Alexander Kielland
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Alexander Kielland

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Zwei Freunde.

Niemand konnte begreifen, woher er das Geld nahm. Aber keiner wunderte sich mehr über das flotte, übermüthige Leben, welches Alphonse führte, als sein früherer Freund und Compagnon.

Seitdem sie das Compagniegeschäft aufgehoben, waren die meisten Kunden und die besten Verbindungen in Charles Hände übergegangen.

Nicht, als ob dieser versucht hätte, seinem früheren Compagnon in den Weg zu treten – – im Gegentheil; aber es kam einfach daher, daß Charles in Wirklichkeit der Tüchtigere von beiden war. Und als Alphonse jetzt auf eigene Hand arbeiten sollte, zeigte es sich bald für jeden, der ihn genauer beobachtete, daß er trotz seiner Geistesgegenwart, seiner Liebenswürdigkeit und seiner gewinnenden Persönlichkeit nicht dazu taugte, an der Spitze eines selbstständigen Geschäfts zu stehen.

Und es gab einen, der ihn genau beobachtete. Charles folgte ihm Schritt für Schritt mit seinen scharfen Augen; jeder Mißgriff, jeder Verlust, jede Verschwendung war ihm bis ins kleinste Detail bekannt; – und er wunderte sich nur darüber, daß Alphonse die Sache noch so lange in Gang erhalten konnte.

Sie waren gleichsam mit einander aufgewachsen. Ihre Mütter waren Cousinen, und da die beiden Familien Nachbarn in derselben Straße waren – ein Umstand, der in einer Stadt wie Paris eben so wesentlich für den näheren Verkehr ist, wie ein Verwandtschaftsverhältnis – so wurden die beiden Knaben auch in dieselbe Schule geschickt.

Von jetzt an waren sie während ihrer ganzen Jugendzeit unzertrennlich. Die gegenseitige Zuneigung überwand die großen Verschiedenheiten, die ursprünglich in ihren Charakteren lagen, und schließlich paßten ihre Eigenschaften so gut in einander wie die künstlich ausgeschnittenen Holzstücke, aus denen die Kinder hübsche Bilder zusammensetzen.

Und es bestand wirklich ein so schönes Verhältnis zwischen ihnen wie es selten zwischen jungen Leuten ist; denn sie faßten die Freundschaft nicht wie die Verpflichtung des einen auf, alles von dem andern zu ertragen; sondern sie schienen vielmehr in gegenseitigen Rücksichten zu wetteifern.

Wenn übrigens Alphonse in seinem Verhältnis zu Charles viel Rücksicht an den Tag legte, so geschah dies, ohne daß er selbst sich dessen bewußt war, und wenn jemand ihm dies gesagt hätte, so würde er wahrscheinlich laut über das mißglückte Compliment gelacht haben.

Denn so wie ihm das Leben im ganzen sehr leicht und bequem erschien, so konnte es ihm auch garnicht einfallen, sich seinem Freund gegenüber irgend einen Zwang auferlegen zu müssen. Daß Charles sein bester Freund war, erschien ihm ebenso natürlich, wie daß er selbst am besten tanzte, ritt und schoß; überhaupt schien ihm die ganze Welt aufs Beste geordnet.

Alphonse war eins der allerverwöhntesten Glückskinder; ihm gelang alles ohne Anstrengung; das Dasein paßte ihm wie ein eleganter Anzug, und er trug denselben mit so ungezwungener Liebenswürdigkeit, daß die Menschen sogar vergaßen neidisch zu sein.

Und dann war er so hübsch anzusehen. Er war groß und schlank, mit braunem Haar und großen, offenen Augen, das Gesicht war rein und glatt und seine Zähne glänzten, wenn er lächelte. Er wußte sehr wohl, daß er schön sei; aber da die ganze Welt ihn seit seiner frühsten Jugend verzogen hatte, war seine Eitelkeit so lustiger, gutmüthiger Art, daß sie niemanden verletzte. Er hielt außerordentlich viel von seinem Freunde; er unterhielt sich und zuweilen auch andere damit, ihn zu necken und sich über ihn lustig zu machen; aber er kannte Charles Angesicht so genau, daß er sofort merkte, wenn er im Scherz zu weit ging; dann schlug er wieder in seinen natürlichen, gutmüthigen Ton um und brachte den ernsten, etwas schwerfälligen Charles dahin, sich halb todt zu lachen.

Seit seinen Kinderjahren hatte Charles eine unbegrenzte Bewunderung für Alphonse gehegt. Er selbst war klein und unansehnlich, still und zaghaft. Die glänzenden Eigenschaften seines Freundes warfen auch auf ihn ihren Glanz und gaben seinem Leben einen gewissen Schwung.

Die Mutter sagte oft: »Diese Freundschaft zwischen den Knaben ist ein wahres Glück für meinen armen Charles, sonst würde er gewiß ganz schwermüthig.«

Wenn Alphonse bei jeder Gelegenheit vorgezogen wurde, so freute Charles sich; er war stolz auf seinen Freund. Er schrieb ihm die Aufsätze, flüsterte ihm bei der Prüfung zu, bat für ihn bei den Lehrern und schlug sich für ihn mit den Knaben.

Auf der Handelsakademie ging es ebenso. Charles arbeitete für Alphonse, und Alphonse lohnte mit seiner unermüdlichen Liebenswürdigkeit und seinem unerschöpflichen Humor.

Wie sie dann später als ganz junge Leute in demselben Bankhause angestellt waren, geschah es eines Tages, daß der Principal zu Charles sagte: »Vom ersten Mai an erhöhe ich Ihre Gage.«

»Ich danke Ihnen,« antwortete Charles, »sowohl für mich, wie für meinen Freund.«

»Monsieur Alphonse' Gage bleibt unverändert,« antwortete der Chef und schrieb weiter.

Diesen Vormittag vergaß Charles niemals. Es war das erste Mal, daß er begünstigt und seinem Freunde vorgezogen wurde. Und noch dazu in Bezug auf merkantile Tüchtigkeit, in diesem Punkte, der ihm als jungen Kaufmann am höchsten galt – hatte er den Vorzug bekommen, und es war der Chef des Hauses, der große Banquier, der ihm persönlich diese Anerkennung zu Theil werden ließ.

Was er fühlte, war ihm so fremd, daß es ihm beinahe wie ein Unrecht gegen den Freund erschien. Er erzählte Alphonse nichts von dieser Begebenheit; hingegen schlug er ihm vor, sich zusammen mit ihm um zwei erledigte Stellen im »Crédit lyonnais« zu bewerben.

Alphonse willigte sofort ein. Denn er liebte die Veränderung, und das prachtvolle, neue Banketablissement am Boulevard, schien ihm viel anziehender als die dunklen Bureaus in der Rue Bergère. Am ersten Mai gingen sie also zum Crédit lyonnais über. Als sie aber im Comtoir des Chefs waren um Abschied zu nehmen, sagte der alte Banquier leise zu Charles, als Alphonse schon hinaus gegangen war (Alphonse ging stets vorauf): »Sentimentalität taugt nicht für einen Geschäftsmann.«

Von diesem Tage an ging eine Veränderung mit Charles vor. Er arbeitete nicht nur fleißig und gewissenhaft wie zuvor, sondern er entwickelte eine Energie und eine so erstaunliche Arbeitskraft, daß er bald die Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten auf sich zog. Daß er seinem Freund in Geschäftstüchtigkeit weit überlegen war, kam bald an den Tag; aber jedes Mal, wenn er einen neuen Anerkennungsbeweis erhielt, hatte er einen Kampf mit sich selbst zu bestehen. Jede Beförderung hatte noch lange einen kleinen Beigeschmack von schlechtem Gewissen, und doch arbeitete er mit rastlosem Eifer vorwärts.

Eines Tages sagte Alphonse in seiner leichten, offenherzigen Weise: »Du bist doch ein geschickter Bursche – Charlie! Du überholst Alte und Junge – von mir selbst garnicht zu reden! – ich bin sehr stolz auf dich!«

Charles schämte sich förmlich. Er glaubte, daß Alphonse verletzt sein würde, sich so bei Seite gesetzt zu sehen, und jetzt mußte er erfahren, daß der Freund ihm nicht nur den Vorrang einräumte, sondern auch noch stolz auf ihn war. Nach und nach beruhigten seine Sinne sich wieder, und seine solide Arbeit wurde mehr und mehr gewürdigt.

Aber wenn er nun in Wirklichkeit der Tüchtigste war, wie hing es dann zusammen, daß er im täglichen Leben so ganz und gar übersehen wurde, während Alphonse der Liebling Aller war! Selbst die Beförderungen und Anerkennungsbeweise, welche er sich durch angestrengte Arbeit erkämpfte, wurden ihm in so trockener, geschäftsmäßiger Weise gezollt, während alle Welt, vom Director an bis zu den Bankdienern herab ein freundliches Wort und einen muntern Gruß für Alphonse hatte.

In den verschiedenen Bureaus und Abtheilungen der Bank wurden förmliche Intriguen gesponnen, um in den Besitz von Monsieur Alphonse zu gelangen; denn seine schöne Gestalt und sein fröhlicher Muth führten stets einen frischen Luftzug von Leben und Gesundheit mit sich. Charles dagegen hatte oft empfunden, daß seine Collegen ihn wie einen trockenen, langweiligen Menschen betrachteten, der nur an sich selbst und sein Geschäft dachte.

Und doch hatte er ein so feinfühliges Herz wie nur wenige; es mangelte ihm nur die Eigenschaft, seinen Gefühlen Ausdruck verleihen zu können.

Charles war einer dieser kleinen, schwarzen Franzosen, deren Bart dicht unter den Augen beginnt; die Gesichtsfarbe war gelblich und das Haar starr und struppig. Seine Augen erweiterten sich nicht, wenn er fröhlich und erregt war, sondern sie fuhren stechend umher. Wenn er lachte, so zogen die Mundwinkel sich nach oben, und manchmal, wenn sein Herz voll Freude und Wohlwollen war, hatte er bemerkt, daß die Menschen sich furchtsam vor seinem abstoßenden Aeußern zurückzogen. Der einzige, welcher ihn so gut kannte, daß er seine Häßlichkeit garnicht mehr zu bemerken schien, war Alphonse; alle anderen mißverstanden ihn; er wurde mißtrauisch und immer verschlossener und zurückhaltender.

In einem unmerklichen Crescendo wuchs der Gedanke in ihm: weshalb sollte er denn niemals erreichen, was er am meisten ersehnte – einen freundlichen und herzlichen Umgang und ein Entgegenkommen, wie die Wärme seiner Herzensempfindungen es verdiente. Weshalb lächelte alle Welt Mr. Alphonse mit ausgestreckten Händen entgegen, während er sich mit steifen Verbeugungen und kalten Blicken zufrieden geben mußte?

Alphonse merkte garnichts. Er war froh und gesund, entzückt über das Leben und zufrieden mit dem Geschäft. Man hatte ihn in der leichtesten und unterhaltendsten Branche des Etablissements angestellt, und mit seinem hellen Kopfe und seinem Talent, mit den Menschen verkehren zu können, füllte er seinen Platz vollkommen aus.

Sein Umgangskreis war sehr groß; alle Menschen wußten seine Bekanntschaft zu schätzen und die Männer liebten ihn ebenso sehr wie die Frauen.

Charles suchte im Anfang auch die Kreise auf, welche sich seinem Freunde Alphonse öffneten, bis plötzlich das Mißtrauen in ihm erwachte, daß er nur um seines Freundes willen eingeladen werde; dann zog er sich zurück.

Als Charles vorschlug, sich selbstständig mit einander zu etabliren, antwortete Alphonse: »Es ist zu gut von dir, daß du mich wählst. Es könnte dir doch nicht schwer fallen, einen viel tüchtigern Compagnon zu finden als mich.«

Charles hatte gehofft, daß die veränderten Verhältnisse und das nahe Zusammenarbeiten Alphonse aus den Kreisen ziehen würde, welche er jetzt haßte, und daß dieser sich fester an ihn schließen würde. Denn eine unbestimmte Furcht hatte sich seiner bemächtigt, daß er seinen Freund verlieren würde.

Er wußte selbst nicht einmal – und es wäre auch schwer gewesen, das zu entscheiden, ob er eifersüchtig war auf alle Menschen, welche Alphonse umschwärmten, oder ob er seinem Freunde das Glück nicht gönnte, welches dieser überall machte.

Sie begannen ihr Geschäft vorsichtig und energisch, und es ging ihnen gut.

Man fand allgemein, daß sie sich in der glücklichsten Weise ergänzten. Charles repräsentirte das solide, vertrauenerweckende Element, während der schöne, elegante Alphonse der jungen Firma einen gewissen Glanz verlieh, der keinen ganz geringen Werth hatte.

Jeder, der ins Comtoir trat, wurde sofort auf seine stattliche Figur aufmerksam und es ergab sich ganz von selbst, daß jeder sich an ihn wandte.

Charles beugte sich über seine Arbeit und ließ Alphonse das Wort führen. Stellte dieser dann eine Frage an ihn, so antwortete er kurz und leise, ohne aufzusehen.

Deshalb glaubten die meisten, daß Charles ein vertrauter Commis und Alphonse der Chef des Hauses sei.

Als Franzosen dachten sie nicht viel daran sich zu verheiraten; aber als junge Pariser führten sie ein Leben, in welchem die Erotik eine große Rolle spielte.

Alphonse war eigentlich erst in seinem Element, wenn er mit Damen zusammen war. Dann trat seine ganze lustige Liebenswürdigkeit in ihr Recht, und wenn er sich beim Souper hintenüber lehnte und dem Diener sein flaches Champagnerglas hinreichte, war er so schön, wie ein glücklicher Gott.

Er hatte einen Nacken, wie ihn die Frauen gern zu liebkosen pflegen, und sein weiches, halblockiges Haar sah aus, als hätte eine kokette Damenhand es mit Sorgfalt derangirt.

Wieviele feine, weiße Finger hatten mit diesen Locken gespielt! Denn Alphonse besaß nicht nur die Eigenschaft, die Liebe aller Frauen zu erringen; er besaß auch die viel seltenere Gabe, zu machen, daß sie ihm verziehen.

Wenn die Freunde sich in fröhlicher Abendgesellschaft befanden, beachtete Alphonse seinen Freund niemals besonders. Er führte über seine eigenen Liebschaften keine Rechnung – wie viel weniger über die seines Freundes. Deshalb konnte es zuweilen vorkommen, daß eine Schönheit, auf welche Charles ein Auge geworfen hatte, in Alphonse' Hände fiel.

Charles war daran gewöhnt, seinen Freund im Leben vorgezogen zu sehen; aber es giebt doch einzelne Dinge, an welche die Männer sich nur schwer gewöhnen. Er besuchte selten die Soupers mit Alphonse, und es dauerte immer lange, bevor der Wein und die allgemeine Munterkeit ihn in Stimmung brachte.

Aber wenn der Champagner und die schönen Augen ihm erst zu Kopfe gestiegen waren, wurde er gern der Ausgelassenste von allen; dann sang er laut mit seiner harten Stimme, lachte und gesticulirte, bis ihm das schwarze, struppige Haar in die Stirn fiel und die muntern Damen vor ihm flüchteten und ihn den »Schornsteinfeger« nannten.

Wenn die Schildwacht in der belagerten Festung auf und ab geht, so hört sie zuweilen einen wunderlichen Laut in der stillen Nacht, als ob unter ihren Füßen etwas arbeite. Das ist der Feind, der die Außenwerke unterminirt hat, und diese Nacht oder die nächste Nacht wird ein dumpfer Knall ertönen, und bewaffnete Männer werden durch die Bresche hereinstürzen.

Wenn Charles genaue Wacht über sich selbst gehalten hätte, würde er wunderliche Gedanken in seinem Innern pulsiren gehört haben. Aber er wollte nicht hören; er hatte nur ein dunkles Vorgefühl, daß irgend etwas zerspringen müsse.

Und eines Tags zersprang es.

Es war schon nach der Geschäftszeit; das Personal hatte das äußere Comtoir verlassen, und nur die Principale waren noch anwesend.

Charles schrieb eifrig an einem Briefe, den er noch beenden wollte, bevor er ging.

Alphonse hatte schon beide Handschuhe angezogen und zugeknöpft. Dann hatte er seinen Hut gebürstet, bis er glänzte, und jetzt ging er im Bureau auf und nieder und blickte auf Charles' Brief jedes Mal, wenn er am Pulte vorüber ging.

Sie pflegten täglich eine Stunde vor der Mittagszeit in einem Café am großen Boulevard zuzubringen, und Alphonse begann, sich nach seinen Zeitungen zu sehnen.

»Wirst du denn garnicht fertig mit dem Brief?« sagte er endlich etwas ärgerlich.

Charles schwieg eine oder zwei Secunden; aber dann sprang er auf, daß der Stuhl zu Boden fiel: Vielleicht bilde Alphonse sich ein, daß er es besser machen könne? Wisse er denn nicht, wer eigentlich der Tüchtigere im Geschäfte sei? – und jetzt strömten die Worte mit jener unglaublichen Schnelligkeit hervor, welche der französischen Sprache eigen ist, wenn sie in heftiger Leidenschaft gesprochen wird.

Aber es war ein grausamer Sturm; er führte so viele böse Worte, Vorwürfe und Anklagen mit sich – und doch klang es durch das Ganze wie ein unterdrücktes Schluchzen.

Während er im Bureau hin und her lief, mit geballten Händen, das Haar in Unordnung, glich Charles einem kleinen, zotteligen Terrier, der einen feinen italienischen Windhund anbellt. Schließlich griff er nach seinem Hut und lief hinaus.

Alphonse hatte ihn mit großen, verwunderten Augen angesehen. Als er fort war und es im Gemache ruhig wurde, war es als zittere die Luft noch von den heftigen Worten. Jedes einzelne erklang wieder in Alphonse' Ohren, während er unbeweglich am Pulte stand.

Ob er denn nicht wisse, wer der Tüchtigere von beiden sei? – Ja, wahrhaftig! er hatte ja niemals geläugnet, daß Charles ihm weit überlegen sei.

Er solle nicht glauben, daß er sich mit seinem glatten Gesicht alles aneignen könne! – Alphonse war sich nicht bewußt, seinem Freunde jemals etwas geraubt zu haben.

»Ich kümmere mich nicht um deine Cocotten,« hatte Charles gesagt.

Sollte er wirklich ein Interesse für die kleine spanische Tänzerin gehegt haben? – Ja, hätte Alphonse eine Ahnung davon gehabt, so würde er sie gewiß nicht angesehen haben. Aber das war doch auch nichts, um darüber so außer sich zu gerathen; es gab ja Frauenzimmer genug in Paris.

Und dann schließlich: »Morgen im Tage heben wir die Compagnieschaft auf.«

Alphonse konnte das Ganze nicht begreifen. Er verließ das Comtoir und ging grübelnd in den Straßen auf und ab, bis er einen Bekannten traf. Dann kam er auf andere Gedanken; aber während des ganzen Tages hatte er die Empfindung, als laure etwas Schweres, Unheimliches auf ihn, das ihn packen würde, sobald er allein sei.

Als er spät in der Nacht nach Hause kam, fand er einen Brief von Charles. Er öffnete ihn schnell. Aber anstatt der erwarteten Entschuldigung enthielt er nur in kalten Worten eine Aufforderung an Mr. Alphonse früh am andern Morgen im Comtoir einzutreffen, »damit die besprochene Trennung der Firma so schnell wie möglich ins Werk gesetzt werden könne.«

Erst jetzt begann Alphonse zu begreifen, daß die Scene im Comtoir mehr als ein Ausbruch von vorübergehender Heftigkeit gewesen; aber dadurch wurde ihm die Sache noch unerklärlicher.

Und je länger er darüber nachdachte, desto ungerechter schien es ihm, daß Charles gegen ihn gewesen sei. Er war niemals böse auf seinen Freund gewesen und er war es auch jetzt noch nicht einmal. Aber indem er sich alle die Beleidigungen, welche Charles gegen ihn ausgestoßen hatte, ins Gedächtnis zurückrief, verhärtete sich sein gutmüthiges Herz; und am nächsten Morgen nahm er schweigend seinen Platz nach einem kalten »guten Tag« ein.

Obgleich er eine ganze Stunde früher als gewöhnlich kam, konnte er doch merken, daß Charles schon lange und fleißig gearbeitet hatte. Sie saßen jetzt an jeder Seite des Pultes; sie sprachen kaum die notwendigsten Worte; ein oder das andere Papier ging von Hand zu Hand, aber sie sahen sich nicht mehr in die Augen.

So arbeiteten sie beide – der eine eifriger als der andere – bis zwölf Uhr, ihre gewöhnliche Frühstückszeit.

Diese Frühstücksstunde war ihre Lieblingszeit. Sie ließen diese Mahlzeit immer im Comtoir serviren, und in demselben Augenblick, wo die alte Frau, welche die Reinigung des Comtoirs und das Frühstück der Principale zu besorgen hatte, meldete, daß das Dejeuner fertig sei, standen beide zugleich auf, selbst wenn sie mitten in einem Satz oder einer Berechnung waren.

Sie speisten dann am Kamin stehend oder indem sie in dem warmen, gemüthlichen Comtoir auf und ab gingen; Alphonse hatte immer einige pikante Geschichten zu erzählen und Charles lachte; das waren die glücklichsten Stunden für ihn.

Als aber Madame heute ihr freundliches: »vous êtes servis, Messieurs!« sagte, blieben beide auf ihren Sitzen. Sie machte große Augen und wiederholte die Worte, indem sie hinaus ging; aber keiner rührte sich.

Endlich wurde Alphonse hungrig. Er ging an den Tisch, schenkte sich ein Glas Wein ein und verspeiste sein Cotelette. Aber als er nun so mit dem Glase in der Hand da stand und kaute und sich in dem lieben Comtoir umsah, wo sie so manche frohe Stunde mit einander gehabt hatten, und sich dann sagte, daß sie dies alles aufgeben und sich das Leben sauer machen sollten um einer Grille, einer plötzlich aufwallenden Heftigkeit willen, da erschien die Situation ihm plötzlich so verkehrt, daß er sich versucht fühlte, laut auf zu lachen.

»Hörst du, Charles!« sagte er mit dem halb ernsten, halb scherzenden Ton, der Charles stets lachen machte, »im Grunde genommen ist es doch wunderlich bekannt zu machen: »Nach freundschaftlichem Uebereinkommen ist vom heutigen Tage an die Firma – – –«

»Ich habe gedacht,« sagte Charles ruhig, »daß wir setzen: »nach gegenseitigem Uebereinkommen.«

Alphonse lachte nicht mehr; er setzte das Glas auf den Tisch und das Cotelette schmeckte plötzlich bitter.

Er verstand jetzt, daß ihre Freundschaft todt sei; wie und weshalb, das war ihm unklar; aber es schien ihm, daß Charles hart und ungerecht sei. So wurde er noch steifer und kälter als der andere.

Sie arbeiteten zusammen, bis das Geschäft getheilt war, dann trennten sie sich.

Eine geraume Zeit war hingegangen, und die beiden früheren Freunde arbeiteten jeder auf eigene Rechnung in dem großen Paris. Sie trafen sich auf der Börse, aber sie machten niemals Geschäfte mit einander. Charles arbeitete Alphonse niemals entgegen, er wollte ihn nicht ruiniren, er wollte, daß er sich selbst ruiniren solle.

Und es schien, als würde Alphonse hierin den Wunsch seines Freundes erfüllen. Allerdings machte er hier und da ein gutes Geschäft; aber die solide Arbeit, welche er bei Charles gelernt hatte, vergaß er bald. Er begann sein Comtoir zu vernachlässigen und verlor mehre gute Verbindungen.

Er hatte stets Sinn für ein bequemes und luxuriöses Leben gehabt, aber sein Zusammenleben mit dem nüchternen Charles hatte bis jetzt seine flotten Gelüste im Zaune gehalten. Jetzt hingegen wurde sein Leben immer übermüthiger; sein Bekanntenkreis erweiterte sich mehr und mehr und er war stets der glänzende und gesuchte Monsieur Alphonse; aber Charles hatte ein wachsames Auge für die wachsende Schuld.

Er ließ Alphonse so genau überwachen, wie es sich überhaupt thun ließ, und da ihre Geschäfte von derselben Art waren, konnte er auf alle Fälle die Einnahmen des andern ungefähr berechnen. Die Ausgaben waren noch leichter zu controlliren, und bald entdeckte Charles, daß Alphonse an verschiedenen Stellen beträchtliche Schulden habe.

Er unterhielt einzelne Bekanntschaften, um welche er sich sonst garnicht gekümmert haben würde, nur weil er durch diese einen Einblick in Alphonse' kostbaren Haushalt und unüberlegte Verschwendung erhielt. Er besuchte dieselben Café's und Restaurants wie Alphonse, aber zu andern Zeiten wie er; ja, er ließ sogar seine Anzüge bei Alphonse' Schneider arbeiten, weil dieser redselige, kleine Herr ihn mit Klagen darüber unterhielt, daß Monsieur Alphonse niemals seine Rechnungen bezahlte.

Charles dachte oft daran, wie leicht es sein würde, einen Theil der Forderungen an Alphonse aufzukaufen und sie in die Hände eines hartherzigen Wucherers zu bringen. Aber man würde Charles großes Unrecht thun, wenn man glaubte, daß er auch nur einen Augenblick daran dachte, es selbst zu thun. Es war nur ein Gedanke, dem er gern nachhing; er war gleichsam verliebt in Alphonse' Schulden.

Aber es ging so langsam und Charles wurde bleich und fahl, während er umher ging und wartete.

Er wartete auf den Augenblick, wo allen diesen Menschen, welche ihn stets übersehen hatten, die Augen aufgehen und sie sehen würden, wie wenig dieser glänzende und vergötterte Alphonse in Wirklichkeit taugte. Er wollte ihn gedemüthigt, von seinen Freunden verlassen, einsam und arm sehen, und dann – – – – –

Ja, weiter konnte er nicht denken; denn bei diesem Punkt angekommen, rührten sich stets Gefühle in ihm, mit denen er nichts mehr zu thun haben wollte.

Er wollte seinen früheren Freund hassen, er wollte Rache üben für all die Kälte und Zurücksetzung, die ihm während seines ganzen Lebens zu Theil geworden war; und sobald irgend ein kleiner Gedanke Alphonse' Verteidigung versuchte, schob er diesen bei Seite und sagte wie der alte Banquier: »Sentimentalität taugt nicht für einen Geschäftsmann.«

Eines Tages ging er zu seinem Schneider; im Grunde genommen brauchte er während dieser Zeit mehr Kleider als unumgänglich nöthig gewesen wäre.

Der kleine, behende Mann lief ihm gleich mit einer Rolle Zeug entgegen: »Sehen Sie, hier ist ein prächtiger Stoff für Sie. Monsieur Alphonse läßt sich einen ganzen Anzug davon machen – und Monsieur Alphonse ist ein Herr, der sich zu kleiden versteht.«

»Ah, ich glaubte nicht,« sagte Charles ein wenig überrascht, daß Monsieur Alphonse zu Ihren besten Kunden gehöre.«

»O mein Gott,« rief der kleine Schneider, »Sie meinen, weil ich ein paar Mal davon gesprochen habe, daß Monsieur Alphonse mir ein paar tausend Franken schuldete? Es war dumm genug von mir, derartige Aeußerungen zu machen. Monsieur Alphonse hat nicht allein mir die Kleinigkeit gezahlt, welche ich zu Gute hatte, sondern ich weiß auch, daß er eine Menge anderer Creditoren, welche ich kenne, befriedigt hat. Ich habe dem lieben, hübschen Herrn sehr Unrecht gethan, und ich bitte Sie inständigst, von meiner Dummheit keinen Gebrauch zu machen.«

Charles hörte nichts mehr, was der redselige Schneider plauderte. Er verließ bald den Laden und ging die Straße hinauf, nur mit dem einen Gedanken beschäftigt, daß Alphonse bezahlt habe.

Er dachte daran, wie jämmerlich es im Grunde war, daß er so umher ging und auf den Ruin des andern wartete. Wie leicht konnte der kluge und glückliche Alphonse nicht manches glänzende Geschäft machen und viel Geld verdienen, ohne daß Charles ein Wort davon erfuhr. Vielleicht, wenn eins zum andern kam, ging es ihm gut; vielleicht endigte es noch damit, daß die Leute sagten: »Seht, erst jetzt zeigt es sich, wozu Mr. Alphonse taugt, nachdem er seinen schwerfälligen, griesgrämigen Compagnon los geworden ist!«

Mit gesenktem Kopf ging Charles langsam die Straße hinauf; er bekam manchen Puff, aber er bemerkte es nicht. Es schien ihm, daß sein Leben so inhaltlos sei; es war, als habe er alles verloren, das er nicht besessen – oder hatte er selbst es von sich geworfen? Da bekam er einen mehr als gewöhnlich starken Puff. Er blickte auf; es war ein Bekannter aus der Zeit, als er und Alphonse noch im Crédit lyonnais angestellt waren.

»Ich, sehen Sie doch, guten Tag, Monsieur Charles!« rief dieser, »lange her, seitdem wir uns gesehen haben. Und wunderlich genug, daß ich Sie grade heute treffe. Habe den ganzen Vormittag an Sie gedacht.«

»Aus welcher Veranlassung, wenn ich fragen darf?« fragte Charles zerstreut.

»Ja, sehen Sie! Sah grade heute oben in der Bank ein Papier – einen Wechsel von 30 - 40 000 Franken, der Ihren und Mr. Alphonse' Namen trug. Wunderte mich. Glaubte, daß die Herren – hm! – mit einander fertig seien.«

»Nein – wir sind noch nicht ganz fertig mit einander,« sagte Charles langsam.

Er bestrebte sich mit aller Macht, seine Züge zu beherrschen, und dann fragte er in möglichst ruhigem Tone: »Wann ist der Wechsel fällig? – ich erinnere mich wahrhaftig nicht genau.«

»Morgen oder übermorgen – glaube ich,« antwortete der andere, der ein eifriger Geschäftsmann und schon im Begriff war, sich zu verabschieden, – »es war Mr. Alphonse' Accept.«

»Das weiß ich,« sagte Charles, »aber könnten Sie es nicht so einrichten, daß ich den Wechsel schon morgen zur Einlösung bekäme? Es ist eine Höflichkeit – ein Entgegenkommen, das ich gern erzeigen möchte – –«

»Mit Vergnügen! Lassen Sie Ihren Diener mich morgen Nachmittag persönlich in der Bank aufsuchen. Ich werde das Ganze arrangiren – nichts leichter als das! Entschuldigen Sie! habe Eile! Leben Sie wohl!« – und damit lief er weiter.

Am nächsten Tage saß Charles im Comtoir und wartete auf den Bureaudiener, welchen er in die Bank geschickt hatte, um Alphonse' Accept einzulösen.

Endlich trat ein Commis ein und legte ein zusammengelegtes, blaues Papier vor den Principal. Dann ging er wieder.

Erst nachdem die Thür wieder geschlossen war, griff Charles nach dem Wechsel, sah sich hastig im Gemache um und öffnete ihn dann. Er starrte ein paar Secunden auf seinen Namen, dann lehnte er sich in den Stuhl zurück und athmete tief auf. Es war, wie er gedacht hatte. Die Unterschrift war gefälscht.

Er beugte sich wieder vorüber. Lange saß er und betrachtete seinen eigenen Namen, er bemerkte, wie schlecht er gefälscht war.

Während seine scharfen Augen jede Linie in dem Namenszug verfolgten, dachte er an garnichts. Sein Gemüth befand sich in einer so furchtbaren Erregung, und so seltsam verwirrt waren seine Empfindungen, daß es lange dauerte, bevor er sich klar darüber ward, wieviel diese unsicheren Schriftzüge auf dem blauen Papier bedeuteten.

Bevor er es selbst wußte, fiel eine große Thräne auf das Papier.

Hastig blickte er um sich; dann nahm er sein Taschentuch und trocknete sorgsam den nassen Fleck vom Papier. Er mußte wieder an den alten Banquier in der Rue Bergère denken.

Was ging es ihn denn eigentlich an, daß Alphonse' schwacher Charakter ihn endlich zum Verbrecher gemacht hatte? Und was hatte er verloren? Nichts. Denn er haßte ja seinen früheren Freund. Niemand konnte ihm die Schuld beimessen, daß Alphonse zu Grunde gegangen war; er hatte ja ehrlich gehandelt und ihm niemals geschadet.

So dachte er an Alphonse. Er kannte ihn gut genug um zu wissen, daß wenn der seine, reine Alphonse so tief gesunken war, er an dem Rande des Lebens angekommen sein müsse, fertig, mit einem Satz aus demselben zu scheiden, bevor die Schande ihn erreichen konnte.

Bei diesem Gedanken fuhr Charles empor. Das durfte nicht geschehen. Alphonse sollte nicht Zeit finden, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen und seine Schande in der Mischung von Grauen und Mitleid zu verbergen, welche stets einem Selbstmörder folgt. Denn sonst würde er ja nicht Rache nehmen können; dann wäre es ja umsonst gewesen, daß er umher gegangen war und seinen Haß genährt hatte, bis er schlecht dabei geworden war. Hatte er seinen Freund für immer verloren, so wollte er jetzt auf jeden Fall seinen Feind bloßstellen; so sollten alle Menschen sehen, welch ein elender, verächtlicher Kerl er war, dieser bezaubernde Alphonse.

Er sah auf die Uhr. Es war halb fünf. Charles wußte in welchem Café er Alphonse um diese Zeit treffen könne; er steckte den Wechsel zu sich und knöpfte den Rock zu.

Aber auf dem Wege dorthin wollte er noch in ein Polizeibureau eintreten, einem Civilbeamten den Wechsel übergeben, und dann sollte dieser auf ein Zeichen von Charles mitten in das Café treten, wo Alphonse stets von seinen Freunden und Bewunderern umgeben war, und laut und deutlich und für jedes Ohr vernehmbar sagen:

»Monsieur Alphonse! Sie sind des Betruges angeklagt.« Regenwetter in Paris! Den ganzen Tag war es nebelig und graukalt gewesen; aber im Laufe des Nachmittags hatte es angefangen zu regnen. Es war kein Gußregen; das Wasser entströmte nicht in ordentlichen Tropfen den Wolken; nein, es schien vielmehr, als hätten die Wolken selbst sich in die Straßen von Paris gelegt und verwandelten sich dort langsam zu Wasser.

Wie man sich auch zu schützen suchte, man wurde doch von allen Seiten naß. Die Feuchtigkeit stahl sich in den Nacken hinein, legte sich wie eine nasse Serviette auf die Kniee, drängte sich in die Stiefel und kroch hoch an den Beinkleidern hinauf.

Einzelne sanguinische Damen standen hochaufgeschürzt in den Hausthüren und warteten, daß der Regen aufhören solle; andere warteten stundenlang auf den Omnibus. Aber die meisten Männer arbeiteten sich unter ihren Regenschirmen vorwärts; nur wenige waren so vernünftig gewesen, das Ganze aufzugeben; sie hatten die Kragen aufgeschlagen, den Regenschirm unter den Arm geschoben und die Hände in die Taschen gesteckt.

Obgleich es noch früh im Herbst war, so herrschte doch schon um fünf Uhr Halbdunkel. Eine einzelne Gasflamme wurde in den engsten Gassen angezündet und eine oder die andere Boutique versuchte durch die dicke, nasse Luft zu strahlen.

Die Menschen wimmelten wie gewöhnlich in den Straßen, stießen einander vom Trottoir herunter und ruinirten sich gegenseitig ihre Regenschirme. Alle Droschken waren besetzt; sie fuhren vorüber und bespritzten die Fußgänger nach bester Möglichkeit, während das Asphaltpflaster mit seinem zähen Ueberzug von Schmutz in der matten Beleuchtung erglänzte.

Die Café's waren überfüllt; die Stammgäste gingen umher und schalten, während die Kellner einander in der Eile fast umrannten. Mitten in der Verwirrung hörte man den kleinen, scharfen Laut der Glocke am Büffet; die dame du comptoir rief einen Aufwärter, während ihre ruhigen Augen die Aufsicht über das ganze Café führten. In einem großen Restaurant am Boulevard Sewastopol saß eine Dame am Büffet. Sie war überall wegen ihrer Tüchtigkeit und ihres liebenswürdigen Wesens bekannt.

Sie hatte glänzendes, schwarzes Haar, welches sie trotz der Mode auf der Stirn gescheitelt trug. Ihre Augen waren beinahe schwarz, die Lippen voll, über ihnen ein leiser, dunkler Schatten.

Ihre Figur war noch sehr schön, obgleich sie wohl in aller Stille ihr dreißigstes Jahr überschritten haben konnte, und sie hatte eine kleine, weiche Hand, mit welcher sie die zierlichsten Zahlen in ihr Kassabuch und ab und zu ein kleines Billet schrieb. Madame Virginie konnte sich mit den jungen Laffen, welche das Büffet umstanden, unterhalten und ihre Witze pariren, während sie mit den Aufwärtern Abrechnung hielt und jeden Winkel des großen Saales im Auge hatte.

Eigentlich hübsch war sie nur zwischen fünf und sieben Uhr am Nachmittag – dies war die Zeit, um welche Alphonse regelmäßig das Café besuchte. Dann wichen ihre Augen nicht von ihm, sie bekam frischere Farben, ihr Mund war bereit zu lächeln und in ihren Bewegungen lag etwas Nervöses. Dies war die einzige Tageszeit, wo es ihr geschehen konnte, daß sie eine verkehrte Antwort gab oder einen Rechenfehler machte; dann kicherten die Kellner und stießen einander in die Seite.

Denn man glaubte allgemein, daß sie früher ein Verhältnis mit Alphonse gehabt habe, und einige wollten sogar wissen, daß sie noch seine Geliebte sei.

Sie selbst wußte am besten, wie dies zusammenhing; aber es war unmöglich auf Alphonse böse zu sein. Sie wußte wohl, daß er sich um sie nicht mehr als um zwanzig andere kümmerte, daß sie ihn verloren hatte, ja, daß er eigentlich niemals ihr eigen gewesen. Und doch bettelten ihre Augen um einen freundlichen Blick, und wenn er das Café ohne einen vertraulichen Gruß für sie verließ, so war es als erbleiche sie, und die Kellner sagten zu einander: Seht Madame an – heute Abend ist sie grau.

Dort an den Fenstern war es noch hell genug, um die Zeitungen lesen zu können; ein paar junge Leute unterhielten sich damit, die vorüberströmenden Menschen zu mustern. Wenn man durch die großen Spiegelscheiben all diese eilenden Gestalten ansah, welche in der dicken, nassen Luft an einander vorüber glitten, so glichen sie Fischen in einem Aquarium. Weiter drinnen im Café und über den Billards war das Gas angezündet. Alphonse ging und spielte mit einigen Freunden.

Er war am Büffet gewesen und hatte Madame Virginie begrüßt, und sie, die schon seit lange bemerkt hatte, wie Monsieur Alphonse täglich bleicher wurde, hatte ihm halb scherzhaft, halb ernsthaft Vorwürfe über sein leichtsinniges Leben gemacht.

Alphonse antwortete mit einem matten Scherz und bat um Absynth.

Wie sie diese leichten Damen von der Oper und vom Ballet haßte, die Monsieur Alphonse Nacht für Nacht an den Spieltisch oder zu endlosen Soupers lockten! Wie krank er während der letzten Wochen aussah! Er war so mager geworden und die großen, milden Augen hatten einen stechenden, unruhigen Blick angenommen. Was würde sie nicht geben, ihn diesem Leben entziehen zu können, das ihn vernichtete; sie sah ihr Bild im Spiegel gegenüber und meinte, daß sie doch hübsch genug sei.

Dann und wann öffnete sich die Thür und ein neuer Gast trat ein, stampfte mit den Füßen und schlug den nassen Regenschirm zusammen. Alle verbeugten sich vor Madame Virginie und fast jeder sagte: »welch ein abscheuliches Wetter!«

Als Charles eintrat, grüßte er kurz und nahm am Kamin Platz.

Alphonse' Augen waren wirklich unruhig geworden; jedes Mal, wenn jemand eintrat, blickte er nach der Thür, und als Charles sich zeigte, verzerrten sich seine Züge und er stieß fehl.

»Monsieur Alphonse spielt heute schlecht,« sagte ein Zuschauer.

Bald darauf trat ein fremder Herr ein. Charles blickte von seiner Zeitung auf und verbeugte sich leicht; der Fremde zog die Augenbrauen ein wenig empor und blickte auf Alphonse.

Dieser ließ die Billardqueue zu Boden fallen.

»Verzeihen Sie, meine Herren, ich bin heute durchaus nicht zum Billardspiel aufgelegt,« sagte er, »erlauben Sie, daß ich aufhöre. – Kellner! bringen Sie mir eine Flasche Selterwasser und einen Löffel, – ich muß meine Dosis Vichy-Salz nehmen.«

»Sie sollten nicht so viel Vichy-Salz nehmen, Monsieur Alphonse, sondern lieber eine vernünftige Diät halten,« sagte der Doctor, der nicht weit davon saß und Schach spielte.

Alphonse lachte und setzte sich an den Zeitungstisch. Er nahm das Journal amusant und begann lustige Bemerkungen über die Illustrationen zu machen. Bald sammelte sich ein kleiner Kreis um ihn, und er war unerschöpflich in pikanten Geschichten und schnurrigen Einfällen.

Und während er mit den anderen lachte, schenkte er sich ein Glas Selterwasser ein und nahm darauf eine kleine Schachtel hervor, auf der mit großen Buchstaben: »Vichy-Salz« geschrieben stand.

Er schüttelte das Pulver in das Glas und rührte es mit dem Löffel um. Vor dem Stuhl auf der Erde lag ein wenig Cigarrenasche; diese schlug er mit dem Taschentuch fort, dann streckte er die Hand nach dem Glase aus.

In demselben Augenblick fühlte er eine Hand auf seinem Arm. Charles hatte sich erhoben und war schnell durch den Saal geschritten; jetzt beugte er sich über Alphonse.

Dieser wandte ihm den Kopf zu, so daß außer Charles niemand sein Gesicht sehen konnte. Erst ließ er die Augen unsicher über die Gestalt seines alten Freundes schweifen; aber dann schlug er sie voll auf und indem er sie auf Charles heftete, sagte er halblaut: »Charlie!«

Es war lange, lange seitdem Charles diesen alten Schmeichelnamen gehört hatte. Er starrte in das wohlbekannte Angesicht, und erst jetzt sah er, wie sehr dasselbe sich in der letzten Zeit verändert hatte. Es war ihm, als läse er dort eine traurige Geschichte über sich selbst.

So standen sie ein paar Secunden, und über Alphonse' Züge glitt ein Ausdruck flehender Hilflosigkeit, den Charles noch so gut aus der Schulzeit kannte, wenn Alphonse im letzten Augenblick athemlos daher gelaufen kam und seinen Aufsatz geschrieben haben wollte.

»Bist du fertig mit dem Journal amüsant?« fragte Charles mit unsicherer Stimme.

»Ja, bitte sehr!« antwortete Alphonse schnell. Er reichte ihm das Blatt und erfaßte zugleich Charles Zeigefinger. Er kniff diesen und flüsterte: »Danke;« dann leerte er das Glas.

Charles ging zu dem fremden Herrn, welcher an der Thür saß und sagte: »Geben Sie mir den Wechsel.«

»Sie brauchen also meinen Beistand nicht?«

»Nein, ich danke.«

»Desto besser,« sagte der Fremde und gab Charles ein zusammengelegtes, blaues Papier; dann bezahlte er seinen Kaffee und ging.

Madame Virginie erhob sich mit einem leisen Schrei: »Alphonse! – o mein Gott! Monsieur Alphonse ist krank!«

Er glitt vom Stuhl herab, die Schultern schoben sich in die Höhe und der Kopf fiel auf die Seite. Er blieb auf dem Fußboden sitzen, den Rücken gegen den Stuhl gestützt.

Unter den zunächst Sitzenden entstand eine Bewegung; der Doctor sprang hinzu und knieete neben ihn hin. Als er Alphonse ins Gesicht blickte, stutzte er ein wenig. Er nahm seine Hand, um den Puls zu fühlen, und beugte sich in demselben Augenblick über das Glas, welches am Rande des Tisches stand.

Mit einer kleinen Handbewegung stieß er an dasselbe, so daß es zu Boden fiel und zerbrach. Dann legte er die Hand des Todten leise hin und band ihm ein Taschentuch um das Kinn.

Jetzt erst verstanden die andern, was geschehen war: »Todt? – ist er todt – Doctor? Monsieur Alphonse todt?«

»Ein Herzschlag,« antwortete der Arzt.

Einer kam mit Wasser gelaufen; ein anderer mit Essig; zwischen Lachen und Scherzen hörte man von dem inneren Billard her die Kugeln caramboliren.

»Stille!« flüsterte man; »stille,« wurde wiederholt, und die Stille verbreitete sich in immer größeren Kreisen um die Leiche, bis endlich alles ruhig war.

»Kommt und faßt an,« sagte der Doctor.

Der Todte wurde aufgehoben; sie legten ihn auf ein Sopha im Winkel des Zimmers, und die nächsten Gasflammen wurden ausgelöscht.

Madame Virginie stand noch da; sie war kreideweiß im Gesicht und hielt die kleine, weiche Hand gegen die Brust gedrückt. Sie trugen ihn am Büffet vorüber. Der Arzt hatte ihn unter den Rücken gefaßt, so daß die Weste hinauf glitt und ein Stück des feinen, weißen Hemdes sichtbar wurde.

Sie folgte mit den Augen jener schlanken, geschmeidigen Gestalt, die sie so gut kannte und starrte dann unablässig in jenen dunklen Winkel.

Die meisten Gäste entfernten sich leise. Ein paar junge Herren kamen lärmend von der Gasse herein, ein Aufwärter lief ihnen entgegen und sagte ihnen einige Worte. Sie blickten verstohlen nach dem Winkel, knöpften den Rock wieder zu, und tauchten vom neuen in den Nebel hinaus.

Das halbdunkle Café wurde leer; nur die nächsten Freunde des Todten standen in einer Gruppe und flüsterten. Der Arzt sprach mit dem Wirth, der auch dazu gekommen war.

Die Kellner schlichen hin und her, indem sie einen großen Bogen um den dunklen Winkel beschrieben. Einer von ihnen lag auf den Knieen und sammelte die Glasscherben auf ein Brett. Er machte seine Arbeit so lautlos wie möglich; aber es war dennoch zu viel Lärm.

»Laß das bis später,« sagte leise der Wirth.

Auf den Kamin gestützt, betrachtete Charles seinen todten Feind. Langsam zerriß er ein zusammengefaltetes, blaues Papier und dachte an seinen Freund.


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