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»Seht nur zu, daß ihr zusammen kommt,« sagte Frau Olsen.
»Ja, ich begreife nicht, weshalb ihr euch nicht jetzt zum Herbste verheirathet,« rief das ältere Fräulein Ludvigsen, das für die wahre Liebe schwärmte.
»Ach ja!« rief Fräulein Louise, welche Brautjungfer sein sollte.
»Aber Sören sagt, daß er kein Geld hat,« sagte die Verlobte etwas kleinlaut.
»Kein Geld!« wiederholte Fräulein Ludvigsen, »wie ein junges Mädchen nur ein solches Wort über seine Lippen bringen kann! Wenn du deine junge Liebe jetzt schon von solchen prosaischen Berechnungen überwuchern lassen willst, was bleibt denn da zurück von dem idealen Glanz, welchen nur die Liebe über das Leben zu verbreiten vermag. Daß ein Mann solche Rücksichten zu nehmen gezwungen ist, das kann ich zur Noth noch begreifen – es ist ja gewissermaßen seine Pflicht – aber eine zarte Frauenseele im blühenden Liebeslenz! – nein, nein Marie! Laß diese gemeinen Geldfragen dir um Gottes willen dein Glück nicht verdunkeln.«
»Ach nein!« rief Fräulein Louise.«
»Und außerdem,« nahm Frau Olsen das Wort, »außerdem hat dein Schatz ja garnicht so wenig zum leben. Mein Mann und ich fingen mit viel weniger an. – Ich weiß, du willst sagen, daß es damals noch andere Zeiten waren. Ja, Gott sei's geklagt, das wissen wir; mich wundert es nur, daß ihr nicht endlich müde werdet, uns das zu erzählen. Glaubt ihr denn nicht, daß wir Alten, die wir selbst den Uebergang erlebt haben, am besten den Unterschied zwischen einst und jetzt kennen? Wenn ich als erfahrene Hausfrau dir also sage, daß der Gehalt deines Bräutigams bei meinem Manne in Verbindung mit dem, was er leicht noch durch Extra-Arbeit verdienen kann, hinreichend ist, um darauf zu heirathen, so kannst du wohl glauben, daß ich dabei die gehörige Rücksicht auf die veränderten Verhältnisse nehme.«
Frau Olsen war förmlich in Hitze gekommen, obgleich niemand daran dachte, ihr zu widersprechen. Aber sie hatte sich schon so oft bei Gesprächen dieser Art ärgern müssen, wenn sie hörte, wie besonders die jungen Frauen sich darin ergingen zu behaupten, daß vor dreißig Jahren alles so lächerlich billig gewesen sei. Es war grade, als wollten sie die mustergültige Art, in welcher sie ihren Hausstand geführt hatte, verringern und verkleinern!
Dieses Gespräch machte einen tiefen Eindruck auf die Braut; denn sie hatte viel Vertrauen zu der klugen und erfahrenen Frau Olsen. Und diese hatte sich Mariens eifrig angenommen, seitdem sie sich mit dem Vertreter des Hardesvogts verlobt hatte. Sie war eine energische Frau, und da ihre eigenen Kinder schon erwachsen und nach allen Richtungen hin verheirathet waren, so war es eine willkommene Ableitung für ihre Lust zum Wirken, sich des jungen Brautpaars und seiner Angelegenheiten annehmen zu können.
Mariens Mutter dagegen war eine sehr schweigsame Dame. Ihr Mann, der ein kleines Amt bekleidet hatte, war so frühzeitig gestorben, daß ihre Pension nur äußerst klein war. Sie war aus guter Familie und hatte in ihrer Jugend nichts anderes gelernt als Pianoforte spielen. Aber sie hatte längst aufgehört, diese Fertigkeit zu üben und war im Laufe der Zeit außerordentlich religiös geworden.
»Hören Sie einmal, mein lieber Bevollmächtigter! Denken Sie denn garnicht daran, sich zu verheirathen?« fragte der Hardesvogt in seiner gutmüthigen Weise.
»Ja!« antwortete Sören sehr langgezogen, »wenn ich Geld habe.«
»Geld!« wiederholte der Hardesvogt, »Sie sind ja doch garnicht schlecht gestellt. Ich weiß, daß Sie etwas zurückgelegt haben.«
»Eine unbedeutende Kleinigkeit,« schob Sören ein.
»Also – wenn auch unbedeutend, so zeigt es doch, daß Sie ökonomischen Sinn haben, und der ist viel Geld werth. Mit Ihrem guten Examen, Ihren Familienverbindungen und übrigen Connectionen in der Hauptstadt können Sie ja bald ein kleines Amt bekommen, und ist man erst einmal auf der Beamtenlaufbahn, dann geht es – wie Sie wissen – von selbst.«
Sören kaute auf der Feder und sah rathlos aus.
»Stellen wir uns also vor,« fuhr der Principal fort, »daß Sie Dank Ihrer Sparsamkeit Ihre Wohnung ohne besondere Schulden einrichten können, so haben Sie ja Ihren Vollmachts-Gehalt und das, was Sie noch durch Extra-Arbeit verdienen können. Und das müßte doch wunderlich zugehen, wenn ein Mann von Ihrer Tüchtigkeit seine überflüssige Zeit nicht einträglich verwenden könnte, in einer aufblühenden Handelsstadt wie die unsere.«
Sören dachte den ganzen Vormittag über die Worte des Hardesvogts nach; es stand ihm immer klarer vor Augen, daß er die ökonomischen Schwierigkeiten, welche sich seiner Heirath in den Weg stellten, überschätzte, und im Grunde genommen war es ja wahr, daß die Bureau-Arbeit ihm noch viel Zeit übrig ließ.
Heute war er mit seiner Braut zum Mittagsessen beim Principal eingeladen. Im Ganzen genommen trafen die Verlobten sich eben so oft beim Hardesvogt, wie in Mariens Wohnung. Denn die eigenthümliche Fertigkeit, welche Frau Möller – Mariens Mutter – sich angeeignet hatte, allen Gesprächen einen religiösen Ausgang zu geben, hatte durchaus nichts anziehendes für die jungen Leute.
Bei Tische war die Rede von einem kleinen, schmucken Hause, das Frau Olsen entdeckt hatte, »so ein rechtes Nest für Neuvermählte«, wie sie sich ausdrückte. Im Laufe des Gesprächs erkundigte Sören sich nach dem Preise und fand diesen noch ganz vernünftig im Verhältnis zu der Beschreibung, welche die Frau machte.
Wenn Frau Olsen diese Heirath so gern beschleunigt sehen wollte, so geschah dies in erster Linie – wie gesagt – um sich mit irgend etwas zu beschäftigen; und dann entsprang es aus dem unbestimmten Wunsche, daß überhaupt irgend etwas vor sich gehen sollte – ein psychologisches Phänomen, das nicht selten in kleinen, einförmigen Verhältnissen bei energischen Charakteren vorkommt.
Der Hardesvogt arbeitete nach derselben Richtung; erstens, weil die Frau es befohlen hatte, und zweitens, weil er glaubte, daß wenn Sören erst mit Fräulein Marie, die seinem Hause so viel Dank schuldete, verheirathet sein würde, er noch fester an das Bureau gefesselt wäre. Der Hardesvogt war mit seinem Bevollmächtigten sehr zufrieden!
Nach Tische gingen die Verlobten im Garten spazieren.
Sie sprachen so seltsam kurzathmig mit einander, bis Sören in einem Tone, der leicht klingen sollte, die Bemerkung hinwarf: »Was meinst du, wenn wir uns im Herbst heiratheten?«
Marie vergaß erstaunt zu sein; sie war mit denselben Gedanken umher gegangen, und deshalb antwortete sie, indem sie zu Boden blickte: »Ja, wenn du meinst, daß es geht, so habe ich gewiß nichts dagegen.«
»Laß uns einmal rechnen,« sagte Sören und zog sie ins Lusthaus.
Eine halbe Stunde später traten sie Arm in Arm in den Sonnenschein hinaus. Es war, als strahlten sie selbst auch; denn es liegt immer ein Glanz auf einem kecken Entschluß, der nach reiflicher Ueberlegung und ernster Berechnung gefaßt wird.
Einer oder der andere mag nun wohl meinen, daß man nicht unbedingt auf die Richtigkeit eines Rechenexempels bauen soll, nur weil zwei Liebende ganz dasselbe Facit gezogen haben; besonders wenn das Problem sich um die Wahl der höchsten Glückseligkeit oder der Entsagung gedreht hat.
Sören hatte, während sie rechneten, auch einige Anfechtungen gehabt. Es war ihm eingefallen, wie er in der Studentenzeit in hochtrabenden Worten von der Verantwortung gesprochen hatte, welche man der Nachkommenschaft gegenüber hat, – wie er auf philosophischen Umwegen das Egoistische in der Liebe nachgewiesen und die lächerliche Frage aufgeworfen hatte, ob man so ohne weiteres das Recht habe, Kinder in die Welt zu setzen.
Aber die Zeit und das praktische Leben hatten ihn glücklicherweise von diesen müßigen und schädlichen Gedankenexperimenten geheilt. Und außerdem war er viel zu sittlich und wohlerzogen, um die nichts ahnende Geliebte dadurch kränken zu wollen, daß er eine so frivole Aussicht wie die, viele Kinder zu bekommen, mit in seine Berechnung aufnahm. Das ist ja grade das Reizende, daß die jungen Leute solche Dinge dem lieben Herrgott und dem Storch überlassen.
Nicht allein beim Hardesvogt war große Freude, sondern fast die ganze Stadt gerieth in eine Art Fieberzustand bei der Nachricht, daß der Bevollmächtigte im Herbst heirathen würde. Denn die, welche eine Einladung zur Hochzeit erwarten durften, freuten sich schon lange vorher, und die, welche nicht darauf rechnen konnten, ärgerten sich und lästerten; aber die, welche wußten, daß sie auf der Expectantenliste standen, waren halb von Sinnen vor Erwartung. Und jede Gemüthsbewegung hat in solch einer kleinen Stadt Werth.
Frau Olsen war eine muthige Dame, und doch klopfte ihr Herz, als sie sich auf den Weg zur Witwe Möller machte. Es ist so eine eigne Sache drum, eine Mutter zu fragen, ob man die Hochzeit ihrer Tochter in seinem Hause halten dürfe. Aber sie hätte sich ihre Angst sparen können.
Denn Frau Möller scheute jede Anstrengung fast ebenso sehr, wie sie die Sünde in jeglicher Gestalt scheute, und deshalb fühlte sie eine große Erleichterung bei Frau Olsen's Vorschlag, welcher mit einer für diese Dame ungewöhnlichen Delicatesse gemacht wurde. Es war indessen nicht Frau Möllers Art, eine zufriedene Stimmung zu zeigen. Da ja im Grunde genommen alles auf irgend eine Weise ein »Kreuz« war, so ließ sie es auch jetzt durchschimmern, daß ihre Geduld im Stande sei, jede Schickung zu ertragen.
Frau Olsen kam strahlend von diesem Besuch zurück. Sie hätte die Hälfte der Freude an dieser Heirath eingebüßt, wenn es ihr nicht gestattet worden wäre, die Hochzeit in ihrem Hause zu feiern; denn Hochzeitfeiern waren ihre Specialität. Dann legte sie ihre Sparsamkeit bei Seite, und die Befriedigung, welche sie darüber empfand, ihre ganze Arbeitskraft brauchen zu können, machte sie beinahe liebenswürdig. Außerdem war das Amt ja ein gutes, und Olsens hatten immer ein kleines Vermögen gehabt, von dem jedoch niemals gesprochen wurde.
Die Hochzeit wurde also gefeiert, und eine prächtige Hochzeit war es. Fräulein Ludvigsen hatte ein reimfreies Lied über die wahre Liebe gedichtet; dieses wurde bei Tische gesungen, und Louise war von allen Brautjungfern die hübscheste.
Die Neuvermählten zogen in das von Frau Olsen entdeckte Nest, um diesen halbbewußten Zustand festlicher Glückseligkeit zu beginnen, welchen die Engländer »Honigmonat« nennen, weil er so süß ist, und die deutschen »Flitterwochen«, weil der Glanz so hurtig schwindet, und die Skandinavier »Weizenbrottage«, weil sie wissen, daß die Hausmannskost bald darauf folgt.
Aber in Sörens Haus dauerten die Weizenbrottage lange, und als der liebe Herrgott ihnen einen kleinen Engel mit goldenen Locken schenkte, war ihr Glück so groß, wie man überhaupt nur eins in dieser traurigen Welt erwarten kann.
In Bezug auf das Einkommen – nun, so reichte es einigermaßen hin, obgleich Sören leider seine Wohnung nicht ohne Schulden hatte einrichten können; aber mit der Zeit sollte sich dies schon wieder ausgleichen!!
Ja, mit der Zeit! – Die Jahre vergingen, und jedes Jahr schenkte unser Herrgott Sören einen kleinen Engel mit goldenen Locken. Nach einer sechsjährigen Ehe hatte er also grade fünf Kinder. Die kleine, stille Stadt war unverändert, Sören war noch immer Bevollmächtigter, Olsens waren stets die alten; aber Sören selbst war nicht wieder zu erkennen.
Es giebt Sorgen und schwere Schicksalsschläge, von denen man sagt, daß sie das Haar eines Mannes über Nacht bleichen können. Solche Schickungen waren Sören nicht beschieden. Was sein Haar grau gemacht hatte und seinen Rücken beugte und ihn vor der Zeit altern ließ, das war eine langsame, vulgäre Sorge – die Sorge ums tägliche Brot.
Nahrungssorgen spielen unter den Sorgen dieselbe Rolle wie die Zahnschmerzen unter den Krankheiten. Es ist kein einzelner Schmerz, der sich im offenen Kampf besiegen läßt; es ist nicht wie ein Nervenfieber oder eine andere »ordentliche« Krankheit, die eine Entwickelung – eine Krisis hat. Wie aber der Zahnschmerz lang und einförmig wie ein Bandwurm ist, so legt sich die Nahrungssorge wie eine graue Wolke um ihr Opfer; man zieht sie jeden Morgen mit seinen abgetragenen Kleidern wieder an, und man schläft selten so fest und tief, daß man sie ganz vergessen könnte.
Es war in dem langen Kampf gegen die herannahende Armuth, daß Sören sich abgenutzt hatte; und doch war er ein großer Oekonom.
Aber es giebt zwei Sorten von Oekonomie: die active und die passive. Die passive Oekonomie denkt Tag und Nacht darüber nach, wie sie einen Schilling ersparen soll; die active sinnt eben so eifrig darauf, wie sie einen Thaler verdienen kann. Die erstgenannte Sorte – die passive – ist bei uns zu Hause; die active draußen in den großen Verhältnissen, – besonders in Amerika.
Sören hatte seine Force nach der passiven Richtung hin. Er verwendete seine ganze freie Zeit und auch etwas von seiner Arbeitszeit darauf, allerhand Ersparungen und Einschränkungen auszuspeculiren. Aber lag es nun vielleicht daran, daß er kein Glück hatte, oder – was wahrscheinlicher ist – waren seine Einnahmen in Wirklichkeit zu klein, um mit Frau und fünf Kindern davon leben zu können – genug: seine finanzielle Lage verschlimmerte sich.
Alle Plätze im Leben scheinen so gut besetzt zu sein, und doch giebt es einige Menschen, die überall ankommen. Zu diesen gehörte Sören nicht, und er suchte vergebens nach dieser Extra-Arbeit, welche vor ihm und seiner Braut wie eine dunkle aber reiche Einnahmsquelle geschwebt hatte. Und ebenso wenig nützten ihm seine guten Verbindungen. Es giebt immer eine Menge Leute, welche jungen, hoffnungsvollen Männern helfend beistehen; aber bedrängte Familienväter kommen überall zur Unzeit.
Sören hatte viele Freunde gehabt. Man konnte nicht sagen, daß sie sich von ihm zurückgezogen hatten; aber er war gewissermaßen von ihnen fortgeblieben. Wenn sie sich jetzt trafen, so war eine gewisse Verlegenheit auf beiden Seiten. Sören hatte keinen Sinn mehr für das, was die andern interessirte; und diese langweilten sich, wenn er davon sprach, wie hart er arbeiten müsse und wie theuer das Leben sei.
Und wenn er wirklich einmal von einem seiner Jugendfreunde zu einer Herrengesellschaft geladen wurde, so ging es ihm, wie es Leuten zu gehen pflegt, die für gewöhnlich sehr einfach zu leben pflegen: er aß und trank zu viel. Und von dem muntern, aber feinen und vorsichtigen Sören war er zu einer Art von Narren herabgesunken, der dumme Reden hielt, und um den sich nach Tische die Rangen der Gesellschaft versammelten, um ihren Scherz mit ihm zu treiben. Was aber den peinlichsten Eindruck auf seine Bekannte machte, war, daß er für seine Kleidung ganz gleichgiltig geworden war.
Sören war nämlich äußerst sorgfältig in seiner Toilette gewesen; in seinen Studentenjahren hieß er »der zierliche Sören«. Und selbst als Familienvater hatte er seinen dürftigen Kleidern noch eine Zeitlang eine Art von Schwung zu geben gewußt. Aber nachdem die harte Noth ihn gezwungen hatte, jedes Kleidungsstück eine unnatürlich lange Zeit zu tragen, hatte seine Eitelkeit sich endlich verloren. Und wenn ein Mann erst den Sinn dafür verliert, seine Person sauber zu halten, so verliert er ihn gewöhnlich auch gänzlich. Seine Frau mußte ihn jetzt darauf aufmerksam machen, wenn die Anschaffung eines neuen Rockes durchaus nothwendig wurde, und wenn seine Halskragen an den Kanten gar zu zerrissen waren, so beschnitt sie dieselben mit der Scheere.
Er selbst hatte an andere Dinge zu denken – der Arme! Aber wenn Fremde ins Bureau kamen, oder wenn er selbst in eine Thür trat, so hatte er die ganz mechanische Gewohnheit auf seine Rockaufschläge zu spucken und mit den Händen darüber zu reiben. Wie die Rudimente der Organe, welche durch Nichtgebrauch zu Grunde gehen, wie die Zoologen es bei gewissen Thieren nachweisen, war dies das einzige Ueberbleibsel von der Sauberkeit des »zierlichen Sören«.
Inzwischen trug Sören seinen schlimmsten Feind in seinem eigenen Innern. In seiner Jugend hatte er sich mit Philosophie beschäftigt, und jetzt geschah es ihm oft, daß diese unselige Lust zu denken über ihn kam, alle Einwendungen über den Haufen warf und damit endigte, alles auf den Kopf zu stellen.
Das geschah ihm besonders, wenn er an seine Kinder dachte.
Wenn er diese kleinen Geschöpfe betrachtete, welche – das konnte er sich selbst nicht verhehlen – im Laufe der Zeit mehr und mehr vernachlässigt wurden, war es ihm unmöglich, sie noch als in die Kategorie »der goldlockigen Engel, welche unser Herrgott ihm gegeben hatte« gehörend anzusehen. Er mußte ja eingestehen, daß unser Herrgott solche Gaben nicht ohne Veranlassung von unserer Seite giebt, und dann fragte Sören sich selbst: »Hast du ein Recht dazu gehabt?« Er dachte an sein eigenes Leben, das unter so glücklichen Verhältnissen begonnen hatte. Er stammte aus einem behaglichen Heim; sein Vater – ein Beamter – hatte ihm die beste Erziehung des Landes gegeben; er war wie einer der Besten für den Kampf des Lebens gerüstet gewesen; – und wie war er aus demselben hervorgegangen?
Und was hatte er seinen Kindern mitzugeben in jenen Kampf, in welchen er sie hinein schickte? Sie begannen ihr Leben in Sorge und Mangel, die auch noch verborgen gehalten werden sollten; sie lernten frühzeitig den bittern Unterschied zwischen den Erwartungen und Anforderungen an das Leben und zwischen den äußeren Verhältnissen kennen; und aus ihrem unordentlichen Heim sollten sie das mitnehmen, was vielleicht das drückendste, schwerste Erbe ist, welches der Mensch mit sich durchs Leben schleppen kann: Armuth verbunden mit Pretentionen.
Sören versuchte zu sagen: unser Herrgott wird sich ihrer schon annehmen. Aber er schämte sich sofort, denn er fühlte, daß er dies nur sagte, um sein Gewissen zu beruhigen und sich selbst zu entschuldigen.
Diese Gedanken waren seine ärgste Plage; aber, um die Wahrheit zu gestehen, es war nicht oft, daß sie über ihn kamen; denn Sören war stumpf geworden. Das meinte auch der Hardesvogt: »Seiner Zeit,« pflegte er zu sagen, »war mein Bevollmächtigter ein recht tüchtiger Mann. Aber – sehen Sie! diese übereilte Heirath, die vielen Kinder u. s. w. – kurz gesagt, es ist beinahe mit ihm zu Ende.«
Schlecht gekleidet und schlecht ernährt, voll Schulden und Kümmernissen war er müde und abgenützt, ohne überhaupt etwas Rechtes geleistet zu haben. Und das Leben ging seinen Gang und Sören schleppte sich mit. Alle schienen ihn vergessen zu haben, mit Ausnahme unseres Herrgotts, der ihm – wie gesagt – jedes Jahr einen kleinen Engel mit goldenen Locken schenkte.
Sörens junge Frau war ihrem Gatten getreulich durch diese sechs Jahre gefolgt, und so hatte sie mit ihm dasselbe Ziel erreicht.
Das erste Jahr ihrer Ehe war wie ein Traum schwindelnder Glückseligkeit dahingegangen. Wenn sie den kleinen goldlockigen Engel ihren Freundinnen entgegenhielt, war sie schön, wie ein vollkommenes Bild des Mutterglücks; und Fräulein Ludvigsen sagte: »Seht! die wahre, die echte, die rechte Liebe!«
Aber bald wurde Frau Olsen's »Nest« zu klein; die Familie wurde größer und die Einnahmen blieben stehen. Täglich wurden neue Ansprüche an sie gemacht, neue Sorgen – neue Pflichten. Marie griff kräftig mit an, denn sie war ein muthiges, verständiges Weib.
Es ist keine sogenannte erhebende Arbeit, einem Haushalt voll kleiner Kinder vorzustehen, ohne die Mittel zu besitzen, auch nur die einfachsten Anforderungen an Comfort und Behaglichkeit zu befriedigen. Und obendrein war sie ja niemals so recht gesund; ihr Zustand bewegte sich immer zwischen dem kürzlich ein Kind gehabt zu haben oder bald eins wieder zu bekommen. Während sie vom Morgen bis zum Abend mit Arbeit überladen war, verlor sie ihren freudigen Humor und ihr Gemüth ward verbittert; zuweilen fragte sie sich selbst: wie hängt dies zusammen?
Sie sah den Eifer, mit welchem junge Mädchen nach der Ehe strebten, und sie sah die selbstzufriedene Miene, mit welcher junge Männer diese antragen; sie dachte an ihre eigenen Erfahrungen, und sie hatte das Gefühl, als habe man sie betrogen.
Aber es war nicht recht, daß Marie dies dachte, denn sie hatte ja eine ausgezeichnete Erziehung genossen.
Die Lebensanschauung, in welcher man sie frühzeitig geübt hatte, war das einzig Schöne, das einzige, was noch im Stande war, ihr die Ideale des Lebens zu retten. Keine häßliche, prosaische Anschauung des Daseins hatte jemals ihren Schatten auf ihre innere Entwickelung geworfen; sie wußte, daß die Liebe das Schönste auf Erden sei, daß sie über der Vernunft steht, und daß man sie in der Ehe findet; in Bezug auf Kinder hatte sie gelernt zu erröthen, wenn sie überhaupt nur genannt wurden.
Ihre Lectüre war immer strenge bewacht worden. Sie hatte viele ernste Bücher über die Pflichten der Frau gelesen; sie wußte, daß es ihr Glück sei, von einem Manne geliebt zu werden, und daß es ihre Bestimmung sei, Weib zu sein. Sie kannte die Bosheit der Menschen, und wie oft diese sich zwei jungen Liebenden in den Weg stellen; aber sie wußte auch, daß die wahre Liebe schließlich stets als Siegerin aus dem Kampf hervorgeht. Und wenn die Menschen im Kampfe des Lebens zu Grunde gingen, so war es, weil sie ihrem Ideale untreu wurden, und sie glaubte an das ihre, obgleich sie eigentlich garnicht wußte, was es war.
Sie kannte und liebte die Dichter, welche sie lesen durfte. Vieles von der Erotik verstand sie nur halb; aber das war ja grade das Reizende. Sie wußte, daß die Ehe eine ernste – eine sehr ernste Sache sei, und daß ein Prediger dazu gehörte, und daß die Ehen im Himmel gestiftet werden, gleichwie die Verlobungen im Ballsaal. Aber wenn sie in ihren jungen Tagen an dieses ernste Verhältnis dachte, so war es, als blickte sie in einen verzauberten Wald, wo Amoretten Kränze winden, die Störche kleine goldgelockte Engel bringen, und vor der kleinen Hütte im Hintergrunde, die jedoch groß genug ist, um die Glückseligkeit der ganzen Welt in sich zu bergen, das ideale Ehepaar sitzt und sich in die Augen blickt.
Und niemals war jemand rücksichtslos genug gewesen, ihr zu sagen: »Verzeihen Sie, Fräulein! hätten Sie nicht Lust, mit mir auf die andere Seite zu kommen, und die Sache von rückwärts anzusehen? Denken Sie nur, wenn das Ganze nichts anderes wäre als Decorationen von Papier und Leinwand.«
Jetzt hatte Sören's junge Frau reichlich Zeit, die Decorationen von rückwärts anzusehen.
Im Anfang hatte Frau Olsen sie früh und spät besucht und sie mit Rathschlägen und Zurechtweisungen überhäuft. Sowohl Sören wie seine Gattin waren ihrer oft herzlich müde gewesen; aber sie verdankten Olsen's ja so viel!
Doch nach und nach kühlte sich der Eifer der alten Frau ab. Als das Haus der jungen Leute nicht mehr so rein, so ordentlich, so mustergiltig war, daß sie auf ihr Werk stolz sein konnte, kam sie immer seltener; und als Sören's Frau ein einziges Mal um Hilfe bat, saß die Frau Hardesvogt auf dem hohen Pferd – dann wandte die junge Frau sich niemals wieder an sie. Aber wenn in einer Gesellschaft das Gespräch auf den Bevollmächtigten des Hardesvogts kam, und jemand sein Mitleid äußerte mit der jungen Frau, die so viele Kinder und so kleine Einkünfte hatte, da nahm Frau Olsen mit voller Kraft das Wort: »Ich kann Sie versichern, daß wenn Marie doppelt so große Einkünfte und gar keine Kinder hätte, so würde sie doch nicht genug haben. Sie ist – sehen Sie!« und dann machte Frau Olsen eine Bewegung mit den Händen, als schüttete sie das Geld nach allen Seiten hin aus.
Marie kam nicht oft in Gesellschaft; und wenn sie dann in ihrem wohl schon zehn Mal geänderten Brautkleide auftrat, war es gewöhnlich, um in einem Winkel mit einer gleichgestellten Hausmutter zu sitzen und ein langweiliges Gespräch über die theuren Zeiten und die unverschämten Dienstmädchen zu führen.
Und die jungen Damen, welche entweder mitten im Zimmer oder in demjenigen Gemache, wo die bequemsten Lehnsessel waren, die jungen Herren um sich versammelt hatten, flüsterten einander zu: »Wie langweilig ist es doch, daß die jungen Frauen immer nur von Haushaltung und Kinderkleidern reden können.«
In der ersten Zeit hatte Marie oft die Besuche ihrer vielen Freundinnen gehabt. Diese waren entzückt über das gemüthliche Haus, und der kleine goldgelockte Engel mußte förmlich behütet werden vor ihrer gierigen Bewunderung. Wenn es jetzt aber wirklich einmal geschah, daß eine derselben sich zu ihr verirrte, so war die Sache ganz anders. Es gab keinen goldlockigen Engel in weißem, gesticktem Kleide mit rosenrothen Seidenbändern mehr vorzuweisen. Die Kinder, welche ohne Vorbereitung nie mehr präsentabel waren, wurden in aller Eile hinausgejagt; hinter ihnen blieb Spielzeug auf der Erde, halbverzehrte Butterbrote und jene eigentümliche Atmosphäre zurück, die man höchstens bei seinen eigenen Kindern ertragen kann.
Tag aus, Tag ein ging ihr Leben in derselben Mühseligkeit hin; oftmals, wenn sie ihren Mann klagen hörte, wie angestrengt er arbeiten müsse, dachte sie mit einer Art von Trotz: »Ich möchte wissen, wer von uns beiden die schwerste Arbeit hat.«
In einer Beziehung war sie glücklicher als ihr Mann. Sie hatte keine Ahnung von Philosophie, und wenn sie sich einen kleinen, ruhigen Augenblick stehlen konnte, um sich in sich selbst zu vertiefen, dann begab sie sich auf ganz andere Wege, als der arme Philosoph.
Sie hatte kein Silberzeug zu putzen, keinen Goldstaat hervorzuholen, um sich damit zu schmücken. Aber im innersten Winkel ihres Herzens hielt sie alle Erinnerungen an das erste Jahr ihrer Ehe, an dieses abenteuerliche Jubeljahr verborgen. Und sie putzte sie – diese Erinnerungen; sie hielt sie so blank, daß sie mit jedem neuen Jahr glänzender wurden.
Aber wenn die müde und vergrämte Hausmutter sich ganz heimlich mit all diesen Herrlichkeiten schmückte, so war es doch nicht so, daß sie einen Glanz über ihr jetziges Leben werfen konnten. Sie war sich kaum mehr eines Zusammenhangs bewußt zwischen dem goldlockigen Engel mit rosenrothen Seidenbändern und dem kleinen fünfjährigen Knaben, der in dem dunklen Hofzimmer lag und heulte. – Diese Augenblicke entrückten sie vollständig der Wirklichkeit; es war wie ein Opiumrausch.
Wenn sie dann irgendwo im Hause gerufen wurde oder man ihr eins der Kinder schreiend mit einer großen Beule auf der Stirn von der Straße hereinbrachte, so verbarg sie in aller Eile ihre Schätze und mit ihrem gewöhnlichen Ausdruck hoffnungsloser Müdigkeit ließ sie sich wieder von ihren unzähligen Pflichten und Sorgen erfassen.
So war es mit dieser Ehe gegangen, und so mühten diese Eheleute sich vorwärts. Sie zogen beide an derselben schweren Last; aber zogen sie zusammen?
Es ist traurig, aber es ist wahr: wenn die Krippe leer ist, beißen sich die Pferde.
Bei Fräulein Ludvigsen war große Chocolade – – lauter Unverheirathete.
»Denn die verheiratheten Damen sind so prosaisch,« sagte das ältere Fräulein Ludvigsen.
»Uf ja!« rief Louise.
Die Stimmung war animirt, wie sie bei solchen Gelegenheiten und in solcher Gesellschaft stets zu sein pflegt; und indem das Gespräch sich über die ganze Stadt verbreitete, kehrte es endlich auch bei Sören ein. Alle waren darin einig, daß es eine höchst unglückliche Ehe und ein trauriges Haus sei; einige hatten Mitleid, andere tadelten.
Da nahm das ältere Fräulein Ludvigsen mit einer gewissen Feierlichkeit das Wort: »Ich werde euch sagen, was bei dieser Ehe der Fehler war; denn ich kenne die Sache aus dem Grunde. Schon vor ihrer Heirath war da etwas Berechnendes, niedrig Prosaisches in Marie, das der wahren, der echten, der rechten Liebe fremd ist. Das hat sich später noch mehr entwickelt und rächt sich jetzt grausam an beiden. Allerdings haben sie nicht viel zum Leben; aber was bedeutet das für zwei Menschen, die sich in Wahrheit lieben? Es ist doch nicht der Reichthum, der das Glück bedingt. Ist es nicht grade in dem ärmlichen Heim, wo die Liebe ihre Allmacht auf das Schönste beweist? – Und wer kann sie überhaupt arm nennen? Hat unser Herrgott sie nicht reichlich mit gesunden und frischen Kindern gesegnet? Seht – das ist jetzt ihr Reichthum! Und wären ihre Herzen erfüllt gewesen von der wahren, der echten, der rechten Liebe, so – – – so – – –« – –
Hier saß Fräulein Ludvigsen ein wenig fest.
»Was dann?« fragte eine muthige, junge Dame.
»So« – fuhr Fräulein Ludvigsen mit Hoheit fort, »so würden wir auch gesehen haben, daß ihr Lebensweg sich ganz anders gestaltet hätte.«
Die muthige Dame schämte sich.
Es entstand eine Pause, während welcher Fräulein Ludvigsen's Worte sich in alle Herzen senkten.
Sie fühlten alle, daß dies die Wahrheit sei; alle Unruhe und Zweifel, welche die eine oder die andere vielleicht noch gehegt hatte, schwanden vollständig; und alle wurden bestärkt in ihrem schönen und unerschütterlichen Glauben an die wahre, die echte, die rechte Liebe; denn sie waren alle unverheiratet.