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Da es nicht nur an und für sich unterhaltend ist, verliebt zu sein, sondern auch mit Schicklichkeit und Brauch übereinstimmt, und da man sich in unseren unschuldigen und moralischen Verhältnissen dieser Liebhaberei um so ruhiger hingeben kann, als man weder durch wachsame Väter noch durch streitlustige Brüder darin gestört wird, – und da man endlich ebenso leicht wieder heraus wie hinein kommen kann in das für uns specifische Verhältnis, das man Verlobung nennt – (ein Mittelding zwischen Ehe und »Freitisch in einer anständigen Familie«) – so, – ja, so war es gar nicht so wunderlich, daß Vetter Hans sich herzlich unglücklich fühlte. Denn er war nicht im geringsten verliebt.
Lange war er umher gegangen und hatte darauf gewartet, daß es wie ein Raptus über ihn kommen solle; denn nach dem Urtheil aller Erfahrenen ist das ja die richtigste Form für die richtige Liebe. Aber da nichts daraus wurde und er nun doch schon ein ganzes Jahr Student war, so sagte er zu sich selbst: die Liebe ist ja eine Lotterie; will man gewinnen, so muß man auch spielen. Man biete dem Glücke die Hand! wie es in den Annoncen heißt.
Er sah sich also fleißig um und gab genau Acht auf sein Herz. – –
Wie ein Fischer, der die Angelschnur um den Zeigefinger gewickelt hat und auf den leisesten Ruck wartet, – so hielt Hans seinen Athem an jedes Mal wenn er eine junge Dame sah: ob er nicht bald jenen eigentümlichen Ruck verspüren würde, der – wie bekannt – zu der richtigen Liebe gehört; jenen Ruck, der plötzlich alles Blut zum Herzen strömen läßt, um ebenso so schnell wieder in den Kopf zu fahren und das Gesicht bis in die Haarwurzeln roth zu färben.
Aber es wollte durchaus nicht anbeißen; sein Haar blieb roth bis an die Haarwurzeln, denn Vetter Hans' Haar konnte durchaus nicht braun genannt werden; aber das Gesicht blieb ebenso bleich und ebenso lang.
Der arme Fischer war schon müde, als er eines Tages zur Festung hinüber schlenderte. Er setzte sich auf eine Bank und beobachtete mit verächtlicher Miene einige Soldaten, die in einer abhärtenden Uebung begriffen waren: mitten in der Sonne auf einem Bein zu stehen und den Oberkörper zu drehen, um auf beiden Seiten gebraten zu werden.
»Unsinn!« sagte Vetter Hans und spie aus, »das ist doch ein allzu theurer Spaß für unser kleines Land, sich solche Akrobaten zu halten. Habe ich nicht kürzlich erst gelesen, daß diese sogenannte Armee 1500 Blechdosen mit Schuhwichse braucht, 600 Striegel, 3000 Ellen Goldborten und 8640 Löwenknöpfe! – Es wäre besser, wir sparten an Goldborten und Löwenknöpfen und brauchten unser Geld für die Aufklärung des Volkes,« – sagte Vetter Hans.
Denn auch er war von den modernen Ideen angesteckt worden, die leider auch schon bei uns Eingang finden und unausweichlich damit enden werden, die ganze bestehende Ordnung der Verhältnisse zu stürzen.
»Lebe wohl also, auf Wiedersehen!« sagte eine Damenstimme hinter ihm.
»Lebe wohl so lange! Mein Kind!« antwortete eine tiefe Männerstimme.
Vetter Hans wandte sich langsam um, denn es war ein heißer Tag. Er gewahrte einen alten Militär in schwarzem, zugeknöpftem Rock, der den Schwertorden auf der linken Seite trug; ein Halstuch, das unglaublich viele Male um den Hals gewickelt war, blank gebürsteten Hut und helle Beinkleider. Der Herr nickte einer jungen Dame zu, welche sich gegen die Stadt hin entfernte, und setzte dann seinen Weg über den Wall fort.
Vetter Hans war gewiß müde, aber dennoch folgten seine Blicke dem davoneilenden, jungen Mädchen. Sie war klein und zierlich, und er bemerkte mit Interesse, daß diese Dame eine der wenigen war, welche mit dem linken Fuße, wenn sie ihn von dem Boden heben, keine kleine Wendung nach innen machen.
Dies war ein großer Vorzug in den Augen des jungen Mannes, denn Vetter Hans war eine dieser feinfühligen, achtsamen Naturen, welche einzig und allein den ganzen Werth einer Frau zu schätzen wissen.
Nach einigen Schritten wandte die Dame sich um; vermuthlich wollte sie dem alten Officier noch einmal zunicken; aber ganz zufällig traf ihr Blick Vetter Hans.
Und nun geschah endlich das, worauf er so lange umsonst gewartet hatte: es biß an! Sein Blut begann zu toben, ganz wie es sein sollte; ihm verging der Athem, sein Kopf brannte, es lief ihm kalt über den Rücken, seine Hände wurden feucht – kurzum: alle die Symptome traten ein, die nach der Aussage der Dichter und erfahrenen Prosaisten die wahre, die echte, die rechte Liebe bezeichnen.
Hier war also keine Zeit zu verlieren. Schnell raffte er seine Handschuhe, den Stock und die Studentenkappe, welche er neben sich auf die Bank gelegt hatte, zusammen, und setzte der Dame nach, quer durch die Festung der Stadt zu.
In den großen, verderbten Verhältnissen im Auslande geht so etwas nicht an! Die Verhältnisse sind dort so unrein, daß ein wohlerzogener, junger Mann sich hütet, eine anständige Dame zu verfolgen! Und die wenigen gebildeten Frauen, die man da draußen findet, würden sich es nicht gefallen lassen, einen Herrn hinter sich her laufen zu haben.
Aber in unserer reinen, moralischen Luft sind wir so glücklich der Jugend mehr Freiheit einräumen zu können, grade auf Grund unserer strengen Sittlichkeit.
Deshalb bedachte Vetter Hans sich keinen Augenblick, der Stimme seines Herzens zu folgen; und die junge Dame, welche bald merkte, welches Unglück sie mit dem Blicke angerichtet hatte, der eigentlich dem Alten zugedacht war, empfand im Grunde genommen eine nicht unbehagliche Spannung bei dieser Situation.
Die Vorübergehenden auf der Straße, welche natürlich sofort den Zusammenhang erkannten, (dieser Fall ist nämlich einer der wenigen, wo die Handelnden sich ohne Publikum glauben) schienen im allgemeinen die Sache höchst amüsant zu finden. Sie drehten sich um und lächelten so versteckt; denn sie wußten ja alle, daß die Sache entweder zu nichts führte und dann war es ja das unschuldigste Plaisir für die Jugend; oder sie führte zu einer Verlobung; – und eine Verlobung ist doch das Reizendste auf der Welt!
Während sie so vorwärts gingen mit dem gehörigen Abstand zwischen sich, bald auf demselben Trottoir, bald von einander durch den Fahrweg geschieden, hatte Vetter Hans Zeit genug, sich die Sache zu überlegen.
In Bezug auf das Verliebtsein war er mit sich im Reinen. Die Symptome waren da; er wußte, daß er gefangen sei, gefangen in der wahren, der echten, der rechten Liebe – und er war glücklich darüber. Ja, so glücklich war Vetter Hans, daß er, dem in die Nähe zu kommen sonst nicht recht rathsam war, mit stillem, verbindlichem Lächeln alle die Stöße und Püffe und leisen Flüche und Beleidigungen hinnahm, die notwendigerweise den treffen müssen, der auf einen Punkt vor sich hinstarrend in größter Eile durch eine belebte Straße läuft.
Nein – mit der Liebe war es klar, daran konnte niemand zweifeln. Hingegen versuchte er, sich ihre, der Geliebten, der Himmlischen irdische Verhältnisse auszumalen. Und das war ja auch ziemlich leicht: sie war mit ihrem alten Vater spazieren gegangen, hatte dann plötzlich entdeckt, daß es über zwölf Uhr sei, sagte in aller Eile: Lebewohl so lange! und ging nach Hause, um nach dem Mittagessen zu sehen. Denn ohne Zweifel war sie häuslich – das süße Wesen, und gewiß auch mutterlos.
Diese letzte Vermuthung entsprang wahrscheinlich dem Schrecken, welchen man nach der Ansicht aller guten Verfasser vor Schwiegermüttern haben soll; aber deshalb war sie nicht weniger sicher. Und nun blieb für Vetter Hans nur noch übrig ausfindig zu machen: erstens, wo sie wohnte, und zweitens, wer sie war, und drittens, wie er ihre Bekanntschaft machen sollte.
Wo sie wohnte, würde er nun bald erfahren, denn sie ging ja nach Hause; wer sie war, wollte er schon im Hofe erfragen; und ihre Bekanntschaft machen – du lieber Gott! ein paar Schwierigkeiten giebt es bei der wahren Liebe immer zu überwinden!
Aber grade wie die Jagd am besten und lustigsten ging, verschwand das Wild in einer Hausthür, und eigentlich war es schon die höchste Zeit, denn um die Wahrheit zu gestehen, war der Jäger schon ein wenig ermattet.
Mit einer gewissen Erleichterung las er Nr. 34 über der Thür, ging dann ein paar Schritte weiter, um einen etwaigen Beobachter sicher irre zu führen, lehnte sich an einen Gascandelaber und schöpfte Athem.
Es war, wie gesagt, ein warmer Tag, der im Verein mit der heftigen Leidenschaft Hans in starken Schweiß gebracht hatte. Seine Toilette war außerdem derangirt durch den rücksichtslosen Eifer, mit welchem er sich der Jagd hingegeben hatte.
Er mußte über sich selbst lächeln während er so da stand und sich Gesicht und Nacken abtrocknete, seine Cravate ordnete und seinen Halskragen anfühlte, der an der Sonnenseite ganz weich geworden war. Aber es war ein seliges Lächeln; er war in jener Stimmung, wo man von der Außenwelt nichts sieht und hört, und halblaut sagte er vor sich hin: »Die Liebe duldet alles, sie erträgt alles.«
»Und schwitzt stark!« sagte ein kleiner, dicker Herr, dessen weiße Weste plötzlich in Vetter Hans' Gesichtskreis auftauchte.
»Ah! – bist du es – Onkel!« sagte er ein wenig flau.
»Gewiß,« antwortete Onkel Fredrik, »ich habe die Sonnenseite verlassen, einzig und allein um dich vor dem Gebratenwerden zu behüten. Komm jetzt mit mir.«
Darauf zog er den Neffen mit sich; aber dieser widerstrebte: »Du Onkel, weißt du, wer in Nr. 34 wohnt?«
»Nein, mein Gott, das weiß ich nicht; aber laß uns nur in den Schatten gehen,« sagte Onkel Fredrik; denn es gab zwei Dinge, die er nicht leiden konnte: Wärme und Lachen; ersteres auf Grund seiner Corpulenz, und das zweite auf Grund dessen, was er selbst »seine apoplektischen Neigungen« nannte.
»Uebrigens,« sagte er, als sie auf die kühle Seite der Straße gelangt waren und er den Neffen unter den Arm gefaßt hatte, »übrigens weiß ich ja sehr wohl, wer in Nr. 34 wohnt, wenn ich es recht bedenke; – das ist ja der alte Kapitän Schrappe.«
»Kennst du ihn?« fragte Vetter Hans gespannt.
»Ja, ein wenig; so wie ihn die halbe Stadt von der Festung her kennt, wo er jeden Tag spazieren geht.«
»Ja, grade dort habe auch ich ihn gesehen,« sagte der Neffe eifrig, »welch ein interessanter, alter Mann von Aussehen. Ich hätte große Lust, mit ihm zu sprechen.«
»Der Wunsch kann dir bald erfüllt werden,« antwortete Onkel Fredrik; »du brauchst dich nur irgendwo am Festungswall aufzustellen und Striche in den Sand zu zeichnen, dann kommt er.«
»Kommt er,« sagte Vetter Hans.
»Ja, dann redet er dich an. Aber du mußt vorsichtig sein: er ist gefährlich.«
»Wa – was?« fragte Vetter Hans.
»Ja, dann redet er dich an. Aber einmal hat er mir beinahe das Leben genommen.«
»Ah!« sagte Vetter Hans.
»Ja, mit seinen Reden – – verstehst du.«
»O!« sagte Vetter Hans.
»Er hat nämlich zwei Geschichten,« fuhr Onkel Fredrik fort, »die eine dauert eine gute halbe Stunde und dreht sich um ein Feldmanöver in Schoonen. Die andere hingegen: Die Schlacht bei Waterloo, dauert zuweilen anderthalb bis zwei Stunden; – die habe ich drei Mal gehört,« und der Onkel seufzte tief.
»Aber, sind sie denn so langweilig – diese Geschichten?« fragte Vetter Hans.
»O – so einmal geht es wohl an,« antwortete Onkel Fredrik, »und solltest du mit dem Kapitän ins Gespräch kommen, so merke dir folgendes: Kommst du mit der kleinen Geschichte, der aus Schoonen davon, so hast du nichts anderes zu thun, als abwechselnd mit dem Kopf zu nicken oder zu schütteln. Auf dem Operationsfelde selbst findest du dich schon zurecht.«
»Operationsfeld?« sagte Vetter Hans.
»Ja, du mußt nämlich wissen, er zeichnet dir das ganze Manöver im Sande auf; aber es ist leicht zu verstehen, wenn du nur auf A. und B. paßt. Nur bei einem Punkte mußt du dich hüten, dich zu verplappern.«
»Wird er denn ungeduldig, wenn man ihn nicht versteht?« fragte Vetter Hans.
»Nein, im Gegentheil! Aber wenn du verräthst, daß du ihm nicht folgst, so fängt er die ganze Geschichte noch einmal an – siehst du! – Der wichtige Punkt im Feldmanöver,« fuhr der Onkel fort, »ist die Bewegung, welche der Kapitän selbst machte, gegen den Befehl des Generals, und welche Freund und Feind in gleich große Verlegenheit brachte. Dieser Geniestreich war – unter uns gesagt – der Grund, weshalb man ihm den Schwertorden geben mußte, um ihn dazu zu bewegen, daß er um seinen Abschied einkam. Wenn du also zu diesem Punkt kommst, so mußt du heftig nicken und sagen: Natürlich – das einzig Richtige – der Schlüssel der Position –, vergiß nicht: Schlüssel.«
»Schlüssel,« wiederholte Vetter Hans.
»Aber solltest du,« und Onkel Fredrik sah ihn mit anticipirtem Mitleid an, »solltest du mit deiner jugendlichen Sucht nach Abenteuern in die lange, in die Waterloo-Geschichte gerathen, so mußt du entweder ganz schweigen oder sehr genau aufpassen. Ich habe einmal die Beschreibung anderthalb Mal über mich ergehen lassen müssen, nur weil ich in meinem Eifer, ihm zu beweisen wie gut ich die Situation verstand, Kellermanns Dragoner anstatt Milhauds Kürassiere vorgehen ließ.«
»Du ließest die Dragoner vorgehen, Onkel?« fragte Vetter Hans.
»Ja, sieh, das wirst du schon begreifen, wenn du in die lange Geschichte hineingerätst; aber,« setzte der Onkel in feierlichem Ton hinzu, – »hüte dich – – sage ich dir – hüte dich vor Blücher!«
»Blücher?« fragte Vetter Hans.
»Ja, ja, mehr will ich nicht sagen, – und nun, weshalb gehe ich denn eigentlich hier umher und erzähle von dem alten Original; was in aller Welt willst du von ihm?«
»Geht er jeden Vormittag spazieren?« fragte Hans.
»Jeden Vormittag von 11 bis 1 Uhr, und jeden Nachmittag von 5 bis 7 Uhr. Aber welches Interesse – – –«
»Hat er viele Kinder?« unterbrach Hans.
»Nur eine Tochter. Aber was zum Teufel – – –«
»Adieu, Onkel, ich muß nach Hause zu meinen Büchern.«
»Warte doch! Kommst du heute Abend nicht mit zu Tante Maren? Ich sollte dich auffordern.«
»Nein danke, ich habe keine Zeit,« rief Hans, der schon einige Schritte weit gegangen war.
»Es ist Damengesellschaft da. Junge Damen!« brüllte Onkel Fredrik, denn er wußte ja nicht, was dem Neffen passirt war.
Aber dieser schüttelte den Kopf mit einer eigentümlichen, energischen Verachtung und verschwand um die Ecke.
»Das war zum Teufel –« dachte der Onkel; »der Junge ist verrückt oder – ach, jetzt habe ich's! – verliebt! Er stand ja und sprach etwas Dunkles von Liebe, als ich ihn fand – da draußen vor Nr. 34 – und sein Interesse für den alten Schrappe! – Sollte er in Fräulein Betty verliebt sein? – ach nein,« dachte der Onkel, indem er kopfschüttelnd seinen Weg fortsetzte, »so viel Verstand hat er leider nicht.«
An diesem Mittag aß Vetter Hans nicht viel. Verliebte Menschen essen niemals viel, und außerdem aß er die Fleischpasteten nicht gern.
Endlich wurde es fünf Uhr. Er hatte seinen Posten am Wall schon eingenommen; von da aus konnte er den ganzen Festungsplatz übersehen. Richtig: da kamen der schwarze Rock und die hellen Beinkleider und der blank gebürstete Hut.
Vetter Hans verspürte ein wenig Herzklopfen. Erst glaubte er, es käme daher, daß er sich dieser planmäßigen Hinterlist gegen den ehrbaren Kapitän schäme. Aber bald entdeckte er, daß es der Anblick des Vaters der Geliebten war, der sein Blut in Bewegung brachte.
Hierüber beruhigt, begann er in Folge von Onkel Fredriks Anrathen Striche und Figuren in den Sand zu zeichnen, während er von Zeit zu Zeit mit Aufmerksamkeit Akershus betrachtete.
Auf der ganzen Festung war es öde und still. Vetter Hans hörte, wie der feste, sichere Schritt des Kapitäns sich näherte; nicht weit von ihm hielt er inne. Er blickte nicht auf. Der Kapitän machte noch einige Schritte und räusperte sich. Hans zog einen langen, tiefsinnigen Strich mit seinem Stock; da konnte der Alte sich nicht länger bemeistern.
»Ei, ei – junger Herr!« sagte er freundlich und griff an seinen Hut, »nehmen Sie einen Plan unserer Festungswerke auf?«
Hans sah aus, wie einer, der aus tiefen Betrachtungen gerissen wird, und indem er höflich grüßte, antwortete er etwas verwirrt:
»Nein – das ist nur so eine Gewohnheit, die ich habe, um mich zu orientiren, wo ich gehe.«
»Eine ausgezeichnete Gewohnheit, eine ganz ausgezeichnete Gewohnheit,« unterbrach ihn der Kapitän mit Wärme.
»Es stärkt das Erinnerungsvermögen,« schob Vetter Hans ganz bescheiden ein.
»Sehr richtig, sehr richtig – Herr Student!« antwortete der Kapitän, der an dem schüchternen, jungen Menschen Gefallen zu finden begann.
»Besonders bei complicirteren Situationen,« fuhr der schüchterne, junge Mensch fort, indem er mit der Fußspitze die Striche verwischte.
»Grade, was ich sagen wollte!« rief der Kapitän entzückt; »besonders sind nun Zeichnungen und Pläne – wie Sie sich ja vorstellen können – ganz unentbehrliche Kriegswissenschaften – zum Beispiel ein Schlachtfeld.«
»Ja, sehen Sie, das sind für mich nun allzu verwickelte Dinge,« unterbrach ihn Hans mit einem demüthigen Lächeln.
»Sagen Sie das nicht, junger Herr!« antwortete der wohlwollende Alte, »wenn man eine orientirende Uebersicht über das Terrain und die Stellung der Armee hat, so kann sogar eine ganz verwickelte Bataille sehr anschaulich gemacht werden. Sehen Sie jetzt das Terrain hier vor uns an; das könnte uns einen sehr guten Begriff geben – en miniature natürlich – – von, zum Beispiel – von der Schlacht bei Waterloo!«
»O Gott, jetzt bin ich in die lange gerathen,« dachte Vetter Hans, »aber never mind! ich liebe sie.«
»Bitte, nehmen Sie gefälligst hier auf der Bank Platz,« fuhr der Kapitän fort, der sich innerlich über einen so intelligenten Zuhörer freute, »ich will versuchen, Ihnen in kurzen Umrissen ein Bild von dieser schicksalsschwangeren und merkwürdigen Schlacht zu geben, wenn es Sie interessiren kann?«
»Vielen Dank, Herr Kapitän!« antwortete Vetter Hans, »nichts könnte mich mehr interessiren. Aber ich fürchte nur, daß Sie allzuviel Mühe mit einem armen, unkundigen Civilisten haben werden.«
»Durchaus nicht, das Ganze ist so leicht und einfach, wenn man sich nur vorher auf dem Schlachtfelde orientirt,« versicherte der liebenswürdige, alte Herr, indem er sich Vetter Hans zur Seite setzte und einen prüfenden Blick umher warf.
Während sie so dasaßen, betrachtete, Vetter Hans den Kapitän näher und er mußte gestehen, daß Kapitän Schrappe trotz seiner sechzig Jahre noch ein hübscher Mann sei. Er trug die Spitzen seines kurzen, graumelirten Schnurrbartes ein wenig aufgedreht, das gab ihm einen gewissen jugendlichen Schwung. Im Ganzen hatte er viel Ähnlichkeit mit König Oscar dem ersten auf den alten Zwölfschillingstücken.
Und als er nun aufstand und seine Erklärung begann, war Vetter Hans durchaus mit sich im Reinen darüber, daß er allen Grund habe, mit dem Aeußern seines künftigen Schwiegervaters zufrieden zu sein.
Der Kapitän stellte sich einige Schritte von der Bank entfernt an der Ecke des Walles auf und zeigte mit dem Stocke um sich. Vetter Hans folgte ihm genau und gab sich die allergrößte Mühe, seinem künftigen Schwiegervater angenehm zu sein.
»Wollen Sie sich also jetzt vorstellen, daß ich am Pachthofe Belle-Alliance stehe, wo der Kaiser sein Hauptquartier hat, und gegen Norden – zwei Meilen von Waterloo – haben wir Brüssel – also ungefähr dort an der Ecke des Turnsaals.
Da der Weg – am Walle entlang – ist die Chaussée, welche nach Brüssel führt, und hier« – der Kapitän eilte über die Ebene von Waterloo – »hier im Grase haben wir den Wald von Soignes. Auf dem Landwege nach Brüssel und vor dem Walde stehen jetzt die Engländer; – Sie müssen sich den nördlichsten Theil des Terrains etwas höher denken. Auf Wellington's linkem Flügel – also gegen Osten – hier im Grase – haben wir das Schloß Houguemont; das muß markirt werden,« sagte der Kapitän und blickte umher.
Der hilfreiche Vetter Hans fand gleich einen Pflock, der an diesem wichtigen Punkt in die Erde gesteckt wurde.
»Vortrefflich!« rief der Kapitän, welcher begriff, daß er einen Zuhörer mit Interesse und Einbildungskraft gefunden hatte, »von dieser Seite müssen wir nämlich die Preußen erwarten.«
Vetter Hans bemerkte, daß der Kapitän einen Stein aufnahm und ihn mit geheimnisvoller Miene ins Gras legte.
»Hier bei Houguemont,« fuhr der Alte fort, »begann die Schlacht. Es war Jérôme, der angriff. Er nahm den Wald; aber das Schloß wurde von Wellington's besten Truppen vertheidigt.
Inzwischen wollte Napoleon, der hier bei Belle-Alliance steht, grade dem Marschall Ney die Ordre zum Angriff gegen Wellingtons Centrum geben, als er Truppenmassen entdeckte, die sich von Osten näherten – hinter der Bank, – dort unten am Baum.«
Vetter Hans blickte umher, er begann unruhig zu werden: sollte Blücher schon kommen?
»Blü – Blü –« versuchte er halblaut.
»Es war Bülow,« sagte zum größten Glück der Kapitän, »Bülow, der mit 30 000 Preußen anrückte. Napoleon traf in größter Eile seine Dispositionen, um dem neuen Feinde entgegen zu gehen, indem er durchaus gar keinen Zweifel hegte, daß Grouchy den Preußen auf den Fersen folgte.
Der Kaiser hatte nämlich Tags zuvor den Marschall Grouchy mit dem ganzen rechten Flügel der Armee, circa 50 000 Mann detachirt, um gegen Blücher und Bülow zu marschiren; aber Grouchy – ja, aber das alles kennen Sie ja aus der Weltgeschichte« – unterbrach sich hier der Kapitän.
Vetter Hans nickte beruhigend.
»Ney begann also den Angriff mit seiner gewohnten Unerschrockenheit. Aber die englische Cavallerie stürzte sich auf die Franzosen, durchbrach ihre Reihen und trieb sie zurück mit dem Verlust von zwei Adlern und mehreren Kanonen. Milhaud eilt mit seinen Kürassieren zu Hilfe, und der Kaiser selbst, der die Gefahr erkennt, giebt seinem Pferde die Sporen und fliegt den Abhang von Belle-Alliance hinunter.«
Der Kapitän lief davon und hüpfte wie ein Pferd im Galopp, während er schilderte, wie der Kaiser durch dick und dünn ritt, Ney's Leute in Ordnung brachte und sie zu neuem Angriff anfeuerte.
War es nun, daß ein Stück von einem Dichter in Hans steckte, oder war des Kapitäns Schilderung wirklich so lebendig, oder war es, – ja, das war es gewiß – daß er die Tochter des Kapitäns liebte – genug, Vetter Hans wurde förmlich in die Situation mit hineingerissen.
Er sah nicht mehr einen schnurrigen Kapitän, der umherhüpfte; – nein, er sah durch den Pulverdampf den Kaiser selbst auf dem weißen Pferde, wie wir ihn von den Kupferstichen kennen. Der raste dahin über Graben und Hecken, durch Acker und Gärten, kaum daß seine Suite ihm folgen konnte. Ruhig und kalt saß er im Sattel fest, mit dem halb geöffneten grauen Rocke, den weißen Beinkleidern und dem kleinen Hute. Sein Gesicht drückte weder Müdigkeit noch Spannung aus; glatt und bleich wie Marmor gab es der ganzen Gestalt in der einfachen Uniform auf dem weißen Pferde etwas halb Gespensterhaftes.
So fuhr es dahin, das kleine, blutige Ungeheuer, welches in drei Tagen drei Schlachten geliefert hatte. Alles wich ihm aus, flüchtende Bauern, Truppen, die im Vorrücken begriffen waren, ja, selbst die Verwundeten und Sterbenden schoben sich zur Seite und sahen auf ihn mit einem Gemisch von Schrecken und Bewunderung – als er wie ein kalter Blitz an ihnen vorüber raste.
Kaum zeigte er sich den Soldaten, so war die Ordnung wie von selbst wieder hergestellt; und der unermüdliche, unverzagte Ney konnte sich wieder in den Sattel schwingen und von neuem den Angriff beginnen. Und diesmal warf er die Engländer zurück und setzte sich in dem Pachthofe La Haie-Sainte fest.
Napoleon hielt wieder bei Belle-Alliance.
»Jetzt kommt also Bülow von Osten her – hier unter der Bank hervor; der Kaiser schickt ihm General Mouton entgegen. Um halb fünf Uhr (die Schlacht hatte um ein Uhr begonnen) versucht Wellington Marschall Ney aus La Haie-Sainte zu vertreiben. Aber dieser, der jetzt einsah, daß alles davon abhing, daß man sich des Terrains vor dem Walde bemächtigte – hier im Sande vor der Graskante,« – der Kapitän warf seinen Handschuh auf die bezeichnete Stelle – »Ney ruft also eine Reservebrigade mit Milhauds Kürassieren zu Hilfe und geht auf den Feind los.
Bald waren seine Leute auf den Höhen, und in der Umgebung des Kaisers rief man schon »victoire!«
»Es ist um eine Stunde zu spät,« antwortete Napoleon.
Als er indessen sah, daß Marschall Ney in der neuen Position viel vom Feuer des Feindes zu leiden hatte, beschloß er, ihm zu Hilfe zu eilen und zu gleicher Zeit Wellington zu vernichten. Zur Ausführung dieses Planes wählte er Kellermann's berühmte Dragoner und die schwere Garde-Cavallerie. Jetzt kommt einer der Hauptmomente der Schlacht; Sie müssen hinaus auf die Wahlstatt!«
Hans erhob sich sofort von der Bank und nahm den Posten ein, welchen der Kapitän ihm bezeichnete.
»Jetzt sind Sie Wellington!« Vetter Hans richtete sich auf. – »Sie stehen da auf der Ebene mit dem größten Theile der englischen Infanterie. Hier kommt die ganze französische Cavallerie daher gesaust. Milhaud hat sich mit Kellermann vereinigt; es ist nichts wie eine unabsehbare Menge von Pferden, Panzern, Helmbüschen und blanken Waffen. Umgeben Sie sich mit einem Carré!«
Vetter Hans stand einen Augenblick rathlos; aber endlich verstand er, was der Kapitän meinte: schnell zog er ein Viereck von tiefen Strichen um sich herum in den Sand.
»Richtig!« rief der Kapitän strahlend, »jetzt hauen die Franzosen drein; die Reihen werden durchbrochen aber sie schließen sich wieder. Wellington muß sich jeden Augenblick in ein neues Carré einschließen.
Die französischen Reiter schlagen sich wie Löwen: die stolzen Erinnerungen aus den Feldzügen des Kaisers geben ihnen diesen siegessichern Muth, der seine Armeen unüberwindlich machte; sie schlagen sich für den Sieg, für die Ehre, für die französischen Adler und für den kleinen, kalten Mann, von dem sie wissen, daß er auf der Höhe hinter ihnen hält, der alles sieht und nichts vergißt, dessen Auge jedem einzelnen Manne folgt.
Aber heute haben sie einen Feind, mit dem nicht so leicht fertig zu werden ist. Sie stehen, wo sie stehen, diese Engländer, und wenn sie einen Schritt zurückgedrängt werden, so erobern sie ihn im nächsten Augenblick wieder. Sie haben keine Adler und keinen Kaiser; wenn sie sich schlagen, so denken sie weder an kriegerische Ehren noch an Rache; aber sie denken an ihr Heim. Sein altes England nicht mehr wiedersehen zu sollen, ist der schwerste Gedanke für einen Engländer – doch nein, es giebt etwas, das noch schlimmer ist: mit Schande beladen heim zu kommen. Und wenn sie daran denken, daß die stolze Flotte, welche nordwärts liegt und auf sie wartet, ihnen den Ehrensalut verweigern könnte, daß »old England« seine Söhne verläugnen könnte – da fassen sie das Gewehr fester an, sie vergessen Blut und Wunden; ruhig und ernst, mit zusammengepreßten Lippen halten sie ihren Posten und sterben wie Männer.
Zwanzig Mal wurden die Carré's durchbrochen und wieder geschlossen, und 12 000 brave, tapfere Engländer fielen. Vetter Hans konnte begreifen, daß Wellington weinte, als er sagte: »Die Nacht oder Blücher!«
Der Kapitän hatte inzwischen Belle-Alliance verlassen und suchte im Grase hinter der Bank, während er in seiner Beschreibung fortfuhr, die immer lebhafter wurde: »Wellington war nun in Wirklichkeit geschlagen, er mußte eine totale Niederlage erleiden, da« – rief der Kapitän mit düsterer Stimme, »da kam dieser hier!« Und in demselben Augenblick schleuderte er den Stein, welchen Vetter Hans ihn verstecken gesehen hatte, so daß er auf das Schlachtfeld rollte.
»Jetzt oder niemals,« dachte Vetter Hans.
»Blücher!« rief er.
»Richtig!« entgegnete der Kapitän, »das ist Blücher, der alte Wehrwolf, der mit seinen Preußen auf die Ebene marschirt kommt.«
Also kam kein Grouchy; Napoleon war seines ganzen rechten Flügels von mehr als 15 000 Mann beraubt. Mit seiner gewohnten Kaltblütigkeit ertheilt er die Ordre zu einer großen Frontveränderung.
Aber es war zu spät und die Uebermacht zu groß.
Wellington, der durch Blüchers Ankunft in die Lage kam, die Reserve zu brauchen, ließ nun die ganze Armee avanciren. Aber noch einmal wurden die Alliirten zum Stehen gebracht; Marschall Ney, der Löwe des Tages, führte einen rasenden Angriff aus.
»Sehen Sie ihn!« schrie der Kapitän mit blitzenden Augen.
Und Vetter Hans sah ihn, den abenteuerlichen Helden, Herzog von Elchingen, Prinz von der Moskowa, den Sohn eines Böttchers aus Saarlouis, Marschall und Pair von Frankreich. Er sah ihn vor den Colonnen daher laufen – fünf Pferde waren ihm unter dem Leibe erschossen – den Degen in der Hand, die Uniform zerrissen, ohne Hut, mit blutüberströmtem Angesicht.
Und die Colonnen ordneten sich und stürmten vorwärts; – sie folgten ihrem Fürsten von der Moskowa, dem Retter von der Beresina in den hoffnungslosen Kampf für Kaiser und Frankreich. Wenig ahnten sie, daß Frankreichs König sechs Monate später ihren vergötterten Fürsten als Landesverräther im Luxemburggarten erschießen lassen würde.
Aber er war überall, ordnete und commandirte, bis es für den Feldherrn nichts mehr zu thun gab; dann brauchte er seinen Säbel wie ein Soldat, bis alles vorbei war und die wilde Flucht ihn mit sich fortriß. Denn die französische Armee flüchtete.
Der Kaiser stürzte sich ins Schlachtgetümmel; aber der entsetzliche Lärm übertönte seine Stimme, und im Halbdunkel erkannte niemand den kleinen Mann auf dem weißen Pferde.
Dann nahm er seinen Posten in einem Carré seiner alten Garde ein, die noch Stand hielt auf dem Schlachtfelde; er wollte sein Leben auf seiner letzten Wahlstatt beschließen. Aber die Generäle schaarten sich um ihn, die alten Grenadiere riefen: »Zurück, Sire! Der Tod will Sie nicht!«
Sie wußten ja nicht, daß der Kaiser sein Recht verspielt hatte, als französischer Soldat zu sterben. Halb widerstrebend wurde er mitgerissen, und von seiner eigenen Armee nicht mehr erkannt, ritt er hinein in die dunkle Nacht, nachdem alles verloren war.
»So endigte die Schlacht bei Waterloo,« sagte der Kapitän, indem er sich auf die Bank setzte und sein Halstuch ordnete.
Vetter Hans dachte mit Entrüstung an Onkel Fredrik, der in so überlegenem Ton über Kapitän Schrappe gesprochen hatte. Er war doch eine ganz andere, interessantere Persönlichkeit, als solch ein altes Departements-Roß wie Onkel Fredrik!
Während er nun umher ging und die Handschuhe und andere Kleinigkeiten zusammen suchte, welche die Feldherren in der Hitze des Gefechts auf dem Schlachtfelde zerstreut hatten, um die Positionen zu markiren, stieß er auch auf den alten Blücher. Er nahm ihn auf und betrachtete ihn genau.
Es war ein hartes Stück Granit, knorrig wie Zuckerkandis; es war dem »Marschall Vorwärts« beinahe ähnlich. Mit artiger Verbeugung wandte er sich dann an den Kapitän:
»Erlauben Sie, Herr Kapitän, daß ich diesen Stein aufbewahre. Er wird besser als alles andere in mir die Erinnerung an diese interessante und belehrende Unterhaltung wach erhalten.«
Damit steckte er Blücher in die Rocktasche.
Der Kapitän versicherte, daß es ihm ein wahres Vergnügen gewesen, das Interesse zu beobachten, womit sein junger Freund der Erklärung gefolgt sei. Und das war die reine Wahrheit; er war förmlich entzückt über Vetter Hans.
»Aber setzen Sie sich jetzt, junger Mann; wir bedürfen der Ruhe nach zehnstündigem Kampfe,« setzte er lächelnd hinzu.
Vetter Hans setzte sich auf die Bank und fühlte ängstlich nach seinem Kragen. Wahrend der Mittagszeit hatte er den bezauberndsten umgelegt, welchen er in seinem Besitz hatte. Glücklicherweise hielt er sich noch steif; aber er mußte an Wellingtons Worte denken: »Die Nacht oder Blücher!« denn viel länger hielt er nicht mehr Stand.
Es war auch ein Glück, daß die heiße Nachmittagssonne die Spaziergänger vom Walle fern hielt. Sonst hätte sich bald ein ansehnliches Publikum um diese beiden Herren gesammelt, die mit den Armen fochten und umher hüpften und liefen.
Sie hatten nur einen Zuschauer gehabt. Das war die Schildwache, welche an der Ecke des Turnlokals steht.
Der Soldat hatte sich aus Neugierde weiter als erlaubt von seinem Posten entfernt, indem er beinahe 1 ½ Meilen auf der Chaussee von Brüssel nach Waterloo marschirt war. Der Kapitän würde ihm auch längst eine militärische Zurechtweisung ertheilt haben, wenn die neugierige »Mannschaft« nicht von großer, strategischer Bedeutung gewesen wäre. Er war nämlich, wo er stand, die ganze Reserve Wellingtons; und jetzt, wo die Schlacht vorbei war, zog er sich in guter Ordnung nordwärts gegen Brüssel zurück und bezog wieder den verlorenen Posten an der Ecke des Turnlokals.
»Und jetzt kommen Sie mit mir und speisen Sie bei uns zu Abend,« sagte der Kapitän. »Mein Haus ist zwar sehr still, aber ich denke, daß ein junger Mann von Ihrem Charakter nichts dagegen hat, einen Abend in einer stillen Familie zuzubringen.«
Vetter Hans' Herz klopfte hörbar vor Freude; er nahm die Einladung in der ihm eigenen bescheidenen Weise an, und bald waren sie auf dem Wege nach Nr. 34.
Wie ihm heute doch alles glückte. Vor nicht gar vielen Stunden hatte er sie zum ersten Male gesehen; und jetzt kam er schon als ein besonderer Günstling des Vaters daher gegangen, um den Abend in ihrer Gesellschaft zuzubringen.
Je mehr er sich Nr. 34 näherte, desto lebendiger stand das bezaubernde Bild von Fräulein Schrappe vor ihm: das blonde, krause Haar, das ihr über die Stirn hing, die schlanke Figur und diese blauen, schelmischen Augen.
Sein Herz klopfte, so daß er kaum sprechen konnte, und als sie die Treppe hinauf stiegen, mußte er sich am Geländer halten; sein Glück machte ihn beinahe schwindlig.
Im Zimmer, das ein großes Eckgemach war, fanden sie niemanden. Der Kapitän ging hinaus, um das Fräulein zu suchen und Hans hörte ihn rufen: »Betty«!
Betty! welch ein reizender Name und wie er für das reizende Wesen paßte!
Der glückliche Liebhaber sah schon in Gedanken vor sich, wie hübsch es sein würde, wenn er um die Mittagszeit von der Arbeit heimkehrte und in die Küche hineinrief: »Betty! ist das Essen fertig?«
In diesem Augenblick trat der Kapitän mit seiner Tochter ein. Sie ging auf Vetter Hans zu, reichte ihm die Hand und hieß ihn herzlich willkommen im Hause.
»Aber,« setzte sie hinzu, »Sie müssen mich entschuldigen, wenn ich gleich wieder davon laufe, denn ich bin mitten in einer Eierspeise, und das ist kein Spaß, glauben Sie mir!«
Damit verschwand sie wieder; der Kapitän zog sich auch zurück, um es sich bequem zu machen, und Vetter Hans war wieder allein.
Die ganze Begegnung hatte kaum einige Secunden gedauert, und doch schien es Hans, als sei er während dieser Augenblicke viele, viele Klafter tief in einen schwarzen, bodenlosen Abgrund gestürzt. Er klammerte sich mit beiden Händen an einen alten, hohen Lehnstuhl; er konnte weder hören noch denken; aber halb mechanisch wiederholte er unzählige Male: »Das war nicht sie – das war nicht sie!« – –
Nein. Das war nicht »sie«. Die Dame, welche er soeben gesehen hatte und die also das wirkliche Fräulein Schrappe sein mußte, hatte durchaus keine blonden, krausen Stirnlöckchen. Sie hatte im Gegentheil dunkles Haar, das an beiden Seiten glatt zurückgestrichen war. Sie hatte keine schelmischen, blauen Augen, sondern ernste, dunkelgraue – kurzum, sie war der Geliebten so unähnlich wie nur möglich.
Nach der ersten Lähmung begann das Blut in Vetter Hans zu kochen; ein wilder Schmerz bemächtigte sich seiner: er raste gegen den Kapitän, gegen Fräulein Schrappe, gegen Onkel Fredrik, und Wellington und die ganze Welt.
Er hätte den großen Spiegel und alle Möbeln zertrümmern und dann zum Eckfenster hinaus springen mögen; – dann kam ihm der Gedanke, seine Mütze und den Stock zu nehmen, die Treppe hinunter zu stürzen, das Haus zu verlassen und es niemals wieder zu betreten; – oder – er wollte auf keinen Fall länger hier verweilen, als unumgänglich nothwendig.
Dann beruhigte er sich nach und nach, aber eine tiefe Traurigkeit bemächtigte sich seiner. Er hatte den unbeschreiblichen Schmerz einer Täuschung in seiner ersten Liebe erfahren, und als er zufällig sein eigenes Bild im Spiegel erblickte, schüttelte er mitleidig den Kopf.
Umgekleidet und in bester Laune trat der Kapitän wieder ins Zimmer. Er begann ein Gespräch über die Politik des Tages. Es kostete Vetter Hans Mühe nur die kürzesten, allgemeinen Antworten zu geben; es war als wäre das Interessante in Kapitän Schrappe vollständig verdunstet. Und jetzt fiel es Hans auch noch ein, daß der Alte ihm auf dem Heimwege von der Festung das ganze Feldmanöver in Schoonen zum Abendessen versprochen hatte.
»Ich bitte zu Tische,« rief Fräulein Betty und öffnete die Thür zum Speisezimmer, wo schon die Lampe angezündet war.
Vetter Hans mußte essen, denn er war hungrig; aber er blickte meistens auf seinen Teller und sprach wenig.
Deshalb führten Vater und Tochter im Anfang das Gespräch. Der Kapitän, welcher glaubte, daß der bescheidene, junge Mensch sich in Fräulein Betty's Nähe beklommen fühle, wollte ihm Zeit lassen, sich zu fassen.
»Warum hast du eigentlich nicht Fräulein Bech für heute Abend eingeladen, da sie doch morgen schon abreisen soll;« sagte der Alte, »dann hättet ihr unserm Gast vierhändig vorspielen können.«
»Als sie heute Vormittag hier war, bat ich sie zu bleiben, aber sie war schon von andern Bekannten zu einer Abendgesellschaft geladen.«
Vetter Hans spitzte die Ohren; vielleicht war von der Dame vom Vormittag die Rede.
»Ich habe dir ja erzählt, daß sie bei mir auf der Festung war, um Lebewohl zu sagen,« fuhr der Kapitän fort, »armes Mädchen! es thut mir wirklich leid um sie.«
Es konnte also kein Zweifel mehr sein.
»Entschuldigen Sie – ist die Rede von einer Dame mit lockigem Haar und großen, blauen Augen?« fragte Vetter Hans.
»Gewiß!« antwortete der Kapitän, »kennen Sie Fräulein Bech?«
»Nein –,« antwortete Hans, »es fiel mir nur ein, daß es eine Dame sein könnte, die ich ungefähr um zwölf Uhr auf der Festung traf.«
»Ja, das war sie!« sagte der Kapitän, »ein hübsches Mädchen – nicht wahr?«
»Eine sehr hübsche Dame;« antwortete Hans mit Ueberzeugung; – »hat sie irgend einen Kummer gehabt? Mir scheint, Herr Kapitän sagten – – –«
»Ja, sehen Sie! Sie war mehre Monate verlobt –«
»Neun Wochen« – unterbrach Fräulein Betty.
»Wirklich, du? nur so kurze Zeit? Nun, meinetwegen. Und nun hat ihr Schatz in den letzten Tagen mit ihr gebrochen. Sie reist deshalb für einige Zeit fort, wie Sie sich vorstellen können; zu Verwandten im Westerland – glaube ich.«
Sie war also verlobt gewesen – allerdings nur neun Wochen; es war aber dennoch ein kleines »Aber«. Doch – Vetter Hans war ein Menschenkenner und so viel hatte er am Vormittag schon bemerkt, daß ihre Gefühle für den davongegangenen Liebsten nicht die rechte Liebe gewesen waren; deshalb sagte er:
»Wenn es wirklich die Dame ist, die ich heute gesehen habe, so schien sie die Sache ziemlich leicht zu nehmen.«
»Das ist's grade, was ich ihr vorwerfe,« antwortete Fräulein Betty.
»Weshalb das?« fragte Hans etwas spitz, denn ihm gefiel überhaupt die Art und Weise nicht, wie die junge Dame ihre Bemerkungen machte, »wäre es denn besser, wenn sie sich zu Tode grämte?«
»Nein, durchaus nicht,« antwortete Fräulein Schrappe, »aber nach meiner Ansicht hätte sie mehr Charakterstärke bewiesen, wenn das Benehmen ihres Verlobten sie mit mehr Entrüstung erfüllt hätte.«
»Mir hingegen däucht, daß es die größte Charakterstärke zeigt, wenn sie weder Haß noch Bitterkeit hegt; denn die Stärke des Weibes besteht im Verzeihen,« sagte Vetter Hans, der ganz beredt wurde, indem er die Geliebte verteidigte.
Fräulein Betty meinte, daß die Jugend in dieser Beziehung vielleicht etwas vorsichtiger werden würde, wenn die Leute im allgemeinen sich bei den zahlreichen zurückgegangenen Verlobungen entrüsteter zeigten.
Vetter Hans hingegen meinte, daß wenn einer der Betheiligten auch nur die leiseste Empfindung habe, einen Fehler begangen zu haben, – wenn er einsähe, daß dasjenige, was er für Liebe gehalten, nicht die wahre, die echte, die rechte Liebe sei, – so müsse er sich nicht nur beeilen, die Verlobung zu brechen, sondern es sei auch seine Pflicht, so wie die seiner Umgebung, zu verzeihen, zu entschuldigen und so wenig wie möglich von der Sache zu sprechen, damit diese je eher je besser in Vergessenheit gerathen könne.
Fräulein Betty antwortete hastig, sie fände es durchaus nicht in Ordnung, daß junge Menschen sich so »zur Probe« nähmen, und sich inzwischen noch nach der rechten Liebe umsähen.
Diese Bemerkung ärgerte Vetter Hans im höchsten Grade. Aber er hatte nicht mehr Zeit darauf zu antworten, denn in diesem Augenblick erhob der Kapitän sich vom Tische.
Fräulein Schrappe hatte etwas an sich, das er durchaus nicht vertragen konnte, und der Aerger über sie ließ ihn für einen Augenblick die traurige Nachricht vergessen, daß die Geliebte – Fräulein Bech – am nächsten Morgen reisen solle.
Er mußte zugeben, daß die Tochter des Kapitäns hübsch, sehr hübsch sei; sie schien sowohl häuslich wie verständig zu sein, und man sah, daß sie den alten Vater mit einer rührenden Sorgfalt pflegte. Und doch sagte Vetter Hans zu sich selbst: Die Arme, die verheiratet sich niemals!
Denn es mangelte ihr diese reizende Hilflosigkeit, die so bezaubernd an einem jungen Mädchen ist; wenn sie sprach, so war es mit einer fast verletzenden Ruhe und Sicherheit. Niemals kam sie mit diesen entzückenden, halbvollendeten Sätzen, wie: »Ja, ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen; – so wenige Menschen verstehen mich; – ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll; aber ich fühle es so deutlich –,« kurzum, von diesem Unbewußten, Verschleierten, was ja der schönste Schmuck des Weibes ist, fand man bei Fräulein Schrappe nichts.
Außerdem hatte er sie noch im Verdacht »gelehrt« zu sein. Und darin müssen wir doch alle Vetter Hans Recht geben, daß wenn ein Weib seine Aufgabe in diesem Leben (die Gattin ihres Mannes zu sein) erfüllen soll, so darf es selbstverständlich keine anderen Kenntnisse haben, als diejenigen, welche der Gatte für wünschenswerth hält. Jeder andere Wissensfond bleibt stets eine Mitgift von sehr zweifelhaftem Werth.
Vetter Hans war in der miserabelsten Stimmung. Es war kaum acht Uhr, und es schien ihm, daß er sich vor halb zehn nicht gut verabschieden könne. Der Kapitän hatte sich schon an den Tisch gesetzt und war bereit, das Feldmanöver zu beginnen. Hier gab es kein Entrinnen mehr, Hans mußte sich ihm zur Seite setzen.
Ihm gegenüber saß Fräulein Betty mit einem Buche und einer Näharbeit. Er beugte sich vor und entdeckte, daß es ein Roman der neueren, deutschen Literatur sei.
Es war grade eines jener Werke, welches Hans mit lauten Worten zu rühmen pflegte, wenn er seine modernen Anschauungen mit einem leichten Anflug von Freidenkerei zum Besten gab. Aber dieses Buch hier in den Händen einer Dame zu finden und noch dazu in deutscher Sprache (Hans hatte es in der Übersetzung gelesen) – das fand er im höchsten Grade verletzend.
Als daher Fräulein Betty ihn fragte, ob ihm der Roman gefiele, antwortete er, daß es eines jener Bücher sei, das nur von Männern mit reiferen Ansichten und soliden Grundsätzen gelesen werden sollte, – am wenigsten eigne es sich aber als Lectüre für eine Dame.
Er sah, daß die junge Dame roth wurde und er fühlte selbst, daß er unartig gewesen sei. Aber er war in einer so fatalen Stimmung, und außerdem ärgerte ihn dies kleine, überlegene Fräulein.
Er ärgerte und langweilte sich, und um das Maß seiner Leiden voll zu machen, begann der Kapitän das Corps B. »vom Dunkel beschützt« vorrücken zu lassen.
Vetter Hans bemerkte jetzt, wie der Kapitän Zündholzdosen, Federmesser und andere Kleinigkeiten über den Tisch vorrücken ließ. Er nickte ab und zu, aber er hörte durchaus nicht auf die Erklärungen. Er dachte nur an das reizende Fräulein Bech, das er vielleicht niemals wiedersehen sollte, und inzwischen blickte er auch Fräulein Schrappe an und bedauerte, unartig gegen das junge Mädchen gewesen zu sein.
Plötzlich fuhr er empor. Der Kapitän schlug ihn auf die Schulter: »Und diesen Punkt also sollte ich nun besetzen. Was halten Sie davon?«
Da erinnerte Hans sich plötzlich an Onkel Fredriks Rath, und indem er lebhaft nickte, sagte er: »Natürlich – das einzig Richtige! – Schlüssel der Position!«
Der Kapitän fuhr zurück und wurde ernst. Als er aber Vetter Hans' verblüfften Ausdruck gewahrte, bekam seine Gutmüthigkeit die Ueberhand, und lächelnd sagte er:
»Nein – Verehrtester! Darin irren Sie sich gewaltig. Uebrigens« – fügte er freundlich lächelnd hinzu, »übrigens ist das ein Irrthum, den Sie mit mehren unserer höchsten Militärautoritäten theilen. Nein, jetzt werde ich Ihnen den Schlüssel der Position zeigen.«
Und nun begann er eine weitläufige Erklärung darüber, wie die Stellung, welche zu besetzen er Ordre bekommen hatte, ohne jegliche strategische Bedeutung gewesen sei. Wie hingegen die Bewegung, welche er auf eigene Hand unternommen, den Feind in die größte Verlegenheit gebracht und das Vorrücken des Corps B. um mehre Stunden verzögert habe.
Wie müde und stumpf Vetter Hans auch war, so mußte er dennoch das weise Verfahren der Vorgesetzten dem Kapitän gegenüber bewundern, wenn überhaupt etwas Wahres an Onkel Fredriks Geschichte vom Schwertorden war.
Denn wenn das eigenwillige Manöver des Kapitäns in strategischer Hinsicht vielleicht ein genialer Streich war, so gehörte es sich ja, daß er den Schwertorden bekam. Aber auf der andern Seite war es wiederum klar, daß er untauglich für eine Armee wie die unsrige war, wenn er glauben konnte, daß es der Zweck des Feldmanövers gewesen, jemand in Verlegenheit zu bringen oder eine Verspätung zu verursachen. Er mußte doch wissen, daß es vielmehr der Zweck war, die beiden feindlichen Armeen mit Bagage und Küchenwagen zur bestimmten Zeit auf der bestimmten Stelle zusammentreffen zu lassen, wo das große Frühstück eingenommen werden sollte.
Während er diesen Gedanken nachhing, kam der Kapitän mit dem Feldmanöver zu Ende.
Er war heute Abend durchaus nicht so zufrieden mit seinem Zuhörer, wie draußen auf der Festung; er war ja so unerklärlich zerstreut!
Es wurde neun Uhr. Da aber Hans es sich in den Kopf gesetzt hatte, bis um halb zehn Uhr auszuhalten, schleppte er sich durch eine der längsten halben Stunden, die er jemals erlebt hatte. Der Kapitän wurde schläfrig, Fräulein Betty antwortete kurz und kalt; Hans mußte selbst für die Unterhaltung sorgen – müde, ärgerlich, unglücklich und verliebt wie er war.
Endlich zeigte der Zeiger beinahe auf halb zehn; er erhob sich, indem er sagte, daß er früh schlafen zu gehen pflege, weil er am besten studiren könne, wenn er um sechs Uhr morgens aufstände.
»Ei, ei,« sagte der Kapitän, »nennen Sie das früh schlafen gehen? Ich lege mich jeden Abend um neun Uhr ins Bett.«
O Enttäuschung auf Enttäuschung! In größter Hast sagte Hans gute Nacht und lief die Treppe hinunter.
Der Kapitän folgte ihm mit dem Licht und rief ihm freundlich nach: »Gute Nacht! gute Nacht! kommen Sie bald wieder.«
»Danke,« rief Hans von unten herauf, aber in seinem stillen Sinne schwor er, daß er niemals wieder seinen Fuß hierher setzen werde.
Als der Alte wieder ins Zimmer trat, fand er die Tochter beschäftigt, die Fenster aufzureißen.
»Was bedeutet das?« fragte der Kapitän.
»Ich lüfte ihn aus!« antwortete Fräulein Betty.
»Nun, nun, Betty, du bist allzu strenge. Aber ich muß auch zugeben, daß der junge Mann bei näherer Bekanntschaft verlor. Ich verstehe mich nicht auf die heutige Jugend.«
Damit ging der Kapitän in sein Schlafzimmer, nachdem er an seine Tochter die gewöhnliche Abendermahnung gerichtet hatte: »Sitz nun nicht zu lange mehr auf.«
Als sie allein war, löschte Betty die Lampe aus, stellte die Blumen im Eckfenster zur Seite und setzte sich auf das Fensterbrett, die Füße auf den Stuhl stützend.
In klaren Mondnächten konnte sie zwischen zwei hohen Häusern hindurch einen Streifen vom Fjord erglänzen sehen. Das war nicht viel; aber es war doch ein Schimmer jener großen Straße die gen Süden und in die fremden Länder führt.
Und ihre Sehnsucht und ihre Wünsche flogen davon, sie nahmen denselben Weg, auf dem schon so manchem die Flügel lahm geworden sind; durch den engen Fjord nach Süden hin, wo der Horizont so hoch ist, wo das Herz so groß und weit wird, wo die Gedanken so muthig und stark werden.
Und Fräulein Betty seufzte, indem sie auf den kleinen Streifen des Fjords zwischen den hohen Häusern starrte.
Sie dachte wahrhaftig nicht an Vetter Hans wie sie so da saß, aber er dachte an Fräulein Schrappe, indem er mit schnellen Schritten die Straße hinauf ging.
Niemals hatte er eine junge Dame gesehen, die weniger nach seinem Geschmack gewesen wäre. Daß er unartig gegen sie gewesen war, machte die Sache nicht besser. Wir sind nicht geneigt, jene Menschen liebenswürdig zu finden, welche die Veranlassung waren, daß wir uns schlecht betragen haben. Es war ihm gleichsam ein Trost, daß er sich immer wiederholen konnte: »Die findet niemals einen Mann.«
Dann wanderten seine Gedanken zu der Geliebten, die morgen reisen sollte. Sein ganzes hartes Schicksal trat ihm vor Augen und er hatte das größte Verlangen, seinen Schmerz einem Freunde anzuvertrauen, der ihn verstehen konnte.
Aber um diese Tageszeit einen Freund in der passenden Stimmung zu finden, hielt nicht so leicht. Onkel Fredrik war eigentlich in vielen Dingen sein Vertrauter; den wollte er aufsuchen.
Da er wußte, daß der Onkel bei Tante Maren sei, begab er sich hinauf gegen das Schloß zu, um ihm zu begegnen, wenn er von Homansby heimkehrte. Er wählte eine der schmalen Alleen zur rechten Hand, wo er wußte, daß der Onkel zu gehen pflegte, und halbwegs die Anhöhe hinauf setzte er sich auf eine Bank um zu warten.
Es mußte ungewöhnlich lustig bei Tante Maren zugehen, wenn Onkel Fredrik es da oben bis nach zehn Uhr aushielt. Endlich sah er hoch oben in der Allee einen kleinen, weißen Punkt; das war Onkels weiße Weste, die näher kam.
Hans erhob sich von der Bank und sagte ernst: »Guten Abend.« Onkel Fredrik liebte es durchaus nicht, einzelnen Mannspersonen in der dunklen Allee zu begegnen; es war ihm also eine große Erleichterung, den Neffen zu erkennen.
»Ah, du bist es nur – Hansemann!« sagte er freundlich, »auf was wartest du hier denn eigentlich?«
»Ich wartete auf dich!« antwortete Hans mit dumpfer Stimme.
»Ja so! Fehlt dir irgend etwas? Bist du krank?«
»Frage nicht!« antwortete Vetter Hans.
Dies wäre zu jeder andern Zeit genug gewesen, einen Hagel von Fragen bei Onkel Fredrik hervorzurufen.
Aber heute Abend war er von seinen eigenen Erlebnissen so in Anspruch genommen, daß er vorläufig das Anliegen des Neffen bei Seite schob.
»Warst du aber dumm,« sagte er, »daß du nicht mit mir zu Tante Maren gegangen bist.
Wir haben uns köstlich unterhalten. Weißt du – es war eigentlich eine Art Abschiedsgesellschaft für eine junge Dame, die morgen abreist.«
Eine furchtbare Ahnung durchfuhr Vetter Hans.
»Wie heißt sie?« schrie er und kniff Vetter Hans in den Arm. »Au!« schrie dieser. »Fräulein Bech!«
Da warf Hans sich rücklings auf die Bank.
Aber kaum war er niedergefallen, als er schon mit einem lauten Schrei emporsprang und aus der Rocktasche ein kleines, knorriges Ding zog, das er die Allee hinunter schleuderte.
»Was ist mit dem Jungen los!« schrie Onkel Fredrik, »was hast du da fortgeworfen?«
»Ach, das war der verteufelte Blücher,« antwortete Vetter Hans weinerlich.
Onkel Fredrik konnte mit knapper Mühe noch sagen:
»Hab' ich dir's nicht gesagt? Hüte dich vor Blücher,« dann brach er in ein lebensgefährliches Lachen aus, das vom Schloßhügel bis weit hinein in die obere Wallstraße dauerte