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Wieder daheim. Es ergeht mir, wie nach schwerem Sturm auf See: solange der wütet, halte ich mich, wenn ich dann aber an Land steige, schwankt der Erdboden unter mir, und ich vermag nur mit Mühe im Gleichgewicht zu bleiben. So verwirrt mich die Außenwelt jetzt, wo sie sich nicht mehr um mich her bewegt. Ich muß trachten, die Bewußtseinsart des Reisenden möglichst schnell gegen die des Eingesessenen einzutauschen. Während meiner Wanderungen habe ich die Außenwelt als Reaktiv behandelt; zu Hause taugt sie nicht dazu. Wo ich mich hingebe, erhalte ich mich unverändert wieder, wo ich hinausschaue, blickt mir mein eigenes Spiegelbild entgegen; alles in Rayküll trägt den Stempel meines Geistes oder den meines Geschlechts. Das beklemmt mich. Mir ist, als sei ich gefangen. Ich bin es auch: hier werde ich ausharren müssen in bestimmter Daseinsform; hier verantworte ich in bestimmter Gestalt; hier darf ich nicht Proteus sein ...
Mein natürlicher Mensch, mein Erbadam, steht freilich ganz anders zur Heimkehr: er fühlt sich durch die Wiederberührung des Bodens, dem er entstammt, auf dem er fußt und zu wirken gewohnt ist, anthäoshaft gesteigert. Ihm ist, als seien die Fortschritte, die Rayküll gemacht hat, seine Fortschritte, als sei in den Bäumen er selbst gewachsen, durch die Entwässerung unfruchtbarer Moore seine eigene Natur verbessert worden. Dies sei ihm unbenommen – doch was geht sein Glück mich an? – Ich denke zurück an die Motive, die mich seinerzeit hinaustrieben in die weite Welt: damals zog ich ja aus, dem natürlichen Menschen zu entrinnen. Dieses Ziel habe ich erreicht, das fühle ich. So lebendig er blieb, beherrschen wird er mich nie mehr, nie mehr hinübergreifen über seine Sphäre. Es besteht kaum mehr Gefahr für mich, als Persönlichkeit auszukristallisieren, eine Sondererscheinung, in mir oder außer mir, zu ernst zu nehmen. So darf ich wohl fortan die Natur in mir unbefangener gewähren lassen. Nur der Unfreie verschanzt sich gegen sie, oder flüchtet vor ihr, der Freie braucht nichts auszuschließen, nichts zu verdammen. Mir winkt wohl fortan, nach Überstehung der Übergangszeit, ein volleres persönliches Sonderleben, als ich es früher geführt. Nur die Übergangszeit ... Vorläufig wird es mir nicht leicht fallen, zustimmendbewußt als bestimmtes Wesen zu leben; Proteus sträubt sich dagegen. Aber muß er nicht auch stille halten lernen? Wenn ich ihn in mir vor allem unterstützte, so war es aus Furcht vor Auskristallisation: nun dieser vorgebeugt ist, darf jener mir kein Ideal mehr verkörpern. Jetzt gilt es, in dauernder Gestaltung gleiche Überlegenheit über solche zu bekunden, wie vormals in wechselnder. Noch drücken mich äußere Schranken zu leicht. Stände ich innerlich ganz frei da, dann scheute ich Bindung und Bestimmtheit nicht mehr, als ich ihrer bedürfte, dann empfände ich keinen so gebieterischen Drang nach äußerer Freiheit. Vieles von dem, was bei mir Freiheit scheint, ist in Wahrheit nur eine Abart der Gebundenheit. Ich bin noch allzu abhängig von meiner Unabhängigkeit. Ich muß nach Wunsch in meinem Sonderdasein aufgehen, ganz eins werden können mit einer bestimmten Gestalt, meine Neigungen, Gefühle und Interessen ganz beherrschen. Ich muß soweit kommen, nicht allein ungebunden zu sein durch Name und Form, sondern mich willkürlich binden lassen zu können.
Doch nun zur Hauptsache: bin ich von meiner weiten Wanderung der Selbstverwirklichung näher heimgekehrt? – Ich muß ihr näher sein. Jede einzelne der Lebensmöglichkeiten, die ich durchlebt, hat mir deutlicher zum Bewußtsein gebracht, was wesentlich ist im metaphysischen Sinne, und was nicht. Ich, als Wesen, bin der gleiche geblieben, ob ich als Inder oder Chinese, als Christ oder Buddhist empfand; ich weiß jetzt aus lebendiger Erfahrung, daß die wesentliche Wahrheit jenseits der Sphäre bestimmter Gestaltung lebt. Es ist eine Frage der Voraussetzungen, ob diese oder jene Form entsteht, es hängt von den Zwecken ab, die man verfolgt, ob man diese oder jene höher wertet. Zur äußeren Gestaltung des Lebens, zur objektiv-wissenschaftlichen Erkenntnis erweist eine Europäerseele sich am dienlichsten; eine indische zur Realisierung in der psychischen Sphäre, eine chinesische zur Konkretisierung der Idee, eine japanische zum ästhetischen Naturverständnis, und so fort. Keine Formel ist die höchste im metaphysischen Sinn, jede stellt einen möglichen Ausdruck des Absoluten dar, jeder Sonderausdruck bedingt spezifische Grenzen. – Die verschiedenen Seelen, die ich gewann, sind mir geblieben, als mögliche Einstellungen meiner selbst; meine Natur ist entsprechend reicher geworden. Dank der Erkenntnis der Wege der Metempsychose ist mir mein Wesen, das beharrt durch alle Seelenwanderung, als Negativ so deutlich geworden, daß mir täglich scheint: noch heute muß das Positiv sich zeigen; Noch hat es sich nicht gezeigt. Im Augenblick fühle ich mich sogar nicht sicherer, sondern unsicherer als ehedem: zu vieles in mir ist in Umwandlung und Umsetzung begriffen. Das wird sich geben. Der Naturprozeß nimmt seinen Lauf. Er braucht viel Zeit. Die sei ihm gewährt. Ich aber will warten in stiller Zuversicht.
... Dieser Tage habe ich im schönen, alten Saal, mit seiner prachtvollen Akustik, viel Bach gespielt. Weshalb bedeutet mir dessen Kunst so viel? Weil ihr Geist durchaus einer der Grundtöne ist. Es besteht ein intimer Zusammenhang zwischen der Tiefe der Gedanken und der der Töne. Wie ein tiefer Gedanke tausend oberflächliche innerlich bedingt, so lassen sich zu einem gegebenen Baß in höheren Lagen schier unendlich viel Melodien ersinnen, während jede gegebene Diskantmelodie auf nur einen Baß zurückweist. Die moderne Musik liegt ganz im Diskant, läßt nur mittelbar Grundtöne ahnen; diejenige Bachs ist ganz Grundton, und insofern aller anderen Fundament. So tief wie Bach ist kein Musiker jemals gewesen, wie kein anderer ist er dem Metaphysiker kongenial. Der Metaphysiker hat den Baß zu spielen in der Symphonie des erkennenden Geistes, die Grundtöne zu finden und anzuschlagen zur Musik der Welt. Und indem ich mich in Bach versenkte, seufzte ich: wenn ich so denken könnte, wie dieser Mann komponiert hat, wenn meine Erkenntnis so tiefen Grund zu spiegeln käme, wie seine Musik, dann wäre ich wohl am Ziel.
Ereignislos fließt nun mein Leben hin. Doch anstatt langsamer zu verlaufen, als damals, wo jede Stunde neue Eindrücke brachte, verläuft es unermeßlich viel geschwinder. In kinematographenartiger Hast löst eine Jahreszeit die andere ab; schien meine Reise mir Jahrzehnte zu währen, so möchte ich nun nach einem abgelaufenen Menschenalter wähnen, erst gestern sei ich heimgekehrt ... Wie wunderbar paßt sich die Seele den Umständen an! Im Großstadtgetriebe, im Strudel der Ereignisse, im Wirrsal der Eindrücke weitet ihr Zeitbewußtsein sich aus, um allem Raum zu gewähren; in der Einförmigkeit schrumpft es zusammen. Dem Einsiedler in der Wüste droht dergestalt nicht mehr Langeweile, als dem Weltmann.
Und während ich so still dahinlebe, verblassen unaufhaltsam die Erinnerungsbilder aus der weiten Welt. Schon kann ich mich nur noch mit Mühe auf Indien, China und Japan zurückbesinnen. Wieder kommt es ganz anders, als ich's voraussah: ich erwartete, die vielen Lebensformen, die meinen Geist so mächtig anregten, würden als solche in mir weiterwirken. Statt dessen haben sie sich umgesetzt, und was nun in mir lebt, ist etwas anderes, Einheitliches, für mich sehr Neues, dessen Herkunft aus der Vielheit des Erfahrenen ich nur reflektierend ableiten kann. Es ist unglaublich, wie ahnungslos der Mensch sich selbst gegenübersteht: das persönliche Ich schaut dem bloß zu, was auf der Bühne des Bewußtseins vor sich geht, hinter die Kulissen fehlt ihm der Zugang, es weiß nicht, wer auftreten wird, woher die Spieler kommen, was sie aufführen werden, und wenn es sich klarmacht, daß das Schauspiel trotzdem seine eigene Schöpfung ist, so wird ihm manchmal unheimlich zumut ... Das Neue, für mich Unerhörte, ist, daß ich gar kein Bedürfnis mehr nach Metamorphosen spüre. Nicht daß ich die Grenzen Hermann Keyserlings anders als früher beurteilte, daß ich mich nun innerlich eins fühle mit ihnen: sie beschränken mich kaum mehr; ich weiß mich frei trotz und in ihnen. Ich überlese die Zeilen wieder, die ich vor meiner Abreise niederschrieb: nein, die Motive gelten heute nicht mehr. Und ich beginne zu begreifen, warum dem so ist.
Man verurteilt in anderen am schärfsten, was man in sich nicht hebt; der Heilige verdammt niemand, der Weise findet keinen ganz töricht. So rührte mein Verleugnen-wollen aller Gestaltung hauptsächlich daher, daß ich von keiner unabhängig war. Im höchsten Grad beeindruck- und beeinflußbar, wahrte ich meine Freiheit mittelbar durch stete Verwandlung. Aber besser ist wohl, unmittelbar aus ihr heraus zu leben. Freilich bedeutet Charakter (im üblichen Sinn) Beschränkung, kann kein Entwickelter »Persönlichkeit« als Ideal verehren; über Vorurteile, Grundsätze, Dogmen ist er hinaus. Allein er mag, charakterlos, doch positiv sein, nicht minder sicher und fest, als nur irgendein Starrer, bloß von höherer Erkenntnisbasis aus. Der Yogi sagt neti neti – das bin ich nicht – zu aller Natur, bis daß er eins ward mit Parabrahman. Nachher verleugnet er nichts mehr, bejaht er alles Positive in und außer sich, weil ihn jetzt keine Gestaltung mehr beschränkt, weil ihm nun jede ein folgsames Ausdrucksmittel ist. In diesem Verstand hat auch in meinem bewußten Leben ein Dimensionswechsel stattgefunden, so fern ich dem Ziel immer sei. Schon viel weniger als vormals bedarf ich der Reaktive, um mich leben zu spüren, immer unabhängiger wird mein Fortkommen von auslösenden Erfahrungen; was früher nur antwortete in mir, gebietet jetzt. Aber wenn ich nun zurückdenke an den langen durchmessenen Weg und die Frage stelle, ob ich unnötige Umwege gemacht, so muß ich diese mehr denn je verneinen. Es bleibt ewig wahr, was die indische Weisheit lehrt, daß die Seele alle Erfahrungen durchmachen muß, bis daß sie reif wird zur Seligkeit des Wissens, denn einen anderen Weg als diesen gibt es nicht; wer ohne scheinbare Umwege zum Ziel gelangt, erreicht es nur scheinbar. Warum? Weil dieses nicht in äußerlicher Einsicht besteht, sondern in innerer Verwandlung. Jeder Daseinsstufe entspricht eine besondere Wahrheit, die Lebensformel des Schmetterlings frommt nicht der Raupe; sei jener noch so sehr der letzteren Ziel – gerade, um es zu erreichen, muß sie vorerst Raupe und Puppe sein. Ebenso steht es mit der Menschenseele. Diese entfaltet sich im Erkennen – jede höhere Erkenntnis aber setzt einen bestimmten neuen Zustand voraus. Bevor dieser erreicht ward, nützt kein abstraktes Wissen. Der ist kein Heiliger, der, Furcht und Rache im Herzen, Jesu Weisung gemäß die linke Backe hinhält: die Natur muß dem Ideal gemäß geworden sein. Solches nun führt Erfahrung allein herbei. Jeder Teil der Seele muß persönlich eingesehen haben, was er eigentlich will, was er soll, worin seine Vollendung besteht, unerfahrene Wahrheiten erkennt er nicht an, und, um genug zu erleben, muß er sich vielem aussetzen. Deshalb bedarf eine Natur, je reicher sie ist, desto reicherer Erfahrung. Deshalb bedeutet dem Menschen der Umweg um die Welt in jedem Sinn den kürzest denkbaren Weg zu seinem Wesen.
Soviel war mir schon früher klar. Aber was mir erst jüngst offenbar ward und die eigentliche Ursache dessen ist, daß ich dem Proteustum entsagen kann und will, ist der Umstand, daß Wesenserkenntnis das Menschsein nicht aufhebt, sondern erfüllt. Wohl wußte ich, daß jede Gestaltung fähig ist, den Atman ganz zum Ausdruck zu bringen, allein ich meinte, dies gelte beim bewußt Durchgeistigten in dem Sinn, daß die Natur zur durchsichtigen Schale werde ohne Eigenbetonung. Heute sehe ich, daß dem nicht also ist; daß jene, im Gegenteil, zum lebendigen Körper wird des Geists, und dieser sich eben darin ganz verwirklicht, daß er sich ganz hineinversetzt in ihre Normen. Ist Wandelbarkeit mehr als Gebundenheit, so beginnt vollkommene Freiheit doch erst jenseits jener: im scheinbar beengenden Rahmen drückt sich aus, was im beweglichen unausdrückbar war. Ja, ein Leben ist mehr als viele, weil im voll-willig übernommenen Einen allein vollkommenes Erleben möglich ist. Die christliche Mystik hat insofern tiefer als die indische geblickt, als sie zwischen dem, was Gott an sich ist, unterschied, und dem, als was Er erscheint, wo Er sich im Menschen offenbart. Sei Er an sich erhaben über allem, was Kreatur betrifft – als Mensch erscheine Er vollkommen menschlich. Nichts Menschliches gäbe es, das nicht in Ihm seine Erfüllung und Heiligung fände. Deshalb sei Vergottung hienieden nur denkbar in korrelativer Vermenschlichung. So ist es. Das Gottsein, von dem ich früher soviel geträumt, ist kein Höchstes, es bezeichnet lediglich ein vergeistigtes Unmenschentum. Ich beging, indem ich ihm nachstrebte, eben den Fehler, den meine Theorie so oft gerügt: ich zog eine bestimmte Gestalt als solche anderen vor. Heute weiß ich die Wahrheit. Und indem ich entschlossen ja sage zu dem, was ich nun einmal bin, fühle ich mich nicht beengter, sondern freier.
Im Fluge verstreicht die Zeit. Je unmittelbarer ich im Geiste lebe, desto mehr bewirkt sie, doch desto unwirklicher wird sie mir. Der Psalmist muß wahrgesprochen haben, als er von Jahveh kündete: tausend Jahre sind vor dir, wie der Tag, der gestern vergangen ist, oder wie eine Nachtwache.
Draußen tobt der Weltkrieg. Immer mehr Völker fallen übereinander her, immer furchtbarer wird ihr Ringen. Und nicht genug, daß sie einander zu vernichten trachten – durch den Mund ihrer geistigen Führer verleumden und schmähen sie sich wechselseitig, unmäßig, wie die feindlichen Helden Homers. Aller Einklang, alles Verständnis ist aufgehoben, der Menschheit Einheit scheint nicht mehr zu bestehen.
Für mich besteht sie fort. Ich sehe in dieser Katastrophe nur eine Krisis, wie es gleichsinnige, wenn auch nicht gleich weitgreifende, schon viele gab, die die Entwicklung nicht abschneidet, sondern beschleunigt fortsetzt. Wie aller Fortschritt durch Reaktionsperioden hindurchführt, während welcher sich die verdrängten niederen Triebe aufbäumen und zeitweilig siegen, so stand zu erwarten, daß die universellere Welt von morgen eingeleitet werden würde durch ein Vorspiel nie dagewesenen Nationalitätenhasses, und die künftige Solidarität der Völker durch Ausrottungskämpfe; ganz so ward die Friedensära, die mit Augustus anhub, durch grausamste Bürgerkriege eingeführt: Während solcher Krisen bietet die Menschheit ein widerwärtiges Schauspiel. Vormals hätte ich mich voll Ekel von ihm abgekehrt. Heute kann ich's nicht mehr: ich weiß mich innerlichst beteiligt. Nicht daß ich Partei wäre – mir ist die ganze lebendige Schöpfung ein einiges Ganzes; keins der einseitigen Gefühle teile ich, das die Kämpfenden beseelt: Aber ich kann mich nicht mehr ablösen von der Gesamtheit, nicht mehr, wie ehedem, sagen: nescio vos. Denn ich weiß, daß ich eins bin mit meiner ganzen Zeit und insofern mitverantworte für ihr Schicksal.
Je tiefer bewußt ich Wurzel faßte in meiner Freiheit, desto deutlicher ward mir, daß nichts dieser mehr widerstreitet als Vereinzelungsstreben, ja, daß die Erkenntnis wesentlicher Freiheit ihr Korrelat hat im Gefühl des Zusammenhangs mit aller Kreatur. Allerdings bin ich, als metaphysisches Wesen, mein eigener Schöpfer; Aber empirisch betrachtet, bin ich gar nichts durch mich selbst. Meinen Eltern verdanke ich meine Anlagen und meinen Ausgangsort im Leben, meinem Lande die frühesten Einflüsse; meiner Zeit die geistigen Inhalte, an denen ich teilhabe, die Impulse, die mich treiben; dem ganzen Erdkreis endlich die vielfältigen Erfahrungen, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin. Ich selbst, als bewußte Person, kann überhaupt nur dafür, daß ich bei vorhandener Arbeitsenergie unentwegt an mir gearbeitet habe – nicht einmal deren Besitz ist mein Verdienst, und ihr Erfolg schon gar nicht: meine Gedanken berufe nicht ich, sie kommen mir. So bin ich unabtrennbar vom Universum. Nehme ich mich selbst hin, so bejahe ich auch jenes; ist es mir Aufgabe, mich selbst zu vollenden, so umschließt diese die weitere, soviel ich nur irgend vermag, mitzuschaffen an der Vervollkommnung der Welt.
Was sie heute ist, kann ich ebensowenig verleugnen wie meinen persönlichen Zustand. Dieser ist das Produkt alles dessen, was je war; wäre der Weltprozeß anders verlaufen, auch ich stände anders da. Umgekehrt aber wäre notwendig auch die Welt vollkommener, wenn ich vollkommener wäre, so daß ihr künftiger Charakter allseitig bedingt wird vom Wollen und Vollbringen ihrer heutigen Elemente. Und zwar aller ohne Ausnahme: jedes Einzelnen flüchtige Gebärde wirkt durch Äonen nach. So kann und darf sich keiner vom Ganzen ablösen.
Diese Wahrheit, nur wenigen bewußt in Friedenszeiten, beseelt der meisten Impulse im Verteidigungskrieg. Innerhalb aller heute kämpfenden Nationen spürt der Einzelne den Drang, sein Leben für ein Größeres hinzugeben, innerhalb aller fühlt er, daß er mithalten soll, sich nicht abtrennen darf, daß er das Fatum seines Volkes mittragen muß, sei es Verbrechen oder Glück oder Tod. Mein Bewußtsein lebt jenseits der Sphäre nationaler Bindungen, so kann ich nicht Partei sein in diesem Streit. Doch das Geschehen berührt mich drum nicht weniger tief: wie es Geschöpfe gibt, die ihrer Natur nach bestimmte Sonderbestrebungen vertreten müssen, so gibt es andere, die zur Verkörperung des Allgemeinen berufen sind. Und dieses Allgemeine ist keine Abstraktion: es ist durchaus lebendig, es ist konkreter als alles Besondere insofern, als dieses ihm nur zum vorübergehenden Mittel dient. Alle tiefsten, wesentlichen Lebensmächte sind überindividuell und übernational; sie geben dem Sondergeschehen Sinn und Richtung. Des Metaphysikers Bewußtsein wurzelt unmittelbar in ihnen. Seine Teilnahme am Weltprozeß besteht darin, daß er diesen Mächten Ausdruck verleiht.
Und diese Teilnahme ist nicht minder wichtig als die des Kriegers. Was wäre aus Europa geworden, wenn die hadernden Einzelstimmen nicht wieder und wieder von Einer übertönt worden wären, die keinerlei Parteilichkeit gelten ließ, nur Liebe kannte? – Aus dieser Stimme aber sprach der Menschheit tiefster Wille. Je selbstbewußter sie wird, desto mehr wird dieser dominieren, desto mehr von innen her alles Sonderstreben beseelen. Ich ahne eine Zeit, wo Menschenkraft und -mut überhaupt nicht mehr vorläufig-beschränkten, sondern nur noch endgültig-allgemeinen Zielen nachstreben werden. Denn nicht dadurch wird die ideale Zukunft gekennzeichnet sein, daß farblose Duldsamkeit die Stelle des Heldentums einnimmt, sondern daß dieses, anstatt dem Irrtum, der Wahrheit dient; daß die irdischen Mächte durchaus vom erkennenden Geiste gelenkt werden. Nie werden sie als solche zu wirken aufhören. Es ist ein und derselbe Mut, den der Bandit und der Bekenner beweist, und Schwäche bleibt schwach, worauf immer sie beruhe. So lange es heißen kann: Heroismus oder Weitherzigkeit, wird die Menschheit nicht reif sein zur Universalität. Noch ist sie es nicht. Auf daß sie es baldigst werde, dürfen die wenigen, in denen ein tieferes Bewußtsein schon heute lebt, nie müde werden, ihr Wissen zu verkünden.
Ich gedenke des Bodhisatva, der das Gelübde tat, nicht ins Nirvâna einzugehen, solang noch eine Seele unerlöst in erdgeborenen Banden schmachtete, und vergleiche sein Bild mit dem des Weisen, der, gleichgültig zur Welt, nur nach Gotteserkenntnis strebt: dieser ist noch nicht ganz hinaus über Name und Form, denn nach Abstreifung aller Bande bleibt ihm das des Erkenntnistriebs – er ist es, welcher Gott schauen will. Jener, auch er vormals ein Weiser, hat diese letzte Fessel abgetan. Sein Erkenntnisstreben, das ursprünglich die Person befriedigen sollte, hat deren Gefäß zuletzt zersprengt. Nun lebt er überhaupt nicht mehr in sich, nun bietet er dem göttlichen Licht ein vollkommen durchsichtiges Mittel. Weil jenes völlig ungebrochen durch ihn leuchtet, will er nur noch geben, strahlt er nur noch aus, kann er nicht anders als spendend sich zur Schöpfung verhalten, gleichwie die Sonne kein Atom unerwärmt lassen kann.
Der Bodhisatva sagt ja zur noch so argen Welt, denn er weiß sich zusammenhängend mit ihr. Entselbstet, fühlt er seinen Grund in Gott, seine Oberfläche jedoch mit allem, was ist, verwachsen. So muß er alle Wesen wie sich selbst lieben, so kann er nicht ruhen, bis daß sie alle in allem die Gottheit spiegeln. Der Bodhisatva, nicht der Weise verkörpert des Menschenaufstiegs Ziel.
Ende