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An dem Mittagsmahle nahmen einige Kirchgänger teil, die einen weiten Weg zurückzulegen hatten, und das Gespräch bestand daher hauptsächlich darin, die Pausen durch passende Fragen auszufüllen. Gabriele fühlte das Ermüdende in diesen Fragen, welche den, der sie stellte, gar nicht interessierten, und das wußten die, welche antworteten, sehr gut; beide Teile spielten aber diese Komödie, von dem Gefühle geleitet, daß sie im Grunde in nichts einig seien. Ein paarmal versuchte es Gabriele, durch ein heiteres Wort und ein leises Lachen etwas Leben in die tote Unterhaltung zu bringen. Es mißlang aber vollständig. Johannes machte ihr bedeutsame Zeichen, und die Bauern thaten wohlerzogen, als bemerkten sie es nicht, daß die Braut des Kandidaten schwachköpfig sei – dafür war sie ja unermeßlich reich –; der Prediger wußte aber die Blößen, die sie sich gegeben hatte, zu decken und brachte das Gespräch in Sicherheit hinter der Armenkommission und andern ernsten und allgemeinen Dingen. Mittlerweile beobachtete er fortwährend seine künftige Schwiegertochter, aber in andrer Weise als gestern. Er war gleich nett und freundlich – beinahe liebevoll zu ihr; aber die Art, wie er schnell den Blick auf sie richtete, sobald sie sprach, zeugte doch von etwas Unsicherheit bei dem sonst so sicheren Manne.
Es verhielt sich auch so. Daniel Jürges hatte eine ähnliche Empfindung wie die nach seinem ersten mißlungenen Versuche in der Zeitung. Mit Beschämung fühlte er wie damals, daß etwas in der Welt aufgewachsen war, seit er davon geschieden, daß es eine Gedankenrichtung gab, welche nicht nur voller Irrtum nach andern Zielen strebte, sondern von Anfang zu Ende ganz andre Wege einschlug, ohne Respekt – ohne sich im geringsten an ihn und den ganzen Kreis von Gedanken und Grundsätzen zu kehren, die er schätzte und beherrschte.
Und es war doch eine ganze Kleinigkeit, welche ihn in der Weise aufgeschreckt hatte.
Es waren weniger die Worte an und für sich, die sie und Johannes über das Kind und das Badewasser gewechselt, als vielmehr die Kaltblütigkeit, womit sie zuletzt gleichsam hinterrücks seine sichere Stellung erschüttert hatte, indem sie das alte Sprichwort auf den Kopf stellte – die ganze launige Art, in der sie ihn angriff, ohne ihm einmal zu widersprechen; sie wandte sich ja an Johannes, als ob sie sich in aller Gemütlichkeit über einen alten faseligen Geistlichen aus der Zeitung der Hauptstadt lustig machte.
Dies hatte ihn seit gestern gepeinigt, und es hatte sich in seiner Predigt ausgedrückt, welche ursprünglich nicht so scharf hatte sein sollen, und es fuhr fort ihn zu quälen, als etwas, das entschieden werden mußte.
War es nichts, mußte er Gewißheit haben; sollten aber die Kräfte gemessen werden, so war er bereit und nicht gewillt, zu weichen.
Plötzlich dachte er an den Sohn; sollten die beiden ein abgekartetes Spiel treiben? Zwar fiel es ihm nicht ein, Johannes könne ihre Anschauungen teilen; es wäre aber doch möglich – was haben nicht Jugend und Liebe bewirkt! – Denkbar wäre es, daß sie glimpflich die Bewunderung des Sohnes für den Vater ein wenig zu lockern wußte, ihn dazu brachte, über den Alten zu lächeln – ihn verlockte, mehr zu versprechen, als sich für einen künftigen Prediger geziemte – die jungen Theologen besaßen nicht einen so unerschütterlichen Glauben wie zu seiner Zeit. Seit ihn dieser Gedanke erfaßte, fand er keine Ruhe mehr, und als man die Gäste los war, zog er Johannes mit sich ins Arbeitszimmer, er wollte sich sofort Gewißheit verschaffen.
»Nimm Platz – mein Junge! Wir haben ja seit deiner Heimkehr kein ernstes Wort gewechselt. Die Liebe läßt mich dich ganz verlieren, nicht wahr?«
»O, lieber Vater, wie kannst du das denken! – Wenn ich hier in dem lieben Arbeitszimmer sitze, wo ich seit der Kindheit gewohnt bin, dich sitzen zu sehen, als den Mittelpunkt all meiner Gedanken – als denjenigen, dessen Auge mir folgte und dessen Beifall mein Ziel war, wie viel ich dir noch abzubitten habe wegen dieses Winters, wo ich so stark von etwas andrem – von einer andern erfüllt war.«
»Darin müssen wir uns finden – wir Alten; die Jugend schließt sich an die Jugend, und mit der Liebe wechselt auch die Bewunderung ihren Gegenstand; – wir müssen froh sein, wenn uns die Achtung bleibt.«
»Ich weiß, weshalb du in der Weise mit mir redest, Vater, und ich habe es vielleicht verdient; ich hätte Gabriele gestern zurechtweisen sollen, gestern, als sie in so beklagenswerter Weise die Achtung vergaß, welche sie schuldig ist –«
»Nun, nun, – ich meine nicht so sehr eine einzelne Sache, es war mehr eine allgemeine Betrachtung –«
»Ich weiß wohl, daß niemand weniger peinlich in solchen Dingen sein kann als du – lieber Vater! Gerade deshalb sollten wir andern noch mehr acht geben. Aber verzeih –! Als du so ungeheuer liebenswürdig warst, dem Ganzen eine scherzhafte Wendung zu geben –«
»Es war ja nur ein unbedachtes Wort –«
»Ich hätte es anders nehmen sollen – sofort; aber ich war feige – leider; – erst heute habe ich Gabriele gesagt, wie unrecht sie gehandelt hat.«
»Du hast mit ihr davon gesprochen?« fragte der Vater schnell.
»Natürlich! – Ich habe ernstlich auf sie eingeredet,« erwiderte Johannes mit strenger Miene.
Der Pfarrer wandte sich gegen das Fenster, und während er den Rauch dick und langsam vor sich hinblies, fühlte er sich von einer peinlichen Sorge befreit.
Draußen im Hofe fuhr der Sturm ungestüm über den Schnee, welcher feucht und zusammengefallen dalag, so daß es ihm nur gelang, die Dachrinnen und Zäune von ihrer Last zu befreien. Der alte Schuppen schien sich unter dem Schnee zusammenzukauern und sich jedesmal zu ducken, wenn die Windstöße die gebrechlichen Wände erschütterten.
Daniel Jürges dachte nicht an seine Heuernte, die er in diesem Jahre samt und sonders in dem alten Hause verwahrte, damit der ganzen Gemeinde kund wurde, wie notwendig das Pfarrhaus dies Gebäude gebrauchte. Er dachte dagegen an die Güte des Herrn, welche ihm die ganze Ergebenheit des Sohnes erhalten hatte. Hinsichtlich dieses Punktes beruhigt, begann er mit mehr Zuversicht den zweiten zu berühren.
»Und wie nahm sie es?« fragte er und betrachtete seinen Sohn.
»Ja, Gabriele ist so ehrlich – im Grunde genommen, ein so vorzügliches Wesen! – Sie sagte – und ich bin davon überzeugt, daß es die Wahrheit war, sie wisse nichts davon, daß sie einen Verstoß begangen habe.«
»So–oh?« sagte der Vater und kniff die Augen etwas zusammen, »ein verzogenes Kind aus einem reichen Hause – mit der Zucht unbekannt, welche dem christlichen Heim eigen ist – deine Braut hat viel zu lernen, Johannes!«
»Ach ja, Vater – du mußt der Lehrmeister sein: ich setze in erster Linie meine Hoffnung auf dich. Sie ist eigentlich so offen und grundehrlich –«
»Offen – sagst du und ehrlich – grundehrlich! Zwar gibt es eine Offenherzigkeit, welche die Folge eines reinen, rechtschaffenen Charakters ist. Wenn wir näher nachsehen, finden wir aber, daß es viele Arten von Offenheit gibt.«
Der Prediger nahm lächelnd eine Rolle Zeitungen vom Tische und fuhr fort: »Von der brutalen Offenheit Bismarcks, welche in einer soliden Machtstellung ihren Rückhalt hat, an kleinen politischen Gemeindetyrannen vorbei bis zu jenen halbgebildeten Menschen, welche, nachdem sie einige der modernsten Wahrheiten in rohem Zustande verschlungen haben, mit aller wünschenswerten Offenheit auftreten und ihre ehrliche Verachtung für alles bekennen, das sie nicht verstehen –! Ja, ich meine ja nicht, daß etwas davon auf deine Braut paßt; es sollte mich aber wundern, wenn du nicht selbst bei näherem Nachdenken zu dem Schlusse gelangtest, daß etwas von jener Ehrlichkeit, welche du bei ihr bemerkst, möglicherweise – zum Teil seinen weniger reinen Quell in der Erziehung Fräulein Pramms haben kann, indem sie offenbar davon frei ist, irgend welche Rücksicht zu nehmen?«
»Wenn du es so darstellst, Vater, so kann ich nicht leugnen, daß ihr nächster Verkehr« –
»Ja, ihr Verkehr! – So wie du mir diesen in deinem Briefe schilderst, muß er gerade diese Sorte von Offenheit begünstigt haben –; sie ist aber gefährlich; denn sie grenzt an Krittelsucht und Selbstvergötterung.«
Johannes begann unruhig zu werden; er hatte nicht geglaubt, daß Gabriele einen so schlechten Eindruck gemacht; er wartete, bis ein heftiger Windstoß um die Ecke gesaust war, und sagte dann still und in einem Tone, als bäte er: »Ich habe Gott innig um Weisheit und Sanftmut gebeten, dies junge Weib zu leiten, und ich habe gemeint, daß, wenn sie die echt christliche Nachsicht erblickte und kennen lernte, welche nie müde wird –«
»Natürlich! Wir werden sie mit aller Liebe behandeln und empfangen, und das haben wir auch gethan – nicht wahr? – sowohl deine Mutter wie ich?«
»Ja, lieber Vater, du mußt mich nicht falsch verstehen, als berge sich ein Schatten von Klage in meinen Worten. Aber es thut mir so leid, wenn ich jetzt aus deinen Reden, im Klange deiner Stimme ein Mißfallen heraushöre, eine Mißstimmung gegen diejenige, welche nach meinem innigsten Wunsche dir eine liebe Tochter sein sollte.«
»Das wird sie mit Gottes Hilfe auch werden,« erwiderte der Pfarrer und erhob sich, um seine Pfeife zu stopfen. Er schritt um den Tisch herum zu Johannes, wo der Tabak stand, und sagte ernsthaft und still: »Hier sitzen wir nun, mein lieber Johannes, nicht nur als Vater und Sohn, sondern auch als zwei Mitarbeiter im Weinberge des Herrn; laß uns denn in Demut und Gebet bedenken, wie gerade das Stück Arbeit, vor welchem wir jetzt stehen, in rechter Weise ausgeführt werden muß – uns allen zum Frommen und zu Ehren Gottes.«
»Amen,« sagte Johannes und blieb still und gedankenvoll sitzen, während der Vater die Pfeife füllte.
Der Sturm nahm aber am Nachmittage immer an Stärke zu, und dunkle, blaugraue Wolken ballten sich im Osten und Süden zusammen: ein arges Unwetter braute sich zurecht.
Im Arbeitszimmer wurde es aber traulich, während das dunkle Wetter und die hereinbrechende Dämmerung Bücher und Möbel undeutlich machten, und die Augen veranlaßten, dem roten, flackernden Feuerschein zu folgen, welcher vom Ofen auf den Teppich fiel. So saßen sie eine Weile, indem der Pfarrer die ersten Wolken aus der Pfeife blies; Johannes hatte seine Cigarre auf die Spitze des Federmessers gesteckt und that kurze, kleine Züge.
»Nachsicht, sagst du! Gewiß wollen wir nachsichtig sein,« nahm wieder der Pfarrer das Wort, »das wollen wir so gern unsertwegen, indem wir dadurch einen christlichen Drang erfüllen, zu verzeihen und alles im besten Sinne aufzufassen. Wir sind aber auch schuldig, auf die Person Rücksicht zu nehmen, die wir vor uns haben, und unsers Gewissens wegen dürfen wir nicht – wie sehr auch unser Herz dazu neigen könnte – eine Nachsicht zeigen; von der die innere Stimme uns sagt, sie würde zum Schaden, nicht zum Nutzen sein. Es gibt – nicht wahr, Johannes – uns begegnen oft Fälle, wo die Nachsicht einen Schlupfwinkel für unser Pflichtgefühl bildet, und wir müssen genau auf uns achten.«
»Es ist wahr genug,« erwiderte Johannes, welcher wieder unruhig geworden war, »aber wenn ich recht die Natur und Entwicklung Gabrieles bedenke, so wie ich sie nun einmal kenne, und ich darf sagen, mit meiner Auffassung von ihr –«
»Nun darf ich auch sagen, daß ich sie kenne,« sagte der Pastor beinahe streng, »und meine Ansicht ist die, daß, soll dem Strome eine andre Richtung gegeben werden, so muß ein starker und fester Damm, je eher, je besser gesetzt werden. Ist es noch nicht zwischen euch abgemacht, daß du Prediger werden willst?«
»Aber – Vater! – Du willst doch nicht jetzt – so plötzlich –? In deinem Briefe warst du andrer Meinung.«
»Ich denke jetzt anders darüber. Es ist also nicht entschieden? – Nun, da muß alles lieber heute als morgen entschieden werden.«
Johannes sprang auf: »Ich bitte dich, Vater, geh nicht zu rasch vor; Gabriele ist unberechenbar und nicht leicht zu lenken, und bedenke, wie wenig sie gewohnt ist, sich zu beugen. Ihre Anschauungen sind zu stark ausgeprägt, um sich plötzlich in der Weise zu ändern, und es wird – meiner Ansicht nach – ungleich mehr dadurch gewonnen werden, das zu übersehen oder wenigstens unbeachtet zu lassen, was sie in der Weise – teils sehr jugendlich – vorbringt.«
»Das beruht ganz darauf, inwiefern man sich selbst von diesen Anschauungen angesprochen fühlt,« erwiderte der Pfarrer kurz und blickte in den Hof hinaus.
»Aber Vater – du kannst doch nicht glauben – du kannst keinen Augenblick an mir zweifeln?« »Neue Zeiten, neue Menschen, und du bist jung – das Junge und das Neue, sie passen zusammen.«
»O, warum willst du mich in der Weise verletzen?« rief Johannes betrübt, »glaubst du, ich wäre im stande, abtrünnig zu werden?«
»Abtrünnig ist nicht das Wort – nicht das Wort der Zeit; aber das Wort des Zeitgeistes ist, sich entgegenzukommen, auf beiden Seiten die Forderungen herabzustimmen. Es gibt aber ein andres Wort, mein Sohn, und wir Alten sind oft geneigt, euch daran zu erinnern, ihr jungen Theologen! – Entsinnt euch, daß geschrieben steht: Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich! Es kann schön aussehen, human sein, – zeitgemäß – meinetwegen was du willst – dies mit Sympathie und Verständnis, aber christlich gesprochen – wie es einem Nachfolger Christi geziemt – nein und wieder nein und in alle Ewigkeit nein!«
Er hatte wieder die Zeitungsrolle ergriffen und schlug damit auf den Tisch, während der Zorn in ihm aufloderte, und Johannes mit zitternden Knieen vor ihm stand.
»O, sprich nicht so – zweifle nicht an mir! Findet sich Wankelmut in meinem Sinne, dann stütze mich, leite mich – du, der du stark bist, geh du voran, ich folge, ich folge dir; so wie du willst, so soll es sein.«
Der Vater strich sich über die Stirn und sagte wieder mit seiner tiefen, ruhigen Stimme: »Ich zweifle nicht an dir, mein Johannes! Aber ich kenne die Zeit und ihre Gebrechen. Mit Gottes Hilfe ist kein Schaden geschehen; aber jetzt bist du aufmerksam gemacht. Bedenke: die List des Bösen ist mancher Art; er begann damit, seine bösen Ratschläge auf die verlockenden Lippen des jungen Weibes zu legen; er hat noch heutigestages seine Künste nicht vergessen.«
Johannes nahm wieder seinen alten Platz ein – noch immer beinahe zitternd. Wie stark und eifrig in seinem Streben er auch war, so gab es doch etwas, das ihn beugen und in die Kniee drücken konnte: der Gedanke daran, aus dem Kreise hinausgestoßen zu werden, nicht mehr zu der Schar der Auserwählten zu gehören, welche kraft jener Wahrheit, die sie besaßen, auf Erden recht hatten und nachher ein Anrecht auf den Himmel nach Gottes gnädigem Willen; – daß er – sogar bei seinem eignen Vater einen Augenblick in Verdacht kommen konnte, zu der Schar der Freidenker zu gehören, dies erfüllte ihn mit einem solchen Schrecken, daß ihm Gabriele beinahe als eine gefährliche Versuchung erschien. Sein großer Sieg wurde ihm zum erstenmal getrübt, und er sann ängstlich darüber nach, was daraus werden solle. Wenn er selbst – geteilt zwischen seiner Liebe und seiner Zukunft und dem Vater – und seiner Zukunft, denn die Zukunft war eigentlich hier wie dort – wenn er, zwischen beides gestellt, gezwungen werden sollte, das eine fahren zu lassen – und welches dann?
In der Brust des Vaters wogten noch die Gedanken stürmisch nach den heftigen Worten; und das junge Mädchen wuchs während seines Sinnens, als sei es gekommen, von der bösen Zeit selbst ausgesandt, um mit ihm die Kräfte zu messen, und er fühlte, erfreut und dankbar, wie sich die Worte ihm schon fügten – die Worte der Wahrheit – Gottes ewige, unveränderliche Wahrheit.
»Spielt sie Klavier?« fragte der Pfarrer ein Weilchen nachher, als vom Wohnzimmer Musik zu ihnen herüberklang.
»Gabriele spielt ganz vorzüglich,« erwiderte Johannes froh.
Der Vater sagte aber nur: »Dann wird sie sich bald ins Herz deiner Mutter hineinspielen.« Es lag jetzt etwas beinahe Feindliches im Tone, und der Pfarrer merkte es selbst: daher sagte er in seiner herzlichen, warmen Weise: »Glaube nur durchaus nicht, mein lieber Johannes, daß ich etwas gegen deine Gabriele habe; es ist ja nur ein Uebergang, bis wir miteinander ins reine gekommen sind; es muß sein, und du wirst mir selbst danken, wenn es überstanden ist.«
Johannes antwortete nicht, fuhr aber mit seinem Grübeln fort, während die Gedanken bald unruhig umherwanderten, bald sich ratlos zusammenkletteten, während der Wind durch das Haus tobte und die dünnen Töne des alten Klaviers mit sich führte.
Nach dem Mittagessen, als die Gäste fortgingen und die Herren im Arbeitszimmer verschwanden, hatte Gabriele sich in den beiden Zimmern umgesehen, welche für täglich gebraucht wurden. Sie versuchte, halb unbewußt, einen Stuhl hier und da zu rücken, um es mehr nach ihrem Geschmacke zu bekommen, bald sah sie aber ein, daß es bleiben müsse, wie es war. Die schweren, gediegenen Möbel mußten gerade so stehen – trocken und an den Wänden entlang, damit alles in Ordnung und viereckig sein könnte. Trotzdem war es gemütlich und kosig, die Teppiche lagen noch da, und Gabriele begriff gut, wie derjenige, welcher zu diesem unerschütterlichen Wohlgefallen geboren, daran gewöhnt war, sich von einer Welt, die wenig Rücksicht nimmt, nach einem so treulich verschlossenen Winkel wie dieser zurücksehnen könne.
Da hing ein großes Bild vom Stiftspropst Jürges mit großen Orden an dem Priesterrocke, mehrere Photographieen von Daniel Jürges in verschiedenen Altersstufen, alte Daguerreotypieen und Martin Luther – Gabriele gähnte. Frau Jürges trippelte aus und ein, so lange, bis der Tisch abgedeckt war; als aber nichts mehr zu thun war und ihr Gewissen sie peinigte, weil ihr die neue Schwiegertochter so wenig gefiel, zwang sie sich, in der Sofaecke Platz zu nehmen, wahrend Gabriele im Schaukelstuhle saß und sich ein wenig darüber ärgerte, daß Johannes verschwunden war. Frau Jürges fand, sie müsse eine Unterhaltung führen; es gab nichts, wozu sie weniger taugte; doppelt ratlos fühlte sie sich ohne Strickzeug, es war ja Feiertag. »Wie alt bist – sind –«
»O bitte, sagen Sie du zu mir,« bat Gabriele, »ich wünsche so sehr, daß Sie mich lieb gewinnen möchten; – meine Mutter hat mir so viel von Ihnen aus Ihrer Jugendzeit erzählt. Ich bin übrigens vierundzwanzig Jahre.«
»Er ist siebenundzwanzig – ich meine Johannes – er ist siebenundzwanzig Jahre.«
»Das paßt ja gut,« sagte Gabriele und lachte.
»Ja,« erwiderte Frau Jürges; es entstand eine lange Pause.
»Finden – findest du es hübsch in der Kirche?«
»Nein! Ich finde es entsetzlich dort – eine der häßlichsten Kirchen, die ich je gesehen habe,« erwiderte Gabriele, »oder finden Sie es schön mit den weißgetünchten Wänden und den abstechenden blauen Balken?«
»Nein – ja, ich weiß nicht; die Kirche ist neulich renoviert worden, und Daniel sagt, sie sei viel heller als vorher.«
Gabriele schwieg und dachte, so ginge es nicht weiter. Und doch lag ein Etwas in dem Gesicht der guten Dame, das sie in sonderbarer Weise anzog – ein Ausdruck, der sich bisweilen auch bei Johannes fand, und den sie so sehr liebte.
Sie wußte gut, daß Frau Jürges musikalisch sei, und seit ihrer Kindheit hatte sie die Gerüchte gehört, welche von ihrem Spiel erzählten, von Ole Bull, der darauf geschworen hatte, sie müsse zu Liszt, und von dem eigentümlichen Reiz, der über ihre Gestalt gebreitet war.
Ihre Mutter hatte ihr aber auch mitgeteilt, wie verändert und ernst Frau Jürges geworden war, und Gabriele hatte feierlich versprechen müssen, weder zu spielen, noch von Musik zu reden.
Aber daran kehrte sie sich nicht im geringsten, wie sie so dasaß und fühlte, daß alles, was sie sagte und that, sie immer mehr von dieser Frau entfernte, welche die Mutter ihres Johannes war, und deren Seele sie ahnte, wenn die großen Augen zu ihr wie von einer großen Tiefe aufblickten. Sie mußte die Musik probieren.
»Spielen Sie nie mehr, Frau Pfarrerin?«
»O ja – hin und wider!«
»Sie spielen,« rief Gabriele erfreut – »und ich hatte gehört – das heißt, ich glaubte, Sie spielen nicht mehr. Aber wo sind Ihre Noten? Ich habe keine gesehen.«
»Ich spiele nicht mehr nach Noten,« erwiderte Frau Jürges und errötete wie ein kleines Mädchen.
»Ich bitte um Verzeihung,« sagte Gabriele aufrichtig: »ich weiß ja, Sie brauchen keine Noten, wie wir Pfuscher. Ich meinte nur, um der Zeit zu folgen, müßte sich hier eine Menge Noten aufhäufen –«
»Nein, Sie verstehen mich falsch: ich spiele nur den Kindern und Daniel – meinem Manne vor.«
»Und Ihr altes Repertoire? – Sie sind bei den Sachen stehen geblieben, die Sie spielten in Ihrer –«
Frau Jürges machte eine kleine verlegene Bewegung mit den Händen und unterbrach Gabrieles Frage: »Ich spiele meist solche Lieder und Weisen, die Daniel gefallen – «
»Lieder und Weisen! Mein Gott!« rief Gabriele, »und Sie – Sie, von der alle sagen, Sie seien durch und durch Musik – Sie spielen weder, noch hören Sie etwas? – Nie ordentliche Musik? – Aber wie können Sie das nur aushalten?«
»Es ging nicht wegen der Gemeinde – wenigstens glaube ich nicht, daß es im Norden ging, dort, wo wir so lange waren, daß andre Sachen im Pfarrhause gespielt wurden, und außerdem wohnten wir so, daß die Wohnstube dicht neben dem Arbeitszimmer lag, so daß ich nicht üben konnte, und dann, als wir hierher kamen – ja, so weiß ich nicht recht – so –« sie stockte hilflos und betrachtete Gabriele, als wolle sie sich entschuldigen und einen strengen Richter besänftigen.
Und so schien es auch die junge Dame aufzufassen; denn sie sagte ernst und fast strenge: »Glauben Sie, daß es richtig ist, sich selbst in dieser Weise zu vernachlässigen? Verzeihen Sie mir, ich weiß, es schickt sich nicht zu reden, wie ich es thue, aber es regt mich auf, es empört mich, ich kann mir nicht helfen. Sind Sie böse, weil ich es sage?«
»O nein, Liebe – ich bin nicht böse; – du hast vielleicht recht – ich weiß nicht –« sie schwieg und zupfte mit ihren müßigen Fingern an den Fransen der Tischdecke. Und Frau Jürges fühlte, daß es nur eine zu richtige Ahnung gewesen war, welche sie von Anfang an von diesem jungen Mädchen zurückgehalten hatte. Es war gerade dieser schwere Druck, dieser unverstandene Groll, die stets auf ihr ruhten, die sich in Gabrieles Worten Luft machten und sie weiter und weiter hinwegschreckten.
Indes dachte Gabriele ihrerseits, daß die Situation immer verkehrter wurde. Und gleichzeitig empfand sie ein heißes Verlangen, aufzuspringen und sich ihrer armen neuen Mutter an den Hals zu werfen. Sie fürchtete aber, dies würde die kleine blasse Gestalt bis auf den Tod erschrecken, wie sie im Sofa eingeklemmt dasaß, als möchte sie sich am liebsten in ein Loch verkriechen.
»Soll ich Ihnen vorspielen?« sagte Gabriele und streifte ihre Armringe ab.
Frau Jürges zuckte in die Höhe und folgte ihr nach dem andern Zimmer, wo das Klavier stand.
»Ist es verschlossen? Ich kann es nicht öffnen,« sagte Gabriele.
»Es wurde gewiß verschlossen, als der Stimmer das letzte Mal hier war.«
»Wo ist der Schlüssel?« »Ich glaube – ich weiß nicht recht –.«
Gabriele begann in einigen leeren Blumenvasen und andern Gegenständen zu suchen, die auf der Etagere standen.
»O, Liebste, wissen Sie nicht, wo der Schlüssel ist? Jetzt bekomme ich solche Lust zu spielen – es sieht so drollig aus, das alte Klavier.«
»Ich glaube – es kann sein; ich werde sehen, ob er im Nähtische liegt!«
Der Schlüssel lag wohlverwahrt in einem Raume ihres Nähtisches, und Gabriele verstand gut, daß er hier versteckt war; sie ergriff ihn aber triumphierend: denn sie hatte sich's in den Kopf gesetzt, daß sie spielen wollte. Es war ein letzter Versuch. Konnte etwas Freies, Menschliches durch all diese Angst seinen Weg finden, so mußte es die Musik sein.
Frau Jürges trippelte unruhig hinterher und rang die blassen Hände, während sie diese fremden Finger beobachtete, welche den wohlbekannten Weg dahinglitten, wo die Töne unter dem gelb gewordenen Elfenbein sich verbargen.
Da Gabriele keine Antwort auf ihre Bemerkungen erhielt, aber fühlte, daß Frau Jürges hinter ihr stand, begann sie zu spielen, was ihr einfiel.
Sie spielte gut und ordentlich, hatte es aber nie weit in der feinen Ausführung gebracht. Doch war sie so musikalisch, daß es sich wohl verlohnte, sie spielen zu hören.
Und heute gab sie sich Mühe, ohne dabei befangen zu sein; sie wußte ja, daß die, der sie vorspielte, sehr bald ihre Begrenzung sehen würde, und da sie in der Weise keine Ansprüche ihrerseits erhob, wollte sie lieber spielen, was, sie konnte, von Altem und Neuem, um doch zuletzt durch Töne, die sie selbst liebte und verstand, durchzudringen und von dieser Frau verstanden zu werden, die sie so gern lieben wollte. Und daher spielte sie bald ein Stück noch einmal, bald weiter eine Reihe Sachen, deren sie sonst oft überdrüssig sein konnte, die aber hier in dem alten Saitenklang neuen Laut und neuen Sinn erhielten, weil diese Töne so weit hinweg gesandt werden sollten und eine wiederfinden, die zurückgeblieben war. Und dies ergriff Gabriele immer mehr, während sie spielte, und machte die Stimmung so warm und den Anschlag so fein, daß sie selbst zu lauschen begann, den Sturm vergessend, der draußen tobte, und nur ihrer gedenkend, in deren Herz sie sich hineinspielen wollte.
In ihr fand aber ein Kampf statt – ein Unwille, der sich verzweifelt weigerte, das zurückgestaute Verlangen loszulassen; es konnte aber nicht nutzen – sie fühlte es selbst, und wahrend sich die Töne behende unter den sicheren Fingern miteinander verschlangen, sank Frau Jürges auf einen Stuhl, gönnte ihren Händen Ruhe und ließ die Musik vom Nacken durch den ganzen Körper rieseln – wie eine Angst – wie eine Wollust – wie ein widerstandsloses Sinken – durch die Luft – als ob sie mit jeder Faser ihres Wesens diesen Quell von Tönen tränke, welcher ihr das Wasser des Lebens war; – so lange – so lange hatte sie geschmachtet!
Und nach dem ersten zitternden Durchbruch, kam allmählich die Ruhe des Genusses und zu allererst eine unbegrenzte Bewunderung dieses Spiels, das ihr ganz meisterhaft erschien. Es fiel ihr nicht ein, daß sie selbst jemals so hatte spielen können, und Gabriele, schon vorher so überlegen, erschien ihr beinahe wie ein überirdisches Wesen. Aber mehr als das Spiel und der Klang begann es sie tief drinnen zu packen, das, was in dieser Musik zu ihr sprach, so neu und fremd – so zudringlich sicher, wenn es sich in ihre geheimsten Gedanken hineinbohrte.
Denn sie entdeckte bald, daß, was sie anfangs verletzte, die scheinbar oberflächliche Auffassung – das war keine Unsicherheit, es kamen keine Fehler, und das Motiv lief rein und klar hindurch wie der glänzende Stahl über das, Eis. Diese Musik bewegte sich gleichsam auf klaren Bogen, die sich über alles spannten, das sie kannte, ohne in die alten Ströme zu fließen und ohne herabzufallen. Und als, sie ihr Ohr mit dieser seltsamen Kühnheit vertraut gemacht hatte, welche so trotzig erschien wie ein Gespötte und ein boshaftes Spiel, begannen sich Bilder vor ihren geschlossenen Augen zu formen wie in der Jugend – und wie sie noch unklar an ihr vorübergleiten konnten in wachen Nächten – immer und immer wieder ein altes Motiv leise singend.
Etwas Bekanntes strömte ihr entgegen von ihrem eignen Klavier, es klang so frisch und freimütig durch den Frühlingssturm, der draußen im Garten rauschte und lange Zweige der Schlingrose geheimnisvoll ans Fenster pochen ließ.
Es waren ihre glücklichen Mädchenträume, welche kamen, von jener Zeit, wo das Leben zu glücklichen Träumen für junge Mädchen umgedichtet wurde, deren Musik voller Nachtigallen und Waldhörner war, die in langen Tönen Nebelschleier vor Oberon hinweghoben, wenn er durch den Hain dahinglitt, wie eine sehnsuchtsvolle Weise verschwand und sich in sanfte Harmonieen auflöste, wieder hervortauchte und wie ein Seufzer der Liebe sich in den Wipfeln des Waldes säuselnd verlor.
Unter den großen Lindenbäumen, welche blühten und, dufteten, wie die Linden in jenem Frühjahr dufteten, da sie Webers großes Konzert einübte – dort erblickte sie jenes Haus, von welchem sie so oft geträumt hatte, daß sie wußte, wo das Klavier stand. Und draußen unter dem Fliederbaume im Mondenschein saßen die beiden auf einer Bank, und der Postwagen näherte sich und fuhr weiter, während sie zurückblieb und mit einem langen Schleier wehte, der lichtgrau mit einem lavendelblauen Schatten in den Falten wogte. Wenn der gelbe Postwagen in den Wald verschwand, wo der Weg eine Biegung machte – sie wußte, daß er nach Weimar führte – nahm der Postillon das Waldhorn und blies die herrlichsten Töne, die sie immer mit glücklicher Wehmut erfüllten; – er nahm das Horn und blies. – Es folgte aber kein Laut, und Gabriele wandte sich um: »Verzeihen Sie! Es war nicht die Meinung, mich an Ihre berühmte Lieblingsnummer zu wagen. Ich glaube, es war der reizvolle Klang des Klaviers, der mich in das Webersche Konzert hineinlockte.«
Frau Jürges lächelte schwach, öffnete aber nicht die Augen, und Gabriele begriff, daß sie endlich den Weg gefunden hatte, wandte sich still gegen das Klavier und spielte weiter.
Und die träumende alte Dame verblieb in ihrem Mondschein; das Waldhorn blies aber nicht die Töne, die sie erwartete. Es entstand wieder eine Unruhe, eine fliegende Eile in den Bildern, als würde der Wald leer, ohne Elfen und flatternde Gewänder. Und bald war auch kein Wald da, sie sah nichts, aber sie hörte jemand flüstern, die Träume seien gestorben; aber sie dürfe es niemand sagen. Frau Jürges fühlte ihr Herz im Schwall dieser dreisten Töne zerreißen, welche sich hervordrängten, um ihr zu erzählen, daß der Wald leer und der Traum gestorben sei. Das Innerste ihres Wesens war mit dieser Musik zusammengewachsen, welche jetzt ohne Uebergang und ohne Vorbereitung zerschnitten wurde von einer neuen, die in all ihrer wunderbaren Schönheit mit blinkenden Schwertern wie die Verzweiflung selbst kam.
Plötzlich fühlte Gabriele ein Paar kalte Hände auf den ihrigen; sie erhob sich erschrocken und sah die kleine Frau Jürges hastig den Deckel zuwerfen, zuschließen und den Schlüssel in die Tasche stecken.
»Ich weiß, was du gespielt hast,« sagte sie atemlos und blickte Gabriele starr an; »versprich mir, daß du es nicht wieder thun willst – versprich mir's.« Gabriele wußte nicht, was sie thun sollte, und stammelte ganz verwirrt: »Lieben Sie die neuere Musik nicht?«
»Nein – nein – ich vertrage sie nicht – ich kann sie nicht vertragen,« erwiderte Frau Jürges und fuhr plötzlich in die Küche hinaus.
Gabriele stand einen Augenblick da – betroffen und verwirrt. Dann eilte sie auf ihr Zimmer die Treppe hinauf, über den Flur, wo der Sturm lärmte, und als sie die Thür verschlossen hatte, sank sie in den weichen Sessel des Bischofs und brach in Thränen aus.