herzen hervorrief, ließ ihn die starken Arme gegen das widrige Gezücht drohend schütteln. Wie ein Simson stand er da, zitternd vor Entrüstung – bis er sich darauf besann, daß er allein in seinem Studierzimmer saß, ein stiller Diener Gottes, der seinen Beruf erfüllte, treu im kleinen.

Es kamen aber auch Stunden, wo er daran zweifelte, ob es recht sei, in dieser Weise dazusitzen und stillzuschweigen, während es in ihm so laut aufschrie. Sein Leben lang war er gegen seine Eitelkeit auf dem Posten gewesen. Aus dem Grunde befand er sich auch hier; er war sich dieser Schoßsünde wohl bewußt; sie sollten aber sehen, daß er sich ihr nicht beugte.

Wollte er reden, so wußte er, daß man es über das ganze Land hören würde, daß alle Augen sich auf ihn richten würden; deshalb that er es aber eben nicht. Fand er seine eignen Gedanken in der Zeitung der Hauptstadt wiedergegeben, so lächelte er, in sein Schicksal ergeben, und ließ die andern die Ehre behalten.

Manchmal konnte der Gedanke an seine eigne Persönlichkeit, die sich hier in kleinen verkrüppelten Gedanken verlor, ihn übermannen, wenn er dasaß und dem endlosen Geplapper einer alten armen Kranken lauschte – da bemächtigte sich seiner eine seltsam weiche Regung: sein selbstgewähltes Geschick rührte ihn, und mit seiner sanften Stimme sprach er so einfältige milde Worte, daß er dem Weinen nahe war.

Endlich gab er für einmal nach und besprach ein neues Buch. Die Pflicht, dünkte es ihm, erheischte dies in der dringendsten Weise. Wurde sein Name auch nicht unter den ersten genannt, so hatte er doch einen guten Klang dort, wo man noch die formenschöne reine Dichtkunst zu schätzen wußte. Schwieg er jetzt, dann mochten die litterarischen Begriffe vieler Menschen – vornehmlich unter der Jugend – sich verwirren.

Das neue Buch entbehrte nämlich nicht eines gewissen Schwunges, mußte man es auch als verfehlt bezeichnen. Er fühlte sich peinlich davon berührt, denn es erweckte in ihm die Erinnerung daran, daß auch er dereinst mit teilgenommen hatte, den Bauern zu vergöttern. Noch dringlicher erschien es ihm daher, auseinanderzusetzen, wie viel Gutes und Berechtigtes das »Einfache« in der Litteratur ursprünglich gehabt habe, um dann ein für allemal nachdrücklich dem beklagenswerten Irrtum ein Ende zu machen, aus welchem das neue Buch hervorgegangen war.

Dies that er auch – recht scharf, aber doch mit einem gutmütigen Lächeln anläßlich der falschen Auffassung – und sandte dann das Ganze unter seinem alten wohlbekannten Zeichen D. an die Zeitung der Hauptstadt. Während der Tage, die jetzt vergingen, ehe er die Zeitung zu Gesicht bekam, erlebte er wieder nach so langer Zeit die Freude der Spannung. Er stellte sich's lebhaft vor, welches Aufsehen es erregen würde – ein Wort von seiner Hand – war es auch nur die Besprechung eines Buches. Unten in der Stadt würden sie es fühlen, daß er sie im Auge behielt; über seinen Artikel würde geredet, vielleicht geschrieben werden; Spaß würde es ihm auch machen, zu sehen, wie sich seine Gedanken zwischen denen der andern in der Zeitung der Hauptstadt ausnahmen.

Er lachte doch über sich selbst und bezwang dies unwürdige Gefühl, und als endlich die Post kam, welche die bewußte Zeitung brachte, da machte er erst einen langen Spaziergang, um zu zeigen, wie wenig Gewicht er darauf legte.

Langsam setzte er sich in seinem Arbeitsstuhl zurecht, öffnete die Posttasche und ordnete die Zeitungen. Als er aber wie gewöhnlich die Briefe nehmen wollte, erblickte er auf der dritten Spalte den Titel des neuen Buches, und er begann zu lesen – nicht aus Mangel an Selbstbeherrschung, sondern weil ihm die ersten Worte der Kritik fremd vorkamen.

Es waren auch nicht seine Worte. Die Augen glitten schnell die Spalte hinunter – es war gar nicht sein Aufsatz. Schnell drehte er das Blatt um: K. stand da, es war der bekannte K., dessen Urteil er schätzte – aber doch!

Seine Arbeit mußte zu spät gekommen sein – das hoffte er wenigstens; sonst wäre es zu ärgerlich. Nun mochte er K. nicht lesen und ergriff die Briefe – zuerst einen Geldbrief.

Sein ganzes Interesse wurde aber wieder erregt. Es waren Dank und Honorar von der Zeitung der Hauptstadt. Die Besprechung war so spät gekommen, daß der hochgeschätzte K. nur Zeit gehabt hatte, einige Gedanken des geehrten Kritikers in seinen bereits fertigen Aufsatz einzuflechten; deshalb sandte man das Honorar, indem die Redaktion in der liebenswürdigsten Weise die Hoffnung ausdrückte, bei gegebener Gelegenheit – eine so vorzügliche Feder – das wohlbekannte Zeichen – und so weiter.

Daniel Jürges fühlte sich dennoch unangenehm berührt– zumal beim Anblick dieses Honorars, für welches er nach seiner Ansicht nicht Genügendes geleistet hatte.

Was ihn aber vollends verdroß, war diese Bemerkung im Briefe: »Die Redaktion erlaubt sich den geehrten Einsender darauf aufmerksam zu machen, daß unser geschätzter Mitarbeiter K. in der gestrigen Nummer des Blattes sich zwar im selben Geist und in derselben Richtung des geehrten Kritikers ausspricht, aber doch mit größerer Schärfe in mehreren wesentlichen Punkten. Es kann auch nicht anders sein, als daß derjenige, welcher in unmittelbarer Nähe die litterarischen Exzesse zu beobachten Gelegenheit hat, sein Urteil in strengere Worte kleidet, als ein Mann, der von der Welt zurückgezogen lebt und in seinem stilleren Wirkungskreise den Lärm der Zeit gleichsam gedämpft und durch die Entfernung gemildert vernimmt. Obgleich die Redaktion in vollem Maße dem humanen und liebenswürdigen Geiste, welcher Ihre vorzügliche Besprechung kennzeichnet, seine Anerkennung zollt, ja demselben gar unter andren Umständen Beifall spenden würde, so muß doch heute auf eins hingewiesen werden: so wie die litterarischen Verhältnisse sich jetzt stellen, sowohl im Ausland wie auch in den letzten Jahren in der Heimat – würde es mehr übereinstimmend mit den Forderungen des guten Geschmackes wie auch mit denen der Moral und der Sittlichkeit sein, wenn diesem sich eindrängenden Unwesen sofort mit einem scharfen und energischen Protest begegnet würde.«

Dies traf Daniel Jürges mitten ins Herz.

Er befand sich zu abseits vom Leben, um hören und verstehen zu können! Er wußte nicht genau Bescheid, stand nicht auf der Höhe in seiner Beurteilung eines Zeichens der Zeit – und nun gar in der Litteratur mußte ihm solches passieren – war es möglich?

Nun warf er sich über den hochgeschätzten K. und las die Kritik im Fluge.

Darauf sank er in den Stuhl zurück und starrte lange unsicher und unglücklich vor sich hin. Es wurde ihm bald klar, daß es nur eine höfliche Phrase sei, wenn die Redaktion schrieb, K. habe aus seinen Gedanken geschöpft – ach! – sie waren wie Milchsuppe gegen dies.

Verhielt es sich aber auch so – versteckte sich wirklich so viel Böses und Gemeingefährliches in dieser einfachen Erzählung, welche ihn nur durch ihren Mangel an Poesie und wahrem Gefühl empört hatte?

Er ergriff das unselige Buch, welches noch auf seinem Arbeitstische lag, und schlug Seite 73 auf, welche von dem geschätzten K. besonders hervorgehoben ward; und als er ein wenig gelesen hatte, stieg ihm die Röte ins Gesicht.

Es verhielt sich wirklich so. Ihm war die große Schande passiert, nicht mit der Zeit vorgeschritten zu sein.

Es mußten dennoch die einfachen groben Menschen sein, unter welchen er lebte, die trotz allem die Luft dick und unklar machten, so daß er es nicht vermochte, die Zeichen der Zeit scharf genug aufzufassen, obgleich er im Besitz dieses Ueberblickes war und in allem wohl bewandert. Nachdem K. ihm die Augen geöffnet hatte, sah er ein, daß, was er überlegen für eine Übertreibung gehalten hatte, für einen Auswuchs an einem an und für sich berechtigten Zweige der Litteratur, nur der Haß der unteren Stände gegen die höheren und gegen den Höchsten war.

Und nun Seite 73, welche er allerdings mit Mißfallen gelesen hatte, weil er fühlte, wie sehr dem Verfasser die Fähigkeit, die ideale Liebe zu schildern, abging – jetzt sah er; und er schämte sich beinahe, als hätte er selbst an etwas Unanständigem teilgenommen.

Während er immer tiefer im eignen Bewußtsein sank, trat ihm die Frage mit wachsender Deutlichkeit entgegen: wie konnte er es verantworten, in dieser Weise sich gehen zu lassen, bis er so tief sank?

Wenn er auf dem Gebiete der Litteratur, wo er ohne Eitelkeit von sich sagen durfte, daß er einst zu den ersten gehört hatte, so aus allem herausgekommen war, wie konnte er dann wissen, ob er nicht in andern Dingen – ja vielleicht in allen – stehen geblieben war. Ja, der Schluß lag nahe: aus ihm war am Ende doch geworden, was man ihm mit solchem Bedauern prophezeit hatte, als er die Hauptstadt verließ, ein vertrockneter bäurischer Pfarrer in einem entlegnen Winkel der Erde. Sein ganzes Leben hatte dann keinen Sinn. Es sollte ja gerade bewiesen werden, daß er sich auf der Höhe hielt – trotz der Einsamkeit, trotz der Entfernung – und jetzt?

Er las K. noch einmal, und der Abstand wurde stets überwältigender; und doch war nie davon die Rede gewesen, daß dieser K., den er zwar schätzte, in irgend einer Weise sich mit ihm messen konnte.

Die Wahrheit war die, daß er thöricht sein Pfund vergraben hatte; und in seiner tiefen Mutlosigkeit erkannte er, daß er aus Furcht vor seiner Schoßsünde, der Eitelkeit, in eine andre hineingetrieben worden war, welche vielleicht noch schlimmer war.

Diese schmerzliche Entdeckung wurde ihm eine Mahnung zur Umkehr, die er hinnahm und ertrug; und allmählich riß sie ihn aus seiner Verzagtheit heraus, so daß er in gehobener Stimmung Gott dankte, daß er ihm die Augen geöffnet habe, während noch Zeit war. Und er ergriff die Feder und meldete sich zu der großen Pfarre weit südlich, welche zu suchen ihm der Bischof neulich angeraten hatte. Als der Brief versiegelt war, erhob er sich wie ein Mensch, der über sich selbst einen Sieg errungen hat.

Es war, als ob er in wunderbarer Weise durch diesen Entschluß über manches Klarheit gewonnen. Mischte sich nicht ein Zug von Eitelkeit in die hartnäckige Festigkeit, mit welcher er in diesem elenden Amte ausharrte, während seine Frau kränkelte und so viele Kinder verlor? Als sie ihn daher mit dankbaren Thränen bat, nicht ihretwegen ein Haar breit zu weichen, erwiderte er offen, daß es nicht ausschließlich ihretwegen geschehe; auch er trug ein Verlangen, andre Gegenden zu schauen.

Die Pfarre erhielt er gleich, und er trat sein neues Amt voll Zuversicht und frischer Thatkraft an. Dann kam aber dieser unglückliche Anfang mit dem alten Gebäude und dem Bauholz.

Viertes Kapitel.

»Die Durchführung des Prinzips der Volkssouveränität im Staate würde daher dasselbe sein, wie die Absetzung, ja die Vernichtung des Christentums als das moralische Prinzip des sozialen Lebens. Die furchtsameren Seelen diskutieren die Entthronung des Christentums unter mancherlei Einschränkungen, Umschweifen und Phrasen; die vorgeschritteneren Geister sprechen ihm la mort sans phrase zu. Der Kampf wird nämlich nur anscheinend zwischen den Radikalen und der Regierung geführt; der Schlag ist aber in Wirklichkeit gegen Gott gerichtet, von dem alle Obrigkeit ist – es ist ein Kampf gegen Gott.«

Es waren seine eignen Worte, die Daniel Jürges in der Zeitung der Hauptstadt las, und er fand, daß Kraft darin lag.

Sein Verhältnis zur Zeitung hatte sich seit jener mißglückten Besprechung verändert. Zwar bildete sie noch immer seine Hauptlektüre, und er schätzte sie gleich hoch; seine Bewunderung hatte aber einen vertraulicheren Anstrich angenommen, seit er selbst Mitarbeiter geworden war – beinahe ein ebenso bedeutender, wie der geschätzte K. selbst.

Auf dem Wege nach dem neuen Wohnort hielt sich die Familie in Christiania auf, und dieser kurze Aufenthalt genügte, um dem Pastor das Gleichgewicht wiederzugeben. Er beruhigte sich nach dem Schrecken, den ihm jene Besprechung eingejagt hatte, als er merkte, daß nur ein Unterschied in der Ausdrucksweise ihn von dem geschätzten K. und den andern trennte. Nach wenigen Zusammenkünften mit den verschiedenen Mitarbeitern war er seiner selbst vollkommen sicher. Gott sei gelobt! – Kein Schaden war geschehen; er durfte sich noch mit den besten messen, wollte er seinen Geist frei die Schwingen entfalten lassen. Das war es eben: er hielt sich mit Willen zurück, konnte aber, wenn er wollte – das hatte er eigentlich stets im Sinn gehabt.

Es war ihm lieb, zu beobachten, welche Ueberraschung er selbst in der Hauptstadt erregte. Eine solche Frische hatte noch kein Beamter bewahrt, der nach vierzehn Jahren vom hohen Norden zurückkehrte; er bildete in jeder Hinsicht eine Ausnahme.

Die alten Freunde, welche die Zeit in der Stadt oder in der Nahe derselben verbracht hatten, fingen damit an, ihn überlegen lächelnd als jemand zu behandeln, welcher direkt aus der Wildnis kommt. Sie zogen aber bald die Fühlhörner ein und machten große Augen; er war ja genau so bewandert in allen Dingen in und außerhalb des Landes, wie sie selbst, ja auf gewissen Gebieten schien er gar mehr zu wissen, als selbst die Zeitung der Hauptstadt.

Was ihm abging, das waren allein einige Kraftausdrücke und kleine Personalia, welche nicht gedruckt werden, und dann der Ton – jene bequeme Nachlässigkeit in der Sprache, welche zu jeder Zeit die Kinder der Hauptstadt von denen der Provinz unterscheidet.

Dies fand sich aber von selbst in einigen Tagen, und jetzt war er nicht bloß der Alte, die Jahre hatten ihm eine größere Sicherheit verliehen, ihn noch imponierender gemacht.

Die vielen geschäftigen Eichkätzchen, welche in einer so großen Zeitung wie die der Hauptstadt aus und ein laufen, umkreisten eifrig den Pastor Jürges, während er sich in Christiania aufhielt, und die Redaktion bot alles auf, um diese ungewöhnliche Kraft an das Blatt zu knüpfen; denn die Eichkätzchen meldeten, daß was aus seiner Studentenzeit allenfalls hätte bedenklich sein können – nämlich seine Volkstümlichkeit in Gedicht und Rede – ganz überstanden sei.

Er widerstand lange und war schon einige Jahre in seinem neuen Amte thätig gewesen, ohne der Redaktion andres zu schicken, als einzelne Besprechungen zugesandter Bücher und ab und zu einen Pfingstpsalm. Allmählich erweckte aber das kalte und fremdartige Verhältnis, worin er zu der Gemeinde stand, ein Verlangen, sich auszusprechen; und vornehmlich nachdem Johannes Student geworden war und von Christiania Briefe schickte, ließ er sich stets häufiger bewegen, Aufsätze zu liefern. Es endigte damit, daß sein D. mit K. auf der ersten Seite wechselte.

Es war auch in Wirklichkeit hohe Zeit, daß Männer wie er hinzutraten, um dort zu stützen, wo alles zu wanken schien. In den letzten Jahren hatte er erkannt, was ihm während seiner einsamen Studien verborgen geblieben war: daß viele jener Ideen, welche die Lebensanschauung seiner Jugend geprägt hatten, für die Gesellschaft Gefahr mit sich führten, wenn sie sich nicht – wie bei ihm – in einem vollkommen reinen christlichen Geiste entwickelten.

Die Verderbnis und Zügellosigkeit, welche jetzt draußen in den großen Staaten um sich griffen, zeigten überall ihren Ursprung, ihren genauen Zusammenhang mit einigen jener Gedanken, die er in seiner sorglosen Jugend als Fortschritt und Entwicklung begrüßt hatte. Und umgekehrt fand sich in seiner ganzen umfangreichen Kenntnis der Politik, Litteratur und inneren Verhältnisse der zivilisierten Länder kein einziges Beispiel dafür, daß etwas Gutes – etwas dauerhaft Gutes aus den anscheinend schönen und humanen Gedanken hervorgegangen war, mit welchen sich die neue Zeit zu schmücken pflegte.

Immer deutlicher wurde es ihm, daß ein Name nach dem andern innerlich hohl und verdorben sei, sowie auch, daß jeder Mensch, gleichviel ob Mann, ob Weib, bei dem die neuen Ideen Wurzel gefaßt hatten, nicht ganz so sei, wie er sollte. Als ihm aber diese Erkenntnis geworden war, da stand auch etwas andres deutlich vor seiner Seele: das Christentum allein sei der Boden, aus dem die Zukunft hervorkeimen könne, und alle jene Verirrten und Widerspenstigen mußten in einer lebendigen Kirche unter der Zucht des Kreuzes versammelt werden.

Während man früher in dem Wahne stand, daß jenes Entsetzliche irgendwo weit fort in Europa zu Hause sei, hatten ihm die letzten Jahre gezeigt, daß es sich unvermerkt hier eingeschlichen hatte und plötzlich das Haupt voller Frechheit und Trotz erhob. Er hatte es in seiner eignen Gemeinde erlebt.

Gleich nach seiner Ankunft hatte man angefragt, ob er in den Storthing gewählt zu werden wünsche. Er gab aber eine verneinende Antwort, und die Bauern bedauerten alle diesen Entschluß.

Drei Jahre nachher war er aber zu der Ueberzeugung gekommen, es sei seine Pflicht, und er stellte sich zur Wahl, ganz offen und zuversichtlich auf alle Stimmen rechnend. Sein Staunen war groß, als er nur drei zum Wahlmann erhielt und keine einzige zum Deputierten. Anfangs begriff er gar nicht, wie es zugegangen sei – ja der Grund zu diesem Ergebnisse ward ihm überhaupt nie klar. Zwar entsann er sich gut des alten Zerwürfnisses anläßlich jenes Bauholzes; der alte Schuppen vor seinen Fenstern erinnerte ihn zur Genüge daran. Wie unzähligemal hatte er aber sowohl im Vortrag wie in der Diskussion seine Überlegenheit bewiesen, ihnen den Standpunkt klar gemacht und ihre ländlichen Politiker in die Enge getrieben – dies war auch oft anerkannt worden von jedem einzelnen der leitenden Männer. Und nun, als es darauf ankam, standen bloß drei zu ihm? Wie war es nur möglich?

Eifrig sann er darüber nach, wem nun diese Stimmen gehören mochten, einer nach dem andern tauchten seine Getreuen hervor – von denen keiner ihn hatte im Stich lassen können.

Und doch – es waren nur drei Stimmen, und die mußte er notgedrungen auf den Vogt, den Schulzen und den Küster verteilen; da blieb nichts für die andern übrig.

Der Vogt lachte und schwur darauf, die Bauern seien das falscheste Gesindel, das Gott geschaffen habe. In Pastor Jürges kochte es aber, er fühlte die Entrüstung in warmen Strömen hervorquellen. Wahrlich, es war Zeit für einen Streiter Gottes auf der Wacht zu sein! Von diesem Zeitpunkt an wurde er ein fester Mitarbeiter der Zeitung.

Kein Zweifel konnte darüber herrschen, daß der Küster zu den Dreien gehörte, denn er war ein echter Repräsentant seines Standes – unterthänig und einschmeichelnd, in den abgetragenen Rock des Pastors gekleidet, den Mund von verbrauchten priesterlichen Redensarten und verdünnter Salbung überfließend; in den Mundwinkeln lungerte noch das abgenutzte priesterliche Lächeln, welches aus seiner langen Dienstzeit an ihm haften geblieben.

Anders verhielt es sich mit dem Schulzen. Es war nicht so leicht, aus ihm klug zu werden – ein alter Fuchs, den der Vogt oft vergeblich zum Teufel gewünscht hatte. Der Schulze befand sich in einer schwierigen Lage als nächster Nachbar des Pastors und nur durch den Fluß vom Vogt getrennt; auf der andern Seite mit den mächtigsten Geschlechtern des Kirchspiels verwandt und selbst Besitzer eines großen Bauerngutes und zerstreut liegender Wälder.

Nahte er sich der Linken, so fielen die Beamten über ihn her; liebäugelte er mit der Rechten, so erblickte er in der Gemeinde mürrische Mienen, und seine eigne Sippe ließ es nicht an harten Worten fehlen. Dem alten Schulzen ging aber nichts über Frieden und gutes Einvernehmen mit den Menschen. Er hatte, wie er selbst sagte, Verträglichkeit sowohl bei seiner Gattin wie bei andern erfahren; denn für Wein, Weib, Kartenspiel und dergleichen Dinge hatte er stets ein offnes Auge gehabt. Daß er den Leichtsinn und seine Folgen hatte kennen lernen, machte ihn nachsichtig und geneigt, verborgene Wege und gütliche Vergleiche zu suchen.

Sein Leben lang hatte sich der alte Olsen wie ein Perpendikel zwischen erregbaren Vögten und steifen Geistlichen auf der einen, und einem Kirchspiel, dessen Schwächen seine eignen waren, auf der andern hin und her bewegt.

Zuletzt hatte er sich aber eine Gewandtheit angeeignet, die jetzt, wo andre Zerstreuungen ihren Reiz verloren, den Trost seines Alters ausmachte.

Der Prediger war fest davon überzeugt, die dritte Stimme gehöre dem Schulzen, und die Gemeinde schwur darauf, der Schulze habe mit ihnen gestimmt. Dieser saß aber zu Hause, und der Gedanke daran, daß er noch allen eine Nase drehen könne, besänftigte den Schmerz, den ihm das Podagra verursachte.

Nur kurz war der Weg, welcher vom Pfarrhaus an der Kirche vorbei durch den Wald nach dem Schulzenhof führte; die beiden Familien verkehrten aber nicht. Pastor Jürges fand den Schulzen zu plump und unbedeutend, und Frau Olsen und ihre Töchter waren nichts für seine Damen.

Frau Jürges war außerdem zu sehr von der Wirtschaft in Anspruch genommen, als daß sie daran denken konnte, Besuche abzustatten. Dies war überhaupt seit ihrer Verheiratung der Fall gewesen. Bis dahin lebte sie nur in Musik; seitdem sie aber Mutter geworden war, hatte sie eigentlich immer nur Ruhe nach den Wochenbetten gehabt.

Als sie daher nach dem Umzug die Hauptstadt passierte, erregte sie ein peinliches Aufsehen in dem Kreise, wo die begabte Wilhelmine Lindemann vor vierzehn Jahren geglänzt hatte. Alle waren sie ja während dieser Zeit älter geworden; ihre Jahre waren aber entsetzlich lang gewesen.

Daß die Schönheit nach acht Jahren und einem einsamen Leben in einem harten Klima schwindet – darüber durfte sich keiner wundern. Wie sich aber ein Mensch in seinem ganzen Wesen und Denken dermaßen verändern kann, vermochten ihre Freundinnen kaum zu fassen.

Sie war Künstlerin gewesen – nicht so sehr, was die künstlerische Ausbildung betraf, als ihrem Wesen, ihrer Natur nach. Schwärmerisch nannte man dies damals, um damit etwas Zartes, Leichtes zu bezeichnen, das über das Alltägliche hinaus in höhere Regionen emporstrebte.

Jetzt mußte sie sehr religiös, ja pietistisch geworden sein – dies war in den Augen der Freundinnen die einzige Erklärung für die ängstliche Zurückhaltung, die nervöse Scheu, womit sie es vermied, Musik zu hören, wenn sie in der Stadt war.

Sobald Frau Jürges ihr neues Heim erreicht hatte, entfaltete sie eine rastlose Thätigkeit. Anfangs war dies ganz angebracht, als aber alles seinen geregelten Gang ging, schüttelte der Pfarrer mit dem Kopfe, wenn sie eilfertig von der Küche durch das Wohnzimmer schlüpfte, um die Treppe hinaufzusteigen, ohne sich darauf zu besinnen, was sie eigentlich oben suchte.

»Kleine Minna, hemme deine Schritte,« sagte er dann lächelnd, »es geziemt sich einer Pfarrfrau, würdig in ihrem Gemache zu sitzen und Leinen zu säumen.«

»Ja, jetzt komme ich gleich, Daniel,« erwiderte sie und ließ die bekümmerten dunkelbraunen Augen mit dem bläulich schimmernden Weiß auf ihm ruhen; »jetzt komme ich gleich – sei nur nicht böse – jetzt – jetzt komme ich gleich;« und damit verschwand sie und machte die Thür hinter sich zu.

Dies wurde ihm eine reine Plage. Wenn früher die Wirtschaft sie gedrückt hatte, wo die Kinder noch hilflos und klein, das ganze Hauswesen einfach und bescheiden gewesen war – dagegen ließ sich nichts sagen; als aber die beiden Töchter sich verheiratet hatten und Johannes in Christiania studierte, mußte es peinlich auffallen, daß seine Frau fortfuhr, in dem großen Hause herumzulaufen – blaß, müde und unfähig, Ruhe zu finden, um bei ihm zu bleiben und es ihm in der Wohnstube gemütlich zu machen.

Er fühlte sich denn gezwungen, ernstlich mit ihr darüber zu reden und ihr zu erklären, wie sehr dies unrecht sei – nicht allein menschlich gesprochen, von einem ästhetischen Standpunkte aus. Gottes Wort legt aber ausdrücklich den Frauen ans Herz, das bessere Teil zu wählen und nicht wie Martha in der Wirtschaft und in materiellen Sorgen aufzugehen.

Sie vergoß Thränen, wenn er es nicht sah, und legte sich Zwang auf in allem, was sie sprach und that.

Leider verhielt es sich so: sie ging in Kleinigkeiten auf und manchmal – besonders wenn Besuch da war – las sie in seinem Gesicht, daß er ihre Unterhaltung nichtssagend und langweilig fand. Brachte sie es wirklich über sich, still mit einem Buche dazusitzen, während er auf dem Sofa die Zeitungen las, da ließen die häuslichen Sorgen ihr keine Ruhe, selbst wenn sie sich so müde fühlte, daß das Stillsitzen ein reiner Segen war.

Gegen ihren Willen und trotz aller guten Vorsätze begannen ihre Gedanken mit dem Eifer eines schlechten Gewissens das Haus zu durchsuchen, um Versäumnisse oder Dinge, die noch gethan werden mußten, zu entdecken.

Oder die Vorstellung davon, wie arg es sei, daß Karoline, welche bald ein Kleines erwartete, noch kein Flaumfederkissen für das Kindchen bekommen hatte, packte sie mit einer Gewalt, daß sie ganz heiß und aufgeregt wurde und nervöse Zuckungen in Armen und Füßen verspürte. Daunen lagen ja oben die Hülle und Fülle – sie hatten die schönsten Eiderdaunen von Nordland mitgebracht – sie besaß auch roten Zwillich – ein Stück, welches gerade passen würde, lag oben in der Schublade – sie sah alles vor sich; eine so leichte Arbeit und für Karoline von solchem Nutzen; – die Daunen hervorsuchen, sie im Kessel erhitzen, während die Mamsell den Bezug auf der Maschine nähte – wenn sie nur nach oben gehen dürfte! – Es war ja für Karoline – für das Kleine – das arme Kleine, das kein Flaumfederkissen hatte – sie sah ihn vor sich – hilflos – von allem entblößt!

»Aber mein Gott – Minna! – wie unruhig du bist,« rief der Prediger und blickte von seiner Zeitung auf. »Gewiß hast du jetzt wieder etwas vor und möchtest mir davonlaufen.«

»Bitte, verzeihe, Daniel! Ich wußte nicht, daß ich unruhig war. Es war nur – ja, es thut mir so leid, daß ich dich stören muß; da ist aber Karoline – oder richtiger gesagt – ihr Kleines, wenn es kommt – verstehst du, denke nur, da hat es kein Flaumfederkissen –«

»Kein Flaumfederkissen!« er mußte lachen, »machst du dir auch Sorge wegen der Ungeborenen – du unverbesserliche Martha!« Erfreut über sein Lachen faßte sie sich ein Herz und legte das Buch zur Seite.

»Ja, du weißt nicht, Daniel! – Denn Männer wissen dergleichen nicht – wie nützlich, ja notwendig solch ein Kissen ist; – und wenn du mir nur erlaubst, eins zu arbeiten –«

»Erlaubst! – Natürlich erlaube ich es, rede doch keinen solchen Unsinn; es ist nur deinetwegen, daß ich alles aufbiete, um –«

»O Daniel! – ich verstehe dich so gut – du Lieber!«

»Nein, du verstehst mich nicht und hast mich nie verstanden,« platzte er los, indem er sich erhob.

Frau Jürges flüchtete mit erschrockener Miene in die Küche hinaus; denn er konnte, wenn ungeduldig, vieles sagen, was er längst vergessen hatte, wenn sie noch, aufs schmerzlichste betroffen, darüber nachgrübelte.

Ach, sie begriff es nur zu gut, sie war keine Frau für einen Mann wie er; und klopfenden Herzens hörte sie ihn mit schweren Schritten auf und ab gehen, wahrend er erregt die Zeitungen zusammensuchte, um seine Pfeife in der Amtsstube weiter zu rauchen – sie wußte ja, wie viel lieber er den Nachmittag im Wohnzimmer verbrachte.

Thränen fielen auf die Hände, welche die Daunen hervorsuchten. Als diese aber so schön im Kessel aufquollen und das kleine Kissen so vorzüglich gelang, da wurde sie wieder ganz geschäftig und die Arbeit nahm ihren ganzen Sinn gefangen. Stets stand aber etwas Schweres oder Böses auf der Lauer hinter oder vor ihr – etwas, das ihr in vielen Jahren als ein Vorwurf gefolgt war: als ob ihre Handlungen und ihr Leben ein zu eilig hingeworfener Schattenriß sei mit einer unklaren großen Anforderung als Hintergrund – Tag und Nacht ruhte diese über ihr und jagte sie vorwärts; und dabei hatte sie stets ein Gefühl wie der Träumer, der läuft und läuft und nie von der Stelle kommt. Gewöhnlich dachte sie, es sei das Gefühl, ihrem Manne nicht zu genügen; mitunter empfand sie aber, daß es auch dies nicht sei.

Der Prediger selbst schritt ein paarmal erregt im Amtszimmer auf und ab. Dann blieb er vor dem Spiegel stehen, lächelte und strich sich über das Gesicht. Warum so eifrig? Mein Gott! Sie war nun einmal nicht anders. Es war ihm nicht beschieden, in seiner Frau eine Hilfe zu finden auf dem Wege, den er als Seelsorger schritt, noch weniger in dem Kampfe, den er mit den besten Männern des Landes gegen die schlechten Zeiten führte.

Er empfand es oft – das ließ sich nicht leugnen, daß seine Gattin ihn wie heute herabzog, von den tiefen und ernsten Gedanken ablenkte, um ihn mit den Kleinigkeiten zu quälen, welche den Inhalt ihres Lebens ausmachten.

Manchmal versank er in Träumereien, wie ganz anders es gewesen wäre mit einer Frau, die ihm hätte folgen, seine Gedanken verstehen und bewundern können, wenn sie sich mächtig entfalteten – so klar und sicher in den menschlichen Dingen, so einfältig und demütig vor Gott.

Wenn Daniel Jürges solchen Träumereien nachhing, verweilte er gern bei jener Zeit, wo er nur zu wählen brauchte; seit seiner Heirat waren ihm nur wenig Frauen seines Standes begegnet. Keine bestimmte Frauengestalt von damals schwebte ihm aber vor; er nahm etwas von jeder und schuf sich in dieser Weise ein Weib, das für ihn gepaßt hätte.

Wenn er dann zur Wirklichkeit zurückkehrte und seine magere, verblühte Frau sich mit lauter Kleinigkeiten abhetzen sah, da dachte er daran, wie wenig er auch in dieser Hinsicht der Eitelkeit die Herrschaft eingeräumt habe. Wie treu und nachsichtig war er gegen diese Gattin, die ihn so wenig verstand und um deretwillen er auf die blendenden Frauengestalten seiner Träume verzichtet hatte. Daher hatte ihn Gott belohnt und ihn Johannes behalten lassen. Von acht Kindern hatten sie fünf im Norden verloren. Damals war seine Gattin so zart, daß sein eignes kräftiges Blut nicht genügte, die Kleinen am Leben zu erhalten; nur die drei Aeltesten waren den Eltern nach dem neuen Wohnort gefolgt. Die Töchter hatten sich verheiratet – gerade als sie anfingen, es im Hause gemütlich zu machen, und der Sohn wurde ihm daher noch mehr wert.

Die Briefe an und von Johannes im Verein mit der Mitarbeiterschaft an der Zeitung bildeten fast noch mehr als das priesterliche Amt den Hauptinhalt seines Lebens. Er fürchtete indes weder Vorwürfe von Gott noch von Menschen; denn jetzt hatte er seine Gemeinde gründlich kennen gelernt. Er wußte, es seien verstockte, selbstzufriedene Menschen. Was sie bedurften, um den rechten Hunger nach dem Worte Gottes zu bekommen, das war nicht der sanftmütige verträgliche Hirte, sondern vielmehr ein kräftiger Diener des Herrn, welcher ihnen ins Gewissen reden und ihre harten Nacken beugen konnte.

Deshalb war er mit gutem Gewissen der inneren Stimme gefolgt, welche ihn auf einen größern Kampfplatz berief, wo die besten Männer des Landes sich um den Gesalbten des Herrn scharten, um dem Sturme Trotz zu bieten.

Er war sich's bewußt, daß kein Haß – nicht einmal eine Geringschätzung der untern Stände, von welchen die Bewegungen der Zeit herrührten, ihn beeinflußten. Es kam ihm nicht in den Sinn, es leugnen zu wollen, daß er dereinst die Schwärmerei für den Bauern geteilt hatte. Er gestand es jedem, der es hören wollte; hinzufügend, daß er, der selbst die ganze Bewegung mit durchgemacht hatte, ehe sie von gewissenlosen Führern getrübt wurde, mehr als irgend ein andrer befähigt sei, zwischen dem Berechtigten und dem Verderblichen der ganzen Zeitrichtung zu unterscheiden. Wenn erst das arme irregeleitete Volk aus den Klauen der schlechten Aufwiegler befreit war, wenn dieser ganze empörende Sturmlauf gegen alles Hohe und Heilige von dem Gotte, der sich nicht spotten läßt, vereitelt sei – o, da würde niemand eifriger bemüht sein als er, die Wunden zu heilen, die Demütigen zu empfangen, alles zu vergessen und zu verzeihen.

Noch war aber der Tag des Kampfes; noch erscholl der Ruf des Herrn an seine Streiter: Traget nicht das Schwert vergeblich!

Indem er sich nach diesen Betrachtungen aufrichtete, und seinen bestimmten dunkelblauen Augen im Spiegel begegnete, entlockte ihm die Erinnerung an den kleinen Auftritt in der Wohnstube ein Lächeln. Wie kleinlich kam er ihm jetzt vor! Er entschloß sich, noch sanfter und nachsichtiger zu sein; sie konnte ja nicht wissen – die arme Minna, wie sehr sein Gedankenfluß dem ihrigen überlegen sei.

Darauf setzte er sich breit und gewichtig in seinen großen Sessel am Arbeitstisch, zündete die lange Pfeife an und entfaltete wieder die Zeitung der Hauptstadt. Er fand bald die Stelle und setzte gelassen, jeder kleinlichen Sorge ledig, die Lektüre seines eignen Aufsatzes fort:

»... Es ist ein Kampf gegen Gott. Alle aber, die den Verführern folgen, werden es schon verspüren, daß es ihnen schwer sein wird, gegen den Stachel zu locken; was ein Mensch säet, das wird er auch ernten.«

Fünftes Kapitel.

»Christiania, den 2. April 1884.

»Lieber Vater! – In Deinem letzten Schreiben machst Du mir sanft den Vorwurf, daß ich längere Zeit habe hingehen lassen, ohne Dir ausführlichen Bescheid über die hiesigen Verhältnisse zu geben. Du bist wahrlich dazu nur allzu berechtigt; ich muß Dir daher erst meinen Dank für diese scherzende Zurechtweisung aussprechen, ehe ich dazu schreite, Dir den Grund meiner Nachlässigkeit zu erklären und Deine Einwilligung und Deinen Segen zu einem Schritte zu erbitten, den ich in diesen Tagen unter Gebet und Selbstprüfung zu thun gewagt habe. Ich bin nämlich verlobt – das heißt: ich habe das Jawort eines jungen und lieblichen Weibes erhalten; ihrer Familie habe ich mich aber noch nicht vorgestellt, indem das Verhältnis, in welchem Du und ich, Gott sei gelobt, zu einander stehen, es mir zu einer lieben Pflicht macht, Deinen Rat und Deine Einwilligung einzuholen, ehe ich dieser so heißersehnten Verbindung vor Gott und Menschen die offizielle Bestätigung gebe.

»Meine Braut – Du wirst das Gefühl von Glückseligkeit verstehen, das mich bei Nennung dieses Wortes durchbebt – und ich vertraue, daß ich es in Wahrheit sagen darf – die reine und keusche Freude bei dem Gedanken an die Hilfe und den Segen, der uns im Verkehr mit einer guten und treuen Ehefrau verheißen ist – meine Braut ist die Tochter Jörgen Pramms. Sie gehört deshalb nicht nur einer guten alten Familie an, sondern ist auch, was man – sehr wohlhabend nennt. Ich beeile mich, dies zu sagen – nicht weil es für Dich oder für mich irgend welche Bedeutung hat, sondern damit ich nicht einmal vor mir selbst den leisesten Schein einer Gleichgültigkeit affektiere, die, wenn erheuchelt, die schlimmste Anklage sein würde. Ich habe ihre Bekanntschaft während der Saison gemacht, indem ich sowohl Deinem Wunsche gemäß wie auch der eignen Neigung folgend diesen Winter ziemlich viel an der Geselligkeit teilgenommen habe. Unter den gegenwärtigen gespannten – ich darf beinahe sagen erregten Verhältnissen keimte und wuchs meine Liebe trotz allerlei Prüfungen und Mißgeschicken. Es gibt nämlich, wie ich Dir nicht zu sagen brauche, etliche verdorbene Elemente unter den jungen Männern, und selbst eine Familie wie die Prammsche ist nicht ganz von den Strömungen der Zeit unberührt geblieben. Da sind einige Vettern meiner Gabriele, welche im Verein mit einer Schar gleichgesinnter Freunde alles aufgeboten haben, um mich unmöglich – ja lächerlich in ihren Augen zu machen. Es ist nicht nur meine Stellung als Theologe, die zu einer Zeit, wo ein Christ zu sein von gewissen Leuten als gleichbedeutend mit einer Art milden Blödsinns betrachtet wird, welche in den Augen der Herren einen Anlaß zu Haß und Verfolgung abgab – nein, dieser wurde dadurch verschärft, daß ich Dein Sohn bin. Ich gestehe, ich bin stolz darauf, ein Gegenstand des Angriffs gewesen zu sein, jetzt, wo der Sieg endlich mein ist, und wo Gabriele nachgegeben hat – oder richtiger, nachdem sie durch eine genauere Bekanntschaft darüber klar geworden ist, wo sich zuguterletzt jene solideren Eigenschaften finden, auf denen allein die Hoffnung auf ein dauerndes Glück hier auf Erden sich bauen darf.

»Glaube nur nicht, lieber Vater, daß ich Dir dies erzähle, um zu prahlen. Mein Herz ist in Wahrheit zu sehr von einem demütigen Dankgefühl gegen den Herrn beseelt, der mich in seiner Gnade so weit geführt hat; ich muß aber dies berühren, um das Ganze zu erklären, so wie ich Dir vertrauensvoll mein Inneres offenbare.

»Dies moderne Unwesen, welches sich also so dicht an meine teure Gabriele herandrängte, hat sie nämlich nicht ganz unberührt gelassen. Wenn ich Deine Einwilligung zu meiner Verbindung mit dieser Jungfrau erbitte, so muß ich leider auch bekennen, daß sie nicht von Herzen eine wahrhaft gläubige Christin ist. Ich merkte es gleich zu Anfang unsrer Bekanntschaft; aber statt es abstoßend auf mich wirken zu lassen, bin ich eher geneigt, die starke Anziehungskraft, welche dies Weib auf mich ausübte, teilweise dadurch zu erklären, daß bei mir ein inniger Wunsch erwachte, dazu beizutragen, diese so schön veranlagte Seele der göttlichen Gnade teilhaftig zu machen. Unsre Unterhaltung nahm auch gleich einen ernsthaften Anstrich an, trotzdem daß die weltlichen Umgebungen damit im Widerspruch standen. Wir sahen uns ja stets in der Gesellschaft. Enthielt ich mich auch selbstredend jedes direkten Bekehrungsversuches, welcher nur abschreckend und trennend gewirkt haben würde, so verheimlichte ich keineswegs meinen einfältigen Christenglauben. Und ich hielt mich so viel als möglich den zahlreichen wohlfeilen Angriffen auf das Christentum fern, welche, wie Du weißt, den Ungläubigen jederzeit zu Gebote stehen. Daran, daß diese Anschauungen nur teilweise ihre eignen seien, zweifelte ich nicht. Vielleicht mögen Sanftmut und die Gemütsruhe, womit ich diesen meinen Anteil an der Schmach Christi ertrug, welche in diesen Tagen so reichlich über seine Bekenner ausgegossen wird, dazu beigetragen haben, mich trotz aller Ränke und Kunstgriffe in ihrem Urteil zu heben. So geschah es denn, daß sie, als ich sie gestern nach einer langen Unterredung zum letztenmal um eine bestimmte Antwort bat, ihre Hand in die meinige legte und mit bewegter Stimme diese Worte sprach: ›Sie sind doch derjenige, dem ich am meisten vertraue – ich will die Ihrige sein.‹

»Sieh – lieber Vater! Dies ist die Geschichte von meinem Glück; es folgt aber etwas hinterher, welches mich in meinem Gemüte weder Frieden noch Ruhe hat finden lassen. Als sie nämlich jene Worte gesprochen hatte und schon von mir Abschied nehmen wollte – Frau Pramm kam uns in ihrem Wagen entgegen – da sagte sie lächelnd: ›Aber unter einer Bedingung: Sie müssen den geistlichen Stand aufgeben – das müssen Sie mir versprechen! – Versprechen Sie es mir?‹

»Ja, hier ist der Punkt, um den sich seitdem alle meine Gedanken gedreht haben; und selbst in diesem Briefe fühle ich mich von einer zugleich unwiderstehlichen und peinlichen Macht gezwungen, gerade diesen Gegenstand zu erörtern.

»Was sollte ich thun? – Oder muß ich es versuchen, mir darüber klar zu werden, was ich that; denn die Eindrücke waren in diesen wenigen Augenblicken so überwältigend, das Ganze ging so schnell, daß ich mir's nicht ganz bewußt bin, was ich sagte, welche Worte ich gebrauchte.

»Zwar darf ich es vor Gott beschwören, daß es mir nie – selbst nicht in jener Stunde – ernstlich in den Sinn kam, meinem Berufe als ein geringer, aber treuer Diener Gottes untreu zu werden – aber ebensowenig darf ich es leugnen, daß die Worte, in denen sich meine überströmende Glückseligkeit Luft machte, ihr als gleichbedeutend mit einem Verzicht auf alles, was gegen ihren Wunsch und Willen stritt, erscheinen mochten.

»Hier hast Du meine Schwäche und meine Sünde – guter Vater! – Wohl weiß ich, daß ich für dies wie für alles dem Vater des Lichtes Rechenschaft schulde; ich lege aber meine Schuld in Deinem Herzen nieder als meine nächste Instanz, damit Du mich zurechtweisen und in dieser Sache leiten kannst. Finde ich auch einige Entschuldigung in dem Umstande, daß keine Zeit war, eine so ernste Frage gründlich zu besprechen – Frau Pramm ließ schon den Kutscher halten – so trete ich doch der an mich gestellten Anforderung entgegen, indem ich Gabriele aufsuche. Soll ich nun kurz und gut meinen Entschluß, Geistlicher zu werden, aussprechen und dadurch vielleicht eine Mißstimmung herbeiführen, welche jetzt im ersten Morgenschimmer unsrer Liebe wie ein plötzlicher Nachtfrost alle Keime ersticken würde und vielleicht ganz jenes heißersehnte Glück zerstören, dessen Besitz mir jetzt nah bevorstehend erscheint?

»O – gäbe Gott, daß ich Dich hier hätte, Vater! – Du, dessen Rat und Leitung ich so wenig zu entbehren vermag, ohne dessen teure Einwilligung ich bisher keinen wichtigeren Schritt im Leben unternommen habe. In all dieser Ungewißheit bin ich daher zu dem Entschlusse gekommen, keine Entscheidung herbeizuführen, ehe ich in wenigen Tagen Deine Antwort erhalte; so wie Du es mir rätst, werde ich gewiß handeln, was es mich auch kostet. Indessen werde ich im Verkehr mit meiner Braut – zürne nicht, daß ich mich in meinem Liebesglück über dies Wort freue – meiner Gabriele gegenüber es möglichst vermeiden, diese Frage zu berühren und Deinen Brief abwarten. Gott gebe, daß Dir die Sache im selben Licht erscheinen möchte, in welchem meine Hoffnung sie mich erblicken läßt: daß nämlich die Zeit und möglicherweise andre Umgebungen meine Gabriele dazu bringen könnten, sich mit dem Gedanken an eine Lebensstellung auszusöhnen, von welcher sie leider so falsche Begriffe hat. – Sieh – dies alles hat mich egoistischerweise so ganz in Anspruch genommen, daß ich zu wenig darauf geachtet habe, Dich mit den Begebenheiten des Tages auf dem Laufenden zu halten; jetzt naht sich aber die gesegnete Osterzeit, und da hoffe ich Dir in dem gemütlichen Winkel des Elternhauses die Unruhe und Irrungen der bösen Welt schildern zu können. Ich kann erst am Osterabend kommen, da ich, wie wohl bereits erwähnt, schon längst eine Einladung zum Mittagessen am Gründonnerstag von dem Herrn Professor erhalten habe. Wie über alle Beschreibung glücklich würde ich sein, könnte ich meine Gabriele unsrem kleinen Kreise zuführen!

»Grüße die liebe, gute Mutter und erzähle ihr von meinem Glücke. – Hier reden alle von Deinem letzten Aufsatze, und Du kannst Dir schon denken, daß ich mit vielen herzlichen Grüßen für Dich beauftragt werde.

»Auch von Stockholm kannst Du bald etwas erwarten, sagte K. diesen Sonnabend! er wollte sich nicht näher erklären; aus seiner freundlichen Miene konnte ich aber schließen, daß die Eifersucht, welche von seiner Seite einst so offen an den Tag trat, jetzt anscheinend einer unbedingten Anerkennung Deiner Ueberlegenheit gewichen ist.

»Und jetzt, lieber Vater, lege ich insofern das Glück meiner Zukunft in Deine Hände, als Dein Brief mir kund thun soll, ob mir Dein Beifall zu teil wird für das, was ich gethan habe, und ob ich Deinen Segen erhoffen darf, wenn ich weiter vorgehe, wie es mein Herz begehrt. Möchte unser beider Vater bei Dir sein, jetzt wie so oft mit dem Ratschluß der Weisheit und Liebe – ihm zu Ehren und mir zum Frommen und zur Freude.

Dein ergebener Sohn

Johannes.«

Sechstes Kapitel.

»Pfarrhaus Grandalens, den 5. April 1884.

»Mein guter, lieber Johannes!

»Damit Du diesen ganzen Brief, den ich jetzt beginne und der lang wird, nicht in Spannung und Ungewißheit lesen sollst, sende ich Dir gleich zu Anfang meinen väterlichen Gruß zu Deiner Verlobung; möchte der Herrgott, unter dessen Augen Du meiner festen Ueberzeugung nach in dieser Sache vorgegangen bist, sich auch fernerhin als der Treue beweisen, der uns nie fahren läßt, solange wir uns an ihm festhalten.

»Dein Schreiben vom Zweiten dieses Monats ist ganz von jenem echt kindlichen Geiste durchdrungen, den ich bei meinem Johannes kenne; um Dir Deine Offenheit wiederzuvergelten, werde ich nicht nur meine väterliche Liebe, sondern ein verhältnismäßig langes und nicht müßig verbrachtes Leben christlicher Erfahrung anrufen, damit ich Dir einen guten, zuverlässigen Rat erteile.

»Erst muß ich Dir meine volle Anerkennung dafür zollen, daß Du Dich in Deinen Schilderungen so ganz von den gewöhnlichen Uebertreibungen Verliebter freigehalten hast, sowohl hinsichtlich der Stärke und des Wärmegrades Deiner eignen Gefühle, wie der Schönheit und vortrefflichen Eigenschaften Deiner Geliebten. Dies, Dein Maßhalten, gibt mir, dem erfahrenen Manne, die beste Garantie; ich baue hauptsächlich darauf meine Hoffnung auf segensreiche Folgen dieser Wahl für Dich wie für sie – ja für weitere Kreise.

»Deine Verbindung mit dieser jungen Dame führt unleugbar allerlei mit sich, das, wenn nicht gerade bedenklich zu nennen, doch von so großer Bedeutung ist, daß es vollauf die ruhige Erwägung erfordert, von welcher die blinde Leidenschaft selten etwas übrig läßt. Ich spreche nicht so sehr von den äußeren Verhältnissen; die Prammsche Familie gehört, wenn sie auch, wie Du selbst sagst, etwas mit weniger lauteren Elementen vermischt ist, doch zu den besten innerhalb des Kaufmannsstandes, und was den Reichtum betrifft, auf welchen Du mit so großer Gewissenhaftigkeit hindeutest, so darf er Dich nicht verwirren oder beunruhigen. Denn erstens wirst Du in Deinem eignen Bewußtsein einen hinlänglichen Schutz gegen die bösen Zungen finden, welche – darauf sei nur vorbereitet – Dich nicht mit den anzüglichsten Beschuldigungen verschonen werden, wenn es sich zeigt, daß Du Dich mit einer der reichsten Erbinnen des Landes verlobt hast.

»Was zweitens den Reichtum betrifft – nun das Geld, das für so viele die Hauptsumme des Lebens bildet – so wissen wir ja, vom christlichen Standpunkte besehen, wie gering es ist, und wie gefährlich es werden kann. Es ist indessen weniger wesentlich und notwendig, einem Manne mit Deiner ideellen Entwicklung die Versuchungen und Gefahren des Reichtums auseinanderzusetzen, vielmehr muß ich als der Welterfahrene Dich davor warnen, zu sehr die irdischen Güter zu unterschätzen. In dem reichlichen Besitze der zeitlichen Gaben Gottes verbirgt sich außer dem Glücke, die Bedürftigen beschenken zu können, noch ein andrer Segen; oftmals hat der Herr diesen ehedem und gegenwärtig über diejenigen seiner Diener ausgegossen, welche er dazu auserkoren hat, seinen ewigen Ratschluß unter den Menschen auf eine – menschlich gesprochen – großartige und mächtige Weise zu vollführen.

»Der reichliche und überflüssige Besitz der Güter dieses Lebens in Verbindung mit einem demutsvollen Sinn und einem einfältigen, christlichen Kindesglauben – dies, mein lieber Sohn, sind zwar Gaben, welche selten auf das Los eines einzelnen Menschen fallen; wir wissen aber doch, daß sie sich vereinigt finden.

»Solltest Du, mein teurer Johannes, zu diesen einzelnen Auserwählten gehören, dann würde mir ein klares Licht zum Verständnis von Gottes Liebe und Barmherzigkeit, die wunderbar sind, aufgehen. Mein eignes Leben ist, wie Dir bekannt, in stiller und bescheidener Thätigkeit in den verborgenen Weinbergen des Herrn dahingegangen; jetzt als ein verhältnismäßig alter Mann bin ich zwar beinahe gezwungen worden, meinen Platz in den vordersten Reihen einzunehmen, wo es gilt, Lüge und Unglauben zu bekämpfen – doch was hat dies zu bedeuten? Ohne die List der Schlange zu fürchten, darf ich es jetzt sagen: Ganz anders hätte ich meinem Lande und meinem Volke nutzen können, wäre von Jugend auf mein Sinn darauf gerichtet gewesen, die Mittel und Wege zu benutzen, die mir einst so reichlich zu Gebote standen, um vorwärts zu kommen und die Höhe des Lebens zu erreichen. Ich fühlte aber den Pfahl in meinem Fleische und danke Gott, daß er mich zeitig genug meine Schwäche erkennen ließ. Ich wollte nicht den Weg verfolgen, den mir die Freunde und – Dir darf ich es schon sagen – meine Anlagen anwiesen. Ich erkannte, wie leicht die Versuchung in Gestalt der Eitelkeit an einen Menschen mit meiner Begabung herantreten könne; ich darf sagen, daß es mir mit Gottes Hilfe gelungen ist, der Gefahr zu entgehen. Weder bei meiner Heirat, noch während meiner amtlichen Laufbahn habe ich jemals die Ansprüche gemacht, die ein andrer vielleicht an meiner Stelle erhoben hatte. Wenn ich nun heute – ohne mich selbst zu loben – mein Leben in seiner Schlichtheit und seinen Entsagungen mancher Art offen darlegen kann, so will ich Dir, meinem lieben Sohne, gleichzeitig damit, daß ich dem Herrn für seine gnadenreiche Führung danke, auch dies bekennen: Nicht immer bin ich mir ganz klar darüber gewesen, ob ich auch darin recht handelte, so streng gegen mich selbst auf dem Posten zu sein.

»In dem Gefühl der eignen Begabung liegt ja etwas Berechtigtes, dem man auf die Dauer nicht ganz ungestraft trotzen kann. Gerade deshalb machte aber die Nachricht von Deiner Verlobung auf mich einen so tiefen Eindruck. Denn sollte es dem Herrn gefallen, Dich, meinen Sohn, dazu würdiger und mehr geeignet zu erachten, die Verantwortung eines großartigeren und reicheren Lebens zu tragen, so würde ich darin eine Belohnung meiner eignen Entsagung sehen, und Du bist vielleicht pflichtig, auch in den irdischen Gütern, die Dir Deine glückliche Liebe als Mitgift bringt, einen Wink von oben zu sehen, worauf Du genau in Gehorsam und Dankbarkeit achten mußt. Bist Du auch in Deinem Alter und mit Deiner verhältnismäßig geringen Erfahrung in der praktischen Schule des Lebens geneigt, die materiellen Mittel zu unterschätzen, so mußt Du meinen Worten Glauben schenken: Zu allen Zeiten und sonderlich – so hat es den Anschein – in Zeiten wie diesen bedient sich Gott mehr als jemals gerade jener materiellen Mittel im Kampfe gegen das Materiellste von allem – den Materialismus selbst. Wer wie ich inmitten der Bewegung steht, welche wie ein Gewitter über das Land dahinzieht, ohne sich einen Augenblick von Zweifel oder Ratlosigkeit verwirren zu lassen – der vermag zu sehen und sieht es bereits deutlich, welche Macht und welches Wachstum zum Guten sich in dem Namen Deines künftigen Schwiegervaters birgt. Diese bis jetzt fast nicht benutzte Kraft wird in Verbindung mit der ungeheuren Stütze, welche ein solider, ökonomischer Hintergrund sowohl direkt wie indirekt verleiht, für die gute Sache von großer – ja, unendlich großer Bedeutung sein. So bist denn Du, mein guter, lieber Sohn, möglicherweise dazu ausersehen, uns neue Kräfte und neuen Segen zuzuführen, und vielleicht wird es Dir einst vergönnt sein, wenn der Sieg zu gunsten des Christentums und der sittlichen Moral entschieden ist, die Früchte zu genießen in einem schönen, reichen Leben unter einer christlichen und kräftigen Regierung.

»Dies waren einige der Gedanken, die mich beim Lesen Deines lieben Briefes bewegten: aber, wie bereits erwähnt und auch von Dir zugegeben, die äußeren Verhältnisse Deiner zukünftigen Gattin sind ja für uns beide nicht von wesentlicher Bedeutung. Viel wichtiger und das, worauf es eigentlich ankommt, sind das innere Leben eines Menschen und sein Verhältnis zu Gott. Es hat meinem Herzen wohlgethan, zu sehen, mit welcher Gewissenhaftigkeit und mit wie großem Ernste Du den kleinen Streit mit Deiner Geliebten anläßlich der Frage ›Prediger oder nicht Prediger‹ aufgefaßt und bewahrt hast. Aber verzeihe, mein lieber Sohn, wenn dies feierliche Gebaren Deinem alten Vater ein Lächeln entlockt. Zwar hast Du mir nicht viel von Deiner Gabriele erzählt; aber wie es nun einmal ist, nicht alle brauchen gleichviel zu erfahren, um eine Sache zu begreifen. Was mich betrifft, so bin ich, siehst Du, sehr genügsam in dieser Richtung. Ich kann mir schon ganz gut ein Bild von Deiner Braut machen – in gewisser Hinsicht sehe ich vielleicht mit Deiner Erlaubnis klarer als Du selbst. Sie ist freisinnig und vorurteilslos, besonders in religiöser Beziehung. Sie weiß, daß die Priester von alters her die Menschen in den Banden der Knechtschaft und der geistigen Finsternis halten möchten; sie liebt die Armen und Unterdrückten und will es nicht dulden, daß die Schwachen im geringsten unterdrückt werden. Sie ist viel gereist, hat viel gelesen; der Reichtum hat ihr bis jetzt Macht verliehen, jeden Widerstand zu brechen. Nun hat sie einem jungen Manne ihre Liebe geschenkt, und er will ein Geistlicher werden? – Unmöglich! – Ganz undenkbar!

»Was werden mir beide, Du und ich, jetzt anfangen, mein Johannes? Ja, wir werden die liebenswürdige junge Dame lehren, sich in diesen Gedanken hineinzufinden, ihn in sich aufzunehmen, und das nicht nur als eine Möglichkeit; mit unsrer Hilfe wird sie dazu kommen, ihrem Gott und ihrem geistlichen Bräutigam dafür zu danken, daß sie es gelernt hat, nicht allein einer irdischen Neigung, sondern auch der unendlichen Liebe Gottes in ihrem Herzen Raum zu geben.

»Mein Rat ist kurz und gut der: Laß sie kommen. Laß sie nur hier in unserm Pfarrhause das Osterfest verbringen, und ich wette mit Dir um eine gute Cigarre, zu Pfingsten wird das Ziel ihrer Wünsche sein, eine Frau Pfarrerin zu werden. Ja, zürne mir nicht wegen des scherzhaften Tones. Ich erkenne es an und freue mich darüber, daß Du die Sache so ernst nimmst, und ich billige vollkommen Deine Handlungsweise. Weder ist es klug noch gestattet, durch einen Wortstreit im unversöhnlichen Geiste dessen verlustig zu gehen, das uns und andern zum Frommen, und Segen gereichen kann. Du sollst sehen: Gott wird schon alles zum Besten gestalten; an meinem geringen Beistand soll es nicht fehlen – das verspreche ich Dir; Du weißt, ich besitze einigermaßen die Gabe, mit Menschen zu verkehren. Grüße sie vorläufig liebevoll von einem alten Pfarrer und sage ihr, daß ich ihr nicht schreibe, weil ich die Hoffnung hege, sie bald mündlich als meine Tochter begrüßen zu dürfen. Auch von Deiner Mutter mußt Du, Grüße bestellen, sie freute sich herzlich, wurde aber doch etwas aufgeregt – die Aermste – bei dem Gedanken, eine elegante junge Dame empfangen zu sollen. Jetzt suchst Du natürlich Pramms gleich auf; bitte, übermittele der Familie unsre besten Empfehlungen. Frau Pramm ist – wie Du wohl weißt – eine Tochter des Stadtvogt Bennechen, und ich entsinne mich noch des Aufsehens, welches ihre Verlobung mit dem trockenen, etwas langweiligen Jürgen Pramm erregte. Er hat übrigens immer eine etwas unklare Stellung, eingenommen, obgleich er im Grunde natürlich auf der richtigen Seite steht. Könnte man ihn aber bewegen, sich fortan mit mehr Interesse an dem öffentlichen Leben zu bethätigen, würde dies für die Sache wie für ihn selbst gleich nützlich sein. Diese Geldmenschen haben oft keine Ahnung davon, wie eng und direkt ihre eignen Interessen mit den brennenden Fragen der Zeit in Religion und Politik verknüpft sind. Gewöhnlich ist ihre geistige Entwickelung nicht groß genug, um sie den Zusammenhang verstehen zu lassen, der zwischen der scheinbaren Ungefährlichkeit der hohlen Phrase und den unterirdischen Minen besteht, die ihre eignen Geschäftslokale unterwühlen.

»Hier eröffnet sich Dir eine Thätigkeit – reich an möglichen Folgen und mit der Aussicht, in weite Kreise Früchte zu tragen.

»Da ich nun weiß, wie mein Johannes, wo er geht, seinen Gott nicht vergißt, so empfehle ich Dich getrost dessen Obhut, der das Schicksal der Völker und die Schritte des einzelnen Wanderers auf dem Wege zu den lichten Wohnungen lenkt.

Dein ergebener Vater

Daniel Jürges.«

Siebentes Kapitel.

Von der letzten Eisenbahnstation hatten sie drittehalb Stunden zu fahren – durch Wälder, wo der Schnee noch hoch lag, über Höhen und Strecken, vom Winde rein gefegt, wo Frühlingssonne und Feuchtigkeit im Verein die Wege glatt und schlüpfrig wie Eis gemacht oder sie in eine weiche Masse mit einer dünnen Kruste verwandelt hatten. Sie mußten gar viel und herzlich über alle die Widerwärtigkeiten lachen – Johannes und seine Braut; fuhren sie von einer Poststation mit fröhlichem Schellengeläute auf schneebedeckter Bahn dahin, so begegnete es ihnen wohl, daß sie eine Viertelmeile später den Schlitten mit einem weniger bequemen Fuhrwerk vertauschen mußten, welches sie langsam durch gelben Lehm und tiefe Pfützen vorwärts schleppte. Auf der letzten Station kam ihnen aber der große Schlitten des Pfarrers, mit seinen beiden Füchsen bespannt, entgegen. In diesem Thale lag noch hoher Schnee und der Weg führte die ganze Zeit durch Wälder. Als die beiden daher, mit Hilfe von Fußsack und Bärenpelz gegen die Kälte geschützt, im Schlitten Platz genommen hatten, beschlich sie ein behagliches Gefühl davon, wie schön es sei, so warm und bequem dazusitzen; eigentlich waren sie beide müde vom Lachen und Reden, und sie versanken daher jedes in seiner Ecke in angenehme Träumereien, während die Füchse lautlos dahintrabten und der Schlitten leicht und fröhlich der Heimstätte zuflog.

Die schwarzen Stämme, die sich scharf gegen den weißen Schnee abzeichneten, glitten einförmig an Gabriele vorbei. Bei Johannes aber, dem der Wald wie jede Biegung des Weges so wohlbekannt war, erregte die Empfindung davon, daß er sich dem Elternhause nahe, eine erwartungsvolle Stimmung. Schneller als die flinken Füchse eilten seine Gedanken über die Anhöhe dahin, die sich schräg zum Flusse herabsenkte – dort, wo sich das Thal ausbreitete, in welchem sein Vater lebte.

Nie hatte er eine solche Sehnsucht nach dem alten Heim verspürt, wie in diesen Stunden, wo er einen Sieg errungen hatte, neben dem die Erfolge seiner Studien nicht genannt werden durften. Sie saß an seiner Seite, sich voller Zuversicht und Vertrauen an ihn schmiegend, sie, die Vielbewunderte und Vielbegehrte – nach der ein Heer von Verehrern verlangend die Hände ausstreckte. Ihre Schönheit hatte die Leidenschaft des einen geweckt, ein zweiter fühlte sich von ihrem Geist, ihren glänzenden Eigenschaften gefesselt, und wieder andre griffen nach ihr, wie man im Traume auf gut Glück unwillkürlich nach dem funkelnden Golde hascht – sie, das schöne Weib, der goldne Traum war ihm gefolgt, hatte sich ihm freudig anvertraut.

Hinter sich sah er sie stehen mit enttäuschter Miene: die Vettern, die ganze jugendliche Sippe, die, dem Unkraut gleich, noch eine kurze Weile in dieser verwilderten Zeit wuchern durfte, um dann endgültig ein für allemal ausgerottet zu werden. Ein Anfang war gemacht – sie hatten den kürzeren ziehen müssen, und Johannes frohlockte mit gutem Gewissen.

Nach dem letzten Briefe seines Vaters begann er seine Verlobung als etwas anzusehen, das gleichsam einen mehr allgemeinen Hintergrund habe, ein Glied einer zusammenhängenden Kette bilde. Kein Wunder, daß ihm dies nicht eingeleuchtet hatte, während er noch geduldig mit Hangen und Bangen harrte und sann, ob nicht doch eine Möglichkeit vorhanden sei, daß er sie zuletzt gewänne. Jetzt begann er aber einzusehen, daß er dies Glück nicht egoistisch und rein persönlich auffassen durfte; daß so viel seinen Händen anvertraut war, hatte mehr zu bedeuten; in voller Inbrunst dankte er Gott, der ihn so gnadenreich erhört und seine Prüfungen geendet habe.

In seiner glücklichen, gehobenen Stimmung trugen ihn die Gedanken weit in die Zukunft hinaus – und immer folgte sie ihm anschmiegend und zuversichtlich. Ganz anders trat ihm alles entgegen, nachdem ihn jenes schöne, inhaltsreiche Schreiben des Vaters auch hinsichtlich eines andern Punktes beruhigt hatte.

Johannes hatte nämlich nie recht jenen Zug im Charakter des sonst von ihm vielbewunderten Vaters verstanden, der ihn veranlaßt hatte, sich dereinst selbst in die Einöde zu verbannen, und ihn noch von der Hauptstadt fernhielt. Er, ein Mann, von dem so oft gesagt war, daß ihm ein Ministerportefeuille bestimmt sei, wenn ein Wechsel einträte, er begnügte sich damit, so beiläufig als der talentvolle und überlegene D. in der Zeitung der Hauptstadt geehrt zu werden. Jetzt hatte Johannes die Erklärung und zugleich die teure Gewißheit erhalten, daß etwas Aehnliches von ihm nicht verlangt werden würde. Zu gleicher Zeit, wie ihm das Heroische in dem Kampfe des Vaters gegen die Eitelkeit Bewunderung abnötigte, hing er zuversichtlicher als früher seinen Träumen von einer starken, mächtigen Kirche nach, licht und hochragend, wie Gottes Kirche es in diesen Zeiten sein mußte, von kräftigen Männern umgeben, die so gestellt waren, daß sie, von heiligem Eifer erfüllt, würdig einherschreiten konnten als die hochangesehenen Zeugen des Allgewaltigen unter den Menschen.

Der kleine Johannes richtete sich auf in seinem Pelzmantel; in Wirklichkeit war er nämlich nicht von großem Wuchs. Er hörte es nie gern, wenn man von seiner Aehnlichkeit mit der Mutter sprach; sein Stolz war es, dem Vater in Stimme und Manieren zu gleichen. Die Erfahrung – und das eine bittre Erfahrung – hatte ihn gelehrt, daß seine Persönlichkeit einen unbedeutenden Eindruck mache, so daß die Leute mit einem verwunderten Ah! die Augenbrauen in die Höhe zogen, wenn man ihn als den Sohn von Daniel Jürges, dem talentvollen D., vorstellte. Dies war sein wunder Punkt. Wie lange hatte er gewartet, wie oft den Himmel um Geduld und immer wieder Geduld angefleht, die Schmach, stets übersehen zu werden, die Pein dieser Zurücksetzung zu ertragen.

Wie sehr hatte es ihn gequält, so ganz ohne Anerkennung mit diesen albernen Menschen zu verkehren, welche nichts davon wußten, was in ihm wohnte, und so weit gingen, ihn sanft nur seines Vaters wegen unter ihren Schutz zu nehmen – ihn! Nur einige Lehrer und diejenigen, welche Johannes Jürges beobachtet hatten, wie er durch emsiges Ringen der Erste in der Klasse wurde oder an der Universität das beste Examen machte, erkannten seinen Ehrgeiz und seine Ausdauer. Die Vettern Gabrieles schwuren darauf, seine Bewerbung sei während des ganzen Winters ein Meisterstück von Berechnung und Beharrlichkeit gewesen.

Er selbst lächelte vertrauensvoll, denn er wußte, daß Gott in den Schwachen stark ist – in den anscheinend Schwachen. Einen großen Schritt vorwärts war er gekommen; mit bebendem Wohlgefallen fühlte er, wie seine Kraft Macht zu werden begann; aber ohne Uebermut und Uebereilung gedachte er der Schwierigkeiten, welche noch zu überwinden waren. Sie hatten die Frage seitdem nicht berührt, das heißt nicht ernstlich. Jedesmal, wenn Gabriele auf sein Aufgeben des geistlichen Berufes anspielen wollte, ging er im Scherz darüber hin oder nahm ein andres Thema auf. Er fühlte aber, es könne nicht lange in dieser Weise gehen und es sei hohe Zeit, daß sie zum Vater heimkehrten. Als sie sich nun ihrem Ziele näherten, verharrte er regungslos an ihrer Seite, von einem Wunsche, einem Gebete erfüllt: Möchte alles gut gehen, der Vater sie gern haben und Gabriele einen mächtigen Eindruck seiner Persönlichkeit erhalten! Sie war leider so unberechenbar. Auch hoffte er, die Mutter möge nicht zu unbedeutend und bescheiden erscheinen. Oh – das arme liebe Mütterchen! – eigentlich hatte er ihretwegen keine Angst, sie und Gabriele würden sich schon befreunden. Außerdem hatte er oft genug erfahren, wie der Vater jeden fremden Besuch zu fesseln wußte. Auch Gabriele würde sich zu ihm hingezogen fühlen, andre Anschauungen erhalten, wenn sie einen Geistlichen wie ihn kennen lernte.

Indessen saß sie in halbklaren Träumereien versunken, zuerst voller Freude dabei verweilend, daß sie sich hier befand, daß sie dem Manne an ihrer Seite wirklich von Herzen gut sei. Im Walde begann es bereits zu dunkeln, und der tiefe, mächtige Frieden, der hier waltete und allein von dem lustigen Schellengeläute unterbrochen wurde, erfrischte Sinne und Herz; allmählich wich auch das Gefühl von Ueberdruß und Gleichgültigkeit, welches dieser Winter bei ihr zurückgelassen hatte. Noch nie war ihr eine Saison so entsetzlich erschienen, wie die verflossene, und doch hatte eigentlich ein regeres Leben als sonst geherrscht; alle Menschen waren von eifrigem Streben erfüllt gewesen – nur sie fand alles so langweilig – eigentlich entsprach auch dies Wort nicht ihren Empfindungen. Die angeregte Stimmung der Gesellschaft war aber für sie das Schlimmste an der ganzen Geschichte, und nur mit Angst gedachte sie des Lebens, das ihr bevorstand. Im Grunde genommen gab dies Treiben auch dem Dasein der andern keinen Inhalt; aber es hatte doch etwas Spannendes, dies Rasseln mit den Zeitungen, dies Umsichwerfen mit Stichwörtern – das ganze Spiel, welches den Anlaß gab, daß Freunde sich haßten und die erbittertsten Feinde sich einander in die Arme warfen. Von der Fremde zurückkehrend, hatte auch sie in dem Wortgefechte Partei ergriffen, und wenn der Eifer bald nachließ, so war die Ursache davon nicht, daß sie verlor, noch weniger, daß sie gewann. Sie ging von einer Gruppe zur andern, von der Rechten zur Linken, sie hatte volle Freiheit, ihren Verkehr zu wählen. Im Elternhause herrschte diesen Winter zwar kein reger Verkehr; Pramms hatten die Geselligkeit fast auf die Verwandtschaft beschränkt. Der phlegmatische Jürgen Pramm war natürlich in politischer Hinsicht ganz indifferent und begann daher beide Parteien durcheinander einzuladen; dies nahm aber nur zu bald ein Ende mit Schrecken.

Im übrigen hatte sie aber die beste Gelegenheit, mit Menschen zusammenzutreffen, die ihr gefielen, teils durch die vielen Beziehungen des Hauses und ihren Verwandtenkreis, teils durch persönliche Bekanntschaften, die sie auf Reisen, oder wenn es ihr sonst paßte, machte. War Frau Pramm auch in dieser Hinsicht etwas ängstlich, so fand Gabriele stets eine Stütze an ihrem Vater. Jürgen Pramm hatte ein für allemal den Ausspruch gethan, daß manche Frauenzimmer thun könnten, was sie wollten, und seine Gabriele gehörte zu diesen. Sonst teilte er keineswegs ihre Ansichten – hauptsächlich weil seine Anschauungen nicht den gewöhnlichen Maßstab überschritten, der im täglichen Verkehr genügt. Nichts machte ihm aber mehr Spaß, als zu hören, wie die Tochter mit ihrem unvergleichlichen Mut irgend einen ruhmgekrönten Buchstaben in der Zeitung der Hauptstadt abkanzelte. Er amüsierte sich köstlich und andre mit ihm, und dies war es, was von Anfang an Gabrieles Eifer merklich herabstimmte, bis dies Wortgeplänkel bei ihr ein Gefühl der Leere und des Unbehagens erregte, das sie veranlaßte, still zu schweigen, wo sie sonst alles zum Widerspruch gereizt hätte.

Es wurde ihr allmählich klar, daß sie ganz außerhalb des Spieles stand. Man hörte zu, lächelte, erwiderte ihre heftigen Angriffe mit Sanftmut und that, als lausche man dem Zwitschern eines lästigen Kanarienvogels, wenn sie sich dazu verstieg, die höchsten und heiligsten Autoritäten zu verhöhnen. Da gab sie das Ganze auf, schloß einen Bund mit den bösen Vettern und ihrer Sippe, begann leichtsinnige Gespräche zu führen und veranstaltete kleine unpolitische Tanzgesellschaften, wo der Champagner in Strömen floß – die Alten ließen alles hingehen und meinten halb zerstreut, man könne in so bewegten Zeiten nicht auf jedes achten. Sie blieb aber immer noch unbefriedigt; denn sie besaß nicht nur Gefühl, sondern auch Reife genug, um zu verstehen, daß jener Streit, aus welchem die Männer sie sanft verjagten, nicht nur politisch sei – und etwas, das Fräulein Pramm nichts angehe. Es handelte sich um ihre eigne Lebensanschauung, man kämpfte um die Ideen, welche ihr die wichtigsten und teuersten waren. Man benutzte die ihr so teuren Namen bald als Angriffsobjekte, bald als Beweise oder Scheltworte. Sie durfte aber nicht dabei sein. Sie wollten nicht verstehen, daß sie mit ihrer Erziehung und Entwicklung den meisten gleichalterigen Männern überlegen sei, welche nie die Heimat verlassen, nie etwas andres als Schulaufgaben und Zeitungen gelesen hatten und nur die Ideen der Gegenwart aus endlosen Gesprächen im Ofenwinkel kannten.

Da erfaßte sie ein Gefühl der Mutlosigkeit und der Demütigung, weil sie nichts ausrichten konnte. Vergeudet und unverdient war die Freiheit, die sie genossen hatte, alles Vertrauen des guten Vaters, das Kapital, das an sie verschwendet war, trug keine Zinsen; und die Kenntnisse, die Stärke der Ueberzeugung, wer fragte danach? Sie war ja Fräulein Pramm, und das sollte sie so lange bleiben, bis ihre Unmündigkeit durch eine christliche Ehe einst besiegelt würde.

Sie wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte; ihrer Natur gemäß wählte sie das Lachen – für eine Weile, hatte aber dabei ein böses Gewissen.

Während der ganzen Zeit gab es nur einen einzigen, der sich ernsthaft mit ihr unterhielt, und das war der Mann an ihrer Seite.

Der kleine, steife Theologe mit den klaren, bestimmten blauen Augen, der geraden Haltung, den gemessenen Bewegungen und einer stets gleich sicheren Stimme – wie kam es nur, daß sie sich zu ihm hingezogen fühlte! Bald nahm sie ihn in Schutz, bald übergab sie ihn unbarmherzig den Angriffen der gottlosen Vettern; er aber verharrte unbeweglich, wie ein Stehauf von Holundermark auf seinem Bleiklumpen, in ihrer Nähe, wie schlecht sie ihn auch behandelt hatte – und ohne es selbst zu wissen, wurde sie ihm gut. Sie stimmten kaum über etwas unter dem Himmel – noch weniger im Himmel selbst – überein. Sie lernte aber den Ernst, womit er ihr widersprach, schätzen und die Ruhe und Gleichgültigkeit bewundern, die ihn nie verließen, selbst wenn sie Dinge sagte, von denen sie wußte, daß sie ihn im höchsten Grade verletzen mußten. Dazu kam seine treue, unermüdliche Verehrung, die nie ins Schwanken geriet – weder durch Spott, Kälte, Launen oder Uebermut. Er folgte ihr in einen Kreis, der ihm so fremd war, und hielt stand, trotzdem daß ihn im Grunde alle mit Abneigung betrachteten; nie wich er zurück, nie drängte er sich vor; er war nur da, immer da.

Nachdem die Gefühle Gabrieles dem Kandidaten gegenüber verschiedene Zustände durchgemacht hatten, betrachtete sie ihn zuletzt mit einer Art gleichgültiger Freundschaft – bis das Frühjahr den Zerstreuungen des Winters ein Ende machte. Die Nachmittage begannen hell und lang zu werden, und es machte kein Vergnügen mehr, tief in den Morgen hinein vor sich hinzuträumen und den roten Feuerschein des Ofens anzublinzeln.

Die veränderte Lebensweise riß auch Gabriele aus der Stimmung heraus, in die sie sich und ihr böses Gewissen eingesponnen hatte.

Als sie nun aber merkte, wie die übrige Welt ebenso dumm, überlegen und unmöglich, dazu aber noch unsinniger als früher sei, wurde sie von heller Verzweiflung erfaßt. Zuletzt vermochte sie keinen Menschen reden zu hören und begann einsame Spaziergänge zu machen, auf denen sie Johannes Jürges öfters begegnete. Wie eine Erleichterung berührte es sie, sich einem Menschen gegenüber aussprechen zu können, der sowohl in einer Weise zu hören, zu schweigen, als auch zu antworten wußte, daß stets Ernst und Aufrichtigkeit zwischen ihnen herrschte, mochten sie nun einig oder uneinig sein. Sie vertraute ihm dann an, wie peinlich sie ihre ohnmächtige Stellung empfand, und entdeckte dadurch, daß auch er ein geheimes Verlangen verspüre, dasjenige zu offenbaren, was sein Inneres erfüllte. Das bittre Gefühl, keine Anerkennung zu finden, gab sich in einem erregten Augenblicke in so glühenden Worten kund, daß Gabriele auf einmal überrascht und gerührt wurde. Es deuchte ihr groß von ihm, daß er sein Geschick so still ertrug, und der Umstand, daß sie beide nicht das Lebensziel, das sie sich gesteckt hatten, zu erreichen wußten, führte sie einander näher. Seine treue Verehrung, welche immer so bescheiden darauf harrte, ihre Hand zu fassen, that es ihr an, und zuletzt wurde sie ihm von Herzen gut, so daß sie ihm an jenem Abend ihr Wort gab – versprach, ihm zu vertrauen und ihm durchs Leben zu folgen. Trotzdem war sie beinahe überrascht, als ihr klar wurde, dies sei eine regelrechte Verlobung mit allem Zubehör. Freundinnen und enttäuschte Anbeter regten so viel Staub auf mit ihren Ausrufen des Staunens und der Verwirrung, daß sie glücklich war, allem aus dem Wege zu gehen, indem sie ihren Bräutigam nach seinem Elternhause begleitete. Bei ihr zu Hause war die Mutter mit der Partie sehr zufrieden – sie war dem theologischen Kandidaten stets gewogen gewesen; Jürgen Pramm wunderte sich, sagte aber nichts dazu.

In der Stadt war aber diese Verlobung eine Begebenheit, welche die Tagesstreitigkeiten schweigen machte und beinahe politische Bedeutung gewann: der Sohn des Pastors Jürges – des begabten D.s – mit der Tochter eines der reichsten Männer des Landes versprochen; er hatte den Vogel abgeschossen; sie durfte sich aber wahrlich auch freuen.

Nur die gottlosen Vettern und ihre Sippe schwuren laut darauf, Gabriele habe ihn allen zum Trotz genommen, um etwas ganz Verrücktes zu thun, weil sie sich langweilte.

Von allem diesem fuhr sie jetzt fort, getragen von dem glücklichen, befreienden Gefühle, in neue Verhältnisse hineinzukommen, über welche sie selbst gebieten konnte – einer Zukunft entgegen, die sie sich jetzt ausmalte.

In einer seltsam ruhigen Weise war sie sich ihrer Liebe bewußt geworden. Sie hatte ja lange gemerkt, daß er sie gern hatte und nur auf ein Wort von ihr harrte, und als sie zuletzt begriff, sie habe ihm in manchem unrecht gethan, erfaßte sie ein Verlangen, sich ganz und voll diesem treuen, ernsten Manne hinzugeben.

Sie dachte daran, wie glücklich sie zusammen sein würden; wie ihr ganzes Leben sich plötzlich wieder so reich und licht entfaltete; gleichzeitig mußte sie aber lächeln bei dem Gedanken daran, wie verschieden sie doch waren, wie oft ihre teuersten Anschauungen gegen sein seltsam sicheres Urteil stießen, welches wie eine Felsenmauer den See umschloß, wo seine unerschütterliche Ueberzeugung ganz allein herumsegelte.

In religiöser Hinsicht besaß sie eine solche Klarheit, daß ihrer Ansicht nach keins das andre mit seiner verschiedenen Auffassung zu behelligen brauchte. Von ihren Gesprächen wußte sie aber, daß für ihn noch manche andre Frage sich hinter jener Mauer verbarg, die er als Christ nicht überschreiten durfte – Fragen rein menschlicher und sozialer Natur. Dies erschien ihr lächerlich; er wußte so wenig – das heißt: sein Wissen war solide, aber begrenzt. – Er besaß einen guten, klaren Verstand, eine leichte, sichere Auffassung und dazu zweifellos vorzügliche Kenntnisse als Theologe; im übrigen war er ja ein selten gründlicher und wohlunterrichteter junger Mann.

Die Vorzüge wirkten aber nicht befruchtend auf sein ganzes Denken und Handeln; alles an ihm war so trocken, so fertig abgelagert.

Während die innere Entwicklung sie für Eindrücke empfänglich machte, sie veranlaßte, immer weiter zu streben, von einem fröhlichen Verlangen beseelt, stets mehr in sich aufzunehmen, neue Anregung zu suchen, schien seine Veranlagung darin zu gipfeln, sich in sich selbst zu konzentrieren und wohlgerüstet alle Angriffe von sicherem Standpunkte aus abzuwehren.

Gabriele zweifelte nicht daran, es würde ihr gelingen, den finsteren Bann zu brechen, der den Geist des Geliebten gefangen hielt. Sie freute sich darauf, wie sich die Schwingen seines Geistes in der lichten Luft der Freiheit entfalten würden; in die Fremde hinaus wollte sie den Geliebten führen, dorthin, wo sie das mächtige Gefühl der menschlichen Zusammengehörigkeit erfaßte, welches später ihre gesamten zersplitterten Kenntnisse in Zusammenhang brachte und allem Bedeutung und Leben verlieh.

Beinahe mit Staunen hatte sie in der Fremde gemerkt, daß sie denen vollkommen ebenbürtig sei, die ihr während der Reise entgegentraten. Eine doppelte Freude mußte es sein, an der Seite eines so wohlgerüsteten Mannes durch das bunte Getriebe der denkenden und arbeitenden Mitmenschen dahinzuschreiten, gleichzeitig von dem Bewußtsein durchdrungen, daß ihrer ein trautes Heim zwischen den Felsen in der lichten Sommernacht des Nordens harrte.

Einen größeren Gesichtskreis mußte er gewinnen – dies war das einzige, was ihm noch fehlte. Und durfte sie sich über diesen Mangel wundern?

Alles, was er von den Knabenjahren bis zum Staatsexamen gelernt hatte, waren bestimmte Dinge, an denen zu rütteln nicht gestattet war: nicht Thatsachen allein, sondern die Anschauungen der Lehrer und Professoren, welche noch sicherer und fester gefügt waren als die Gemeinplätze, die jeder kannte – dies alles lag bei ihm aufgespeichert, so viereckig und rechtwinkelig wie die Steine eines Dominospiels. Um dies in ein Ganzes zu fügen, hatte man dem Erwachsenen nur den Unfehlbarkeitsglauben der kleinen lutherischen Konfession mit ins Leben gegeben. Sie wußte genau, wie viel Spielraum man ihm gelassen für die siegreichen Streifzüge, welche junge Theologen auf dem Gebiete des europäischen Unglaubens machen durften, während der Herr Professor sie alle im stillen am Schnürchen hielt. Sie wollte mit ihm in die Fremde, ohne dabei einen bestimmten Ort im Sinne zu haben oder damit er etwas Bestimmtes hören, sehen oder lernen sollte: ihr Wunsch war nur, es mitzuerleben, daß es ihm erginge wie einst ihr. Nach Gabrieles Ueberzeugung lag das Befreiende im Verkehr mit der Fremde nicht darin, daß man von den angestellten Vergleichen sich entweder gehoben oder herabgestimmt fühlte, sondern vielmehr in dem packenden Gefühle, mit Menschen dieselben Empfindungen zu teilen, ohne mit ihnen durch die tausend trockenen Fasern einer alltäglichen Bekanntschaft verbunden zu sein, die in der Heimat oft damit endigen, die lebenskräftigen Wurzeln zu überwuchern und zu ersticken.

Daran dachte sie, während sie sich vertrauend an ihn schmiegte; die engen Mauern wollte sie fallen sehen und sich daran weiden, wie die Quelle der Lebensfreude in ihm hervorbrach und die viereckigen Kisten mit fortschwemmte, in denen die sicheren Urteile ihres lieben Theologen gleichsam mit Heu verpackt waren.

Er durfte gern in seiner Religion verharren, wenn er nur nicht in andern Dingen viereckig blieb; da die Aufrichtigkeit der Zug in seinem Charakter war, den sie am meisten schätzte, so war sie auch fest davon überzeugt, er würde, wenn er einmal selbst zur Klarheit gelangt war und die Fesseln abgeworfen hatte, aus eignem Antriebe an der Befreiung seiner Brüder arbeiten, die in Unwissenheit und Knechtschaft seufzten, doch nicht als Geistlicher. Selbst so wie Johannes in diesem Augenblicke war, konnte sie sich die Möglichkeit, er wolle Prediger werden, nicht vorstellen. Um ernstlich die Aufgabe eines Seelsorgers zu lösen, war er zu wenig entwickelt, und gar Beamter der Staatskirche! – Daß er dies nicht wollte, wußte sie gewiß. Gabriele dachte dabei weniger an sein Versprechen; zu oft hatten sie aber zusammen die Spiegelfechterei besprochen, die mit einer Staatskirche und einer offiziellen Gottesverehrung getrieben wird – da war er mit ihr einig gewesen, nicht in den Ausdrücken, aber im Geiste.

Erwartete sie auch nicht so Großes von ihm – oder von ihnen beiden im Vereine, so war es doch ein lieber Traum, sich auszumalen, wie sie ihr Leben sich gestalten würden ohne Unterdrückung und ohne Heucheln – ein Heim, wo eine lichtere Freude, ein größerer Mannesmut gediehen, als unter der scheuen, viereckigen Selbstgefälligkeit.

Während sie noch bei dieser trauten Vorstellung weilte, sah sie Licht zwischen den Bäumen schimmern; in der Dämmerung lugte ein weißes Haus mit einem Gartenzaun am Rande eines freigelegten Platzes aus dem Walde hervor. Wie traulich und anheimelnd lag es da inmitten des Schneereiches!

»Sieh, – sieh! Es ist das Pfarrhaus, nicht wahr – ja, das macht allerdings einen gemütlichen Eindruck!«

»Nein – nein – liebe Gabriele! Welcher Gedanke, das Pfarrhaus! Ich sagte dir doch, es läge an der linken Seite des Weges, weißt du das nicht mehr? Dies ist der Schulzenhof.«

»Ach so – und ich glaubte so sicher, dies sei dein Heim,« erwiderte Gabriele enttäuscht. »Da sieht es so nett aus.«

»Nicht doch, Liebste! Am Tage wirst du sehen, was für ein altes Gerümpel dies ist. Das Pfarrhaus ist verhältnismäßig neu – beinahe modern. Du wirst schon sehen; jetzt sind wir gleich da – sieh nur, da haben wir die Kirche.«

Gabriele setzte sich zurecht und begann sich vor dem Eintritt in das Haus zu grauen. Der entsetzliche D. von der Zeitung der Hauptstadt war unbedingt der dunkle Punkt bei der Verlobung. Sie wußte nicht, wie sie es ermöglichen sollte, ihm ihre abweichende Anschauungsweise klar zu machen und doch einen Platz in seinem Herzen zu gewinnen, wie sie es Johannes zuliebe gern möchte. Sehr weit wollte sie in ihrer Liebenswürdigkeit gehen; war er aber auch außerhalb der Zeitung derselbe gestrenge Herr, fand sie es richtiger, ihm sofort hinsichtlich ihres Standpunktes reinen Wein einzuschenken.

Als ihr Johannes die hohe weiße Frontmauer des Hauptgebäudes zeigte, die durch die Bäume hervorschimmerte, verspürte sie ein leichtes Herzklopfen.

»Was ist aber das für ein seltsames Ding, das sich inmitten des Hofes erhebt?« fragte Gabriele, als der Schlitten von der Landstraße hereinbog; »es gleicht einem kranken Elefanten mit Schnee bedeckt.«

»Oh, es ist ein altes Gebäude; der Vater kann die Gemeinde nicht dazu bringen, es zu reparieren,« entgegnete Johannes etwas strenge; er hörte, wie sich der Kutscher erlaubte über den Elefanten zu kichern.

»Dann würde ich es selbst ausbessern,« sagte Gabriele, als sie an dem alten schwarzen Gebäude vorbei waren, das sich mit seinen schiefen Wänden unter der Schneedecke bog.

Johannes flüsterte schnell: »Sprich lieber nicht davon mit dem Vater; das Haus hat ihm so viel Verdruß bereitet. – Aber da sind wir –« und in der Freude über die Heimat erhob er sich halb, »sieh einmal den Hof, so geräumig – Licht im Wohnzimmer, Licht oben – in der besten Fremdenstube – das soll dein Reich sein. Macht das Wohnzimmer nicht einen traulichen Eindruck?«

Oben auf der Treppe in der offnen Thür erschien eine hohe Gestalt, und nachdem Johannes seine Braut in aller Eile von dem schützenden Pelzwerk befreit hatte, führte er sie dem Harrenden zu mit dem glücklichen Ausruf: »Vater! Hier hast du sie!«

Der Prediger nahm sie in die Arme und sprach mit seiner schönen Stimme, deren Aehnlichkeit mit der des Sohnes ihr sofort auffiel: »Der Herr segne deinen Eingang wie deinen Ausgang.«

Man führte sie nun in die geräumige Flur, wo eine Lampe hing und wo Johannes noch immer strahlend sie der Mutter vorstellte; diese drückte flüchtig einen scheuen Kuß auf ihre Lippen und begann sofort ihr beim Ablegen der Sachen behilflich zu sein. – Die Befangenheit dieser gänzlich fremden Menschen, welche nun plötzlich einander so nahe gebracht wurden, drückte sich in einer Menge freundlicher Worte und Versuche, sich gefällig und hilfreich zu erweisen, aus. Johannes allein, der beide Teile kannte und sich vollkommen glücklich fühlte, begann zum unsäglichen Staunen Gabrieles wie ein Schuljunge herumzuhüpfen und zu lachen.

Sie selbst war, wie immer in ungewohnten Umgebungen, gelassen und etwas steif, und sie gab sich alle Mühe, die kleine Pfarrerin zu beruhigen, als diese sie in ihr Zimmer führte.

Frau Jürges glitt aber hilflos umher und murmelte eine endlose Entschuldigung, trotzdem daß Gabriele ihr erwiderte, dies sei das schönste Fremdenzimmer, das sie je gesehen habe. Frau Jürges redete weiter, und als sie sich plötzlich entschuldigte, weil sie noch nach dem Abendbrot sehen müsse, sank Gabriele, als sie allein war, in den weichen Sessel, der noch seit dem letzten Besuche des Bischofs dastand, und lachte. Mit einemmal stand es ihr klar vor der Seele, wie so ganz verschieden sie von diesen Menschen sei! Die stattliche, imponierende Erscheinung des Pfarrherrn, der, wie sie wußte, so eifrig an den Tagesfragen teilnahm, und diese zarte Frauengestalt, in welcher nur Kraft zurückgeblieben schien, eine halbkindische Liebenswürdigkeit auszudrücken, und dann ihr lieber, kleiner Theologe mit seinen Ecken und Schrullen, der plötzlich herumzutanzen begann!

Dies alles wäre etwas für die gottlosen Vettern gewesen!

Sie sollten aber keinen Anlaß zum Lachen erhalten. Sie wollte selbst in diesem Kreise heimisch werden und es lernen, ihn zu verstehen. Wie lange hatte sie Johannes gekannt, ohne den eigentlichen Kern seines Wesens zu finden – und jetzt war er ihr so lieb geworden; das würde auch mit seinen Eltern der Fall sein.

Gabriele beeilte sich, ihren Anzug in Ordnung zu bringen, um in die Wohnstube zu gehen, und als sie die breite Treppe hinunterstieg, atmete sie wohlgefällig den ländlichen Duft eines sauber gehaltenen Hauses ein, wo alles ohne Luxus und Prunk, aber warm und wohnlich eingerichtet ist und gut bereitete Kost gegessen wird – war das nicht Kalbsbraten, der in der Küche schmorte?

Sie fand die Herren am Rauchtische im Ofenwinkel und hörte, wie sie die Stimmen senkten und das Gespräch bei ihrem Eintritt unterbrachen. Johannes eilte ihr entgegen, und der Pfarrer zog galant den Schaukelstuhl hervor, worauf Gabriele darin Platz nahm; eine Unterhaltung kam von selbst in Gang – heiter und ungezwungen, daß niemand Verlegenheit oder Zwang verspürte.

Der Prediger gab selbst den Ton an, und Johannes freute sich, als er sah, wie auch Gabriele mit hingerissen wurde – sie wie alle, wenn der Vater recht seine fesselnde Liebenswürdigkeit entfalten wollte. Man unterhielt sich von der Stadt, von gemeinsamen Bekannten und Büchern – wie es sich gerade traf; und Gabriele ging heiter auf die Lage ein, welche ihr der Vater durch einen leichten Anflug gutmütiger Neckerei anwies. Darin kam für beide die Thatsache zum Ausdruck, daß sie sich bewußt waren, Gegner zu sein, aber darin einig, das Ganze in aller Freundschaftlichkeit hingehen zu lassen.

Indessen deckte die Wirtschafterin den Tisch, während Frau Jürges aus und ein lief mit vielen Entschuldigungen, daß es bei ihnen Sitte sei, im Wohnzimmer Abendbrot zu essen. Bei Tische ging die Unterhaltung weiter – gleich lebhaft und zu gegenseitiger Zufriedenheit. Man trank Rotwein, und es gab ganz richtig Kalbsbraten – sowohl des Osterabends wegen, als auch, weil die jungen Leute den ganzen Tag nichts Warmes gegessen hatten. Erst nachher, als man um den Sofatisch saß, hatte Frau Jürges Muße, sich über den guten Eindruck zu freuen, den die neue Schwiegertochter offenbar auf Daniel machte, und sie nickte ihrem Sohne lächelnd zu. Selbst fühlte sie sich leider gar nicht von dem sicheren, ruhigen Wesen des jungen Mädchens angesprochen; und während Frau Jürges dem Gespräche folgte, mehr die Laute als die Worte auffangend, durchfuhr sie ein Beben der Angst, wenn Gabriele lächelnd und freimütig ihrem Gatten offen widersprach.

Sie sah aber, daß es gut ging, daß Friede und gutes Einvernehmen herrschten, und einigermaßen ruhig, begann sie die Person der jungen Dame zu studieren. Nicht so sollten ihrer Ansicht nach junge Mädchen aussehen; ihre beiden Töchter hatten, wenn auch nicht so hübsch, so doch viel – viel besser ausgesehen. War das eine Art, sich die Haare zu machen – mit einigen großen Nadeln und ohne einen ordentlichen Zopf! Ihre Finger juckten danach, diese schweren, unordentlichen Haare zu kämmen und zu flechten. Jeden Augenblick konnte ihrer Ansicht nach das Ganze herunterfallen. Aber seltsam genug – es saß gut und fest und kam nicht in Unordnung, obgleich Gabriele sich im Schaukelstuhle zurückbog und den Kopf ans Kissen lehnte; als nun Frau Jürges sich etwas an den ungewohnten Schnitt ihrer Kleider gewöhnt hatte und ihr Auge Stich für Stich jeder Naht in Gabrieles Kleidertaille gefolgt war, begann sie diese tadellose, sichere Eleganz zu begreifen, und dies entfremdete ihr die neue Tochter noch mehr.

Mitten auf dem Tische stand die Lampe, und der Prediger durchsah die eben angekommenen Postsachen, ordnete Briefe und Zeitungen und las ein paar Zeilen hier und da. –

Johannes saß im Sofa neben seiner Mutter und rauchte, und das große Glück, welches er darüber empfand, zu Hause zu sein und in solcher Gesellschaft, machte sich Luft in kleinen scherzhaften Zärtlichkeiten gegen die Mutter, während sein Blick liebevoll Gabriele suchte, die im Schaukelstuhle zurückgelehnt saß.

Der lange Reisetag begann seine Wirkung zu üben, und die Unterhaltung war anstrengend, wie leicht sie auch dahinfloß. Man konnte kein Thema berühren, das Pastor Jürges nicht kannte, und jedesmal, wenn sie widersprechen wollte – und was er davon sagte, war immer derartig, daß sie ihm widersprechen mußte – so zeigte es sich doch zuletzt, daß er am besten Bescheid wisse. Jedenfalls blieb sie stecken und hatte nichts zu entgegnen, wenn er mit seinem Lächeln Citate anführte und fragte, ob sie dies oder jenes gelesen habe – von dem und dem. Es gab vieles, das sie nicht gelesen hatte – wenigstens nicht so gründlich, daß sie alles herausgefunden hatte wie er; er aber kannte und wußte alles von allem; es gab keinen Namen der Gegenwart in der Heimat und in der Fremde, den er nicht geprüft und abgeschätzt hatte. Sprach er auch nicht herabsetzend von ihren lieben Namen, so mischte sich doch in alles, was er sagte, eine sanfte Schonung, als lasse sich ein Riese zum Kinderspiel herab – ein Etwas, das in ihrer momentanen Abgespanntheit damit endigte, sie trotz aller guten Vorsätze zu reizen.

Ganz anders der Pfarrer, welcher ruhig dasaß und den ganzen bunten Stoff nach Nummern ordnete, der in diesen Spalten in eine fest bestimmte Richtung umgeformt war und von dem ihm wahlverwandten Geiste durchdrungen: dem Geiste der Ordnung, der Wahrheit – und des Christentums.

In seinem Inneren fühlte er sich immer mehr zur Heiterkeit gestimmt über den feierlichen Ernst, mit welchem sein braver Johannes die Kleine mitsamt ihrem Unwillen gegen den geistlichen Stand und ihren andern Anschauungen aufgefaßt hatte. Er hatte ihr jetzt behende auf die Zähne gefühlt und seine erste Auffassung bestätigte sich vollkommen: es waren Milchzähne. Sie waren in den gewöhnlichen Streitfragen aneinander geraten – die Politik hatte er übergangen; denn ihre Anschauungen in dieser Hinsicht waren natürlich so jugendlich und unstät wie nur möglich, damit konnte er sich wirklich nicht befassen! Dagegen hatten sie andre Prüfsteine – die Litteratur und die Kunst, die Stellung der Frau und was damit zusammenhing – berührt, und überall zeigte sich dieselbe unreife, neugebackene Form des modernen Verderbens. Nun, gottlob, das Ganze war mehr zum Lachen, vornehmlich bei einer Persönlichkeit, die noch so jung und so glücklich veranlagt war wie seine künftige Schwiegertochter.

Als daher Johannes, dem die Müdigkeit Gabrieles aufgefallen war, den Vorschlag machte, man solle aufbrechen, erhob sich der Pfarrer lächelnd und sagte, gleichsam um dem Tage einen Abschluß zu geben: »Ja, ja, meine liebe Gabriele, wir beide, wir werden uns schon verstehen, dessen bin ich gewiß. Ich war ja auch einmal jung und ließ mich von den Ideen mit hinreißen, welche heute die Jugend erfüllen. Ich war und bin, darf ich wohl sagen, auch jetzt ein warmer Freund aller Reformen. Aber – was ich vor der unbefangenen Jugend voraus habe, das ist der Schatz der Erfahrung, das nutzenbringende Mißtrauen dem Neuen und Ungeprobten gegenüber, das, schimmernden Luftschlössern gleich, in der blauen Ferne winkt und lockt. Uns Alten bot sich die Gelegenheit, die Sache von beiden Seiten zu sehen; wir wissen daher, daß eine Reform nur dort eine wahre und wirkliche Reform werden kann, wo die Verhältnisse dafür reif sind. – Hinlänglich kennen wir die Folgen jenes blinden und unlauteren Umsturzeifers, wohin das über alles Maß und Ziel hinaus entfesselte Verlangen nach Veränderung eitle und herrschsüchtige Menschen bringt! Wir wissen, wie leicht man das Kind mit dem Bade ausschüttet.«

»Ob das wirklich so leicht ist,« fragte Gabriele mit einer Stimme, deren trockener Klang Johannes stutzig machte. Man sah, wie sie sich langsam hin und her neigte und dem Pfarrer ins Gesicht blickte, der vor ihr stehen geblieben war.

»Was meinst du? Was soll leicht sein?« fragte Johannes.

»Das Kind fortzuwerfen, weil man das Bad ausschüttet.«

»Aber Gabriele? Ich glaube, du nimmst das Sprichwort buchstäblich?« rief Johannes und lachte.

»Ja, mein Lieber, will man Sprichwörter als Argumente anführen, muß man auch auf den Sinn achten. Dies alte Wort ist wohl das Ueberbleibsel einer Geschichte von einer unglaublich nachlässigen Mutter; es ist daher als eine Mahnung daran aufbewahrt, daß die Gedankenlosigkeit das Unwahrscheinlichste ermöglichen kann. Es ist aber durchaus nicht richtig, zu sagen, es könne gar leicht vorkommen.«

»Aber Gabriele! Der Vater benutzte doch nur das Sprichwort, wie es gewöhnlich geschieht – in der allgemeinen Bedeutung.«

»Ja, ja – mein Freund! Denkst du, ich wüßte das nicht?« entgegnete Gabriele, beharrlich ihren Bräutigam fixierend. »Eben dies Wort hat ja seit undenklichen Zeiten den Freunden der Reform etwas zu raten gegeben, und die Gegner werden es wohl stets als Waffe gebrauchen. Die Sache ist ja die, daß nur die wenigsten ihre Vorliebe für altes Badewasser bekennen mögen, und daher kommen sie mit diesem kindischen Geschwätz – bitte um Verzeihung! – mit diesem Geschwätz von dem Kinde, welches gar leicht –«

»Sieh, sieh! Das kleine Schwiegertöchterchen hat ja eine scharfe Zunge und versteht sie ganz freimütig zu gebrauchen,« sagte der Pfarrer lachend, indem er ihr über die Wangen strich. Bei dem kleinen Wortwechsel zwischen Johannes und Gabriele glitt ein verwunderter Ausdruck über das Gesicht des Pfarrers; sein Blick ruhte auf ihr, als wolle er sie sicherheitshalber noch einmal einer Prüfung unterwerfen. Indem er aber der Sache eine scherzhafte Wendung gab und gelassen die Zeitungen zusammensuchte, die er mit ins Schlafzimmer nahm, bemerkte seine Gattin die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war. Während eines langen Zusammenlebens hatte sie es eben gelernt, das leiseste Beben seiner Stimme aufzufangen und zu deuten; sie zuckte zusammen und blickte ängstlich von einem zum andern – dem Gespräche war sie nicht gefolgt.

Johannes dagegen war seelenvergnügt, daß man an dieser gefährlichen Klippe so gut vorbeigekommen war, beschloß aber doch, seine Braut morgen zu bitten, etwas vorsichtiger und rücksichtsvoller zu sein.

Die kleine Gesellschaft schritt gemeinsam die Treppen hinauf; die Eltern boten dem Sohne gute Nacht und gaben Gabriele das Geleit bis an ihr Zimmer. Dann schritten sie die lange Flur dahin; Frau Jürges voran, das Licht in der Hand, der Pfarrer mit Pfeife und Zeitungen folgend. Die Kerze warf ihren Schein auf den Schnee am Fensterbrett und bildete einen wandernden gelben Punkt auf dem Schnee im Hofe, je nachdem die beiden Fenster nach Fenster passierten.

Die Jahreszeit war schon weit vorgerückt, die Nacht nicht mehr so finster wie im Winter; der Mond kam aber noch nicht über die Berge zum Vorschein, und schwere Wolken ballten sich im Osten zusammen, so daß sich der Schnee mit mattem Dämmerscheine gegen die dunklen Wälder abzeichnete, welche die Felder des kleinen Gutes umsäumten. Feucht und naßkalt kam der Wind von der schneebedeckten Hochebene dahergesaust und strich an den Mauern des Pfarrhauses entlang, bis er an der Ecke hinzusterben schien; doch bald sammelte er sich tückisch in einen gewaltigen Stoß, fuhr quer über den Hof und in den alten Schuppen hinein, ihn mit Seufzern und geheimnisvollem Rasseln in dem dürren Stroh erfüllend – wie von Gespenstern, welche angstvoll die langen Gewänder hinter sich herschleppen.

Achtes Kapitel.

Kein rechter Ostermorgen leuchtete den Bewohnern des Pfarrhauses beim Erwachen entgegen. Ein dunkler Himmel lagerte auf den Bergen, und der Wind trieb noch immer sein schauriges Spiel mit plötzlichen Stößen und langgezogenen Seufzern, die bald langsam, bald schneller dahinsausten und ein Gefühl der Leere und des Unbehagens hinterließen.

Die frohe Botschaft von der Auferstehung stimmte nicht zu der zitternden Angst der Natur vor der Geburt des Frühlings; ohne sich dessen bewußt zu sein, kam die Gemeinde langsam aus der Kirche daher gegangen – noch verzagter und unbefriedigter als sonst. Auch Gabriele befand sich in einer gedrückten Stimmung, die ihr sonst fremd war; sie gab aber der Predigt die Schuld.

Ihr künftiger Schwiegervater hatte zu ihr gesprochen; – so deutlich war es gewesen, daß sie sich beinahe der Gemeinde gegenüber schämte. Vornehmlich vor dem Wunder der Auferstehung – hatte er gesagt, vermöge der Christ den Hochmut und den bösen Willen der Ungläubigen zu beobachten und zu ermessen. Von ihrem schlechten Gewissen getrieben, klammerten sie sich an elende menschliche Erdichtungen, die sie Wissenschaft nannten, weil sie den steifen Nacken nicht beugen wollten, weil sie vor dem Göttlichen, das an jenem Ostermorgen aus dem Grabe hervorstrahlte, Ruhe haben wollten, – Ruhe und Finsternis, um sich, ungezügelten Trieben folgend, in der wilden Orgie der Sinne zu betäuben. Dies und mehr noch hatte sie gehört – lauter Dinge, die noch bisweilen gesagt und geschrieben wurden. Sie hatte es aber lange nicht gehört, und es that ihr weh, es heute und hier zu vernehmen.

In dieser Weise konnten sie sich doch nicht in jener Gemeinschaft zusammenfinden, welche die gemeinsame Liebe zu Johannes sonst natürlich gemacht hätte. Denn sie war gar nicht geneigt, es auf sich sitzen zu lassen, daß sie aus Hochmut und bösem Gewissen keine Gläubige sei. Niemand sollte das Recht haben, ihr oder sonst jemand dies zu sagen. Und wenn der Mann, zu dem sie in ein so nahes Verhältnis treten sollte, damit anfangen könnte, war es ebensogut, ihm gleich zu erklären, wie wenig sie für ihren Teil eine solche Beurteilung dulden wollte. Desto treuer würde sie an ihrem Johannes festhalten; denn von ihm selbst wußte sie, daß die jungen Theologen es gelernt hatten, über die Strafpredigten der Väter zu lächeln. In einem ganz andern Tone und mit ganz andern Mitteln pflegte Johannes die religiösen Gegner zu bekämpfen. Außerdem hielt sie ihn seines rechtlichen Charakters wegen einer solchen Bosheit unfähig.

Gabriele hatte indessen nicht sofort Gelegenheit, ihn zu sprechen, indem sie den Damen des Landvogts beim Verlassen der Kirche vorgestellt wurde. Der Pfarrer sollte morgen in der Filiale jenseits des Flusses predigen, und sie wurden daher zu Tische beim Vogt eingeladen. Gabriele konnte sich indes eines peinlichen Eindruckes nicht erwehren, als sie Johannes dastehen und anscheinend ruhig den Worten der Frau Vogtin lauschen sah, welche sich darüber ausbreitete, wie herrlich die Predigt gewesen sei – ganz ein Wort zur rechten Zeit, meinte sie. Der Vogt war auch herangetreten; er grüßte in seiner polternden, scherzhaften Weise, und als seine Gattin es versuchte, seiner Lebhaftigkeit einen Dämpfer aufzusetzen, indem sie von dem bedrückenden Wetter sprach, versicherte er laut und eifrig, sein Barometer habe, der Teufel hole ihn, seit dem Sturme vom fünfzehnten Januar nicht so niedrig gestanden.

Nachdem sie sich vom Vogt und seiner Familie verabschiedet hatten, sollten Gabriele und Johannes nach Verabredung dem alten Schultheißen einen Besuch abstatten. Gabriele hatte aber wieder keine Gelegenheit, ihren Bräutigam vertraulich zu sprechen, da die beiden Töchter des Schulzen sie begleiteten; – der Alte saß an seinen Lehnstuhl gefesselt und kam nicht aus dem Hause, solange der Schnee noch lag.

Johannes unterhielt sich mit den jungen Mädchen, und Gabriele wunderte sich darüber, wie entsetzlich langweilig alles sei, was sie sagten. Der Ton, den Johannes ihnen gegenüber anschlug, hatte auch etwas Fremdes – eine trockene, gönnerhafte Ueberlegenheit, die sie an ihm nicht kannte, und die beiden Damen, welche übrigens mindestens so alt wie sie selbst waren, murmelten einige kurze, ehrerbietige Antworten, ohne von dem Schneestreifen am Wege aufzublicken. Dies alles trug nicht dazu bei, ihre Verstimmung zu verringern, und als sie die kleine Strecke durch den Wald gegangen waren, machte der Schulzenhof unter dem finsteren, waldbewachsenen Felsen einen so trostlosen Eindruck in dem schweren, seufzenden Frühlingswinde, daß sie nahe daran war, sich in den Schnee zu setzen und ihren Thränen freien Lauf zu lassen.

Indem sie den Hof betraten, der von Schneehaufen, Zweigen und Holz erfüllt war, wandte sich Johannes zu ihr und flüsterte: »Fällt dir jetzt der Unterschied mit dem Pfarrhause auf? Findest du, daß es hier gemütlich aussieht?«

Auch das irritierte sie – in ihrer jetzigen Stimmung. Seine sichere, viereckige Zufriedenheit mit allem, was sein eigen war, begann sie zu reizen, und als sie die Stube des Schulzen betrat, befand sie sich in einer wahrhaft kriegerischen Stimmung. Er entwaffnete sie aber gleich – der alte Schultheiß im Lehnstuhle. Sobald er begriff, wer da war, legte er die großen Hände auf den Arm des Stuhles, und ehe jemand ein Wort davon wußte, stand er aufrecht auf seinen kranken Füßen und verneigte sich ehrerbietig vor Gabriele.

»Nun wurde mein Haus gesegnet,« sagte der alte Kavalier, »wenn Jugend und Schönheit sich herablassen, das Alter zu besuchen und – und – zum Teufel mit dem Podagra!« schloß er zuletzt lachend; »es nutzt einem alten Bären wenig, mit hochklingenden Reden zu kommen. Bitte, setzen Sie sich, mein Fräulein: ich bin stolz, eine Tochter Jürgen Pramms in meinem Hause willkommen zu heißen.«

»Sie kennen meinen Vater!« rief Gabriele und es wurde ihr ganz warm ums Herz.

»O ja – wir haben zusammen manchen Holzhandel abgeschlossen – sowohl Ihr Herr Großvater wie Ihr Herr Vater und ich. Marie – bringe mir den Kasten aus der Schatulle! Nun sollen Sie sehen, mein Fräulein,« und nachdem er schnell mit dem Kandidaten einen Händedruck gewechselt hatte, setzten die beiden – der Schultheiß und Gabriele – sich hin, um alte Kaufkontrakte und Briefe vom Hause Pramm zu studieren. Gabriele vergaß ganz ihre üble Laune über diesen lustigen alten Mann, der so viel von den Ihrigen zu berichten wußte und offenbar so glücklich war, sie einen Augenblick an seinen Krankenstuhl fesseln zu können.

Der alte Olsen fühlte sich wirklich sehr glücklich. Die Augen des alten Kenners weideten sich beim Anblick dieser weiblichen Gestalt, deren Schönheit so fein und zart, so ganz verschieden von allem war, was er in seinen Tagen gesehen hatte, und daß sie obendrein diesen Namen trug, der in den Waldbezirken einen Klang wie der einer goldnen Axt hatte, vollendete sein Entzücken. Frau Olsen machte vergeblich ihrem Gatten allerlei Zeichen, während sie und die Töchter den Sohn des Pfarrers in der erdenklich langweiligsten Weise mit den Neuigkeiten der Gegend unterhielten. Sie begriff so gut, daß dem Kandidaten das heitere Einverständnis, das zwischen dem Alten und seiner Braut herrschte, nicht gefiel.

Zuletzt sagte sie denn: »Nein, nein, Olsen, du mußt nicht vergessen, daß du schon ein alter Mann bist: es geht nicht, in der Weise dazusitzen und mit dem Fräulein Unsinn zu treiben. Auch erzählst du allerlei, was sich vielleicht nicht für ihre Ohren schickt.«

Johannes fand sehr bald, daß der Besuch lange genug gedauert habe, und meinte, sie möchten gehen, um rechtzeitig zu Tische wieder zu Hause zu sein. Gabriele aber bestand darauf, der Schulze solle fortfahren, wo man sie unterbrochen habe, und erzählen, wie man den Vogt im Kirchspiel nannte.

Seine Frau schrie laut vor Entrüstung und betrachtete den Kandidaten. Johannes wandte sich ungeduldig hinweg und nahm seinen Hut.

Gabriele flüsterte dem Schulzen leise zu: »Sagen Sie es schnell!«

»Man nennt ihn – ›Hol' mich der Teufel,‹« flüsterte der Schultheiß zurück; dabei wußte er so trefflich, Stimme und Ausdruck des Vogtes nachzuahmen, daß Gabriele laut auflachte. Die beiden trennten sich dann, voneinander äußerst befriedigt, und Gabriele versprach, bald wiederzukommen. Frau Olsen war etwas zerstreut während des Abschieds, weil sie darauf brannte, ihren Mann wegen seines ungeziemenden Betragens zur Rede zu stellen, und Johannes war steif und kalt.

Sobald sie sich aber auf der Landstraße befanden, faßte Gabriele seinen Arm und schmiegte sich an ihn; denn der Wind wurde immer heftiger und fegte über die Felder. In großen Klumpen fiel der Schnee von den Wipfeln der Bäume durch die Zweige und senkte sich, wie weiße Wolken vom Winde fortgetragen, auf die beiden, welche schnell durch den Wald eilten.

»Was für ein lustiger alter Herr ist doch dieser Schulze!«

»Aber Liebste, ist er dir nicht eher unangenehm?«

»Keineswegs! Das ist mir nicht eingefallen!«

»Nein, das sah ich zu meinem Staunen. Du bist doch sonst so peinlich darin.«

»Ah – du meinst, er sei ein wenig grobkörnig, das steht ihm aber gut; jedenfalls ist er ein ganzer Kavalier mit dem Vogt verglichen.«

»Gabriele, es ist wirklich eine schlechte Gewohnheit bei dir, die Leute nach dem Zusammensein eines Augenblicks beurteilen zu wollen. Der Vogt ist im Besitz einer gründlichen Bildung, ein tüchtiger Jurist und –«

»Hol' mich der Teufel!« sagte Gabriele und lachte.

»Pfui, Gabriele, daß du dergleichen wiederholen magst –«

»O, sei ohne Furcht, es steckt nicht an. Ich halte aber auf meinen Schulzen.«

»Auch wenn ich dir sage, daß er der Gemeinde zu großem Aergernis gewesen ist, wegen – nun offen gesagt – wegen seines Mangels an Sittlichkeit.«

Gabriele lachte: »Du brauchst gar keine so klägliche Miene dazu zu machen – Johannes! Man kann es dem Schulzen ansehen, daß er gerade kein Musterbild gewesen ist.« Johannes blieb stehen und wandte sich zu ihr um, indem seine klaren Augen fest und ernst in die ihrigen blickten.

»Liebste Gabriele, laß diesen Ton fallen; ich bitte dich herzlich darum. Wohl weiß ich, daß diese Art und Weise nicht deine natürliche ist – es ist dieser Verkehr in der Stadt – diese Clique –«

»Aufrichtig gesagt, Johannes! Ich hatte ein Verlangen, diesen Ton einmal wieder anzuschlagen. Ich verließ die Kirche ganz aufgeregt über die Predigt deines Vaters, ich war so traurig und niedergeschlagen. Und nun hat dieser alte Sünder mich aufgeheitert – nicht durch seine Sündhaftigkeit – das weißt du wohl, aber indem er mir ein menschenfreundliches Gemüt zeigte, welches das Leben und seine Freuden weder verschmäht noch verurteilt hat, – und das that mir gut – es stimmte mich versöhnlich.«

»Was sagst du – versöhnlich? Und aufgeregt – hat dich die Predigt des Vaters, aufgeregt?«

»Ja, und es wurde nicht besser, als ich sah, wie du die Lobreden der Frau Vogt entgegennahmst.«

»Aber es war eine vorzügliche Predigt – ich kann dir's versichern, eine der besten des Vaters.«

»Ist das wirklich deine Ansicht, Johannes?«

»Das heißt, etwas altmodisch war sie ja, aber –«

»Es war eine sehr schlechte Predigt, Johannes – eine boshafte und höhnische Predigt! – Aber sprechen wir nicht weiter davon, ich ereifere mich nur –«

»Doch, du mußt mir erklären, was du meinst.«

Gabriele zog ihren Arm aus dem seinen und blickte ihm fest in die Augen.

»Du weißt wohl, was ich meine.«

»Nun – ja, das heißt, denken kann ich mir ja, daß in deinen Augen der Vater zu hart gegen die modernen Freigeister zu Felde zieht und – und –«

»Und gegen mich, sprich es nur aus: ja, Johannes, das hätte er nicht thun müssen.«

»Aber liebe Gabriele,« sagte Johannes nachsichtig, »du hast doch ganz seltsame Vorstellungen von Predigern; man merkt, du hast nur gehört, wie in sicherer Entfernung über sie hergezogen wurde. Du ahnst nur wenig davon, wie ein ernster Diener Gottes, der in Furcht und Zittern arbeitet –«

»Johannes, wagst du es, mir in die Augen zu sehen und zu behaupten, dein Vater habe dabei meiner nicht gedacht?«

»Wie darf ich etwas von den verborgenen Gedanken eines andern behaupten?«

»Nein, ich meine nur: Darfst du sagen, du glaubst selbst nicht daran, dein Vater habe so gesprochen gerade mit Rücksicht auf mich – um mich zu treffen – darfst du das?«

»Das darf ich in Wahrheit thun,« erwiderte Johannes, und seine Augen hielten ihren Blick fest aus.

»Der Text sollte es vermögen, einen Prediger, der über zwanzig Jahre seines Amtes übt, es ganz vergessen zu machen, daß einer der Zuhörer sich aufs peinlichste durch jedes seiner Worte berührt fühlen muß? Willst du mich wirklich glauben machen, dies sei möglich?«

»Ja, du mußt es nicht nur glauben, sondern dem Vater wegen deines Verdachtes in deinem Herzen Abbitte thun. Das ist ja gerade das Herrliche bei Gottes Wort, daß es, in der überlegenen Weise meines Vaters verkündet, in dem Herzen des einzelnen einen Widerhall findet, als wäre es eigens zu ihm gesprochen.«

»Nein, Johannes, das sind Redensarten; denn in der ganzen Gemeinde konnten die Anspielungen auf die wissenschaftlichen Zweifel und die neuen Gedanken kein Verständnis finden; ich weiß nicht, ob der Vogt und seine Damen –«

»Du mußt mir doch gestatten,« unterbrach sie Johannes, »an der Macht Gottes im Munde eines würdigen Dieners festzuhalten. Es thut mir leid, daß du meinen Vater für fähig hältst, die Kanzel zu persönlichen Angriffen zu benutzen, die dich peinlich berühren mußten – ich glaube, du nanntest dies Vorgehen empörend.«

»Freilich, wenn du deiner Sache so sicher bist, Johannes, so muß ich mich wohl bescheiden,« sagte Gabriele, »ich habe vielleicht deinem Vater unrecht gethan. Eins ist aber sicher: es war eine häßliche, hochmütige Predigt!«

»Liebste Gabriele! Du hast es noch nicht gelernt, den Vater in seiner ganzen Größe aufzufassen. Es verwirrt dich natürlich, daß er hier als bescheidener Prediger unter den Bauern lebt, obgleich er in Wirklichkeit zu den begabtesten Männern des Landes gehört. Jedesmal, wenn ich heimkehre, fühle ich mich von seiner Persönlichkeit überwältigt.«

»Das merkte ich schon,« sagte Gabriele scherzend, indem sie an seinem Arme dahinschritt; »du fühlst dich nicht nur überwältigt, du scheinst mir zu wachsen und Autorität von deinem Vater zu entlehnen. Ich glaube beinahe, ich muß es lernen, so demütig wie die beiden Fräulein Olsen zu sein.«

Es war ihnen beiden angenehm, als das Gespräch eine andre Wendung nahm, und doch hatten sie ein Gefühl, als seien sie noch nicht ganz damit fertig.

Der Wind war zum Sturme gewachsen, und als sie aus dem Walde heraustraten, flog der Schnee vom Kirchdach und wirbelte über den Kirchhof, der mit einer Gitterthür abgeschlossen war und heute ganz verlassen dalag; nur war der Schnee von Menschen und Pferden niedergetreten und die Kirche lag wieder verschlossen da mit Läden vor den Fenstern. Als sie jetzt, dicht aneinander geschmiegt, den Weg über die Felder nach dem Pfarrhause einschlugen, hielt es Johannes für seine Pflicht, seinem Vorsatze gemäß sie über das gestrige Gespräch zur Rede zu stellen – dergleichen durfte zukünftig nicht wieder vorkommen.

»Dein – wie soll ich nur sagen – dein Mangel an Verständnis für das eigentliche Wesen meines Vaters trug auch die Schuld daran, daß du dich ihm gegenüber so ganz vergessen konntest – wie es gestern abend geschah.«

»Bitte, was sagst du da, Johannes? Ich dächte, ich wäre sehr fromm und sanftmütig gewesen.«

»Du entsinnst dich nicht, daß du die Worte des Vaters ein kindisches Geschwätz nanntest?«

» Misericordia!« rief Gabriele lachend; »wirklich, das habe ich gesagt? Ich fühlte mich aber so abgespannt und muß bekennen, es reizte mich ein wenig.«

»Er war dir vielleicht ein wenig überlegen – wie?« fragte Johannes lächelnd. »Außerordentlich,« entgegnete Gabriele kampfbereit; »er erinnerte mich sehr an jene Prediger, die Vetter Jürgen ›aufgeblasene Pfaffen‹ nennt.«

»Still, Gabriele, wie kannst du nur diesen Vetter anführen! Du mußt dich aber wirklich bemühen, die Ueberlegenheit des Vaters anzuerkennen; schon seine ungewöhnlich umfassenden Kenntnisse –«

»Ach, er weiß ja nur Böses von allem und allen; noch nie hörte ich so viel Böses von den Menschen wie während der kurzen Zeit gestern abend.«

»Weil mein Vater die innere Hohlheit von allerlei Dingen erkannt hat, die du bewunderst, und gewisse Personen in einem andern Lichte sieht –«

»In einem schwefelgelben – abscheulichen –«

Der Wind zerrte an ihren Kleidern und nötigte sie, ihre Schritte zu hemmen, und wieder freuten sie sich beide, abgelenkt zu werden. Heute war alles nicht, wie es sollte; es gelang ihnen nicht, den angenehmen kameradschaftlichen Ton zu treffen, der ihnen einst so leicht über die verschiedene Auffassung der Dinge hinweghalf.

Es ließ Johannes keine Ruhe, daß sie dem Vater ihre Anerkennung nicht zollen wollte, und er wunderte sich darüber, daß sie doch mehr von der verhaßten »Clique« beeinflußt wurde, als er zuerst wähnte.

Und Gabriele fühlte wieder, daß ihr kleiner Theologe ihr über den Kopf wachse, und da sie den Vater als den Quell dieser Kraft ansah, war sie doppelt geneigt, mit diesem den Kampf aufzunehmen.

»Sieh nur, der Schnee wirbelt hoch auf um den Gipfel des Lichtberges! Wir bekommen Sturm!«

»Ah! – Mir scheint, wir haben ihn schon,« sagte Gabriele; »komm, eilen wir, das Haus zu gewinnen.«

Neuntes Kapitel.

An dem Mittagsmahle nahmen einige Kirchgänger teil, die einen weiten Weg zurückzulegen hatten, und das Gespräch bestand daher hauptsächlich darin, die Pausen durch passende Fragen auszufüllen. Gabriele fühlte das Ermüdende in diesen Fragen, welche den, der sie stellte, gar nicht interessierten, und das wußten die, welche antworteten, sehr gut; beide Teile spielten aber diese Komödie, von dem Gefühle geleitet, daß sie im Grunde in nichts einig seien. Ein paarmal versuchte es Gabriele, durch ein heiteres Wort und ein leises Lachen etwas Leben in die tote Unterhaltung zu bringen. Es mißlang aber vollständig. Johannes machte ihr bedeutsame Zeichen, und die Bauern thaten wohlerzogen, als bemerkten sie es nicht, daß die Braut des Kandidaten schwachköpfig sei – dafür war sie ja unermeßlich reich –; der Prediger wußte aber die Blößen, die sie sich gegeben hatte, zu decken und brachte das Gespräch in Sicherheit hinter der Armenkommission und andern ernsten und allgemeinen Dingen. Mittlerweile beobachtete er fortwährend seine künftige Schwiegertochter, aber in andrer Weise als gestern. Er war gleich nett und freundlich – beinahe liebevoll zu ihr; aber die Art, wie er schnell den Blick auf sie richtete, sobald sie sprach, zeugte doch von etwas Unsicherheit bei dem sonst so sicheren Manne.

Es verhielt sich auch so. Daniel Jürges hatte eine ähnliche Empfindung wie die nach seinem ersten mißlungenen Versuche in der Zeitung. Mit Beschämung fühlte er wie damals, daß etwas in der Welt aufgewachsen war, seit er davon geschieden, daß es eine Gedankenrichtung gab, welche nicht nur voller Irrtum nach andern Zielen strebte, sondern von Anfang zu Ende ganz andre Wege einschlug, ohne Respekt – ohne sich im geringsten an ihn und den ganzen Kreis von Gedanken und Grundsätzen zu kehren, die er schätzte und beherrschte.

Und es war doch eine ganze Kleinigkeit, welche ihn in der Weise aufgeschreckt hatte.

Es waren weniger die Worte an und für sich, die sie und Johannes über das Kind und das Badewasser gewechselt, als vielmehr die Kaltblütigkeit, womit sie zuletzt gleichsam hinterrücks seine sichere Stellung erschüttert hatte, indem sie das alte Sprichwort auf den Kopf stellte – die ganze launige Art, in der sie ihn angriff, ohne ihm einmal zu widersprechen; sie wandte sich ja an Johannes, als ob sie sich in aller Gemütlichkeit über einen alten faseligen Geistlichen aus der Zeitung der Hauptstadt lustig machte.

Dies hatte ihn seit gestern gepeinigt, und es hatte sich in seiner Predigt ausgedrückt, welche ursprünglich nicht so scharf hatte sein sollen, und es fuhr fort ihn zu quälen, als etwas, das entschieden werden mußte.

War es nichts, mußte er Gewißheit haben; sollten aber die Kräfte gemessen werden, so war er bereit und nicht gewillt, zu weichen.

Plötzlich dachte er an den Sohn; sollten die beiden ein abgekartetes Spiel treiben? Zwar fiel es ihm nicht ein, Johannes könne ihre Anschauungen teilen; es wäre aber doch möglich – was haben nicht Jugend und Liebe bewirkt! – Denkbar wäre es, daß sie glimpflich die Bewunderung des Sohnes für den Vater ein wenig zu lockern wußte, ihn dazu brachte, über den Alten zu lächeln – ihn verlockte, mehr zu versprechen, als sich für einen künftigen Prediger geziemte – die jungen Theologen besaßen nicht einen so unerschütterlichen Glauben wie zu seiner Zeit. Seit ihn dieser Gedanke erfaßte, fand er keine Ruhe mehr, und als man die Gäste los war, zog er Johannes mit sich ins Arbeitszimmer, er wollte sich sofort Gewißheit verschaffen.

»Nimm Platz – mein Junge! Wir haben ja seit deiner Heimkehr kein ernstes Wort gewechselt. Die Liebe läßt mich dich ganz verlieren, nicht wahr?«

»O, lieber Vater, wie kannst du das denken! – Wenn ich hier in dem lieben Arbeitszimmer sitze, wo ich seit der Kindheit gewohnt bin, dich sitzen zu sehen, als den Mittelpunkt all meiner Gedanken – als denjenigen, dessen Auge mir folgte und dessen Beifall mein Ziel war, wie viel ich dir noch abzubitten habe wegen dieses Winters, wo ich so stark von etwas andrem – von einer andern erfüllt war.«

»Darin müssen wir uns finden – wir Alten; die Jugend schließt sich an die Jugend, und mit der Liebe wechselt auch die Bewunderung ihren Gegenstand; – wir müssen froh sein, wenn uns die Achtung bleibt.«

»Ich weiß, weshalb du in der Weise mit mir redest, Vater, und ich habe es vielleicht verdient; ich hätte Gabriele gestern zurechtweisen sollen, gestern, als sie in so beklagenswerter Weise die Achtung vergaß, welche sie schuldig ist –«

»Nun, nun, – ich meine nicht so sehr eine einzelne Sache, es war mehr eine allgemeine Betrachtung –«

»Ich weiß wohl, daß niemand weniger peinlich in solchen Dingen sein kann als du – lieber Vater! Gerade deshalb sollten wir andern noch mehr acht geben. Aber verzeih –! Als du so ungeheuer liebenswürdig warst, dem Ganzen eine scherzhafte Wendung zu geben –«

»Es war ja nur ein unbedachtes Wort –«

»Ich hätte es anders nehmen sollen – sofort; aber ich war feige – leider; – erst heute habe ich Gabriele gesagt, wie unrecht sie gehandelt hat.«

»Du hast mit ihr davon gesprochen?« fragte der Vater schnell.

»Natürlich! – Ich habe ernstlich auf sie eingeredet,« erwiderte Johannes mit strenger Miene.

Der Pfarrer wandte sich gegen das Fenster, und während er den Rauch dick und langsam vor sich hinblies, fühlte er sich von einer peinlichen Sorge befreit.

Draußen im Hofe fuhr der Sturm ungestüm über den Schnee, welcher feucht und zusammengefallen dalag, so daß es ihm nur gelang, die Dachrinnen und Zäune von ihrer Last zu befreien. Der alte Schuppen schien sich unter dem Schnee zusammenzukauern und sich jedesmal zu ducken, wenn die Windstöße die gebrechlichen Wände erschütterten.

Daniel Jürges dachte nicht an seine Heuernte, die er in diesem Jahre samt und sonders in dem alten Hause verwahrte, damit der ganzen Gemeinde kund wurde, wie notwendig das Pfarrhaus dies Gebäude gebrauchte. Er dachte dagegen an die Güte des Herrn, welche ihm die ganze Ergebenheit des Sohnes erhalten hatte. Hinsichtlich dieses Punktes beruhigt, begann er mit mehr Zuversicht den zweiten zu berühren.

»Und wie nahm sie es?« fragte er und betrachtete seinen Sohn.

»Ja, Gabriele ist so ehrlich – im Grunde genommen, ein so vorzügliches Wesen! – Sie sagte – und ich bin davon überzeugt, daß es die Wahrheit war, sie wisse nichts davon, daß sie einen Verstoß begangen habe.«

»So–oh?« sagte der Vater und kniff die Augen etwas zusammen, »ein verzogenes Kind aus einem reichen Hause – mit der Zucht unbekannt, welche dem christlichen Heim eigen ist – deine Braut hat viel zu lernen, Johannes!«

»Ach ja, Vater – du mußt der Lehrmeister sein: ich setze in erster Linie meine Hoffnung auf dich. Sie ist eigentlich so offen und grundehrlich –«

»Offen – sagst du und ehrlich – grundehrlich! Zwar gibt es eine Offenherzigkeit, welche die Folge eines reinen, rechtschaffenen Charakters ist. Wenn wir näher nachsehen, finden wir aber, daß es viele Arten von Offenheit gibt.«

Der Prediger nahm lächelnd eine Rolle Zeitungen vom Tische und fuhr fort: »Von der brutalen Offenheit Bismarcks, welche in einer soliden Machtstellung ihren Rückhalt hat, an kleinen politischen Gemeindetyrannen vorbei bis zu jenen halbgebildeten Menschen, welche, nachdem sie einige der modernsten Wahrheiten in rohem Zustande verschlungen haben, mit aller wünschenswerten Offenheit auftreten und ihre ehrliche Verachtung für alles bekennen, das sie nicht verstehen –! Ja, ich meine ja nicht, daß etwas davon auf deine Braut paßt; es sollte mich aber wundern, wenn du nicht selbst bei näherem Nachdenken zu dem Schlusse gelangtest, daß etwas von jener Ehrlichkeit, welche du bei ihr bemerkst, möglicherweise – zum Teil seinen weniger reinen Quell in der Erziehung Fräulein Pramms haben kann, indem sie offenbar davon frei ist, irgend welche Rücksicht zu nehmen?«

»Wenn du es so darstellst, Vater, so kann ich nicht leugnen, daß ihr nächster Verkehr« –

»Ja, ihr Verkehr! – So wie du mir diesen in deinem Briefe schilderst, muß er gerade diese Sorte von Offenheit begünstigt haben –; sie ist aber gefährlich; denn sie grenzt an Krittelsucht und Selbstvergötterung.«

Johannes begann unruhig zu werden; er hatte nicht geglaubt, daß Gabriele einen so schlechten Eindruck gemacht; er wartete, bis ein heftiger Windstoß um die Ecke gesaust war, und sagte dann still und in einem Tone, als bäte er: »Ich habe Gott innig um Weisheit und Sanftmut gebeten, dies junge Weib zu leiten, und ich habe gemeint, daß, wenn sie die echt christliche Nachsicht erblickte und kennen lernte, welche nie müde wird –«

»Natürlich! Wir werden sie mit aller Liebe behandeln und empfangen, und das haben wir auch gethan – nicht wahr? – sowohl deine Mutter wie ich?«

»Ja, lieber Vater, du mußt mich nicht falsch verstehen, als berge sich ein Schatten von Klage in meinen Worten. Aber es thut mir so leid, wenn ich jetzt aus deinen Reden, im Klange deiner Stimme ein Mißfallen heraushöre, eine Mißstimmung gegen diejenige, welche nach meinem innigsten Wunsche dir eine liebe Tochter sein sollte.«

»Das wird sie mit Gottes Hilfe auch werden,« erwiderte der Pfarrer und erhob sich, um seine Pfeife zu stopfen. Er schritt um den Tisch herum zu Johannes, wo der Tabak stand, und sagte ernsthaft und still: »Hier sitzen wir nun, mein lieber Johannes, nicht nur als Vater und Sohn, sondern auch als zwei Mitarbeiter im Weinberge des Herrn; laß uns denn in Demut und Gebet bedenken, wie gerade das Stück Arbeit, vor welchem wir jetzt stehen, in rechter Weise ausgeführt werden muß – uns allen zum Frommen und zu Ehren Gottes.«

»Amen,« sagte Johannes und blieb still und gedankenvoll sitzen, während der Vater die Pfeife füllte.

Der Sturm nahm aber am Nachmittage immer an Stärke zu, und dunkle, blaugraue Wolken ballten sich im Osten und Süden zusammen: ein arges Unwetter braute sich zurecht.

Im Arbeitszimmer wurde es aber traulich, während das dunkle Wetter und die hereinbrechende Dämmerung Bücher und Möbel undeutlich machten, und die Augen veranlaßten, dem roten, flackernden Feuerschein zu folgen, welcher vom Ofen auf den Teppich fiel. So saßen sie eine Weile, indem der Pfarrer die ersten Wolken aus der Pfeife blies; Johannes hatte seine Cigarre auf die Spitze des Federmessers gesteckt und that kurze, kleine Züge.

»Nachsicht, sagst du! Gewiß wollen wir nachsichtig sein,« nahm wieder der Pfarrer das Wort, »das wollen wir so gern unsertwegen, indem wir dadurch einen christlichen Drang erfüllen, zu verzeihen und alles im besten Sinne aufzufassen. Wir sind aber auch schuldig, auf die Person Rücksicht zu nehmen, die wir vor uns haben, und unsers Gewissens wegen dürfen wir nicht – wie sehr auch unser Herz dazu neigen könnte – eine Nachsicht zeigen; von der die innere Stimme uns sagt, sie würde zum Schaden, nicht zum Nutzen sein. Es gibt – nicht wahr, Johannes – uns begegnen oft Fälle, wo die Nachsicht einen Schlupfwinkel für unser Pflichtgefühl bildet, und wir müssen genau auf uns achten.«

»Es ist wahr genug,« erwiderte Johannes, welcher wieder unruhig geworden war, »aber wenn ich recht die Natur und Entwicklung Gabrieles bedenke, so wie ich sie nun einmal kenne, und ich darf sagen, mit meiner Auffassung von ihr –«

»Nun darf ich auch sagen, daß ich sie kenne,« sagte der Pastor beinahe streng, »und meine Ansicht ist die, daß, soll dem Strome eine andre Richtung gegeben werden, so muß ein starker und fester Damm, je eher, je besser gesetzt werden. Ist es noch nicht zwischen euch abgemacht, daß du Prediger werden willst?«

»Aber – Vater! – Du willst doch nicht jetzt – so plötzlich –? In deinem Briefe warst du andrer Meinung.«

»Ich denke jetzt anders darüber. Es ist also nicht entschieden? – Nun, da muß alles lieber heute als morgen entschieden werden.«

Johannes sprang auf: »Ich bitte dich, Vater, geh nicht zu rasch vor; Gabriele ist unberechenbar und nicht leicht zu lenken, und bedenke, wie wenig sie gewohnt ist, sich zu beugen. Ihre Anschauungen sind zu stark ausgeprägt, um sich plötzlich in der Weise zu ändern, und es wird – meiner Ansicht nach – ungleich mehr dadurch gewonnen werden, das zu übersehen oder wenigstens unbeachtet zu lassen, was sie in der Weise – teils sehr jugendlich – vorbringt.«

»Das beruht ganz darauf, inwiefern man sich selbst von diesen Anschauungen angesprochen fühlt,« erwiderte der Pfarrer kurz und blickte in den Hof hinaus.

»Aber Vater – du kannst doch nicht glauben – du kannst keinen Augenblick an mir zweifeln?« »Neue Zeiten, neue Menschen, und du bist jung – das Junge und das Neue, sie passen zusammen.«

»O, warum willst du mich in der Weise verletzen?« rief Johannes betrübt, »glaubst du, ich wäre im stande, abtrünnig zu werden?«

»Abtrünnig ist nicht das Wort – nicht das Wort der Zeit; aber das Wort des Zeitgeistes ist, sich entgegenzukommen, auf beiden Seiten die Forderungen herabzustimmen. Es gibt aber ein andres Wort, mein Sohn, und wir Alten sind oft geneigt, euch daran zu erinnern, ihr jungen Theologen! – Entsinnt euch, daß geschrieben steht: Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich! Es kann schön aussehen, human sein, – zeitgemäß – meinetwegen was du willst – dies mit Sympathie und Verständnis, aber christlich gesprochen – wie es einem Nachfolger Christi geziemt – nein und wieder nein und in alle Ewigkeit nein!«

Er hatte wieder die Zeitungsrolle ergriffen und schlug damit auf den Tisch, während der Zorn in ihm aufloderte, und Johannes mit zitternden Knieen vor ihm stand.

»O, sprich nicht so – zweifle nicht an mir! Findet sich Wankelmut in meinem Sinne, dann stütze mich, leite mich – du, der du stark bist, geh du voran, ich folge, ich folge dir; so wie du willst, so soll es sein.«

Der Vater strich sich über die Stirn und sagte wieder mit seiner tiefen, ruhigen Stimme: »Ich zweifle nicht an dir, mein Johannes! Aber ich kenne die Zeit und ihre Gebrechen. Mit Gottes Hilfe ist kein Schaden geschehen; aber jetzt bist du aufmerksam gemacht. Bedenke: die List des Bösen ist mancher Art; er begann damit, seine bösen Ratschläge auf die verlockenden Lippen des jungen Weibes zu legen; er hat noch heutigestages seine Künste nicht vergessen.«

Johannes nahm wieder seinen alten Platz ein – noch immer beinahe zitternd. Wie stark und eifrig in seinem Streben er auch war, so gab es doch etwas, das ihn beugen und in die Kniee drücken konnte: der Gedanke daran, aus dem Kreise hinausgestoßen zu werden, nicht mehr zu der Schar der Auserwählten zu gehören, welche kraft jener Wahrheit, die sie besaßen, auf Erden recht hatten und nachher ein Anrecht auf den Himmel nach Gottes gnädigem Willen; – daß er – sogar bei seinem eignen Vater einen Augenblick in Verdacht kommen konnte, zu der Schar der Freidenker zu gehören, dies erfüllte ihn mit einem solchen Schrecken, daß ihm Gabriele beinahe als eine gefährliche Versuchung erschien. Sein großer Sieg wurde ihm zum erstenmal getrübt, und er sann ängstlich darüber nach, was daraus werden solle. Wenn er selbst – geteilt zwischen seiner Liebe und seiner Zukunft und dem Vater – und seiner Zukunft, denn die Zukunft war eigentlich hier wie dort – wenn er, zwischen beides gestellt, gezwungen werden sollte, das eine fahren zu lassen – und welches dann?

In der Brust des Vaters wogten noch die Gedanken stürmisch nach den heftigen Worten; und das junge Mädchen wuchs während seines Sinnens, als sei es gekommen, von der bösen Zeit selbst ausgesandt, um mit ihm die Kräfte zu messen, und er fühlte, erfreut und dankbar, wie sich die Worte ihm schon fügten – die Worte der Wahrheit – Gottes ewige, unveränderliche Wahrheit.

»Spielt sie Klavier?« fragte der Pfarrer ein Weilchen nachher, als vom Wohnzimmer Musik zu ihnen herüberklang.

»Gabriele spielt ganz vorzüglich,« erwiderte Johannes froh.

Der Vater sagte aber nur: »Dann wird sie sich bald ins Herz deiner Mutter hineinspielen.« Es lag jetzt etwas beinahe Feindliches im Tone, und der Pfarrer merkte es selbst: daher sagte er in seiner herzlichen, warmen Weise: »Glaube nur durchaus nicht, mein lieber Johannes, daß ich etwas gegen deine Gabriele habe; es ist ja nur ein Uebergang, bis wir miteinander ins reine gekommen sind; es muß sein, und du wirst mir selbst danken, wenn es überstanden ist.«

Johannes antwortete nicht, fuhr aber mit seinem Grübeln fort, während die Gedanken bald unruhig umherwanderten, bald sich ratlos zusammenkletteten, während der Wind durch das Haus tobte und die dünnen Töne des alten Klaviers mit sich führte.

Nach dem Mittagessen, als die Gäste fortgingen und die Herren im Arbeitszimmer verschwanden, hatte Gabriele sich in den beiden Zimmern umgesehen, welche für täglich gebraucht wurden. Sie versuchte, halb unbewußt, einen Stuhl hier und da zu rücken, um es mehr nach ihrem Geschmacke zu bekommen, bald sah sie aber ein, daß es bleiben müsse, wie es war. Die schweren, gediegenen Möbel mußten gerade so stehen – trocken und an den Wänden entlang, damit alles in Ordnung und viereckig sein könnte. Trotzdem war es gemütlich und kosig, die Teppiche lagen noch da, und Gabriele begriff gut, wie derjenige, welcher zu diesem unerschütterlichen Wohlgefallen geboren, daran gewöhnt war, sich von einer Welt, die wenig Rücksicht nimmt, nach einem so treulich verschlossenen Winkel wie dieser zurücksehnen könne.

Da hing ein großes Bild vom Stiftspropst Jürges mit großen Orden an dem Priesterrocke, mehrere Photographieen von Daniel Jürges in verschiedenen Altersstufen, alte Daguerreotypieen und Martin Luther – Gabriele gähnte. Frau Jürges trippelte aus und ein, so lange, bis der Tisch abgedeckt war; als aber nichts mehr zu thun war und ihr Gewissen sie peinigte, weil ihr die neue Schwiegertochter so wenig gefiel, zwang sie sich, in der Sofaecke Platz zu nehmen, wahrend Gabriele im Schaukelstuhle saß und sich ein wenig darüber ärgerte, daß Johannes verschwunden war. Frau Jürges fand, sie müsse eine Unterhaltung führen; es gab nichts, wozu sie weniger taugte; doppelt ratlos fühlte sie sich ohne Strickzeug, es war ja Feiertag. »Wie alt bist – sind –«

»O bitte, sagen Sie du zu mir,« bat Gabriele, »ich wünsche so sehr, daß Sie mich lieb gewinnen möchten; – meine Mutter hat mir so viel von Ihnen aus Ihrer Jugendzeit erzählt. Ich bin übrigens vierundzwanzig Jahre.«

»Er ist siebenundzwanzig – ich meine Johannes – er ist siebenundzwanzig Jahre.«

»Das paßt ja gut,« sagte Gabriele und lachte.

»Ja,« erwiderte Frau Jürges; es entstand eine lange Pause.

»Finden – findest du es hübsch in der Kirche?«

»Nein! Ich finde es entsetzlich dort – eine der häßlichsten Kirchen, die ich je gesehen habe,« erwiderte Gabriele, »oder finden Sie es schön mit den weißgetünchten Wänden und den abstechenden blauen Balken?«

»Nein – ja, ich weiß nicht; die Kirche ist neulich renoviert worden, und Daniel sagt, sie sei viel heller als vorher.«

Gabriele schwieg und dachte, so ginge es nicht weiter. Und doch lag ein Etwas in dem Gesicht der guten Dame, das sie in sonderbarer Weise anzog – ein Ausdruck, der sich bisweilen auch bei Johannes fand, und den sie so sehr liebte.

Sie wußte gut, daß Frau Jürges musikalisch sei, und seit ihrer Kindheit hatte sie die Gerüchte gehört, welche von ihrem Spiel erzählten, von Ole Bull, der darauf geschworen hatte, sie müsse zu Liszt, und von dem eigentümlichen Reiz, der über ihre Gestalt gebreitet war.

Ihre Mutter hatte ihr aber auch mitgeteilt, wie verändert und ernst Frau Jürges geworden war, und Gabriele hatte feierlich versprechen müssen, weder zu spielen, noch von Musik zu reden.

Aber daran kehrte sie sich nicht im geringsten, wie sie so dasaß und fühlte, daß alles, was sie sagte und that, sie immer mehr von dieser Frau entfernte, welche die Mutter ihres Johannes war, und deren Seele sie ahnte, wenn die großen Augen zu ihr wie von einer großen Tiefe aufblickten. Sie mußte die Musik probieren.

»Spielen Sie nie mehr, Frau Pfarrerin?«

»O ja – hin und wider!«

»Sie spielen,« rief Gabriele erfreut – »und ich hatte gehört – das heißt, ich glaubte, Sie spielen nicht mehr. Aber wo sind Ihre Noten? Ich habe keine gesehen.«

»Ich spiele nicht mehr nach Noten,« erwiderte Frau Jürges und errötete wie ein kleines Mädchen.

»Ich bitte um Verzeihung,« sagte Gabriele aufrichtig: »ich weiß ja, Sie brauchen keine Noten, wie wir Pfuscher. Ich meinte nur, um der Zeit zu folgen, müßte sich hier eine Menge Noten aufhäufen –«

»Nein, Sie verstehen mich falsch: ich spiele nur den Kindern und Daniel – meinem Manne vor.«

»Und Ihr altes Repertoire? – Sie sind bei den Sachen stehen geblieben, die Sie spielten in Ihrer –«

Frau Jürges machte eine kleine verlegene Bewegung mit den Händen und unterbrach Gabrieles Frage: »Ich spiele meist solche Lieder und Weisen, die Daniel gefallen – «

»Lieder und Weisen! Mein Gott!« rief Gabriele, »und Sie – Sie, von der alle sagen, Sie seien durch und durch Musik – Sie spielen weder, noch hören Sie etwas? – Nie ordentliche Musik? – Aber wie können Sie das nur aushalten?«

»Es ging nicht wegen der Gemeinde – wenigstens glaube ich nicht, daß es im Norden ging, dort, wo wir so lange waren, daß andre Sachen im Pfarrhause gespielt wurden, und außerdem wohnten wir so, daß die Wohnstube dicht neben dem Arbeitszimmer lag, so daß ich nicht üben konnte, und dann, als wir hierher kamen – ja, so weiß ich nicht recht – so –« sie stockte hilflos und betrachtete Gabriele, als wolle sie sich entschuldigen und einen strengen Richter besänftigen.

Und so schien es auch die junge Dame aufzufassen; denn sie sagte ernst und fast strenge: »Glauben Sie, daß es richtig ist, sich selbst in dieser Weise zu vernachlässigen? Verzeihen Sie mir, ich weiß, es schickt sich nicht zu reden, wie ich es thue, aber es regt mich auf, es empört mich, ich kann mir nicht helfen. Sind Sie böse, weil ich es sage?«

»O nein, Liebe – ich bin nicht böse; – du hast vielleicht recht – ich weiß nicht –« sie schwieg und zupfte mit ihren müßigen Fingern an den Fransen der Tischdecke. Und Frau Jürges fühlte, daß es nur eine zu richtige Ahnung gewesen war, welche sie von Anfang an von diesem jungen Mädchen zurückgehalten hatte. Es war gerade dieser schwere Druck, dieser unverstandene Groll, die stets auf ihr ruhten, die sich in Gabrieles Worten Luft machten und sie weiter und weiter hinwegschreckten.

Indes dachte Gabriele ihrerseits, daß die Situation immer verkehrter wurde. Und gleichzeitig empfand sie ein heißes Verlangen, aufzuspringen und sich ihrer armen neuen Mutter an den Hals zu werfen. Sie fürchtete aber, dies würde die kleine blasse Gestalt bis auf den Tod erschrecken, wie sie im Sofa eingeklemmt dasaß, als möchte sie sich am liebsten in ein Loch verkriechen.

»Soll ich Ihnen vorspielen?« sagte Gabriele und streifte ihre Armringe ab.

Frau Jürges zuckte in die Höhe und folgte ihr nach dem andern Zimmer, wo das Klavier stand.

»Ist es verschlossen? Ich kann es nicht öffnen,« sagte Gabriele.

»Es wurde gewiß verschlossen, als der Stimmer das letzte Mal hier war.«

»Wo ist der Schlüssel?« »Ich glaube – ich weiß nicht recht –.«

Gabriele begann in einigen leeren Blumenvasen und andern Gegenständen zu suchen, die auf der Etagere standen.

»O, Liebste, wissen Sie nicht, wo der Schlüssel ist? Jetzt bekomme ich solche Lust zu spielen – es sieht so drollig aus, das alte Klavier.«

»Ich glaube – es kann sein; ich werde sehen, ob er im Nähtische liegt!«

Der Schlüssel lag wohlverwahrt in einem Raume ihres Nähtisches, und Gabriele verstand gut, daß er hier versteckt war; sie ergriff ihn aber triumphierend: denn sie hatte sich's in den Kopf gesetzt, daß sie spielen wollte. Es war ein letzter Versuch. Konnte etwas Freies, Menschliches durch all diese Angst seinen Weg finden, so mußte es die Musik sein.

Frau Jürges trippelte unruhig hinterher und rang die blassen Hände, während sie diese fremden Finger beobachtete, welche den wohlbekannten Weg dahinglitten, wo die Töne unter dem gelb gewordenen Elfenbein sich verbargen.

Da Gabriele keine Antwort auf ihre Bemerkungen erhielt, aber fühlte, daß Frau Jürges hinter ihr stand, begann sie zu spielen, was ihr einfiel.

Sie spielte gut und ordentlich, hatte es aber nie weit in der feinen Ausführung gebracht. Doch war sie so musikalisch, daß es sich wohl verlohnte, sie spielen zu hören.

Und heute gab sie sich Mühe, ohne dabei befangen zu sein; sie wußte ja, daß die, der sie vorspielte, sehr bald ihre Begrenzung sehen würde, und da sie in der Weise keine Ansprüche ihrerseits erhob, wollte sie lieber spielen, was, sie konnte, von Altem und Neuem, um doch zuletzt durch Töne, die sie selbst liebte und verstand, durchzudringen und von dieser Frau verstanden zu werden, die sie so gern lieben wollte. Und daher spielte sie bald ein Stück noch einmal, bald weiter eine Reihe Sachen, deren sie sonst oft überdrüssig sein konnte, die aber hier in dem alten Saitenklang neuen Laut und neuen Sinn erhielten, weil diese Töne so weit hinweg gesandt werden sollten und eine wiederfinden, die zurückgeblieben war. Und dies ergriff Gabriele immer mehr, während sie spielte, und machte die Stimmung so warm und den Anschlag so fein, daß sie selbst zu lauschen begann, den Sturm vergessend, der draußen tobte, und nur ihrer gedenkend, in deren Herz sie sich hineinspielen wollte.

In ihr fand aber ein Kampf statt – ein Unwille, der sich verzweifelt weigerte, das zurückgestaute Verlangen loszulassen; es konnte aber nicht nutzen – sie fühlte es selbst, und wahrend sich die Töne behende unter den sicheren Fingern miteinander verschlangen, sank Frau Jürges auf einen Stuhl, gönnte ihren Händen Ruhe und ließ die Musik vom Nacken durch den ganzen Körper rieseln – wie eine Angst – wie eine Wollust – wie ein widerstandsloses Sinken – durch die Luft – als ob sie mit jeder Faser ihres Wesens diesen Quell von Tönen tränke, welcher ihr das Wasser des Lebens war; – so lange – so lange hatte sie geschmachtet!

Und nach dem ersten zitternden Durchbruch, kam allmählich die Ruhe des Genusses und zu allererst eine unbegrenzte Bewunderung dieses Spiels, das ihr ganz meisterhaft erschien. Es fiel ihr nicht ein, daß sie selbst jemals so hatte spielen können, und Gabriele, schon vorher so überlegen, erschien ihr beinahe wie ein überirdisches Wesen. Aber mehr als das Spiel und der Klang begann es sie tief drinnen zu packen, das, was in dieser Musik zu ihr sprach, so neu und fremd – so zudringlich sicher, wenn es sich in ihre geheimsten Gedanken hineinbohrte.

Denn sie entdeckte bald, daß, was sie anfangs verletzte, die scheinbar oberflächliche Auffassung – das war keine Unsicherheit, es kamen keine Fehler, und das Motiv lief rein und klar hindurch wie der glänzende Stahl über das, Eis. Diese Musik bewegte sich gleichsam auf klaren Bogen, die sich über alles spannten, das sie kannte, ohne in die alten Ströme zu fließen und ohne herabzufallen. Und als, sie ihr Ohr mit dieser seltsamen Kühnheit vertraut gemacht hatte, welche so trotzig erschien wie ein Gespötte und ein boshaftes Spiel, begannen sich Bilder vor ihren geschlossenen Augen zu formen wie in der Jugend – und wie sie noch unklar an ihr vorübergleiten konnten in wachen Nächten – immer und immer wieder ein altes Motiv leise singend.

Etwas Bekanntes strömte ihr entgegen von ihrem eignen Klavier, es klang so frisch und freimütig durch den Frühlingssturm, der draußen im Garten rauschte und lange Zweige der Schlingrose geheimnisvoll ans Fenster pochen ließ.

Es waren ihre glücklichen Mädchenträume, welche kamen, von jener Zeit, wo das Leben zu glücklichen Träumen für junge Mädchen umgedichtet wurde, deren Musik voller Nachtigallen und Waldhörner war, die in langen Tönen Nebelschleier vor Oberon hinweghoben, wenn er durch den Hain dahinglitt, wie eine sehnsuchtsvolle Weise verschwand und sich in sanfte Harmonieen auflöste, wieder hervortauchte und wie ein Seufzer der Liebe sich in den Wipfeln des Waldes säuselnd verlor.

Unter den großen Lindenbäumen, welche blühten und, dufteten, wie die Linden in jenem Frühjahr dufteten, da sie Webers großes Konzert einübte – dort erblickte sie jenes Haus, von welchem sie so oft geträumt hatte, daß sie wußte, wo das Klavier stand. Und draußen unter dem Fliederbaume im Mondenschein saßen die beiden auf einer Bank, und der Postwagen näherte sich und fuhr weiter, während sie zurückblieb und mit einem langen Schleier wehte, der lichtgrau mit einem lavendelblauen Schatten in den Falten wogte. Wenn der gelbe Postwagen in den Wald verschwand, wo der Weg eine Biegung machte – sie wußte, daß er nach Weimar führte – nahm der Postillon das Waldhorn und blies die herrlichsten Töne, die sie immer mit glücklicher Wehmut erfüllten; – er nahm das Horn und blies. – Es folgte aber kein Laut, und Gabriele wandte sich um: »Verzeihen Sie! Es war nicht die Meinung, mich an Ihre berühmte Lieblingsnummer zu wagen. Ich glaube, es war der reizvolle Klang des Klaviers, der mich in das Webersche Konzert hineinlockte.«

Frau Jürges lächelte schwach, öffnete aber nicht die Augen, und Gabriele begriff, daß sie endlich den Weg gefunden hatte, wandte sich still gegen das Klavier und spielte weiter.

Und die träumende alte Dame verblieb in ihrem Mondschein; das Waldhorn blies aber nicht die Töne, die sie erwartete. Es entstand wieder eine Unruhe, eine fliegende Eile in den Bildern, als würde der Wald leer, ohne Elfen und flatternde Gewänder. Und bald war auch kein Wald da, sie sah nichts, aber sie hörte jemand flüstern, die Träume seien gestorben; aber sie dürfe es niemand sagen. Frau Jürges fühlte ihr Herz im Schwall dieser dreisten Töne zerreißen, welche sich hervordrängten, um ihr zu erzählen, daß der Wald leer und der Traum gestorben sei. Das Innerste ihres Wesens war mit dieser Musik zusammengewachsen, welche jetzt ohne Uebergang und ohne Vorbereitung zerschnitten wurde von einer neuen, die in all ihrer wunderbaren Schönheit mit blinkenden Schwertern wie die Verzweiflung selbst kam.

Plötzlich fühlte Gabriele ein Paar kalte Hände auf den ihrigen; sie erhob sich erschrocken und sah die kleine Frau Jürges hastig den Deckel zuwerfen, zuschließen und den Schlüssel in die Tasche stecken.

»Ich weiß, was du gespielt hast,« sagte sie atemlos und blickte Gabriele starr an; »versprich mir, daß du es nicht wieder thun willst – versprich mir's.« Gabriele wußte nicht, was sie thun sollte, und stammelte ganz verwirrt: »Lieben Sie die neuere Musik nicht?«

»Nein – nein – ich vertrage sie nicht – ich kann sie nicht vertragen,« erwiderte Frau Jürges und fuhr plötzlich in die Küche hinaus.

Gabriele stand einen Augenblick da – betroffen und verwirrt. Dann eilte sie auf ihr Zimmer die Treppe hinauf, über den Flur, wo der Sturm lärmte, und als sie die Thür verschlossen hatte, sank sie in den weichen Sessel des Bischofs und brach in Thränen aus.

Zehntes Kapitel.

Als es dunkelte und die Lampe in der Wohnstube angesteckt war, kam der Pfarrer vom Arbeitszimmer herein mit den Zeitungen. Johannes war aber an Gabrieles Thür gewesen, und sie rief, daß sie gleich herunterkommen werde.

Frau Jürges rannte noch aus und ein, bis Johannes sie im Scherz zwang, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und da saß sie und blickte von einem zum andern, während die beiden Zeitungen lasen und ab und zu ein paar Worte wechselten.

Frau Jürges horchte auf den Sturm, welcher jetzt zu einem schweren, eintönigen Getöse gewachsen war. Aber noch gespannter lauschte sie den Tönen, die kein andrer vernahm. Es summte eine Musik in ihrem Kopfe mit dem Wetter draußen als Hintergrund, eine Musik, die in all ihren Nerven bebte und sie auf die Brust drückte, als erwarte sie jeden Augenblick, daß etwas Entsetzliches geschehen solle. »Es ist merkwürdig, welchen Einfluß das Wetter auf nervöse Personen wie deine Mutter hat,« sagte der Pfarrer, halb an Johannes gewandt; »ich kann es förmlich hier im Stuhle vernehmen, wie sie zusammenzuckt, wenn ein Windstoß vorbeisaust. Es ist sehr unangenehm; aber ich bin sicher, sie kann nichts dafür.«

»Arme Mutter,« sagte Johannes, »du hast wohl Angst, das Dach könnte fortgerissen werden? Komm, setze dich zu mir, hier ist solch ein gemütlicher Winkel.«

Frau Jürges rückte näher an ihren Sohn, fühlte aber keine Beruhigung. Denn ihr feines Ohr hatte aus Daniels Worten die Spannung herausgehört, in der er – wie sie alle – sich befand. Der Druck des Unwetters verband sich mit den streitigen Gedanken, welche in ihnen wogten, füllte gleichsam die Luft, so daß jeder Laut schwer wurde und Bedeutung gewann.

Sie hörten alle drei die Thür der Fremdenstube sich öffnen und Gabrieles Tritte, als sie die Treppe herunterstieg. Indem Johannes seine Zeitung hinlegte, blickte der Vater von der seinigen auf, und Frau Jürges begriff, daß etwas zwischen ihnen verabredet war.

Gabriele hatte sich selbst darüber gewundert, daß sie weinte, und dann sich ruhig ans Fenster gesetzt und nachgedacht. Vor sich hatte sie den alten Schuppen, in welchem der Wind wild sein Spiel trieb; und im Hintergrunde erhoben sich die waldigen Berge, welche immer finsterer wurden, während sie sinnend dasaß. Sie dachte an die arme Frau Jürges und begann zu ahnen, wie verkümmert sie sein mußte, und wie Musik – so lange Zeit entbehrt – sie dermaßen überwältigen konnte. Dann dachte sie aber weiter an das Leben dieser Frau, an dies Haus selbst und den Kreis, in welchen einzutreten sie im Begriff stand, an den ganzen Geist, der hier das Leben gestaltete und welcher auch das Leben der Frau Jürges gestaltet hatte. Gabriele wollte sich an ihrer Liebe festklammern. Und sie dachte sich ihren Johannes, so wie sie es gelernt hatte, ihn zu schätzen – so fest und treu zwischen all den andern, die hierhin und dorthin schwankten. Sie bekam solche Lust, hinunterzuspringen, sich zu ihm zu setzen und sich mit ihm über alles auszusprechen, das sie erfüllte.

Sobald sie aber daran dachte, daß Johannes im Arbeitszimmer beim Vater sei, blieben ihre Gedanken vor diesem Vater stehen, und es wurde ihr klar: ganz gewiß mußte sie sich mit ihm in Kampf einlassen, sie mußte Johannes aus der Bewunderung für diese blinde Ueberlegenheit herausreißen, die so böse, so eng war. Sie zündete Licht an und brachte ihre Toilette in Ordnung und ging, leise vor sich hinsingend, die Treppe hinunter, als wolle sie sich selbst zeigen, daß sie ruhig sei – nicht im geringsten aufgeregt, aber noch weniger bange. Bei ihrem Eintritt in die Stube brachte sie aber doch einen kleinen Wirbel vom Sturme draußen mit sich, und weder die Freude des Johannes, sie wiederzusehen, frisch und schön, noch die beinahe übertriebene Liebenswürdigkeit des Pfarrers vermochten Frau Jürges daran zu hindern, ängstlich nach dieser seltsamen Schwiegertochter hinzublicken, welche immer vor ihr zu wachsen schien.

Der Prediger versuchte mittels kleiner Bemerkungen aus der Zeitung die Unterhaltung in Gang zu bringen – so wie er sie haben wollte; aber niemand ging darauf ein. Das Brautpaar sprach leise miteinander – Gabriele hatte den Schaukelstuhl dicht an das Sofa gezogen – und Frau Jürges neigte sich über eine der Zeitungen auf dem Tische und las, um die jungen Leute nicht zu stören.

Nach dem Abendbrot hatte aber Daniel Jürges beschlossen, daß die Schlacht beginnen sollte, und er sagte bei sich selbst: Es ist am besten, den Stier bei den Hörnern zu nehmen.

»Du hast eigentlich recht, Johannes – die Pfarre taugt nichts für dich. Kaplan zu sein in Christiansund ist keine Stellung, die eine große Zukunft verspricht, und ich fürchte außerdem, Gabriele würde es gleich zu Anfang zu weit von der Hauptstadt finden – nicht wahr?«

Johannes war zusammengezuckt und wurde ganz rot: »Ich habe auch nicht daran gedacht, mich zu melden – lieber Vater!«

»Nein, nein – aber wir müssen anfangen, uns umzusehen. Du bist jetzt – Gott sei Dank – so weit, daß du suchen kannst.«

Gabriele lächelte. »Und wenn man hört, daß ein Theologe ›sucht‹, so weiß man, was er sucht. Es ist natürlich Gottes Reich, das man zuerst suchen soll.«

»Dies sind nicht Dinge, mit denen man Scherz treibt – Fräulein Pramm!« sagte der Pfarrer kurz und wandte sich zum erstenmal in all seiner Würde an sie.

Gabriele erwiderte aber, ohne mit den Augen zu zucken: »Es ist auch kein Scherz, aber ein sehr ernstes Citat!«

»O, ich weiß gut, woher Sie es haben,« entgegnete der Pfarrer ruhig lächelnd, »ich konnte mir beinahe denken, es müßten derartige Paradoxenmacher sein, die Ihnen diese Geringschätzung des geistlichen Standes beigebracht haben.«

»Geringschätzung,« sagte Johannes und bewegte sich unruhig – »ich glaube nicht, daß man sagen kann, Gabriele hege, was man Geringschätzung nennt –«

»Nein, es ist eher Abscheu,« unterbrach ihn Gabriele gelassen: »aber eben deshalb finde ich nicht, daß wir von dieser Sache gerade hier sprechen sollten.«

»Doch, gerade hier – gerade hier in diesem Hause, wo einer jener Verabscheuten wohnt! – Hier werden wir von der neuen Zeit und ihrer Auffassung der Diener des Herrn reden.«

Daniel Jürges erhob sich in seiner vollen Große, und Gabriele fühlte ihr Herz pochen, als sie zu ihm vom Schaukelstuhle aufblickte; Johannes wollte ihm ein Zeichen machen, wagte es aber nicht, das Vorhaben auszuführen, und Frau Jürges begann zu zittern, daß die Zeitung zwischen ihren Fingern raschelte.

Der Pfarrer schritt ein paarmal auf und ab, um seiner Erregung Herr zu werden und die Worte zu ordnen, welche sich allzu reichlich hervordrängen wollten; aber gerade als er vor Gabrieles Stuhle stehen blieb und anfangen wollte, sagte sie: »Da Johannes gar nicht daran denkt, Pfarrer zu werden –«

Sie stockte einen Augenblick, als sie fühlte, wie alle drei sie betrachteten, und fuhr dann fort: »Ja – denn nicht wahr – Johannes! – das hast du mir ja versprochen!«

In Johannes' Gesicht zuckte es leise und seine sonst so klaren Augen fanden nirgends einen Ruhepunkt, während er nach Worten suchte. – Aber mit einer Anstrengung gewann er seinen ruhigen Ausdruck und seine feste Stimme wieder: »Wir haben – wie du selbst weißt, Gabriele, nie diesen Punkt ernstlich und erschöpfend besprochen. Aber es ist wahr: es gibt ein Gelübde – oder wenigstens etwas, das ihm ähnlich sieht – oder so aufgefaßt werden könnte, als ob –«

»Einige Worte von großer Schwäche,« unterbrach ihn der Pfarrer, »auf welche zu bauen mir wenig würdig und billig erscheint –«

»Nein, nein, versteht mich nicht falsch!« rief Gabriele eifrig: »ich habe nicht im Sinne, ihn an ein Versprechen zu binden – mag es nun eins geben oder nicht. Ich bin aber dessen sicher, er wird nicht, er kann nicht hingehen und Prediger werden wollen – nicht wahr, Johannes! Du willst natürlich nicht Prediger in der Staatskirche werden? – Antworte!«

Sie neigte sich gegen ihn – halb lächelnd, doch ein wenig ängstlich; dies war ihr nie eingefallen, als sie aber sah, wie er wieder zusammenzuckte – versetzte sie kalt: »Ja, sieh, das ist eine andre Sache; dann muß hier geredet werden, je eher, je besser.«

»Gabriele –! Ich bitte dich, beurteile mich nicht zu hart – ja, Vater! – Verzeih, aber laß mich reden – ich sage: beurteile mich nicht zu hart; denn du könntest dazu Anlaß haben – ich gebe das zu –«

Gabriele hemmte seine Rede: »Was wir beide einander gesagt haben, geht keinen andern was an. Wenn ich dich aber falsch verstanden habe – oder wenn du auf andre Gedanken gekommen bist, wollen wir uns aussprechen und zur Klarheit kommen, und wenn es dir notwendig oder angenehm scheint, daß dein Vater dabei mitredet, so –«

»Ich wollte so unsäglich gern, daß ihr beide – der Vater und du – einander verstehen solltet,« sagte Johannes.

»Deinem Vater wird es nicht leicht, mich und meine Entwickelung zu verstehen,« erwiderte Gabriele und ließ die Augen fest auf ihrem Bräutigam ruhen; »denn die jungen Mädchen sind heutzutage ganz anders, als da er sich in der Welt bewegte. Es ist eine ganz neue Art aufgewachsen mit andern Anschauungen, einem andern Geschmack – ja, ich glaube beinahe, mit andern Gefühlen. Ich weiß so gut, daß das alles Veränderungen sind, welche die Männer der alten Schule als den Ruin der wahren Weiblichkeit betrachten, und dies macht, daß es ihnen so schwer wird, uns zu dulden. Es kann uns leid thun; aber es kann nicht anders sein – und im Grunde genommen gibt es wohl keine unter uns, die es sich anders wünscht.«

Johannes hatte sie gern unterbrochen; denn er wußte, daß diese Worte die Sache nur verschlimmerten. Es legte sich auch ein strammes Lächeln um den Mund des Vaters, als Gabriele erklärte, die Welt habe sich ganz geändert, während er fort war und nichts wußte.

»Verzeih – kleines Schwiegertöchterchen! –« begann er mit einer Freundlichkeit, welche Frau Jürges schaudern machte, »verzeih, wenn ich ein Lächeln nicht zurückzudrängen vermag. Denn erstens habe ich nun zwei junge Mädchen unter meinen Augen aufwachsen sehen, ohne daß es mir jemals schwer geworden ist, sie zu verstehen. Und danach liegt etwas beinahe gar zu Drolliges in der jugendlichen – ich meine, in der Freimütigkeit der neuen – neuerstandenen Jugend. Sie bilden sich ein, daß diese Gedanken, welche ihnen jetzt durch den Kopf sausen, etwas ganz Funkelnagelneues seien, während sie in Wirklichkeit nichts andres sind, als derselbe Frühlingswind, der über uns alle hinweggeweht hat. Denn – das Neue – das wirklich Neue – das ist nur diese Freimütigkeit – und dazu hat es nie ein Seitenstück gegeben – das gebe ich zu – diese Freimütigkeit, womit sie uns – uns Erwachsenen die Nachtmütze über die Augen herunterziehen und uns bitten, doch einen Augenblick zu Bett zu gehen, während sie Himmel und Erde auf den Kopf stellen.«

Johannes lachte und gab einen Moment der Hoffnung Raum, das Gespräch könne noch eine scherzhafte Wendung nehmen. Gabriele sagte aber trocken: »Es gibt indes etwas, das diese Erwachsenen von jetzt ab der freimütigen Jugend zu überlassen gezwungen werden, und das ist das Recht und die Fähigkeit, eine Ueberzeugung zu haben und dieser in ihrem Leben zu folgen. Kehren wir daher zu Johannes' geistlichem Berufe zurück; antworte mir offen, wie es sich damit verhält: »Willst du Prediger sein?«

»Es wundert mich, daß Sie in dieser Weise fragen,« erwiderte der Pfarrer, ehe Johannes Worte fand, »wenn Sie Ihr Schicksal verbinden – oder jedenfalls einen ernsten und bindenden Schritt gethan haben, zu einer Verbindung mit einem jungen Manne, der sich ausgebildet hat –«

»Nie ist es mir ernstlich eingefallen, Johannes könne Prediger werden wollen.«

»Aber Sie mußten doch fühlen und wissen, daß er ein aufrichtig gläubiger Christ war –«

»Ich weiß, Johannes ist zu aufrichtig, um ein Heuchler zu sein,« erwiderte Gabriele und streckte ihm ihre Hand entgegen, indem sie fortfuhr, zum Prediger aufzublicken.

»Nun gut! – Und wenn er dann in lebendigem und aufrichtigem Glauben zu Ihnen käme und sagte, der Ruf sei an ihn ergangen, für den Herrn zu zeugen, der ihn sich erkaufte –«

»Dann würde er zu mir kommen und sagen: ›Lebe wohl, Gabriele! – Ich habe jetzt an andres zu denken als an Liebe und häusliches Glück. Derjenige, der das Kreuz auf sich nehmen will, er kennt weder Vater noch Mutter – er hat weder Haus noch Heim.‹«

Johannes zog seine Hand zurück und betrachtete sie starr; Daniel Jürges aber lächelte wieder ruhig und sicher: »O – ich höre ihn wieder – Ihren Lehrmeister! Wir kennen diese einseitigen und krankhaften Hinweise auf das Vorbild in Christi Person; aber – Gott sei gelobt! – als Christen wissen wir und –«

Gabriele unterbrach ihn: »Wenn Sie die Volte machen wollen – Herr Pastor, das Vorbild nach innen und den Versöhner nach außen zu kehren, so bitte ich, sich meinetwegen nicht zu bemühen. Ich weiß sehr gut, daß es den Schriftgelehrten eine leichte Sache ist, so lange zu reden, bis die schönste Uebereinstimmung zwischen dem gekreuzigten Vorbild und dem kreuzgeschmückten Nachfolger entsteht – ich kenne das Ganze: es ist nur das Kreuz, welches den Platz wechselt.«

Frau Jürges machte unwillkürlich einen kleinen Satz im Sofa, und Johannes erhob sich und neigte sich über Gabriele: »Sei nicht so starrsinnig, Gabriele! Ich bitte dich flehentlich!«

Pastor Jürges selbst wurde aber dunkelrot: denn er hatte gesehen, wie Gabriele eine kleine Bewegung mit dem Kopfe nach dem Porträt des Stiftspropstes machte, und er fühlte den lange bekämpften Eifer in sich auflodern.

Aber Johannes, welcher an dem Schaukelstuhle vorbeigegangen war, kam zu ihm hin und sagte: »Lieber Vater! Regen wir uns nicht zu sehr auf. Gabriele hat eine eigne Art – ich finde sie nicht lobenswert, und ich kann es verstehen, wenn sie dich reizt; aber Gabriele meint es vielleicht nicht so hart, so schlimm: laß uns lieber speziell hören, was sie allen Ernstes gegen den geistlichen Stand einzuwenden hat.«

»Und das kannst du fragen? – Du weißt doch so gut, daß ich die ganze Staatskirche mit einem König an der Spitze und dem ganzen offiziellen Gottesdienst als das lästerndste Zerrbild von Christi Lehre und Leben betrachte! – Das weißt du – Johannes! – und darin glaubte ich wirklich, seiest du mit mir einig.«

»Nein, nein – Gabriele!« rief Johannes eifrig, »du gehst viel zu weit; du kannst nicht sagen wollen, ich hätte dir Anlaß zu der Vermutung gegeben, meine Anschauungen seien im geringsten so weitgehend wie die deinigen –«

»Aber du warst und bist also noch auf demselben Standpunkte?« fragte der Pfarrer.

»Nein, nein, Vater! Du mußt mich durchaus nicht falsch verstehen – aber du weißt selbst, es gibt ja – es gibt ja in unsren Tagen gewisse Reformen – kirchliche Reformen, welche – das leugne ich nicht – jedenfalls bis zu einem gewissen Grade meinen Beifall haben. Es gibt sowohl im äußeren Verhältnis der Kirche wie auch im Leben der kirchlichen Gemeinde mehrere Punkte –«

In dieser Weise fuhr er fort und erreichte es allmählich, den Ton zu treffen, den ihm der Professor beigebracht hatte, wenn es galt, eine Brücke vom Alten zum Neuen zu finden, ohne herunterzufallen. Es war aber niemand, der auf seine Rede achtete.

Der Prediger begann zu denken, es sei in gewisser Hinsicht recht gut, daß Gabriele es so weit über alles Maß und Ziel trieb.

Wenn möglicherweise in Johannes ein schleichender Abfall begonnen hatte, so konnte er beizeiten zurückgeschreckt werden. Und seinen Zorn der jungen Dame gegenüber suchte er dadurch zu dämpfen, daß er bedachte, wer sie sei, wie viel sie und ihr Name mit sich brachten und wie licht und hell sich alles gestalten würde, wenn sie erst besiegt war. Aber dies mußte auch sein! – Und er wünschte nur, daß nicht allzu harte Mittel nötig seien.

Gabriele konnte sich aber eines peinlichen Gefühles nicht erwehren, während ihr Bräutigam sprach. Es wurde immer offenbarer, er war nicht derselbe hier im Hause wie in der Stadt. Was sie früher trotz aller Uneinigkeit zusammenband, hatte keinen Einfluß mehr auf sie; er wurde ihr entfremdet, und sie empfand es schmerzlich, daß Johannes nach der entgegengesetzten Seite hinüberglitt.

Aber wie sie einmal war, fiel es ihr nicht ein, ihn wieder glimpflich an sich zu ziehen, indem sie ihm ein wenig zu Hilfe kam; sie unterbrach ihn im Gegenteil in seiner gewandten Arbeit mitten auf der Brücke und sagte mißmutig: »Es hat keinen Zusammenhang, was du da sagst – Johannes!«

Er hielt inne und machte – etwas ungeduldig – eine Wendung gegen sie. Aber der Vater, welcher indessen die Zeit dazu benutzt hatte, seinen Sinn zu beruhigen, ergriff nun das Wort in einer ganz neuen Art – ruhig, beinahe einräumend. Es war nun seine Absicht, das Gespräch von dieser großen Allgemeinheit auf mehr spezielle Streitfragen hinüberzuführen, wo man mehr Verwendung für Gelehrsamkeit, als große Worte hat.

»Mag sein,« sagte er, »daß es sich so verhält, wie Johannes sagt, daß die Kirche ihrer Reformen bedürfe. Bedenke, die Kirche ist ein altes Haus – nicht ganz von Gebrechen frei. Aber solange Gottes Wort rein und klar gepredigt wird – und das habe ich doch noch nicht verneinen hören, selbst von unsren ärgsten Christusfeinden –«

»Rein und klar!« unterbrach ihn Gabriele; »das heißt, die Schriftgelehrten ziehen hervor, was sie brauchen, und stecken den Rest beiseite.«

Frau Jürges schnellte empor bis in die äußerste Ecke des Sofas, und Johannes sagte ein wenig ärgerlich: »Aber Gabriele! Nun weißt du gar nicht, was du sagst.«

»Deine Braut macht übrigens den Eindruck, sich recht gut dessen bewußt zu sein, was sie sagen will,« sagte der Pfarrer freundlich.

»Natürlich,« erwiderte Gabriele, »ich meine auch, was ich sage.«

»Würden Sie denn nicht die Güte haben, uns ein Beispiel zu nennen, was diese Schriftgelehrten – was wahrscheinlich in Ihrem Munde die Geistlichkeit der Staatskirche, bedeuten soll?«

»Bezeichnet nicht der Ausdruck ›die Schriftgelehrten‹ die herrschende Geistlichkeit im Neuen Testament?« fragte Gabriele kriegerisch.

»Nun ja, darüber wollen wir nicht streiten,« sagte der Pfarrer, »obschon auch hierzu allerlei zu bemerken wäre. Sagen Sie uns lieber – nennen Sie uns ein Beispiel, wo in der Lehre unsrer Kirche etwas Ungebührliches hervorgezogen und etwas beiseite gesteckt wird?«

Gabriele schaukelte sich hin und her, während sie erwiderte: »Es würde wenig nutzen, käme ich mit meinen Beispielen zum Vorschein. Die Schriftgelehrsamkeit ist so alt und schlau, daß, was für einen gewöhnlichen gesunden Menschen dasselbe ist, wie mit der Stirn gegen die Wand zu rennen, für die Theologen immer noch einen guten Ausweg bietet.«

»Da wir indes jetzt vor Ihnen stehen – zwei dieser Schriftgelehrten, ein alter und ein junger,« sagte der Pfarrer, fortwährend sanft und ruhig, »welche in aller Aufrichtigkeit glauben, daß die Lehre unsrer Kirche das wahre und unverfälschte Christentum ist – aus dem eignen Munde des Herrn ausgegangen, aufgezeichnet und bewahrt von den heiligen Männern der Kirche – wollen Sie deshalb nicht, statt den Stab über uns in großen allgemeinen Worten zu brechen, uns lieber etwas Bestimmtes nennen, nachweisen, wäre es auch nur einen einzigen Punkt, wo die Kirche in Christi Lehre etwas hervorzieht, beseitigt, wegerklärt oder umgeht –«

»Etwas Wesentliches,« wollte Johannes einschalten; der Vater fuhr aber fort, an Gabriele gewandt, ohne auf ihn zu achten: »Finden Sie nicht selbst – nach dem, was Sie gesagt haben – daß dies eine Art Pflicht für Sie ist, wenn sonst Pflicht ein Wort ist, welches sich in dem revidierten Wörterbuche der Zeit findet?«

»Wenn Sie es in der Weise nehmen,« erwiderte Gabriele, »werde ich mit meinen Beispielen kommen, damit Sie es nicht so drehen können, als käme ich mit losem Geschwätz. Aber vergessen Sie nicht, ich weiß im voraus, daß absolut nichts auf Sie Eindruck machen wird, der Sie in der Unfehlbarkeit unterrichtet und abgestumpft sind, nur für mich haben diese Beispiele Wert. Das erste ist jene Bibelstelle, worauf ihr die Kindtaufe gebaut habt –«

»Ich konnte mir's beinahe denken,« sagte der Pfarrer und lächelte seinem Sohne zu; »es ist fast immer das, womit es anfängt.«

»Ja, ich weiß schon,« rief Gabriele, »daß ihr die Taschen voller Auslegungen habt; aber ich finde nun, daß eine ganz andre Gewähr dazu gehören mußte, um aus einer an und für sich so sinnlosen Ceremonie, wie der Kleinkindertaufe, ein Sakrament zu machen. Aber jetzt kommt ein Wort, das beiseite gesteckt ist; ich weiß es auswendig: ›Ich aber sage euch, ihr sollt nicht schwören, weder beim Himmel, denn er ist Gottes Stuhl; noch bei der Erde, denn sie ist seiner Füße Schemel; noch bei Jerusalem, denn sie ist eines großen Königs Stadt. Auch sollst du nicht bei deinem Haupte schwören, denn du vermagst nicht ein einziges Haar weiß oder schwarz zu machen. Eure Rede aber sei: Ja, ja, nein, nein; was darüber ist, das ist vom Uebel.‹ Wenn man nun sieht, was ihr aus dem kleinen Wort: ›Lasset die Kindlein zu mir kommen,‹ gemacht habt, so müßte man doch erwarten – ja, dessen sicher sein, daß ein Wort, so deutlich, so erschöpfend, so ganz ungewöhnlich energisch, wie das vom Eid – daß dies aufs gewissenhafteste aufbewahrt und aufrechterhalten werden müßte in einer Kirche, wo das Christentum so rein und unverfälscht ist! Aber ich werde Ihnen erzählen, meine Herren,« und Gabriele erhob sich im Stuhle, »ich werde erzählen, wie es zugeht in diesem christlichen Staate – mitten vor den Augen der Kirche – ja, in derselben; es geht so zu, daß es von Eiden wimmelt, bis zu einer solchen Lästerung, daß ein Eid als Bürgschaft verlangt wird selbst von den Bürgern, welche die Anliegen des Staates und der Staatskirche verwalten sollen. Christi Kirche verlangt, daß derjenige, der nicht gegen Christi eignes Wort handeln will, nicht Erlaubnis haben soll, sich mit den Anliegen der Kirche zu befassen. Kommt einer, der nicht schwören will, weil er nicht glaubt – hinweg mit ihm. Und kommt einer, der nicht schwören will, weil er glaubt – gleichfalls hinweg mit ihm. Nur diejenigen, welche so stumpf oder voller Heuchelei sind, daß sie sich nicht darauf besinnen, ihren Christenglauben zu bekennen, indem sie denselben verhöhnen, welche sich nicht entblöden, dem Meister ins Gesicht zu speien, und es Ehrerbietigkeit nennen! – nur solche kann der christliche Staat gebrauchen! Und die Geistlichen – sie beschönigen und beschützen aus aller Macht diese Schande, weil sie wissen und fühlen, daß die ganze Mechanik in derselben Weise eingerichtet ist mit Spiegelfechterei und Beiseitestecken, alles von oben bis unten! – Und dies alles, es geschieht nicht, indem zugegeben wird, daß es leider mit dem Lebenswandel ebenso schlecht bewandt ist, wie mit der Lehre – nein! – frech wird darauf getrotzt, daß dies – gerade dies, das unverfälschte, das echte Christentum sei! – Und ihr wißt es! – Und du weißt es, Johannes! – Du kannst unmöglich so weit gekommen sein, wie ich weiß, daß du bist – ohne die ungeheure Betrügerei zu sehen mit all diesen Christen und all diesem kirchlichen Humbug. Du kannst mich nicht so entsetzlich täuschen, sage es! – Sage, daß du nicht dabei sein willst, eher werdest du dir die Zunge abbeißen!«

Als sie innehielt, fuhr der Sturm gerade über das Haus mit einem so entsetzlichen Ruck, daß es förmlich bebte, und Frau Jürges war beinahe halbtot vor Schrecken. Johannes stand ganz ratlos mitten im Zimmer und suchte vergeblich Worte für das, was er sagen wollte. Um Zeit zu gewinnen, besann er sich in der Eile auf das, was man ihn über den Eid zu sagen gelehrt hatte, aber vergeblich; das einzige, was ihm einfiel, war die Frage in Pontoppidans Erklärung zu Luthers Katechismus: Ist es denn gar nicht erlaubt, zu schwören? Und die Antwort: Ja, wenn es die Obrigkeit von Gottes wegen fordert. Die Schriftstellen aber, wo waren sie? Es war ihm unmöglich, sich ihrer zu entsinnen; aber es gab natürlich viele: und das wollte er gerade sagen, als der Vater mit seiner gewaltigen Stimme loslegte, welche das Unwetter übertönte und vor ihren Ohren donnerte.

Er konnte nicht länger kleinlich bei Gabrieles Beispiel verweilen; aber indem der lange zurückgedrängte heilige Eifer hervorbrach, nahm er das Blatt vom Munde und sagte ihr die volle Wahrheit, während sie im Schaukelstuhle zurückgelehnt lag – unbeweglich, die Hände vor dem Gesicht. Er goß auf sie den Zorn des Herrn über den Abfall der Zeit in Worten so beredsam und kräftig, daß sie Johannes an die Sprache der alten Propheten erinnerten. Es war eine Abrechnung, ein Ausbruch von allem, was sich in ihm angesammelt hatte, seitdem sie sein Haus betrat – sie, diese Ausgesandte der neuen Zeit, die er haßte – haßte mit dem ganzen Trotz seines Lebens, mit all jener unversöhnlichen Wut, die sich in ihm angehäuft hatte, während er mit dabei gewesen war, sich gegen die Zeit zu stemmen, welche sich hervordrängte, bis alles, was ihm lieb gewesen war, sich in Bitterkeit gekehrt hatte – was seine Hoffnung in der Jugend gewesen war, hatte er selbst helfen müssen zu zerbrechen: das Schöne und das Gute, der Frieden und die Harmonie – alles hatte sich in Galle und reizbaren Groll gewandelt, vermessene Hände hatten sich gegen das Heilige ausgestreckt – vermessene Hände – vermessene –.

Er stockte und griff sich an den Kopf: einen Augenblick wurde es ihm schwarz vor den Augen. Er wartete, bis das Blut wieder in Fluß gekommen war, und versetzte streng und mit hoher Würde:

»Denn im Allerinnersten ist der Unglaube nichts andres, als Böses und Niedriges, Feiges und Hochmütiges zusammengemengt. Und wenn er in unsern Tagen sich den Anschein geben will, die Spiegelfechterei zu scheuen, um die Wahrheit und Gerechtigkeit für groß und klein zu suchen, so ist das nichts andres, als die widerwärtigste Spiegelfechterei. Denn die Feindschaft gegen das Christentum an und für sich besteht darin, das Niedrige emporzuheben, das Hohe herabziehen zu wollen, sich selbst auf den hohen Sitz, und alles, was hoch und heilig ist, in den Kehricht unter dem Fuße. Aber wahrlich, Gott läßt sich nicht spotten!«

Gabriele sprang auf; sie wollte ihm widersprechen. Der Prediger schwieg und einen Augenblick war es so still im Zimmer, daß man den Schaukelstuhl ein paarmal hin und her wiegen hörte, ehe er stillstand. Gabriele aber fand keine Worte.

Die ganze Stimmung von heute morgen nach der Predigt kam über sie, aber mit einer vermehrten Gewaltsamkeit nach der Aufregung, worin sie sich schon befand; als sie ihm daher erklären wollte, wie tief und ungerecht er sie verletzte, fühlte sie, daß, wenn sie erst begann, sie sich hinreißen lassen würde, ihr ganzes Seelenleben diesem Manne zu eröffnen: und das war er nicht wert; denn er wollte nicht verstehen.

»Sage du es ihm – Johannes! – Sage ihm, daß es nicht wahr ist!«

Gabriele streckte die Hände gegen ihn aus, damit er sie ergreifen und zu ihr kommen solle; aber Johannes faltete die seinigen wie zum Gebet. Die letzten Augenblicke waren mit der Eile des Sturmes vorübergesaust, und etwas von der Wildheit des Sturmes war in sie alle gefahren. Johannes fühlte, hier sei keine Versöhnung möglich; er mußte wählen, und in seiner Bedrängnis begann er halblaut zu beten.

»Antworte mir! Hilf mir!« rief Gabriele ungeduldig und machte einen Schritt gegen ihn. Aber Pastor Jürgens trat dazwischen und hielt sie zurück: »Stören Sie ihn nicht! Lassen Sie ihn Hilfe und Rat suchen, wo diese allein zu finden sind. Und wähle dann – mein Johannes, ob du den Herrn verraten willst, der dich erkaufte, und den Feinden des Kreuzes folgen –«

»Nein, nein,« rief Gabriele, »die Frage ist, was dich betrifft, diese: willst du ehrlich sein und eingestehen, daß du keineswegs ein wahrer Nachfolger Christi bist – keineswegs! – und daß du dich nicht mit offnen Augen einem Leben voller Lüge und Betrug zuwenden willst.«

»Johannes, mein Sohn!« sagte der Prediger, und seine Stimme klang scharf wie vorhin – drinnen im Arbeitszimmer; »ich sehe, du schwankst –.« Da löste aber Johannes die gefalteten Hände und streckte sie dem Vater entgegen: »Meinen Jesus laß' ich nicht!«

»Pfui!« sagte Gabriele; sie wandte sich schnell von ihm hinweg und streifte den Verlobungsring vom Finger.

Frau Jürges sah ihn über den Tisch rollen und rief: »Willst du mit ihm –«

Willst du mit ihm brechen? wollte sie sagen, fühlte aber im selben Augenblick, daß das Wort jetzt nicht paßte; sie blieb daher sitzen und starrte auf den Fuß der Lampe, unter welchem sich der Ring verloren hatte.

Gabriele stand einige Sekunden und blickte ganz geistesabwesend in das Licht; plötzlich nahm sie sich zusammen.

»Gute Nacht – alle miteinander –« sagte sie und schritt zur Thür hin.

Johannes wollte ihr nacheilen, sein Vater aber hielt ihn zurück.

»Laß sie nur die Sache beschlafen. Nicht mehr heute abend: morgen ist – gottlob – auch ein Tag. Ich sagte dir's, Johannes, kräftige Mittel waren vonnöten; danken wir Gott, daß es überstanden ist, und daß du die Probe siegreich bestanden hast. Morgen wollen wir die Strenge dieses Abends wieder gut machen; und ich werde keinen Groll hegen – das verspreche ich dir. In meiner Predigt werde ich ihr die guten Worte geben, welche sie nach der Züchtigung bedürfen kann, und später beim Vogt –«

Frau Jürges erhob die Hand: »Sie zieht ihren Mantel an.«

»Unsinn, Minna,« sagte der Pfarrer ärgerlich; »wo sollte sie jetzt hingehen?«

Aber Johannes lief hin und riß die Thür auf. Da stand Gabriele in ihren Pelzmantel gehüllt und im Begriff, den Fuß in die gefütterten Gummischuhe zu stecken.

»Aber, mein Gott, Gabriele! Wo willst du hin? – Du mußt ja ganz außer dir sein,« rief Johannes und zitterte noch mehr als die Mutter; »komm doch wieder herein und nimm es nicht in der Weise.«

Gabriele machte sich von seinen Händen frei und sagte betrübt: »Wir haben einander nichts mehr zu sagen. Du warst nicht der, für den ich dich hielt. Lebe wohl! – und laß mich gehen.«

Sie hatte schon die Hand auf dem Thürgriff.

»Fräulein Pramm,« rief der Pfarrer ganz außer sich: »Ihr Benehmen ist derartig, daß –«

Gabriele drehte sich ruhig um, als ob sie sich auf etwas besonnen habe, und schritt mit einer Sicherheit, welche fast beruhigend auf sie alle in dieser unnatürlichen Situation wirkte, zu Frau Jürges hin und reichte ihr die Hand.

»Verzeihen Sie, daß ich Sie in dieser Weise verlasse, ich gehe nach dem Schulzenhof. Es wäre mir nicht möglich, diese Nacht hier zu bleiben, und morgen fahre ich nach Hause. Sie müssen mir nicht böse sein. Leben Sie wohl!«

Damit neigte sie sich schnell über die kleine Dame und küßte sie; und ehe jemand sich dessen versah, war sie zur Thür hinaus. Der lose Schnee umgab sie wie eine Wolke, indem sie verschwand und der Wind im Augenblick die Thür wieder zuwarf.

Johannes ergriff seinen Ueberrock.

»Nein – nein –,« sagte der Pfarrer.

»Doch, ich will es« – erwiderte Johannes und blickte seinem Vater in die Augen.

Daniel Jürges taumelte zurück unter diesem Blick, und jetzt begriff er, was verloren war.

Frau Jürges aber, in deren Kopf dieser entsetzliche Tag Großes und Kleines noch toller als sonst ineinander gemengt hatte, stand und brannte darauf, daß Johannes ja nicht die großen Pelzstiefel vergessen sollte. Zuletzt faßte sie sich ein Herz und zog sie aus dem Winkel hervor.

Elftes Kapitel.

Der Sturm hatte etwas nachgelassen. Die schweren Schneewolken, die er den ganzen Tag zwischen den Bergen eingeklemmt hatte, zerstoben plötzlich wie Daunen, und diese erfüllten die Luft, so daß der Sturm selbst schwer und matt wurde und seine Eile hemmen mußte.

Die letzten Stöße hatten aber dem alten Schuppen den Rest gegeben: – das faule Holz war so still zersplittert, daß es niemand im Pfarrhause durch den Sturm gehört hatte; auch hatte keins das Heu des Pfarrers gesehen, wie es sich erhob, als das Dach hinweggefegt wurde, und gleich einem Schleier dahinwehte, der sich auflöste und sich über die Felder verlor.

Im Hofe wirbelte der Schnee jetzt in großen Flocken, und das Licht von den Fenstern des Pfarrhauses warf gelbe Streifen in die Finsternis hinaus.

Frau Jürges ging voran mit dem Lichte, der Pfarrer hinterher mit der Pfeife und den Zeitungen. Als die jungen Leute das Haus verließen, hatte Daniel seine Sachen geordnet und die Lampe ausgelöscht, ohne ein einziges Wort zu sagen und ohne im geringsten auf sie zu achten.

Sie wagte es auch nicht, ihn mit einem Worte zu stören, nicht einmal, als sie an der Fremdenstube vorbeigingen und sie eine brennende Lust erfaßte, Gabrieles Nachtzeug und ihre Toilettensachen zum Schulzen hinüberzuschicken. Sie wußte ja, wie schlecht es ihr erging, wenn sie mit ihren alltäglichen Sorgen ihn aus seinen ernsten Gedanken herausriß. Daniel zog sich schnell aus und ging zu Bett. Frau Jürges wunderte sich über ihn; denn seit ihrer Heirat hatte er stets eine Pfeife geraucht und Zeitungen im Bett gelesen. Heute hatte er sowohl die Pfeife als auch die Zeitungen mitgebracht; sie lagen aber unberührt auf dem Tische, und sie konnte hören, daß er nicht schlief.

Er dachte natürlich an dasselbe wie sie, an diese sonderbare Schwiegertochter, die sie jetzt zwei Tage gehabt hatten; denn Frau Jürges erwartete nicht, daß Johannes sie wieder zurückbringen werde; es kam ihr nicht wahrscheinlich vor, so wie Gabriele war und – aufrichtig gesagt – Frau Jürges wünschte es nicht – es war keine Frau für Johannes.

Wie würde man aber im Kirchspiel das ungewöhnliche Ereignis auffassen, daß die Braut des Kandidaten am ersten Osterfeiertagsabend in Sturm und Schnee das Pfarrhaus verlassen hatte und zum Schulzen gegangen war! – Wenn es wenigstens der Vogt gewesen wäre!

Frau Jürges hatte Gabrieles Ring unter der Lampe hervorgesucht; sie blieb jetzt während des Auskleidens stehen und betrachtete ihn lange.

Und ohne daß sie es wußte, glitt die Musik durch ihre Seele, diese Musik, welche mit dem jungen Weibe verbunden war, das den Ring verschmäht hatte; und als sei ihr Wesen erst in den Tönen ihr verständlich geworden, erst jetzt – wie sie so dastand, dämmerte es undeutlich vor ihr auf, daß das, was sie heute erlebt hatte, wie ein Spiegelbild war, ein kurzer Schimmer von etwas, das tief drinnen in ihrem eignen Inneren lag – verkrüppelt und verkümmert.

Sie betrachtete diesen verschmähten Ring, und sie betrachtete ihren eignen, der dünn und abgenutzt ihr lose auf dem blassen Finger saß – ein einzelner Ring, aber einer langen, langen Kette angehörend. Gegen ihren Willen mußte sie daran denken, wie rund und geschmeidig sie gewesen waren – diese Finger, und wie wunderschön es gewesen war, wenn sie leicht und spielend durch die Töne wie durch Blumen glitten. Und sie vermochte sich nicht einer bösen Empfindung zu erwehren, als sie ihn fortlegte – diesen neuen, ungebrauchten Ring, der verschmäht worden war.

Und doch – und doch – wer hatte recht? – Welcher dieser beiden Ringe hatte recht?

Sie fuhr fort sich auszuziehen; aber die neue Musik kehrte immer wieder zurück und lief in ihrer furchtlosen Art neue Wege, und ihre Gedanken blickten in derselben Weise auf das Leben zurück, aber von einem andern Gesichtspunkt aus beurteilte sie jetzt, was ihr begegnet war, und ging darauf los, wo sie früher immer abgebogen war und sich geduckt hatte.

Nicht, daß sie den Lobreden über ihre Musik so viel Glauben geschenkt hatte; sie war eigentlich nie so weit gekommen, sich ihr Leben für sich auf eignen Anlagen beruhend zu denken. Da war sie viel zu jung gewesen, und niemand hatte sie gelehrt, sich eine solche Möglichkeit für eine anständige Frau zu denken. Es war daher keine Enttäuschung, und sie konnte niemand etwas vorwerfen, weil sie aus der Musik heraus war. Was sich aber diesen Abend mit einer bittern Klage in ihr erhob – das war, daß sie selbst verschwunden war – ihr eignes Innere – das, was ihre Seele ausmachte; es war dieser unverstandene Druck, der immer auf ihrem rastlosen Schattenleben geruht hatte; daß sie gar nicht für sich da war – ihrer selbst wegen; sie war nicht gebrochen worden, sondern mit einem Schwamme ausgestrichen – man hatte nicht auf sie getreten, sondern sie glimpflich – beinahe sanft niedergedrückt. Und während der Blick über ihren kleinen, verblühten Körper dahinglitt, wandte diese bittre Klage – sie konnte nicht anders – sich gegen ihn, der breit und kräftig im Bett ruhte. Und die von den Umzügen mitgenommene und abgenutzte Bettstelle selbst, welche ihr gefolgt war – diese wurde zu ihrem ganzen Leben.

Da hatte sie ihre Kinder geboren und im Laufe der Zeit ihre Schönheit, ihre Frauenwürde bis auf die letzten Reste gelassen – immer müder, mehr darin aufgehend, für andre alles, für sich nichts zu sein; niemals verstanden, und ausgenutzt, vernachlässigt und verbraucht.

Ihre Klage versank aber wieder in ihre eigne Hilflosigkeit, und es flammte nichts in ihr auf, weil sie erloschen war. Und sie fühlte es selbst, als sie das Licht ausgelöscht hatte und ihren Platz unter den Daunen genommen, wie eine ungeheure Traurigkeit, wie ein Meer mit schwarzen Wellen aufstieg und über ein verkrüppeltes Leben dahinrauschte; und sie weinte.

»Weshalb weinst du – Minna?« fragte ihr Gatte und erhob sich auf den Ellbogen.

»O – es ist so traurig – so traurig« – schluchzte sie.

»Was ist traurig?« fragte er ein wenig ungeduldig.

»Alles – alles miteinander ist traurig – so traurig –«

Einen Augenblick blieb er halb aufgerichtet liegen, und es kochte in ihm. Aber etwas benahm ihm den Mut; er legte sich still hin und that, als hörte er nicht, wie sie weinte und weinte, während der Wind mit langen Seufzern über das Haus strich und den schweren, nassen Schnee gegen die Scheiben fächelte. –

Indessen hatte Gabriele, mühsam vorwärts schreitend, die Felder an der Kirche erreicht. Der Wind kam ihr von der Seite und der Schnee begann bereits den schmalen Kirchenpfad auszuwischen, während er ihr ins Gesicht flog, so daß sie kaum vor sich sehen konnte. Die Aufregung war aber so groß, daß die frische Kälte und die körperliche Anstrengung ihr gut thaten, während sie schnell an der Kirche vorbei gegen den Wald eilte.

Als sie aber die Landstraße erreichte und den Wind im Rücken hatte, und als der Sturm statt ihre Wangen zu peitschen sich in den tiefen, säuselnden Ton hoch oben in den Wipfeln der Tannen wandelte, da wurde ihr Gang langsamer, und der Mut sank. Allerlei Bedenken, die der alles überwältigende Gedanke, von diesen Menschen fortzukommen, bisher zum Schweigen gebracht hatte, sie erwachten jetzt und fragten, ob sie den Weg finden konnte – ob es auch im Walde sicher sei, ob man wohl im Schulzenhofe noch auf sei, ob da nicht ein großer, böser Hund sei.

Unter den Bäumen war es beinahe still, und der Schnee, zwischen den Tannennadeln gebrochen und zerstoben, senkte sich wie ein ebenmäßiger feiner Schleier herab, durch welchen sie den Weg und die schwarzen Baumstämme schimmern sah. Das unheimliche Gefühl der Einsamkeit im Walde gewann plötzlich Macht über sie, und in wilder Angst begann sie zu laufen.

Der Schnee war aber lose, und der schwere Winteranzug hinderte sie, schnell vorwärts zu kommen. Sie wähnte hinter jedem Baume jemand hervorstürzen zu sehen, der ihr nachlief; über sich vernahm sie das unheimliche Geseufze des Windes, und drinnen im Walde krachte es gar seltsam in den Zweigen, die sich gegeneinander rieben – sie glaubte, vor Schrecken wahnsinnig werden zu müssen.

Da erblickte sie ein Licht zwischen den Bäumen – ein helles Fenster schimmerte durch den Schleier von Schnee, und mit einem Schlage war alles verändert. Es war das Licht, welches bei dem alten Sünder brannte, der ihren Vater gekannt – ihren guten, alten Vater – alle dort zu Hause, wo sie hingehörte – sie selbst, so sicher sonst und vernünftig! Gabriele fand sich selbst wieder und blieb stehen: sie lächelte ob ihrer Angst und löste den Mantel.

Jetzt blickte sie sich mutig um und lauschte dem mächtigen Gebrause des Waldes und empfand keine Furcht mehr. Sie entsann sich auch jetzt klarer des heftigen Kampfes, den sie bestanden hatte, und ihres Verlustes – eines Mannes, dem sie so fest vertraut hatte, und eines Freundes, dem sie so gern ihr ganzes Leben lang in Liebe und Treue gefolgt wäre.

Denn es war nicht Wahrheit, wenn sich Johannes in dieser Weise an die Religion klammerte. Sein Glaube war insofern fest und aufrichtig, als er mit Leichtigkeit jeden aufsteigenden Zweifel mit den ihm beigebrachten Lehrsätzen besiegen konnte. Im Grunde war er aber keineswegs religiös. Und wenn er einem Manne wie Daniel Jürges in eine Priesterschaft wie diese folgen konnte, so befand sich zwischen ihnen beiden eine gähnende Tiefe, und es half alles nichts, was für ihn in ihrer Liebe sprach.

Sie sah jetzt ein – wie bitter sie auch den Verlust im Augenblick empfand – welches Glück es für sie war, daß sie frühzeitig von dem Wesen der Liebe gelesen und gehört hatte ohne Mondschein und Unklarheit. Denn mitunter hatte sie eine Leere empfunden, ein schmerzliches Verlangen, als ob sie um etwas betrogen sei, wenn sie eine verliebte Freundin als Braut am Arme eines Studenten dahinhüpfen sah.

Der nüchterne Bescheid, der ihr über diese Dinge geworden war, raubte ganz gewiß der Liebe etwas von dem vielerwähnten zarten Duft. Mit welch froher Dankbarkeit erfüllte sie aber das Gefühl, in diesem Augenblick ganz und frei inmitten des säuselnden Waldes zu sein. Und selbst jene qualvolle Stunde, die starke Erregung und die Worte, welche sie gegeneinander geschleudert hatten – alles bekam nach und nach ein andres Aussehen. Endlich war sie allen Ernstes dabei gewesen und hatte etwas vollbracht. Dies war kein müßiger Wortstreit gewesen, worin Fräulein Pramm fassen durfte, was sie wollte, weil sich keiner daran kehrte. Ihre eigne Person war mitten im Streite gewesen. Sie hatte allerdings verloren, und jetzt räumte sie die Wahlstatt; aber sie lachte still und heiter im Sturme, hüllte sich fest in ihren guten Pelzmantel und setzte ihren Weg durch den Schnee fort.

Der Wald, welcher brummte, der Schnee, welcher herabrieselte, die schwarzen Stämme am Wege – alles wurde ihr so heimisch lieb: sie fühlte sich gleichsam verwandt und im Bunde mit der ganzen Natur, und obgleich das Fenster des Schulzen wieder verschwunden war, schritt sie mutig weiter, und es fiel ihr nicht ein, an der Richtung zu zweifeln. Gabriele wandte sich nicht um und sah daher nicht die Gestalt, welche ihr in einiger Entfernung folgte.

Johannes war bis zur Kirche gelaufen, als er sie aber in den Wald einbiegen sah und rufen wollte, hatte sie angefangen zu laufen. Johannes eilte ihr nach; als er sie aber stillstehen sah, hemmte auch er seine Schritte. Solange er sie nicht erreichen konnte, beeilte er sich und wollte rufen. Aber jetzt, wo nur eine kleine Strecke ihn von ihr trennte – blieb er stehen – ratlos, wagte nicht vorwärts zu gehen und vermochte es nicht über sich zu gewinnen, sie anzurufen.

In dieser Weise fuhr er fort hinter ihr herzugehen, fest entschlossen, sie an der Pforte des Schulzen anzuhalten; aber hier erschien es ihm zu spät, zu dicht am Hause; er blieb hinter dem letzten Baume am Rande des Waldes stehen, hörte sie die Pforte öffnen und schließen und sah sie zuletzt wie einen schwarzen Punkt in dem Schnee verschwinden, der außerhalb des Waldes dicht fiel und sich hinter ihr schloß.

Darauf wandte er sich und trat halb bewußtlos den Heimweg an, während eine ganz kurze Gedankenreihe in seinem Kopfe immer und immer wieder den Kreislauf machte; es waren die Vettern und ihre Sippe, und alles Gelächter und alles Frohlocken stets dasselbe wieder. Er wollte stehen bleiben und ernstlich darüber nachdenken, was geschehen war. In einzelnen Augenblicken hatte er ein Gefühl, als sei er nicht bei Sinnen. Es war ja unmöglich und undenkbar, sein ganzes Leben, seine Liebe und seine goldnen Träume – alles dahin! – In einer stürmischen Abendstunde von ihm weggeweht, und selbst irrte er da wie ein Narr im Walde umher, und die Vettern kamen wieder, er sah sie auf der andern Seite der Straße; er sah, wie sie lachten, und er ballte die Hände, als wolle er in all diese grinsenden Zahnreihen hineinschlagen.

Erst als er die Kirche erreichte, wo der Schnee frei fiel und sein heißes Gesicht kühlte, erst dort wurde es ihm unerbittlich klar, was geschehen war und daß an dem Geschehenen sich nichts ändern lasse. Aber warum und weshalb? – Es war ebenso klar, daß sein eigner Vater daran die Schuld trug, und der Gedanke, den seine allzu große Bewunderung stets zurückgehalten hatte, der kam jetzt bei ihm zum Durchbruch; die alte Methode konnte nicht mehr gebraucht werden. Jetzt hatte er es selbst in der denkbar bittersten Weise zu fühlen bekommen, daß die neue Zeit sich nicht niedertrotzen läßt. Wie sich ihm früher seine Verlobung im Zusammenhange mit den »Tagesfragen« gezeigt hatte, so erblickte Johannes die Ursache der tiefen Niederlage in dem Zusammenstoß der verschiedenen geistigen Richtungen, und er war ohne eigne Schuld gefallen als ein Märtyrer seiner kindlichen Pietät.

Und die unbegrenzte Bewunderung für den Vater, welche das Unglück in diesem Augenblick in Johannes wegnahm, wirkte durch ihr Verschwinden als eine Befreiung, und wie er nun an der Gitterpforte stehen blieb und zur Kirche hinblickte, erwachte wieder eine Hoffnung in ihm; alles, was der Sturm dieses Tages zerbrochen und zersplittert hatte, das konnte zusammengefügt und trotzalledem hoch gen Himmel gebaut werden.

Nicht sein persönliches Glück – dies hatte er heute als ein Opfer gebracht: aber wie er so dastand und das kleine festgemauerte Gotteshaus betrachtete, fand Johannes wieder den Weg zu seinen Träumereien von einer starken und siegreichen Kirche.

Strafreden und ohnmächtiger Trotz konnten aber jetzt nichts mehr ausrichten. Gottes neue Streiter mußten die Gedanken der Zeit aufnehmen – wie aufrührerisch sie auch waren – damit die Wahrheit aus den Irrungen selbst Kraft schöpfe, gleichwie die Saat aus der Verwesung sprießt. Da würde das Leben in die dahinsiechende Kirche wiederkehren und mit dem Leben die Macht, und wieder wurde Johannes hinauf zu jenen Höhen geführt, von welchen er diesen Abend in den losen Schnee heruntergeraten war, welcher schon den Weg durch die Felder zum Pfarrhause bedeckte.

Und der Schnee fiel dicht, schwer und ebenmäßig – wie er nach einem Sturme fällt – füllte Vertiefungen aus, glättete Spitzen und scharfe Ecken. Es wurde ganz still im Walde, eine weiche Stille wie in dichten Daunen, und die Schneedecke breitete sich immer dichter über die Abhänge der Berge.

Frühlingswetter lag aber in der Luft, und der Schnee war lose. Wasser begann darunter zu rieseln, tropfenweise herunterzurinnen, sich im Verborgenen sammelnd, um dann hervorzubrechen und alles mit sich zu reißen, steigend und anschwellend, über Berge und Hügel hinunter zu den Strömen in den Thälern.

Und die Sonne sollte oberhalb zehren und das Wasser sich unterhalb sammeln, bis der Schnee eines Tages hinwegfloß, um schäumend den Weg mit klaren, mutigen Stromwellen zu dem freien blauen Meere zu finden. Und in jedem Winkel sollten frische grüne Keime hervorsprießen an Stelle all jenes trockenen Heues, das von modrigen Pfarrhäusern über das Land hinausgeweht war.

Daher rollte das geduldige Meer ruhig seine Wellen zwischen Steinen und Scheeren, während der Schnee noch dicht und schwer über das ganze Land fiel.

Ende.


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