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In Kadullen wurde im Sommer schon um vier Uhr gespeist, um den Abend für sommerliche Unternehmungen frei zu haben. Dann lag das Nachmittagslicht stetig auf der langen, weißen Gartenfront und den drei schweren Giebeln des Landhauses. In den geradlinigen Beeten glänzten die Levkojen wie krause hellfarbige Seide und der Buxbaum duftete warm und bitter. Ein Diener stellte sich auf die Stufen der Gartenveranda und läutete mit einer großen Glocke, das Signal, daß es Zeit sei, sich für das Mittagessen anzukleiden.
Der Hausherr, der alte Graf Hamilkar von Wandl-Dux, kam schon fertig angekleidet mit seinem Gast, dem Professor von Pinitz, in den Garten hinaus. Graf Hamilkar, sehr lang und schmal in seinem schwarzen Gehrock, hielt sich ein wenig gebeugt. Den Panama zog er tief in die Stirn. Das glattrasierte Gesicht mit dem langen, lippenlosen Munde hatte etwas Asketisches, wie es jene Gesichter haben, auf denen alles, was das Leben hineingeschrieben hat, beruhigt, gleichsam widerrufen erscheint. Mit langen Schritten begann er den Gartenweg hinabzuschreiten. Der Professor vermochte kaum Schritt zu halten, denn er war kurz und dick, die weiße Weste saß sehr prall über dem runden Bauch und das Gesicht war rot und erhitzt unter dem kannelfarbigen Bartgestrüpp. Er erzählte dem Grafen einen merkwürdigen Traum, den er gehabt hatte, dafür interessierte er sich jetzt, denn er wollte eine Theorie des Traumes schreiben, und der Graf teilte ihm das Material mit, welches er einmal auch über dieses Thema gesammelt hatte. Graf Hamilkar hatte immer gesammeltes Material für die Bücher, welche die anderen schreiben wollten, er selbst hatte nie eins geschrieben, »ich wußte nie«, pflegte er zu sagen, »welches meiner Bücher ich schreiben sollte und so kam es denn zu keinem.«
»Also denken Sie sich«, berichtete der Professor, »ich war beim Kollegen Domnitz, im Traum nämlich. Nun Domnitz legt mir beide Hände auf die Schultern, macht ein ganz feierliches Gesicht und sagt mit einer ganz tiefen Stimme, die er sonst nie hat: ›Kollege, ich habe die Grundform, die Urform der Schönheit gefunden, einfach die Schönheit an sich.‹ Ich sage Ihnen, das fuhr mir so durch alle Glieder, so eine Art Schreck oder Freude oder Rührung, gewiß, das Weinen war mir so nahe. Das sind Empfindungen, wie wir sie nur im Traum haben können: ›Nein wirklich‹, sage ich. ›wo ist sie denn?‹ – ›Da‹, sagte er und ja – und zeigt sie mir.«
»Er zeigt sie Ihnen?« fragte der Graf und blieb stehen, »ja, wie sah sie denn aus?«
Der Professor kniff die Augenlider zusammen, als wollte er einen Gegenstand scharf betrachten. »Sie sah aus«, meinte er, »ja, sie sah eigentlich ganz einfach aus, wissen Sie. Eine schmale weiße Tafel ähnlich den Grabsteinen auf den jüdischen Friedhöfen, ein Meter hoch, denke ich, oben abgerundet und in der Rundung ein Gesicht, nur zwei Punkte die Augen; ein vertikaler Strich die Nase, ein horizontaler Strich der Mund – nichts weiter. Was sagen Sie dazu, was?«
»Eigentümlich«, sagte der Graf und schaute über den Professor hinweg in den Garten hinaus.
»Ja, aber was das Wunderbarste ist«, fuhr der Professor fort und seine Stimme wurde leiser, als spräche er von sehr geheimnisvollen Dingen, »ich sagte sofort ach ja, denn es leuchtete mir sogleich ein, ich wußte, das ist die Schönheit an sich; ja, mir war es, als hätte ich das eigentlich schon längst gewußt. Wie erklären Sie sich das?«
»Ja, das ist schwierig«, erwiderte der Graf ein wenig zerstreut und schaute noch immer in den Garten hinaus.
Drüben zwischen den Stockrosen und Malvenbeeten war es jetzt lebhafter geworden. Eine Schar junger Mädchen und junger Leute ging den Weg hinab dem Hause zu, helle Sommerkleider und Flanellanzüge und ein eifriges Stimmengewirr. Der Professor schwieg nun auch und wandte sich nach den Kommenden um. Da waren seine beiden Töchter, große Mädchen in grellrosa Batistkleidern und gelben Schäferhüten und sehr erhitzt. Beide lachten zu gleicher Zeit in einem hohen, ein wenig schrillen Diskant. Neben ihnen schritt der Leutnant von Rabitow vom Alexanderregiment, ein wenig steifbeinig in seinem weißen Tennisanzug. Die beiden Neffen des Hauses Egon und Moritz von Hohenlicht, beides Studenten, beide sehr blond, den Scheitel tief bis zum Nacken herabgezogen, waren mitten auf dem Wege stehen geblieben und fochten mit ihren Raketts. Fräulein Demme, die Gouvernante, trieb scheltend die vierzehnjährige Erika vor sich her und Erika setzte aus Opposition die dünnen Beine in den schwarzen Strümpfen nur lässig in Bewegung. Die beiden alten Herren ließen diese Welle jugendlichen Lebens wohlgefällig an sich vorüberrauschen. Beide lächelten ein wenig.
»Sehen Sie, Professor, das dort ist auch sofort einleuchtende Schönheit, eigentlich Schönheit an sich«, begann der Graf und wies zu einem Beet voll dicker dunkelroter Rosen »Sultan von Zausibar« hinüber, an dem seine siebzehnjährige Tochter Billy stand.
Es war sehr hübsch, wie das Mädchen im hellblauen Sommerkleide dort bei den Rosen stand, das runde Gesicht rosa und lächelnd, ohne Hut. Im grellen Sonnenschein hatte ihr Haar ein ganz warmes Braun wie alter Portwein und das Ganze war farbig wie ein Blumenbeet. Neben Billy stand Marion Bonnechose, die Tochter der französischen Gouvernante, die mit Billy zusammen erzogen worden war, klein und dunkel, im hageren, etwas gelblichen Gesichte zu große braune Augen, die Billy gespannt und wachsam anschauten.
»Gewiß«, sagte der Professor, »Komtesse Sibylle ist unzweifelhaft sehr schön, aber die Schönheit an sich in meinem Traum war einfach eine halbrunde weiße Tafel«.
Die jungen Leute waren im Hause verschwunden und auch Billy und Marion liefen dem Hause zu, die Hände voll roter Rosen. Der Garten wurde wieder still. Der Graf bog ein wenig den Kopf zurück und zog in seine lange weiße Nase die Düfte der Spätsommerblumen, reifer Pflaumen und Sommerbirnen ein mit dem Ausdruck eines Genießers, der einen kostbaren Wein trinkt. Vom Tennisplatz her kam noch ein Nachzügler, Boris Dangellô. Er ging langsam und nachdenklich, den Kopf gesenkt, nur als er an den beiden Herren vorüberkam, grüßte er, das feine bleiche Gesicht lächelte, aber die Augen behielten den sinnenden Ausdruck, als wollten sie ihre sentimentale Schönheit nicht stören.
»Auch Schönheit«, bemerkte der Professor, »Ihr Neffe, Herr von Dangellô, sieht ungewöhnlich gut aus«.
Aber da war etwas, das den Grafen verstimmte. »Für einen jungen Menschen«, sagte er streng, »ist es nicht vorteilhaft, so gut auszusehen, das zerstreut und zieht ab.«
»So, so«, murmelte der Professor, »ich weiß nicht, ich habe darüber keine Erfahrung.« Sie waren jetzt bis an das Ende des Gartenweges gekommen, blieben einen Augenblick stehen und schauten über das Gartengitter hinweg auf die Stoppelfelder und gemähten Wiesen. Dahinter legte der Wald einen blauschwarzen Rahmen um das Bild, das gelb von Sonnenschein war, dieser dichte Tannenwald, der sich ununterbrochen bis an die russische Grenze hinzog.
»Ich weiß nicht, ob ich mich täusche«, begann der Professor wieder, »aber es will mir scheinen, als sei in der heutigen Generation das gute Aussehen verbreiteter als in meiner Jugendzeit. Sie sehen jetzt alle gut aus.«
»Möglich«, erwiderte der Graf, »aber vielleicht liegt das auch an uns. Wir haben jetzt die richtige Distanz und Sie wissen, daß Bilder schöner werden, wenn wir den richtigen Abstand haben. Aber vor allem, Professor, wir haben das nötig. In unserem Alter wollen wir hübsche Jugend um uns haben, wir verlangen Schönheit von der Jugend. Das ist sehr egoistisch. Wir genießen das behaglich. Aber die arme Jugend. Glauben Sie ›schön sein‹ sei bequem? Schönheit kompliziert das Schicksal, legt Verantwortungen auf und vor allem es stört unsere Abgeschlossenheit. Denken Sie sich Professor, Sie wären sehr schön. Mit jedem Menschen, der Ihnen begegnet, bindet Ihr Gesicht an, wirkt auf ihn, drängt sich ihm auf, spricht zu ihm, ob Sie wollen oder nicht. Schönheit ist eine beständige Indiskretion. Wäre das angenehm?«
»Ich ... ich kann mich da wohl nicht recht hineindenken,« erwiderte der Professor.
Der Graf lächelte sein unterdrücktes etwas schiefes Lächeln. »Ach ja, uns beiden sind diese Schwierigkeiten erspart geblieben.«
Dann wandten sie sich um und schritten wieder dem Hause zu.
Auf der Veranda fanden sie schon Komtesse Betty, die Schwester des Grafen, die ihm, seitdem er Witwer war, den Haushalt führte und seine Kinder erzog. Sie war feierlich angezogen in ihrem langen Spitzenburnus. Das weiße Gesicht mit den rosa Bäckchen schien sehr klein unter der großen Spitzenhaube nach der Mode der sechziger Jahre. Tante Betty saß wie an einem Krankenbett neben dem Liegestuhl, auf den sich ihre älteste Nichte Lisa hingestreckt hatte. Lisa, die geschiedene Fürstin Katakasianopulos, lehnte ihren Kopf müde zurück und schloß halb die Augen. Die braunen Löckchen fielen ihr wirr in einer Art Opheliafrisur in das blase feine Gesicht. Sie trug ein schwarzes Spitzenkleid, denn seitdem ihre Ehe geschieden worden war, liebte sie es, sich in Schwarz zu kleiden. Sie hatte ihren Griechen in Biarritz kennen gelernt und eigensinnig darauf bestanden, ihn zu heiraten. Als nun aber der Fürst Katakasianopulos sich als unmöglicher Ehemann erwies, war die Familie froh, ihn wieder los zu sein.
Lisa jedoch behielt seitdem etwas Tragisches, das Tante Betty als Krankheit behandelte und mit der sorgsamsten Pflege umgab. Auch der Hauslehrer, ein stattlicher Hannoveraner, und Bob, der Jüngste der Familie, hatten sich eingefunden.
»Wie ist das Befinden, Frau Fürstin?« sagte der Professor.
Lisa lächelte matt. »Ich danke, ein wenig müde.«
»Ruhe haben wir nötig,« meinte Tante Betty.
Im Hintergrunde echote Bobs ungezogene Stimme ein: »Möde«.
Der Graf schaute seine Tochter unzufrieden an. »Gegen zu lyrische Nerven,« sagte er, »wäre etwas Beschäftigung vielleicht ratsam.« »Aber Hamilkar,« wehrte Tante Betty ab.
Lisa zog resigniert die Augenbrauen empor und wandte sich zum Hauslehrer, um eine liebenswürdige Unterhaltung zu beginnen: »Ist es in Ihrer Heimat jetzt auch so heiß, Herr Post?«
Oben in der Tür des Gartensaals erschien Billy im weißen Kleide, rote Rosen im Gürtel, und wie sie die Stufen zur Veranda herabstieg, schauten alle zu ihr auf und lächelten unwillkürlich. Sie lächelte auch, als brächte sie etwas Gutes. Bob gab der allgemeinen Stimmung Ausdruck, indem er rief: »Billy sieht heute wieder erster Güte aus!« Boris folgte ihr und nahm sie sofort in Beschlag, um halblaut mit ihr zu sprechen. Er sprach mit Damen immer halblaut, als sei das, was er sagte, Vertrauenssache.
Alle Hausgenossen waren nun versammelt, nur die Frau Professor fehlte. Die ließ stets auf sich warten.
»Ach ja, meine Frau,« meinte der Professor, »die beweist mir zur Genüge, daß die Zeit etwas Subjektives ist. Sie hat immer ihre eigene Zeit.«
Endlich kam sie, erhitzt und mit flatternden roten Haubenbändern. Man konnte zu Tisch gehen. Graf Hamilkar liebte diese Lebenslage, wenn er oben an der langen Tafel saß, die Reihe der jungen Gesichter entlangblickte und das Schwirren der gedämpften Stimmen hörte. Das erheiterte ihn. Er pflegte dann die Unterhaltung, wollte sie angenehm und harmonisch. Allein heute kam etwas wie ein Mißton hinein.
Man sprach von Politik. Der Professor war Patriot und nationalliberal. Er unterbrach sich im Essen seiner Erbsen, faßte mit Daumen und Zeigefinger ein Crouton, gestikulierte damit und sagte begeistert:
»Bitte, in der Wissenschaft als Gelehrter, da folge ich der Vernunft und Logik ganz unbedingt, wohin sie mich auch führen, aber in der Politik, da ist es anders, da kommt ein wichtiger Faktor hinzu, ein Affekt, die Liebe zum deutschen Vaterlande. Verstand und Logik müssen die Herrschaft mit der Liebe teilen, was sage ich, teilen – sie müssen sich der Liebe unterordnen; ja geradezu unterordnen. So bin ich auch ganz bereit, aus Liebe zum Vaterlande zuweilen unlogisch zu sein. Ja, mein lieber Graf, das bin ich.«
Er schaute sich triumphierend um und lachte. »Gewiß, gewiß,« meinte der Graf, »es wäre ja überhaupt schlimm, wenn wir nicht hin und wieder bereit wären unlogisch zu sein.«
Da beugte sich Boris vor und begann zu sprechen mit seinem ein wenig singenden slawischen Akzent und dem rollenden r: »Sie haben sehr recht, Herr Professor, aber es muß nicht immer nur die Liebe sein, es kann auch der Haß sein. Uns Polen ist auch der Haß heilig.«
Der Graf zog die Augenbrauen empor und beugte sich über seinen Teller. »Ich habe bemerkt,« versetzte er mit einer Schärfe, die alle überraschte, »daß Haß als Beschäftigung verdummt.«
Boris erbleichte. Er wollte auffahren. »Ich muß doch bitten, Onkel,« aber dann zuckte er die Achseln und lächelte ironisch. Billy und Marion, die ihm gegenübersaßen, erröteten beide und schauten ihn angstvoll an. Die beiden Kinder unten am Tisch kicherten. Es gab eine unangenehme Pause, bis der Professor wieder hastig zu sprechen begann. Boris schwieg, schaute gekränkt vor sich hin und lehnte alle Speisen ab. Auch Billy und Marion hatten jede Freude am Essen verloren und waren froh, als die Mahlzeit zu Ende ging. Die Sonne schien schon ganz schräg durch die Obstbäume, als auf der Gartenveranda der Kaffee genommen wurde. Graf Hamilkar rauchte eine Zigarette und schaute behaglich den Garten hinab, der jetzt wieder voller Leben war. Um diese Stunde wurden ihm stets die Augenlider ein wenig schwer. Drüben an der Buchsbaumhecke gingen Boris und Billy auf und ab. Boris sprach eifrig, machte mit seiner schmalen weißen Hand weite Bewegungen und ließ seine vielen Ringe in der Sonne blitzen. Darin lag etwas, was dem Grafen mißfiel, aber er wollte sich in dieser angenehmen Lebenslage nicht ärgern. Als er dann aufstand und in sein Zimmer hinüberging, um ein wenig zu ruhen, begegnete ihm seine Schwester. Er blieb stehn, legte einen Finger an die Nase und sagte: »Betty, was ich dir sagen wollte.«
»Was denn, Hamilkar,« sagte die alte Dame und bog ihren Kopf sehr weit zurück, um ihrem Bruder in die Augen zu sehen. Der Graf deutete durch das Fenster zur Buchsbaumhecke hinaus: »Die Beiden dort, du solltest ein wenig acht geben.«
»Ach Hamilkar,« meinte Betty, »laß doch die Jugend sich unterhalten. Wir waren doch auch einmal jung.« Der Graf lächelte wieder sein unterdrücktes schiefes Lächeln. »Gewiß, Betty, wir waren auch einmal jung und es wäre doch gut, wenn unsere Kinder von dieser unserer Erfahrung einigen Nutzen hätten. Die polnischen Liköraugen geben einen ungesunden Rausch; wir haben an dem griechischen Rausche gerade genug gehabt. Du solltest ein wenig acht geben.«
Damit ging er in sein Zimmer und streckte sich auf seinem Sofa aus. Er liebte diese halbe Stunde des Ruhens. Er schloß die Augen. Die Fenster standen weit offen. Vom Garten tönten die Stimmen herein, wie sie sich riefen, suchten, vereinigten und dazu immer das unermüdliche Wetzen der Feldgrillen. »Wie die eifrig bei der Arbeit sind,« dachte der Graf, »wie eilig die das haben, das klingt ja, als haspele ein jeder schnell einen Faden von einer Spule. Wie sie schnurren diese Spulen, wie die Unruhe in ihnen fiebert.« Er fühlte sich angenehm abseits von dieser Unruhe. Im Halbschlummer schienen die Stimmen sich zu entfernen, zu sänftigen. »Ja ja, so muß es sein, die unruhigen Stimmen entfernen sich, verhallen und dann – Stille. Ja, so wird es sein – vielleicht – man wird ja sehen.« Unten an der Buchsbaumhecke aber gingen Boris und Billy noch immer auf und ab. Boris sprach leidenschaftlich auf Billy ein. Er war ganz bleich von Beredsamkeit und verstand es, ein wunderbar unumwundenes Pathos in seine Worte zu legen.
»Ich weiß, dein Vater liebt mich nicht, er will mich demütigen. Natürlich man liebt uns hier bei Euch nicht. Wir sind die Unbequemen der Geschichte. Eigensinnige Idealisten liebt man nicht. Wer mit einem Schmerz geboren wird, wer für einen Schmerz erzogen wird, ist unsympathisch, ich weiß. Unglücklich sein ist hier bei Euch unmodern, es ist nicht comme il faut.«
»Ach, Boris, warum sprichst du so,« sagte Billy mit vor Erregung heiserer Stimme, »wir hier, wir alle, haben dich gern.«
Boris zuckte die Achseln. »Wir alle, ach Gott, das ist ja auch gleichgültig. Aber du, Billy, ich weiß, du bist gut, du bist für mich, aber nein, nicht so wie ich es verstehe. Sieh, wir Polen, die wir alle mit einer Wunde im Herzen umhergehen und deshalb einsam sind, wir verstehen die Liebe anders. Wir verlangen eine Liebe, die bedingungslos unsere Partei nimmt, ohne zu fragen, ohne sich umzuschauen, die ganz, ganz, ganz für uns ist. Aber,« und Boris machte eine Handbewegung, als werfe er eine Welt von sich, »aber, wo finden wir solch eine Liebe!«
Die Sonne hing jetzt, eine himbeerrote Scheibe, über dem Waldsaum. Billy blieb stehen, schaute mit weitoffenen Augen die Sonne an. Das dunkele Blau dieser Augen wurde blank von Tränen und zwei kleine rote Sonnen spiegelten sich in ihnen. »Ach, Boris, warum mußt du so sprechen,« brachte sie mühsam heraus, »du weißt doch – was soll ich tun, was kann ich tun.«
»Du kannst alles,« versetzte Boris geheimnisvoll.
Billys Herz schwoll schmerzhaft von unendlichem Mitleid für den schönen bleichen Jungen vor ihr und es schien ihr in diesem Augenblicke wirklich, als könnte sie für ihn alles tun.
Der Garten war jetzt ganz rot vom Abendlicht, überall standen die Mädchen und die jungen Leute beieinander, von dem bunten gewaltsamen Lichte wie von einer Festbeleuchtung aufgeregt. Egon von Hohenlicht machte die Professorentöchter lachen, immer beide zu gleicher Zeit. Moritz ging mit Marion zwischen den Levkojenbeeten umher und sie sprachen von Billy. Selbst das kleine Fräulein Demme und der stattliche Hannoveraner standen ein wenig abseits beieinander und flüsterten. Lisa hatte den Liegestuhl auf dem Rasenplatz unter dem Birnbaum hinaustragen lassen. Dort lag sie regungslos, als fürchtete sie das schöne rote Licht, das über sie hinfloß, durch eine Bewegung in Unordnung zu bringen. Der Leutnant von Rabitow hatte sich zu ihren Füßen auf den Rasen hingestreckt.
»Ach wie schön das ist,« sagte Lisa mit einer sanft klagenden Melodie in der Stimme, »wenn man das so sieht, würde man nicht glauben, daß auch so viel Schmerz auf dieser Erde ist.«
»Allerdings,« meinte der Leutnant, »aber daran dürfen wir nicht denken. Wenn ich abends mein Bad genommen habe, Toilette gemacht habe und auf die Straße hinuntergehe, – die Restaurants sind hübsch erleuchtet, wenn ich scharf um die Ecken biege, karamboliere ich mit lieben kichernden Mädchen, und ich denke dann ein wenig nach und sage mir, wohin gehst du jetzt – na, dann schlage ich es mir auch aus dem Sinn, daß morgen wieder Dienst ist und Rekruten usw.« »Sie sind, glaube ich, glücklich, Herr von Rabitow,« sagte Lisa leise.
Auf der Veranda aber saßen Komtesse Betty und Madame Bonnechose beieinander, falteten die Hände im Schoß und sagten andächtig: »ah, la jeunesse, la chère jeunesse.«
Nur die beiden Kinder waren unzufrieden. Bob und Erika standen auf dem Gartenwege und grollten, weil es nicht zu einer Unternehmung kam, zu einem Spaziergang, oder zu einem gemeinsamen Spiel.
»Wenn alle sich immer nur verloben,« meinte Bob, »dann kommt es natürlich zu nichts. Boris legt auf Billy Beschlag, als ob sie Polen wäre.«
»Das wird ihm nichts helfen,« bemerkte Erika, »Papa ist gegen die Partie, das weiß ich.«
Die Sonne war untergegangen. Vom Wald und den Wiesen her kam ein feuchtes Wehen und schüttelte an den Zweigen der alten Obstbäume. Eintönig und klagend ging das Singen der Bauernmädchen die dämmerige Landstraße entlang.
Bob hatte sein gemeinsames Spiel durchgesetzt. Jemand stand an einem Baum und zählte, die anderen versteckten sich. Billy lief zu dem dichten Berberitzengebüsch hinüber. Dort war es dunkel, es roch nach den Brettern einer alten Holzkiste, die dort stand, nach Gartenerde und den säuerlichen Trauben der Berberitzen. Billy war ein wenig atemlos, ihr Herz klopfte so stark, sie hörte es klopfen, es klang wie leise Schritte, die eilig einem unbekannten Ziele zulaufen. Eine große Erregung ließ Billy in sich zusammenschauern, eine Erregung, die das Allvertraute ringsumher fremd erscheinen läßt, bedeutungsvoll und gleichsam schwer von heimlich heranschleichenden Ereignissen. Billy war zu jedem Erlebnis bereit. Boris' weiche Stimme schien alle Schranken, in die dieses Kind sorgsam eingehegt worden war, niederzureißen. Ach ja, Boris' Leben, das so voll großer Gefühle und großer Worte war, mitleben zu dürfen, das war es, was Billy jetzt haben mußte.
»Billy,« hörte sie eine leise Stimme im Dunkeln. Es war Boris. Billy wunderte sich nicht darüber, sie hatte die ganze Zeit ihn so leidenschaftlich gefühlt, daß seine Gegenwart ihr selbstverständlich erschien. »Ja Boris,« antwortete sie ebenso leise.
Er stand jetzt ganz nahe vor ihr, sie spürte das starke, süße Parfüm, das er zu gebrauchen liebte. »Billy,« sagte er, »ich komme, um Gewißheit von dir zu haben.« Er schwieg, aber Billy vermochte nichts zu sagen, sie wartete. Das Ereignis, dessen Heranschleichen sie gespürt, stand jetzt vor ihr.
»Sieh, Billy,« fuhr Boris fort und seine Stimme klang ein wenig trocken, dozierend, »ich muß es wissen, ob du in meinem Leben das bist, auf das ich unbedingt bauen kann. Ich kann mir mein Leben ohne dich nicht denken, aber gerade deshalb darf ich mich nicht täuschen, wenn ich mich hier täuschen würde, könnte es mein Untergang sein.«
Er wartete wieder.
»Aber Boris, du weißt doch –« begann Billy, aber er unterbrach sie ärgerlich: »Nein, ich weiß nicht, ich kann es nicht wissen, du verstehst mich nicht, das ist alles ganz anders.« Billy war das Weinen nahe, die strenge Stimme, die aus dem Dunkeln auf sie einsprach, quälte sie unsäglich. »Doch, gewiß verstehe ich dich. Warum soll ich dich nicht verstehen. Warum sagst du das? Sprich doch morgen mit dem Papa, alle verloben sich, warum muß es denn bei uns so furchtbar traurig sein.« Das Weinen war ihr nahe, müde setzte sie sich auf die alte Holzkiste. Da hörte sie Boris leise lachen, es war das kurze, hochmütige Lachen, mit dem er seine Aufregung zu verbergen liebte. Dann setzte er sich auch auf die Holzkiste, nahm Billys Hand, hielt diese kühle Mädchenhand in der seinen wie etwas Zerbrechliches und Kostbares und begann wieder zu sprechen:
»Nein, nein, du verstehst mich nicht. Natürlich werde ich mit deinem Vater sprechen, ich will ja korrekt sein; aber was wird das helfen, dein Vater haßt mich, ich habe mir mein Glück immer erkämpfen müssen, und ich will das auch und du mußt das auch wollen. Es ist alles gleich, hörst du, alles, es kommt nur auf das Eine an, daß du und ich zueinander kommen. Ich sehe nur dich und du sollst nur mich sehen, was daraus wird, darf uns nicht kümmern, nur du und ich, du und ich.« Er sprach noch immer leise, aber seine Stimme nahm wieder ihren leidenschaftlich singenden Ton an. Er berauschte sich wieder an seinen Worten, an seinem Selbst. »Kannst du das nicht, dann sage es gleich, es ist besser, dann gehe ich fort, es ist gleich, was aus mir wird. Sterben kann ich, aber getäuscht werden, das geht über meine Kraft. Kannst du das, sag, sag?« Und er drückte ihre Hand und schüttelte sie. »Ja, ich kann,« erwiderte Billy gehorsam.
»Also,« fuhr Boris fort, »wir gehen einen Weg aufeinander zu, von beiden Seiten sind hohe Mauern und wir sehen nichts, nur diesen Weg und du siehst mich und ich sehe dich und wir gehen aufeinander zu, nur das, verstehst du?«
»Ja,« sagte Billy und wirklich sah sie diesen gelben Weg zwischen den grauen Mauern unter einem hellgrauen Himmel und zwei einsame Gestalten, die aufeinander zugehen.
»Es ist ja gleich,« fuhr Boris fort, »ob unsere Liebe tragisch ist, es kommt eben nur auf diese Liebe an. Wir Polen können nichts dafür, wenn wir als Abenteurer geboren werden, daran ist die Geschichte schuld, aber Abenteurer brauchen ganz sichere Gefährten, bist du das? Sag'.«
Jetzt nahm er sie fest an sich und küßte sie. Die großen Worte, das große Mitleid, diese Lippen, die sie küßten, diese Hände, die fieberhaft nach ihr griffen, all das tat ihr weh. O Gott, dachte sie, wäre das doch schon vorüber. »Bitte,« flüsterte sie, »geh' jetzt.«
Boris ließ sofort von ihr ab, stand auf und sagte höflich: »Wenn du es wünschest. Aber, Billy, ich fürchte, du bist mir noch recht fern.« »Ich will aber nicht fern sein,« rief Billy weinerlich und nun kamen auch die Tränen. Boris stand einen Augenblick schweigend da, dann sagte er leise »gute Nacht« und ging. Billy blieb auf der Holzkiste sitzen, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte. In den Berberitzenbüschen raschelte der Nachttau. Dort irgendwo durch das Dunkel schwirrte eine Fledermaus und stieß ihr angstvolles und unendlich einsames Pfeifen aus. Billy fror, sie fürchtete sich auch. Es war ihr, als käme in der Finsternis etwas heran, das sie nehmen und sie forttragen wollte. Aber was konnte sie tun, jetzt war auch alles gleich. Sie gehörte zu Boris und seinem schönen, unverständlichen Schmerze.
Sie hörte Schritte, jemand stand neben ihr.
»Billy, bist du hier?« Es war Marion.
»Ja, Marion.«
– »Weinst du?«
»Ja, ich ... ich weine.«
Marion setzte sich zu Billy auf die Holzkiste, ihr war auch sehr weinerlich zumute. Beide schwiegen eine Weile, dann fragte Marion: »War er hier?« »Ja« erwiderte Billy. »Und hat er,« fuhr Marion fort, »hat er etwas gesagt? Seid Ihr verlobt?«
»Ja, ich glaube,« meinte Billy, »aber es ist doch alles sehr traurig.«
Die beiden Mädchen saßen wieder schweigend nebeneinander. Draußen im Garten hörte man Stimmen, jemand rief: »Billy! Marion!« dann wurde es still.
»Komm,« sagte Billy und stand auf, »aber wir gehen nicht zu den Anderen, ich mag niemanden sehen, ich mag keinen Tee, wir wollen zu uns hinaufgehen, ohne daß jemand uns sieht.«
Über dem Dach des Hauses war der Mond emporgestiegen, der Garten war plötzlich hell und die Schatten der Bäume lagen hart und schwarz auf den beschienenen Wegen. Die beiden Mädchen schlichen an den Büschen die Buchsbaumhecke entlang, zuweilen blieben sie stehen und horchten zur Veranda hinüber. Dort saßen die Anderen, Billy hörte die Stimme des Professors, dann die Stimme ihres Vaters. »Der Tod, lieber Professor,« sagte der gerade, »ist uns deshalb unverständlich, weil wir auf ihn die Maßstäbe des Lebens anwenden. Es ist wie mit dem Traum. Wenden Sie auf einen Traum die Maßstäbe des Wachens an und Sie werden sich nie in ihm zurechtfinden.«
»Mein Gott,« flüsterte Billy verachtungsvoll, »sie sprechen über den Tod.« Hurtig schlüpften die beiden Mädchen in das Haus. Oben im Giebel lagen ihre beiden Zimmer nebeneinander und sie hatten einen großen gemeinsamen Balkon, der auf den Garten hinausging. Billys Zimmer war hell von Mondschein, sie zündete daher kein Licht an. »Ist es gekommen?« fragte sie Marion.
»Ja,« meinte Marion, »heute mit der Post,« und holte ein kleines Paket hervor. Beim Licht des Mondes öffneten es die beiden Mädchen; es enthielt eine weiße Porzellanbüchse, »Anadyomenit« stand auf dem Deckel und darin war eine weiße Salbe, die süß nach Rosen duftete. »Hier ist auch eine Anweisung,« sagte Marion; sie hielt einen Zettel gegen das Mondlicht und las: »Man bestreiche das Gesicht dünn mit der Salbe und setze es dann eine halbe Stunde einem milden Lichte, am besten dem Lichte des Vollmondes aus. Die Haut wird durchsichtig, lilienweiß ...« – »Gut, gut,« unterbrach Billy die Vorlesung, »fangen wir also an.« Schweigend und eifrig machten sie sich an die Arbeit; sorgsam strichen sie vor dem Spiegel die Salbe über ihre Gesichter, rückten Stühle auf den Balkon hinaus, saßen regungslos da und schauten zum Monde auf, der ihnen gegenüber rund und gelb über den Wipfeln der alten Ahornbäume hing. Nur selten sagte eine ein Wort.
»Du weißt,« bemerkte Billy einmal, »er hat ganz lange Wimpern.« »Ja,« sagte Marion, »und sie sind ein wenig hinaufgebogen.« Dann schwiegen sie wieder.
Unten in der Ahornallee ging Boris rastlos auf und ab. Er rauchte Zigaretten und sann. Er fühlte sich, er sah sich heute besonders stark und deutlich, sich den geliebten, schönen Jüngling mit dem tragischen Ausnahmeschicksal. Das gab ihm eine feierliche Erregung. Aber er wußte auch, er war sich ein bedeutsames Erlebnis schuldig. Billy gehörte dazu natürlich, das stand fest und nun schmiedete er Pläne, dichtete eifrig an dem Schicksal des schönen, geliebten Jünglings. Zuweilen am Ende der Allee blieb er stehen und schaute zu dem Hause hinauf, hinauf zu dem Balkon, auf dem die weißen Gestalten der beiden Mädchen regungslos dasaßen, die blanken Gesichter dem Monde zugewandt.
Drüben zwischen den Blumenbeeten ging die Fürstin Katakasianopulos langsam hin und her, sehr schlank in ihrem schwarzen Kleide, sehr bleich im Mondlicht. Aber, wer sah das. Auch sie fühlte sich als kostbares Werkzeug für köstliche Erlebnisse. Allein wo waren die, denen diese Erlebnisse bestimmt waren. Am Ende des Gartenweges blieb sie stehen und schaute sinnend auf die weißen Nebel, die von der Wiese aufstiegen. Sie war mit ihrem Manne einst einen Monat lang in Athen gewesen. Vielleicht sehnte sie sich nach Griechenland. Möglich. Aber warum ging Boris allein in der Allee auf und ab? warum blieb der Leutnant dort bei den Anderen? Sie kam sich vor wie ein Fest, das einsam in seinem Schmucke dasteht und von dem alle, die es feiern sollen, nichts wissen. Aber von der Veranda tönte die ruhig forterzählende Stimme des Grafen Hamilkar in die Mondnacht hinaus. Er erklärte dem Professor noch immer den Tod.
Ein sehr heller Augustmorgen lag über Kadullen. Im Hause war es noch still. Nur Komtesse Betty ging durch die sonnigen Zimmer und ließ die Fenstervorhänge herab, denn der Tag versprach heiß zu werden. Dann ging sie in den Garten hinaus um Rosen zu schneiden. Zuweilen hielt sie in der Arbeit inne und schaute blinzelnd in den Sonnenschein hinein, sah zu dem Gartenburschen hinüber, blickte den Küchenmägden nach, die mit großen Körben voller Gemüse aus dem Gemüsegarten kamen, überall regte sich schon emsig das behäbige und geregelte Leben. Das tat gut. Wenn das eigene Leben sich sachte dem Ende zuzuneigen beginnt, muß man sich an dem starken jungen Leben der Anderen wärmen, die Hände voll großer kühler Rosen haben und mit geöffneten Lippen den Morgenduft dieses Gartens eintrinken. Dort von der Allee her grüßte jemand. Ach ja, das war Moritz, der zum See hinunterging, um zu baden. Der arme Junge. Seitdem er so stark in Billy verliebt war, kam er aus dem Wasser gar nicht mehr heraus, immer wieder war er unterwegs zum See. Die lieben Kinder, wie sie einander liebten und einander Schmerz bereiteten und wie hübsch das alles war. Ja das Leben, das liebe Leben. Ob zwischen dem Leutnant und Elsa etwas zustande kommt. Komtesse Betty wollte mit Madame Bonnechose darüber sprechen; die hatte in solchen Dingen einen sehr scharfen Blick. Sie nahm ihre Rosen zusammen und ging in das Haus hinein. Sie war erstaunt, um diese Zeit schon Boris im Wohnzimmer zu finden. In seinem Anzug aus rahmfarbener Seide mit dem nelkenroten Gürtel saß er wartend in einem Sessel, bleich, sehr hübsch und ein wenig feierlich.
»Wie? Du schon auf, mein Junge«, sagte die alte Dame.
»Ja«, meinte Boris ernst, »ich habe etwas vor, ich habe den Onkel fragen lassen, ob er mich gleich nach dem Frühstück empfangen will, ich muß mit ihm sprechen.« Komtesse Betty sah ihren Neffen unsicher, ein wenig ängstlich, an.
»Ach so, ja warum soll er dich nicht empfangen. Aber, was ist denn? Ist es wegen ... wegen –«
Boris nickte: – »Ja, wegen Billy«.
»Lieber Boris«, sagte die alte Dame und bog den Kopf ein wenig zurück, um ihrem Neffen in die Augen zu sehen, »muß das gerade jetzt sein? Das wird Billy so aufregen – und den Onkel, und mich und uns alle und wir sind gerade so glücklich und so gemütlich beieinander. Kannst du damit nicht warten?«
Aber Boris wurde noch feierlicher: »Das tut mir leid, liebe Tante, daß ich Eure Gemütlichkeit stören muß. Das ist, fürchte ich, nun einmal die Rolle, zu der ich bestimmt bin«, und er lachte bitter, »nein, gemütlich bin ich nicht, aber ich tue, was ich tun muß.«
»So, so«, sagte Komtesse Betty ängstlich, »ja dann – vielleicht geht alles gut. Ich gehe gleich zu Billy hinauf, vorläufig muß sie jedenfalls im Bett bleiben, ich bringe ihr das Frühstück.« Geschäftig eilte sie fort und Boris setzte sich wieder bleich und entschlossen auf seinen Sessel und wartete.
Als Boris zu seinem Onkel gerufen wurde, fand er diesen in seinem Schreibzimmer am Fenster sitzend. Er rauchte seine Morgenzigarre und schaute auf den Hof hinaus. Dort regte sich emsig die landwirtschaftliche Vormittagsarbeit. Im Teich wurden Pferde geschwemmt, ganz blank in der Sonne. Erntewagen fuhren vorüber, grellgelb gegen den blauen Himmel. Flüchtig wandte sich der Graf zu seinem Neffen um, nickte ihm zu und schaute dann gleich wieder zum Fenster hinaus.
»Guten Morgen, Boris«, sagte er, »du willst mich sprechen, schön, bitte setze dich.« Als Boris sich gesetzt hatte, war es ganz still im Zimmer. Er hatte so viel große Worte vorbereitet, aber hier in diesem Zimmer vor diesem alten Manne, der mit seinen Gedanken so sehr weit fort von allem zu sein schien, von allem, was Boris anging, schien all das Vorbereitete nicht mehr zu stimmen. Ob er wirklich nur sich für die vorüberfahrenden Erntewagen interessiert, dachte Boris, oder ob er Komödie spielt aus Bosheit?
»Wie der Bursche dort oben auf dem Gerstenfuder liegt«, begann jetzt der Graf, »so ganz königlich hingerekelt. Der hat wirklich Besitzgefühl jetzt, wenn ihm auch kein Halm gehört. Der hat mehr Besitzgefühl in diesem Augenblick, als ich hier an meinem Fenster. Merkwürdig, nicht?« Er wandte sich Boris zu. Als er den gespannten Ausdruck auf dem bleichen Gesicht sah, zog er ein wenig die Augenbrauen empor und bemerkte: »Ja so, du willst von dir sprechen, also bitte.« Dann schaute er wieder zum Fenster hinaus.
»Ja Onkel«, sagte Boris und seine Stimme klang gereizt und kampflustig, »ich wollte dir sagen, ich ..... ich liebe Billy.« Der Graf zog an seiner Zigarre und sprach dann langsam und stark durch die Nase: »Gewiß, das ist verständlich. Das ist natürlich. Es wird vielleicht manchem anderen ebenso gehen. Billy ist ein ungewöhnlich hübsches, junges Mädchen, da verlieben die jungen Leute sich in sie, das war von jeher so.«
»Aber Billy liebt auch mich«, stieß Boris entschlossen hervor. Sein Onkel schaute ihn aus den grauen Augen scharf an, das Gesicht blieb ruhig, nur die Nase schien noch weißer zu werden: »Lieber Boris, auch in meiner Jugend verliebten wir uns in junge Mädchen, wir sagten wohl auch zuweilen, ich bin in die und die verliebt, aber zu sagen, dieses junge Mädchen ist in mich sterblich verliebt, das galt damals für nicht geschmackvoll.«
Boris errötete, aber er fühlte, wie er seine Sicherheit zurückgewann, so eine angenehme Kampfstimmung machte ihm das Herz warm. Er konnte sogar wieder seine Lippen zu dem traurigen und hochmütigen Lächeln verziehen, von dem eine Dame ihm gesagt hatte »das ist so hübsch, daß es schwer sein muß, später nicht zu enttäuschen.«
»Vielleicht ist es geschmacklos«, sagte er, »aber es gibt Lebenskrisen, in denen wir auch über den Geschmack hinweggehen, ich wollte nur sagen, daß Billy und ich miteinander einig sind. Ich bin geschmacklos, gut, aber nur, weil ich klar sein möchte.« »So, so«, erwiderte Graf Hamilkar und die Zigarre zitterte ein wenig in seiner Hand, »dann werde ich auch klar sein müssen. Da ich von jeher mich für dich interessiert habe, so bin ich häufig in die Lage gekommen, dir aus all den Schwierigkeiten herauszuhelfen, in die dein Leichtsinn oder, um mich weniger klar auszudrücken, deine interessante Natur dich verwickelt hat. Da du nun all das weißt, was ich von dir weiß, so wirst du verstehn, daß ich für das Glück meiner Tochter auf dich in keiner Weise gerechnet habe.«
Jetzt fand Boris seine Beredsamkeit wieder, er fand all die großen Worte wieder, die er sich gestern in der Ahornallee zurechtgelegt hatte, und er mußte sich von seinem Stuhl erheben um sie zu sprechen.
»Ich weiß, Onkel, alles, was du für mich getan hast. Ich kenne auch meine Fehler. Aber das entscheidet hier nicht. Billys Liebe ist für mich ein unverdienter Glücksfall. Solch ein Glück ist immer unverdient. Aber die Hände nicht darnach ausstrecken wäre für mich ein Selbstmord, ja geradezu Selbstmord.«
»Mein Lieber«, unterbrach ihn der Graf, »von dem Worte Selbstmord als rhetorischer Wendung ist im Interesse des guten Geschmacks dringend abzuraten.« Boris wurde heftig, seine Stimme nahm eine scharfe Diskantlage an: »Ich kümmere mich nicht um rhetorische Wendungen und um Geschmack. Es handelt sich hier um mein Schicksal, aber das wäre ja gleich, das wäre dir gleich. Aber es handelt sich um Billy, Billy gibt mir mein Recht und wenn ich auch leichtsinnig bin und unwürdig und eine schlechte Partie und unsympathisch, Billys Liebe ist mein Recht.«
Er war zu Ende und setzte sich auf seinen Stuhl zurück. Das hatte wohlgetan. Der Graf strich sanft seine weiße Nase und versetzte: »Das Recht, dich in meine Tochter zu verlieben, kann ich dir nicht absprechen, ebensowenig das Recht, mich um die Hand meiner Tochter zu bitten, aber was du da eben gesagt hast, klang eher so, als hieltest du in Billys Namen bei mir um deine eigene Hand an.«
»Ich wollte offen und loyal gegen dich sein«, erwiderte Boris.
»So, wolltest du das?« meinte der Graf. »Du nennst das loyal, wenn du als Gast in meinem Hause hinter meinem Rücken mit meiner siebzehnjährigen Tochter, wie du es nennst, einig wirst.« »Es war vielleicht nicht korrekt«, sagte Boris müde und überlegen, »aber, mein Gott, wenn etwas so Starkes hier im Herzen und hier im Kopf sich festsetzt, dann sprechen wir es eben aus.«
Scharf und böse erwiderte der Graf: »Ein anständiger Mensch behält eben neun Zehntel von dem, was ihm durch Herz und Kopf geht, für sich.«
»Du willst mich beleidigen, Onkel«, Boris lächelte dabei sein hübsches melancholisches Lächeln, »gut, gut. Wir Polen können unsere Köpfe und Herzen vielleicht weniger im Zaum halten, als ihr Deutsche; deshalb sind wir doch anständig.«
»Es ist sehr wohlfeil, mein Lieber«, höhnte der Graf, »seine Fehler seiner Nation in die Schuhe zu schieben; die kann sich nicht wehren. Übrigens...« Er hielt inne, seine Zigarre war ausgegangen; er zündete sie umständlich an und als er wieder zu sprechen begann war die Gereiztheit aus seiner Stimme fort, es war wieder der beschaulich näselnde Ton. »Die Diskussion ist hier wohl unfruchtbar, wir sind dazu, beide, in der Sache zu wenig objektiv. Ich bedauere also, deinen Antrag ablehnen zu müssen.« Boris erhob sich und verbeugte sich formell. »Dann kann ich wohl gehen«, sagte er. »Ja«, erwiderte der Graf, »der Gegenstand wäre soweit erschöpft. Es wäre noch hinzuzufügen, daß ich dich bitten muß, deinen Besuch bei uns heute abzubrechen.«
Boris verbeugte sich wieder. »Nachmittag natürlich«, fügte der Graf hinzu.
»Danke«, sagte Boris und ging dann sehr auf, recht hinaus.
Graf Hamilkar tat einen langen Zug aus seiner Zigarre und schaute wieder zum Fenster hinaus. Er wünschte wieder einen Erntewagen zu sehen und einen Burschen, der schläfrig hoch oben in den heißen gelben Halmen lag. Im Hof hinter einem Busch hatte die ganze Zeit über Marion gestanden und zu ihm in das Fenster hineingeschaut. Jetzt, da Boris gegangen war, lief auch sie dem Hause zu. Der Aufklärungsdienst der Jugend gegen die Alten dachte der Graf. Er lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen.
Er war ein wenig müde. Natürlich würde sie gleich kommen. Wie er seine Tochter kannte, so würde sie sich den Rausch der Treue, des Bekennens, des Mutes vor den bösen Vater hinzutreten, nicht entgehen lassen. Gott, wie das Leben immer wieder dieselben alten Rollen verteilte. Widerlich. Jetzt ging die Tür. Er öffnete nicht die Augen, eine unendliche Trägheit machte ihm die Augenlider schwer. Er hörte, wie Billy in das Zimmer trat, nahe an ihn herantrat und vor ihm stehen blieb. Da öffnete er die Augen und lächelte ein wenig. »Nun, meine Tochter?« fragte er, »komm, setze dich zu mir.«
»Nein, Papa«, erwiderte Billy, »ich möchte lieber stehen.«
»Gut, steh«. Er mußte auch stehen, als er seine Rede hielt, dachte Graf Hamilkar. Billy stand da in ihrem weißen Kleide, rote Nelken im Gürtel, die Arme niederhängend und die Hände leicht ineinander verschlungen. Das Gesicht war bleich und die Augen sehr blank. Entschlossen sieht sie aus, ging es dem Grafen durch den Sinn, Charlotte Corday vor der Badewanne Marats.
»Ich wollte nur sagen, Papa«, begann Billy, »daß ich für Boris bin, daß ich auf Boris Seite stehe. Wenn du ihn auch beleidigst und fortschickst, ich bin für ihn, ich muß das.«
Sie sprach ruhig, nur daß sie beim Sprechen die roten Nelken aus ihrem Gürtel zog und nervös zerpflückte. Der Graf nickte: »Gewiß Kind, ich habe das nicht anders erwartet. Ich fürchte, wir werden einander nicht überzeugen. Du wirst Boris immer anders sehen, als ich ihn sehe. Unsere Augenpunkte sind eben zu verschieden. Auch über das, was du fühlst, werden wir nicht einer Meinung sein. Du hältst das für etwas Dauerndes, ja für etwas Ewiges, nicht? Und ich für etwas Vorübergehendes. Ich könnte mich nun auf meine Erfahrung berufen und sagen, ich habe mehr Dinge vergehen sehn als du. Aber du wirst mir einwenden, das, was du erlebst, sei noch nie erfahren worden, sei einzig. Wir kommen nicht zusammen. Da bleibt also nichts übrig als die altbewährte Regel, daß ich bestimme und du gehorchest. Ich verwalte dein Leben und habe es dir, wenn du anfängst es selbst zu verwalten, ungeschmälert zu überliefern. Die Zugabe des polnischen Vetters aber würde ich für eine unvorteilhafte Belastung dieses mir anvertrauten Kapitals halten.«
»Ich will aber lieber, daß es belastet ist und ... und ... und alles, was du sagst, aber mit Boris«, rief Billy und warf die Nelken zornig zur Erde. Der Graf zuckte leicht mit den Achseln. »Ja, mein Kind, darin sind wir eben verschiedener Ansicht, und meine Ansicht ist vorläufig die herrschende.« Billy schwieg. Sie ließ jetzt ihre Arme schlaff niederhängen, ihre Augen wurden ganz rund und klar und es kam ein wunderlicher Ausdruck in sie von Hilflosigkeit, ja von Angst. »Dann – dann –« brachte sie mühsam heraus, »dann weiß ich nicht.« Ein unendlicher Widerwille gegen seine Vaterrolle stieg in ihm auf, war er denn wirklich dazu da, um dieses schöne Wesen zu quälen? Aber als er zu sprechen begann, klang seine Stimme noch um einiges kühler und ironischer:
»Geh jetzt, meine Tochter. Vielleicht gewährt es dir einige Beruhigung, zu denken, daß für den Schmerz, den du jetzt empfindest, nicht du selbst verantwortlich bist, sondern ich. An solchen kleinen Hilfshypothesen, wie der Professor sagen würde, ist das Leben reich, und warum sollen wir sie nicht benutzen.« Billy hörte ihn nicht mehr, die klaren Augen schienen auf etwas hinauszustarren, über das sie sich wunderten und das sie erschreckte. Dann plötzlich machte sie Kehrt und ging hinaus.
Der Graf fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Ein verteufeltes Gefühl, das Mitleid. Es ist eigentlich ein starkes körperliches Unwohlsein. Dann bückte er sich und hob die Nelken auf, die Billy zerpflückt hatte. Er wollte sie in der Hand halten.
An diesem schwülen Tage war auch das Leben in Kadullen wunderlich gespannt. Überall standen Leute zu zweien beieinander und flüsterten mit ernsten Gesichtern. Die Professorstöchter saßen ein wenig verlassen auf der Veranda und sprachen leise miteinander. Zuweilen gesellte sich Egon zu ihnen und machte ihnen lau und zerstreut den Hof. Billy hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen und Komtesse Betty brachte viel Himbeerwasser zu ihr hinauf und Marion jagte beständig zwischen Billys Zimmer und dem Garten hin und her, um Nachrichten zu überbringen. Keiner fand es gemütlich. Lisa ging unter ihrem roten Sonnenschirm zwischen den Blumenbeeten umher. Diese Liebesgeschichte, an der sie keinen Teil haben sollte, machte sie unruhig. Der Leutnant war auf die Hühnerjagd gegangen. Natürlich, das kannte sie an den Männern; wenn es galt sich zu entscheiden oder sonst die Lebenslage schwierig wurde, gingen sie immer auf die Hühnerjagd. Diese armen Tiere schienen nur dazu da zu sein, um über unangenehme Lebenslagen hinwegzuhelfen. Jetzt suchte sie Boris, sie wollte mit ihm sprechen. Wer konnte den Liebenden besser Rat erteilen als sie. Aber er war nicht da. Es hieß, er sei auf die Wiese hinausgegangen. Gut, dann wollte Lisa mit Billy ein Gespräch haben. Aber als Marion das Billy meldete, wurde diese sehr heftig. »Nein, sie soll nicht kommen. Was wird sie sagen und sie wird von ihrem alten Griechen sprechen. Der Fall mit ihrem Katakassianopulos ist ganz anders wie mein Fall. Sag ihr das. Sie kann mir nicht helfen, mir kann niemand helfen.« Und sie drückte das Gesicht in die Kissen und weinte. Ratlos stand Marion vor ihr. »Und Boris ist verschwunden«, klagte Billy wieder, »geh zu Moritz, sag ihm, er soll Boris aufsuchen, er soll acht geben auf ihn, er soll bei ihm bleiben. Geh schnell.« Marion stürmte wieder die Treppe hinab.
Sie fand Moritz im Park faul und kummervoll unter einem Baume hingelagert. Er blinzelte Marion schläfrig an, als sie ihren Auftrag ausrichtete. »Was, auf ihn acht geben«, sagte er, »was wird ihm geschehn? Dem geht es ja gut. Von mir aus kann er sich auch – – –«
»Sie will es«, sagte Marion. Seufzend richtete Moritz sich auf, nahm sein Badetuch, das neben ihm am Boden lag, hing es sich über die Schulter und schlug widerwillig den Weg zur Wiese ein.
Auf der gemähten Wiese glitzerten allerort Spinnweb über dem kurzen Grase. Schwalben flogen ganz niedrig an der Erde hin. Die Sonne stach unerbittlich herab.
»Unglaublich«, murmelte Moritz, »bei solcher Hitze diesen polnischen Narziß suchen zu müssen. Wo wird er denn sein? Er wird hier irgendwo liegen.«
Wirklich fand er Boris unter einer Weide glatt auf dem Rücken im Grase liegend. Als Moritz vor ihm stehen blieb, schaute ihn Boris gleichgültig an und fragte: »Was willst du?«
»Ich?« sagte Moritz, »ich will eigentlich nichts, aber Billy schickt mich, ich soll auf dich acht geben.«
Boris antwortete nicht, sondern starrte wieder zum Himmel auf. Da legte sich Moritz auch in das Gras. Dieser schöne Pole im gelben Seidenanzug war ihm unendlich zuwider. Wie er da lag, gleichsam schwer und satt von der Bewunderung all der schönen Weiber, die an ihm hingen. Er hätte ihn schlagen mögen. Dennoch war es ihm ein Bedürfnis, in seiner Nähe zu sein, denn etwas von Billy war da, wo Boris war, er wußte um sie, er war die dumme, widerwärtige, verschlossene Türe, hinter der das stand, was Moritz jetzt allein begehrte. Vor dieser Tür zu sitzen war schmerzvoll, aber dieser Schmerz war eben jetzt die einzige Beschäftigung, die ihm blieb.
»Nachdenklich?« bemerkte Moritz endlich.
»Ja«, erwiderte Boris mit seinem lyrischen Stimmton, »wer mit seinem Leben nicht fertig ist, hat eben noch manches zu überdenken.« Moritz lachte höhnisch: »Na, du hast in dein Leben ja schon hübsch viel hineingepackt.«
»Das alles ist noch nichts«, sagte Boris schläfrig. Moritz dachte jetzt darüber nach, was er sagen könnte, dann begann er: »Sag mal, wie war es damals in Warschau mit der Tänzerin Zucchetti? Du hattest doch ein Verhältnis mit ihr?« Aber Boris ärgerte sich nicht. »Wie es war? Ja, wie soll ich das jetzt noch wissen. An so etwas erinnert man sich doch nicht. Du könntest mich ebensogut fragen, wie die Flasche Sekt war, die ich am 12. August vor drei Jahren getrunken habe. Ich weiß das nicht.« Und behaglich, als läge er im Bett, wandte er sich um, legte sich mit dem Bauch in das Gras, um sich von der Sonne den Rücken wärmen zu lassen. »Gut«, fuhr Moritz eigensinnig fort. »Du hast aber genug tolle Sachen um ihretwillen angestellt, also hast du sie geliebt.«
»Wenn Ihr das im Deutschen Liebe nennt«, entgegnete Boris, »so tut mir Eure arme deutsche Sprache leid.«
»So?« Moritz wurde gereizt. »Was ist denn die polnische Liebe?«
»Die polnische Liebe«, sagte Boris und gähnte diskret, »die polnische Liebe ist etwas unendlich Heikles. Es genügt eine Bewegung oder ein Wort, damit von Liebe nicht mehr die Rede sein kann, sondern – nun mein Gott – sondern von allem Anderen.« Boris richtete sich ein wenig auf, kniff seine großen Augen ganz schmal zusammen und schaute träumend zum Walde hinüber, der dort drüben einen sehr schwarzen Strich in all die Helligkeit hineinzeichnete. »Da war einmal eine sehr schöne Frau. Sie war unsere Nachbarin. Ich stand mich sehr gut mit ihr. Sie pflegte mich nachts um zehn Uhr in ihrem Park zu erwarten. Nun gut. Einmal hatte ich mich verspätet, statt zehn, war es dreiviertel elf Uhr geworden. Wie ich nun komme und sehe, sie steht da unter dem Baum und sie hat doch gewartet, da freue ich mich und in dem Augenblicke liebe ich sie wirklich ganz stark. Aber, als ich näher komme, macht sie ein strenges Gesicht und sagt: Nun, du bist pünktlich, das muß man sagen, auch ist es recht ritterlich, eine Dame so lange warten zu lassen. Das klang so spitz und säuerlich und alltäglich, daß von Liebe nichts mehr da war. Eine Gouvernante, die mit einem Schüler spricht, der sich verspätet hat, dachte ich.«
»Was tatest du?« fragte Moritz. – »Ich machte eine Verbeugung und sagte: ich bin nur gekommen, gnädige Frau, um zu melden, daß ich heute nicht kommen werde. Nun, und dann ging ich.«
Moritz zuckte die Achseln: »Daran finde ich nichts Besonderes. Das sind so Dinge, die man erlebt, um sie später zu erzählen.«
»Ihr erlebt nichts und ihr erzählt nichts«, schloß Boris, legte seinen Kopf wieder auf den Rasen und zog sich den Hut über die Augen.
Die beiden jungen Leute schwiegen, Boris schien zu schlafen, Moritz saß an den Stamm der Weide gelehnt da und schaute auf die Ebene hinaus, über die ein gleichmäßiges Summen erklang, die tiefberuhigte Geschäftigkeit eines sonnigen Werktages. Das machte ihn traurig und mutlos. Er empfand sich selbst unangenehm deutlich als uninteressant und alltäglich. Die Mädchen verliebten sich in andere, die seltenen Erlebnisse waren für andere da, ja er fühlte sein glattes, semmelblondes Haar, sein rundes Gesicht, seine hellblauen Augen als etwas, das ihm weh tat. Und plötzlich kam ihm eine sehr ferne Erinnerung. Er mußte ein sehr kleines Kind gewesen sein, als er drüben auf dem Gut in Westpreußen mit der alten Wärterin in der sonnigen Gartenecke saß. Die Alte schlief, das magere Gesicht von der Wärme gerötet, die Luft war voll eines gleichmäßigen, schläfrigen Klingens. Die großen Klettenblätter, von der Sonne erhitzt, strömten einen starken säuerlichen Geruch aus und das Kind empfand es wie etwas, das immer so bleiben würde. Hinter dem Zaun aber, von unten im Dorf, tönte zuweilen das Lachen und Schreien von Kindern herüber, der Kinder, welche etwas erlebten. Moritz fuhr auf, »Unsinn«, murmelte er, beugte sich vor und begann Boris zu schütteln. »Du, schlafe nicht.« »Was gibt es«, fragte Boris, »wozu die Brutalität?« »Du sollst baden kommen«, sagte Moritz. »Baden?« wiederholte Boris, schlug die Augen auf und schaute Moritz scharf und sinnend an, als wollte er aus ihm etwas herauslesen. »Gut, gehen wir also baden«, beschloß er dann.
Der See war sehr blau und voll harter, sich sachte wiegender Lichter. Zwischen den Schachtelhalmen und dem Kolbenrohr lagen Wildenten regungslos wie blanke Metallsachen. »Hübsch«, sagte Boris, »in diesen Farbentopf zu steigen, ist allerdings schick.« »So«, meinte Moritz ironisch, »du glaubst also, der See wird dir gut stehen.« »Ja, das wird er wohl« erwiderte Boris und begann sich auszukleiden. »Du schwimmst wohl sehr gut?« – »Es geht, und du?« – »Ich schwimme sehr gern«, berichtete Boris, »aber es regt mich auf; ich habe nicht das Gefühl, als sei das Wasser mir befreundet.« – »Das heißt auf deutsch, du schwimmst schlecht«, bemerkte Moritz trocken. Boris lachte: »du sprichst ein besonders gutes Deutsch.«
Das Wasser war lau. Man wühlt sich hier wie in warmer Milch, dachte Moritz, als er langsam in das Lichtgeflimmer hineinschwamm. Alle Traurigkeit, alle »diese Dummheiten« waren fort, nur ein starkes, stilles Lebensgefühl wärmte ihm die Glieder. Er legte sich auf den Rücken, er wollte sich wie die Enten wohlig und faul vom Wasser wiegen lassen. Die Libellen setzten sich auf seine Brust, Wasserpflanzen kitzelten wie mit kleinen, nassen Fingern seine Haut, über ihm flatterten Möwen mit hellgrauen Flügeln, sie schauten auf ihn nieder und riefen schrille Töne herab, die wie das Lachen der beiden Professorentöchter klangen. »Billy, Billy«, murmelte er. Er konnte das jetzt ohne Schmerz sagen, es war nur der Ausdruck des tiefsten Behagens. Dann dachte er an Boris, er hob ein wenig den Kopf. Teufel, war der Mensch verrückt, so weit hineinzuschwimmen. Boris' Kopf tauchte wie ein dunkeler Punkt dort drüben zwischen den Sonnenflittern auf, aber er kam ja nicht vorwärts, jetzt war er verschwunden, jetzt war er wieder da. In kräftigen Stößen begann Moritz der Stelle zuzuschwimmen, er kam noch gerade zurecht, um Boris am Arm zu packen, der in ein Netz von Wasserrosen und Froschlöffeln verstrickt, noch einmal auftauchte, die Augen unheimlich weit und schwarz in dem bläulichen Gesicht. Moritz zog ihn mit sich fort und als er Grund zum Stehen fand, nahm er ihn in seine Arme, um ihn zum Ufer zu geleiten. Er redete ihm freundlich zu: »Wasser geschluckt, mein Alter, ja das ist verdammt, wenn man in den Salat dort hineingerät. Wart', wir sind gleich im Trocknen.« Boris spie das Wasser von sich und rang mit dem Atem. Am Ufer legte er sich in das Gras, er fühlte sich zum Tode ermattet und schloß die Augen. Moritz saß neben ihm und schaute ihn an. Plötzlich richtete sich Boris auf, er schlang die Arme um seine Knie und schaute mit den noch immer angstvoll aufgerissenen, wunderlich dunkelen Augen vor sich hin. »Schlafe doch«, sagte Moritz freundlich. »Ich kann nicht« erwiderte Boris, »sobald ich die Augen schließe, ist es mir, als wickelten sich diese verfluchten glatten Stengel wieder um meine Beine und zögen mich hinunter. Ein wunderliches Gefühl. Ich hatte den Gedanken, nun kommt das Sterben, aber das zu denken dazu war keine Zeit, ich fühlte so maßlose schmerzhafte Wut gegen diese Stengel, gegen das Wasser, das mich herabdrückte, alle zusammen gegen einen, so etwas Ähnliches muß ich gefühlt haben.« Boris sann eine Weile schweigend vor sich hin, das schöne Gesicht war ganz bleich und böse, dann plötzlich lächelte er sein hochmütiges, leichtsinniges Lächeln. »Du hast mir also das Leben gerettet, Bruder«, begann er wieder. Moritz zuckte die Achseln. »Ach was«, meinte er. – »Doch, doch«, fuhr Boris fort. »Du bist mein Lebensretter, ich danke dir. Aber eins möchte ich wissen, du hassest mich doch, wie?« Moritz errötete: »Was werde ich dich viel hassen!« – »Natürlich hassest du mich«, versicherte Boris. »Nun möchte ich wissen, als du mich dort so in der letzten Not fandest, dachtest du da nicht, wenn ich jetzt ruhig zusehe, dann bin ich ihn los. Oder hattest du nicht einen Augenblick Lust, die Hand auf meinen Kopf zu legen und so ein wenig zu drücken? Wie?« Moritz schaute Boris verwundert an: »Nein, so etwas denkt man doch nicht.«
Boris legte sich wieder zurück, die Hände im Nacken verschränkt. Die Erregung des eben Erlebten zitterte noch in ihm nach und trieb ihn, zu sprechen, verträumt, ein wenig wie im Rausch. »Ach wirklich, an so etwas denkt man nicht, was seid ihr für Menschen, ich habe gleich daran gedacht, als du mir sagtest, wir sollen baden gehen; man hat schließlich keinen Katechismus als Seele im Leibe. Tun, ja das ist etwas anderes, man tut manches nicht, aber denken! Ich liebe es, solch eine Tat ganz nah an mich herankommen zu lassen. Es ist so, als ob wir etwas Seltenes, das uns nicht gehört, doch für einen Augenblick in die Hand nehmen und halten dürfen. Und dann, es ist so herrlich aufregend diese Spannung, wirst du es tun oder wirst du es nicht tun. Solche Lebenslagen müssen wir aufsuchen; gleichviel, ich bin dir dankbar, es war sehr unangenehm dort unten. Ich habe nicht geglaubt, daß man sich so allein fühlt, wenn man stirbt, nur so unter Froschlöffeln und den Tauchern, die sich nichts draus machen. Nein, der Tod muß eine gemeinsame Unternehmung sein. Also ich bin dir sehr dankbar für die Lebensrettung.«
»Bitte, bitte«, warf Moritz gleichgültig hin, während er sich ankleidete. – »Ja, sehr dankbar«, fuhr Boris fort, »wir sollten von jetzt ab eigentlich Freunde sein, so 'ne Freundschaft schließen.«
Moritz war jetzt fertig angekleidet. Er blieb vor Boris stehen, schaute mit Abneigung auf ihn nieder und sagte: »Wegen des bißchen Wassers, das du geschluckt hast, nein, ich danke,« Dann ging er.
Das Mittagessen war ungemütlich genug. Graf Hamilkar und der Professor sprachen zwar eifrig von fernliegenden Dingen, als sei nichts geschehen, aber Komtesse Betty lächelte nur zerstreut und dachte an andere Dinge. Die einzige Sensation war, daß Lisa heute nicht in schwarz erschienen war, sondern ein malvenfarbenes Musselinkleid trug mit welkrosa Bändern. Boris, sehr bleich, unterhielt sich mit ihr so höflich, als sei er ihr eben vorgestellt. »Empfang bei der Königin von Polen«, flüsterte Bob Erika zu. Die Kinder waren heute unerträglich und mußten immer wieder zur Ordnung gerufen werden. Billys Stuhl blieb leer. Sie lag oben in ihrem Zimmer auf dem Bett halb ausgekleidet, die Haare hingen ihr wirr in das heiße Gesicht, und sie war sehr ungeduldig gegen Marion. Immer wieder mußte Marion ihr wiederholen, was Boris gesagt hatte. »Ganz wörtlich will ich's wissen, du sagst es nicht wörtlich.« »Doch«, versicherte Marion, »so war es, sage Billy, es ist besser, wir sehen uns heute nicht mehr, wir nehmen auch nicht Abschied voneinander, sie soll warten, sie wird Nachricht von mir haben, und dann wird mein und ihr Schicksal ganz in ihrer Hand liegen.« – »Schicksal sagte er gewiß nicht, es ist garnicht sein Stil«, klagte Billy, »und dann entscheiden – was soll ich entscheiden, ach, es ist schrecklich. Und du sagst, Lisa hat heute ihr helles Musselinkleid an, warum denn? und Boris ist natürlich wütend, weil der Papa ihn beleidigt hat.« Sie warf sich wie im Fieber hin und her. »So laß doch die Vorhänge herunter, diese Nachmittagssonne ist zum Sterben traurig; und du machst auch solch ein Gesicht, als wüßtest du etwas, das ich nicht weiß. So sag' es.«
»Ich weiß aber nichts«, beteuerte Marion weinerlich. – »Ach, dann geh', ich will niemanden sehen. Bob kann kommen, der ist noch der einzige, der kann hier so ungezogen sein, wie er will, das wird mich erfrischen.« Aber als Bob kam, war er nicht ungezogen, sondern befangen. Billy in ihrer Erregung war ihm fremd und unheimlich. Da schickte Billy auch ihn fort. »Geh', du bist ein dummer, langweiliger Junge.« Bob ging, aber in der Tür wandte er sich gekränkt um und bemerkte: »Von unglücklicher Liebe verstehe ich nichts.« Nun lag Billy da und horchte auf die Töne, die unten durch das Haus gingen, auf die Stimmen, auf das Zuschlagen der Türen, und sie wartete. Das war jetzt ihr Geschäft. Er hatte es ja gesagt, der arme gekränkte, beleidigte Boris. Wenn sie an das Unrecht, das ihm geschehen war, dachte, dann schwoll ihr Herz vor ungeduldigem Verlangen, etwas für ihn zu tun, ihm und der ganzen Welt zu zeigen, daß sie für ihn, nur für ihn sei. Der Sommernachmittag summte vor den Fenstern, im Hause wurde es still, und es schien Billy, als sei sie in dieser schläfrigen Stunde mit ihrer Erregung ganz allein in einer Welt, die nichts von Erregungen und nichts von Ereignissen wissen wollte. So hielt auch sie still, die Augen zur Decke emporgerichtet. Es schien ihr, als hätte sie unendlich lange so dagelegen, bis endlich der Ton kam, der Ton, auf den sie gewartet. Billy richtete sich auf. Das Rollen eines Wagens, der unten im Hofe hielt, Stimmen, das Zuschlagen von Türen, wieder das Rollen des Wagens, das immer schwächer wurde, endlich langsam verklang. »Er ist fort«, stöhnte sie und sank in ihre Kissen zurück. Große Tränen rannen über ihre Wangen, aber eine innere Spannung hatte sich gelöst. Einer fährt fort, den wir lieben, und wir weinen, das ist doch wenigstens verständlich, und so schlief sie weinend ein.
Als Billy erwachte, war das Zimmer rot von Abendlicht, vom Garten tönten Stimmen herauf, sie hörte die Zwillinge lachen, und auf der Veranda hielt der Vater dem Professor einen Vortrag. Eine neue Lebensunruhe erfaßte Billy, sie stand auf, um aus dem Fenster zu schauen. Ja, dort ging Lisa in ihrem hellen Musselinkleide und sprach eifrig auf den Leutnant ein, der ein wenig steifbeinig neben ihr herging. Die Arme, dachte Billy, will auch ihre Liebesgeschichte haben. Aber es schien Billy, als gäbe es nur eine Liebesgeschichte in der Welt, und das war ihre eigene, alles andere war nur Pfuscherei. Mißmutig kehrte sie zu ihrem Bett zurück, dort zu den anderen konnte sie noch nicht hinunter. Wo nur Marion blieb!
Als Marion kam, mußte sie erzählen. Wie sah er aus, als er fortfuhr? Wie nahm er vom Vater Abschied? Marion hatte natürlich das, worauf es ankam, nicht gesehn, aber eine Botschaft überbrachte sie. »Aber, bitte, ganz wörtlich«, ermahnte Billy. »Ja, gewiß, so sagte er«, berichtete Marion: »Kommen Sie morgen um zwölf Uhr Mittag zu der Linde, die am Ende des Parks außerhalb des Zauns sieht. Dort soll Billy Nachricht haben. Sagen Sie Billy, nur sie hat zu entscheiden.« »Ach«, jammerte Billy, »wieder dieses entsetzliche Entscheiden! Was ist das? was wird dort an der Linde sein?« Und die beiden Mädchen saßen beieinander und flüsterten über dieses Rätsel, über das sie immer sprechen mußten. Im Zimmer wurde es dämmerig und das Rätsel wurde immer drohender. Billy ertrug es nicht länger, sie schickte Marion fort: »Geh', du sagst ja immer dasselbe. Schick' die alte Lohmann zu mir. Die ist die einzige, die ich von Euch ertragen kann. Sie soll ihre alten Geschichten erzählen.« Die Lohmann kam mit ihrem kleinen gelben Gesicht unter der schwarzen Haube und den von Gicht zusammengezogenen Händen. Sie war eine alte Kinderfrau, die jetzt in einem Stübchen des Untergeschosses ihr Alter damit verbrachte, hinter den Geranienstöcken am Fenster zu sitzen und das Gnadenbrot zu essen. Die Alte kauerte an Billys Bett nieder und begann mit klagender Stimme: »Unser Komteßchen hat es auch schwer, alle haben es schwer, anders ist es nicht«; aber Billy unterbrach sie gereizt: »Aber Lohmann, habe ich dich dazu kommen lassen. Deine alten Geschichten sollst du erzählen, bemitleiden kann ich mich schon selbst.« Und Lohmann erzählte die so oft schon erzählten Geschichten, wie sie als kleines Mädchen mit ihrer Mutter ganz früh im Morgengrauen Milch und Käse zur Stadt brachte. Im Winter war es sehr kalt, in einer kleinen Schänke wärmten sie sich, da saßen auch die anderen Marktfrauen in dicke Tücher gehüllt wie große graue Kugeln, und die kleine Lohmann bekam Warmbier, das war heißes Bier mit Milch und Zucker. Billy sah das alles, das wollte sie sehen, die kleine Schänke voll der grauen Kugeln, es roch nach feuchter Wolle und dem überheizten Ofen, und vor den Fenstern die blaue kalte Dämmerung des Wintermorgens. Das war traurig und friedlich und so weit, weit fort von allen rätselhaften Entscheidungen. »Du, Lohmann«, fuhr Billy auf, »Warmbier wäre noch das einzige, was ich jetzt nehmen könnte, geh', mache mir Warmbier.«
Mühsam ging der Abend zu Ende. Die Lohmann hatte Warmbier gekocht, es schmeckte jedoch so schlecht, daß Billy es nicht trinken konnte. Komtesse Betty und Madame Bonnechose kamen und saßen an Billys Bett, sahen sie teilnahmsvoll an, sprachen über Billys Husten, über Arzneimittel, sprachen vorsichtig über gleichgültige Dinge, besorgt, nicht etwas Gefährliches zu berühren; Billy war froh, als sie alle fort waren und die Nacht begann. Sie wollte versuchen, zu schlafen, allein in der Stille und Dunkelheit wurde das Leben wieder sehr bedrohlich und dazu nüchtern wie Zahlen, die zusammengerechnet werden sollten. Als sie ein wenig einschlief, dauerte dieses Rechnen und Raten fort, und dann hatte sie bei alledem immer etwas zu entscheiden, und sie wußte nicht was und wie. Es mochte ein Uhr sein, als sie erwachte; nein, schlafen wollte sie nicht, das war kein Vergnügen. Durch die Fenstervorhänge drang ein wenig weißes Licht. Sie sprang aus dem Bett, um zum Fenster hinauszuschauen, der Mond schien sehr hell. Still und wach standen die Obstbäume auf den Rasenplätzen und die Stockrosen in den Beeten, und die Helligkeit legte etwas Festliches über den schweigenden Garten. Da wollte Billy dabei sein. Sie kleidete sich eilig an und ging zu Marion hinüber, um sie zu wecken: »Marion, du kannst schlafen? ich habe nicht ein Auge zugetan, komm, steh' auf.« »Ich bin eben ein wenig eingeschlafen«, sagte Marion entschuldigend, »was ist geschehen? wohin müssen wir?« »Wir müssen in den Garten hinunter zu den Johannisbeeren«, sagte Billy. Gehorsam stand Marion auf und kleidete sich an. über die kleine Hintertreppe gelangten die beiden Mädchen in den Garten. Billy atmete tief auf; das war es, der feuchte, süße Atem der Blumen, dieses unwahrscheinliche Licht, das den Himmel, den Garten, die Wiese mit den weißen Nebeln alles so unendlich weit erscheinen ließ, das gab ihr wieder den Rausch, ohne den sie jetzt nicht leben konnte. Hier vermochte sie wieder »Boris! Boris!« zu denken und jenes wunderliche Brennen im Blute zu fühlen, das ihr Mut zu allem gab. Im Obstgarten waren die Erdbeerbeete, die Stachel- und Johannisbeerbüsche grau und glitzernd von Tau, vom Gemüsegarten dufteten die Suppenkräuter gewaltsam herüber, und auf den Kieswegen saßen versonnene Kröten. Die Mädchen stellten sich an einen Johannisbeerbusch und begannen schweigend die kühlen, feuchten Trauben zu essen.
»Ja, jetzt ist es anders«, bemerkte Billy endlich. »Wie das?« fragte Marion geschäftlich.
»Mir ist«, sagte Billy, »als wäre wieder alles ganz leicht, als könnte ich über alles entscheiden. Ich fürchte mich garnicht, und wenn es noch so tragisch ist.« »Tragisch«, bemerkte Marion ein wenig undeutlich, denn sie hatte den Mund voll von Johannisbeeren, »tragisch ist so, wie auf dem Theater.« Von der anderen Seite des Busches ertönte Billys unterdrücktes Lachen: »Aber Marion!« Dann richtete Billy sich auf, hielt eine Traube in die Höhe gegen den Mondschein, sah sie an und sagte feierlich: »Tragisch ist traurig, aber traurig wie seine Augen, traurig, aber doch wunderschön, schöner als alles, was lustig ist.« Dann bog sie den Kopf zurück und ließ die Traube langsam in ihren geöffneten Mund gleiten, und sie fühlte sich in dieser Bewegung ganz festlich, ganz schön, ganz der Mondnacht zugehörig.
Allmählich verlor der Mondschein an Glanz, eine graue Helligkeit mischte sich in ihn und verdrängte ihn, ein Licht, das durch verstaubte Fensterscheiben zu dringen schien.
»Der Morgen kommt«, sagte Billy ernst, »komm, gehen wir.« »Wohin gehen wir?« fragte Marion. »Wir warten auf die Sonne«, bestimmte Billy.
Die beiden Mädchen gingen an das Ende des Gartens, dort, wo die Wiese beginnt, und setzten sich auf eine Bank. Ein wenig bleich und fröstelnd drückten sie sich aneinander, aber Billy saß dennoch ganz aufrecht, die Augen groß und wach, die Lippen wie bereit zu einem erregten Lächeln. Noch fühlte sie die ganze angenehme Festlichkeit jenes Traurigen, das doch wunderschön war. Die Nebel auf der Wiese wurden durchsichtig, der Himmel fast weiß, im Busch begann eine Elster zu plaudern und eine Krähe flog sehr schwarz und schwer in der glasigen Dämmerung. Eine Traumwelt, und Billy empfand auch jene Ergebung, die wir im Traume haben, denn der Traum gibt uns alle Wunder auch ohne unser Zutun. Dann kam Farbe, ein Zug rosenroter Wölkchen legte sich auf den Himmel, über den schwarzen Waldwipfeln sprühte es rot und dann plötzlich war alles voll von der Aufregung eines purpurnen und goldenen Lichtes. »Ah, da ist sie,« sagte Billy, und die beiden Mädchen starrten regungslos wie betäubt auf die aufgehende Sonne. Aber, als die Sonne höherstieg und die Farben alle in dem gleichmäßigen gelben Licht ertranken, da wurde Billys Gesicht wieder ernst und sorgenvoll, da war der Tag wieder mit seinen Verantwortungen und Entscheidungen. »Komm,« sagte Billy zu Marion, und sie schlichen wieder in das Haus in ihr Zimmer hinauf. »Werden wir jetzt schlafen?« fragte Marion. »Wie kannst du daran denken,« erwiderte Billy, »um zwölf mußt du bei der Linde sein, »komm, setze dich hierher.« Sie rückte einen Sessel für Marion heran, sie selbst stieg in ihr Bett, aber sie lehnte aufrecht in den Kissen. So saßen die beiden Kinder beieinander, die Augen fielen ihnen zuweilen zu, dann schlummerten sie, aber wie wir auf der Reise im Eisenbahnwagen schlummern und immer wieder auffahren, in der Angst etwas zu versäumen. Im Laufe des Morgens klopfte Komtesse Betty zweimal an die Tür, aber sie wurde nicht eingelassen. »Nein, nein, wir schlafen,« hieß es. Als Lina, die Kammerjungfer, kam, wurde ihr das Frühstück bestellt. »Sehr viel,« sagte Billy, »Tee und Eier, Schinken, Brot, sehr viel, hören Sie.« Sie fühlte einen wahren Reisehunger.
Bald wurde Billy sehr unruhig, sie fragte Marion immer wieder, ob es nicht Zeit sei, und es war erst elf Uhr, als Marion schon zur Linde hinabgehen mußte. Billy saß still in ihrem Bett mit brennenden Wangen, die Hände gefaltet und lauschte in sich hinein auf die seltsame Spannung ihres Wesens. Ja, es war alles da, das starke Verlangen nach Boris, die schmerzhafte Rührung bei dem Gedanken an ihn, der Mut zu allen Möglichkeiten und die Angst vor dem, was nun kommen mußte. Aber immer wieder empfand sie eine wunderliche Fremdheit jener Billy gegenüber, die all dieses fühlte und all dieses erlebte. Die bekannten Töne des Hauses drangen zu ihr, unten im Garten lachten die Zwillinge, im Korridor schalt Madame Bonnechose ein Dienstmädchen und am offenen Fenster des unteren Geschosses sang die Lohmann einen Gesangbuchvers. Allein die Billy, die unglücklich liebte, die entschlossen war, ihrem Vater nicht zu gehorchen, die entscheiden mußte, sie gehörte nicht mehr zu diesem altgewohnten Leben. Wo blieb jedoch Marion? Billy hob die nackten Arme hoch über den Kopf empor, rang die Hände ineinander und stöhnte: »Ach, ach! warum kommt sie nicht!« Endlich lief es leise auf dem Korridor hinunter und Marion erschien erhitzt und atemlos. Die beiden Mädchen sprachen nichts, Marion reichte Billy stumm einen Brief, setzte sich und starrte sie angstvoll an. Billy war ganz ruhig geworden, sie hielt den Brief in der Hand, ohne ihn zu öffnen. »Wie war es?« fragte sie.
»Dort an der Linde,« berichtete Marion leise, »dort stand ein kleiner Judenjunge. Er hatte sehr große schwarze Augen, über den Ohren hingen ihm zwei fest zusammengedrehte schwarze Locken und er trug einen langen Rock wie ein Erwachsener, der brachte den Brief. Es war recht unheimlich.«
»Natürlich war es unheimlich,« bemerkte Billy, lehnte sich in die Kissen zurück und schickte sich an, ihren Brief zu öffnen und zu lesen.
Boris schrieb. Eine Überschrift fehlte. »Heute Nacht,« hieß es dann, »gegen Mitternacht, bin ich bei der Linde unten am Park und warte. Niemand darf davon wissen. Auf der einen Seite steht alles, was du bisher für dein Leben gehalten hast, auf der andern stehe ich – entscheide. Willst du mich, dann komme. Kommst du nicht, dann verzeihe ich dir und gehe wieder einsam meinen dunkeln Weg. Wir sehen uns nie wieder. Einem so großen Glücke nahe zu kommen und dann wieder von ihm fort zu müssen, ist tödlich.« Auch die Unterschrift fehlte. Billy ließ den Brief sinken, sie brauchte nicht zu entscheiden, sie wußte, daß sie zu ihm gehen würde. Es schien ihr, als habe sie hier kaum mitzusprechen, die andere, die fremde Billy, handelte, und die mußte bei Nacht zu der Linde hinabgehen. Billys Blicke fielen auf Marion, deren Augen unendlich erwartungsvoll an ihr hingen. Billy lächelte und schüttelte ein wenig den Kopf und sagte: »Nein, ich kann dir nichts sagen.« Marion antwortete nicht, aber ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie erhob sich und schlich leise aus dem Zimmer; sie war sehr unglücklich. Die ganze Zeit über war es ihr gewesen, als sei Billys Liebesgeschichte auch die ihre, die Liebe zu Boris, die Aufregungen und Schmerzen hatte sie geteilt, in Billy hatte sie sich geliebt gefühlt, und nun plötzlich wurde sie beiseite geschoben und war wieder nur die Marion Bonnechose, die von allen Komtessenschicksalen ausgeschlossen wurde.
In Billy aber fuhr reges Leben. Sie klingelte nach Lina, sie wollte ihr neues Musselinkleid mit dem rosa Nelkenmuster anziehen, sie rief nach ihrem Korallenhalsband; dabei war sie freundlich und gesprächig mit der Kammerjungfer. Lina mußte von dem Förster erzählen, mit dem sie zeitweilig verlobt war.
Der Tag war sehr schwül geworden, im Westen türmten sich graublaue Wolken. »Wir bekommen ein Gewitter,« sagte Graf Hamilkar, als er auf der Gartentreppe stand und in den heißen Duft des Gartens hineinroch. Komtesse Betty stand neben ihm, neigte den Kopf zur Seite und blinzelte zu den Wolken auf. Über die Gartenwege jagten sich Bob und Billy. Der Graf folgte ihnen mit den Blicken, dann wandte er sich zu seiner Schwester: »Die Gefühlskrise scheint einen guten Verlauf zu nehmen,« bemerkte er. Komtesse Betty jedoch machte ein erschrockenes Gesicht. »Ach, Hamilkar, ich weiß nicht, diese Heiterkeit ist nicht natürlich, ich ängstige mich so um das Kind. Madame Bonnechose meint auch ...«
»Ängstige dich nicht, liebe Betty,« unterbrach sie der Graf, »was auch Madame Bonnechose meint. Die Liebe wird von den jungen Leuten gern als eine Macht angesehn, die elementar, unvernünftig, aber unwiderstehlich ist, gut, dann muß dieser Macht eben eine andere Macht entgegengesetzt werden, die auch für elementar, für unvernünftig und unwiderstehlich gilt. Nun, liebe Betty, diese Macht darzustellen, das ist jetzt meine Rolle.« Er lächelte sein schiefes, spöttisches Lächeln und ging in das Haus, um seine Nachmittagsruhe zu halten. Billy war müde vom Laufen. »Es ist genug,« rief sie Bob zu. Sie strich sich das Haar aus dem heißen Gesicht und sann einen Augenblick vor sich hin. Was sollte sie jetzt tun? denn tun, tun mußte sie etwas, nur nicht stille sein und hineinschaun in das Dunkele, das hinter diesem Tage lag. Als das kleine Fräulein Demme an ihr vorüberging, nahm sie ihren Arm und sagte: »Kommen Sie, Fräulein, wir wollen Pflaumen essen und von Herrn Post sprechen.« Allein in diesen Nachmittagsstunden, in denen die Sonne wie eine schwere goldene Schläfrigkeit über dem Garten lag, war es schwer, das Fieber wach zu erhalten, dessen Billy jetzt bedurfte. Schließlich suchte sie Moritz auf, er sollte sie auf dem Gartenteich hin und her rudern. »Wie, du und ich?« fragte Moritz ein wenig erstaunt und errötete. – »Natürlich, du und ich,« sagte Billy.
Das schien das Rechte zu sein. Es tat Billy wohl, sich halbliegend im Bug des Bootes auszustrecken, vor sich Moritz' erhitztes, friedliches Gesicht, die blauen Augen, die sie mit behaglicher Andacht unverwandt anschauten. Das Wasser war sehr schwarz, hie und da lag eine grüne Pflanzendecke darauf, die unter dem Kiel des Bootes leise rauschte. Wie müde beugten sich die alten Weiden über das Wasser und eine sichere, befriedigte Ereignislosigkeit wohnte hier, eine Ereignislosigkeit, die Billy schwach und feige machte. Warum kann es nicht so bleiben, dachte sie. Wie die kleinen Karauschen regungslos an der Oberfläche des Wassers im Sonnenschein liegen, nur zuweilen ein wenig die Flossen regend, um zu spüren, daß sie leben, das mußte gut tun. Aber plötzlich fiel es sie wie Gewissensbiß an. Es war ihr, als versäumte sie, als verriete sie etwas. Sie fuhr auf. »Fahr' ans Land,« befahl sie. Verwundert schaute Moritz auf. »Ja, ja, ans Land,« wiederholte Billy ungeduldig. Und am Lande, als Moritz sie aus dem Boote hob, fühlte Billy, daß sie etwas tun müsse, was der vornehmen Gelassenheit dieses stillen Teiches, der kleinen Karauschen, der alten Weiden widersprach, ihr in das Gesicht schlug, und sie beugte sich vor und küßte Moritz. »Aber Billy, ich verstehe nicht,« stammelte Moritz und wurde dunkelrot, aber Billy war schon fort.
Der Abend kam mit dem Tee auf der Veranda. Da der Mond spät aufging, lag der Garten in tiefer Dunkelheit da, die Wolkenwand war am Himmel höher hinaufgestiegen, während der westliche Himmel noch voller Sterne hing. Zuweilen huschte das blaue Licht eines Wetterleuchtens über den Garten und ein plötzliches Wehen schüttelte an den Bäumen, so daß man allerort das Obst in den Rasen fallen hörte. Auf der Veranda waren nur die roten Spitzen der brennenden Zigarren sichtbar und die Stimmen der Sprechenden nahmen etwas Weiches, Beruhigtes an, als wollten sie zu den verhallenden Tönen stimmen, die durch die Nacht irrten. Lisa saß neben dem Leutnant und sprach von Griechenland. »Sehen Sie, Marathon, was war mir früher Marathon? eine Jahreszahl, vierhundertneunzig, glaube ich, aber an jenem Abend, so im Abendrot über der Ebene, es klingt unwahrscheinlich, aber ich sagte zu – zu Katakasianopulos, ich sagte Katakasianopulos, ich fühle Miltiades.«
»Allerdings, sehr merkwürdig,« meinte der Leutnant. Er war jetzt so passioniert für die Jagd, daß er täglich auf Rebhühner ging, abends sehr müde war und nur matt der Unterhaltung folgen konnte.
Der Professor sprach mit Graf Hamilkar wieder über Träume. »Der Traum ist für uns eine Wirklichkeit wie jede andere,« meinte er. »Ja,« versetzte der Graf ein wenig undeutlich, denn er nahm die Zigarre beim Sprechen nicht aus dem Munde, »nur eine Wirklichkeit, die wir beim Erwachen immer wieder durchstreichen. Das sind so Erlebnisse, die wir immer wieder in den Papierkorb werfen.«
»Schön, sehr schön,« fuhr der Professor eifrig fort, »aber das tun wir in dem sogenannten wachen Leben auch. Wenn ich erwache, so sehe ich den Traum mit meinen wachen Augen an und dann erscheint er mir unwirklich; aber diese wachen Augen sind eben nicht auf den Traum eingestellt. Und dann, mit allen Erlebnissen geht es so, was ich in einem Augenblicke erlebe, daran glaube ich fest, und im nächsten Augenblicke sehe ich darauf zurück und es erscheint mir unwirklich und falsch und ich streiche es aus. Also bitte, der Himmel, der ist jetzt für mich die große schöne Halle, in der die vielen blanken Lichtchen beieinander stehen in der hübschen Sommernacht und sich einander zublinzeln. Das ist wirklich, was geht das mich an, ob ich morgen vielleicht ihn durch ein Teleskop ansehe, also durch ein Auge, das nicht für mich berechnet ist, und er dann ganz anders ausschaut. Sehen Sie, eine Sternschnuppe. Die Litauer sagen, wenn sie eine Sternschnuppe sehen: da geht einer zu seinem Mädchen. Gewiß, jetzt ist für mich diese Sternschnuppe einer, der zu seinem Mädchen geht. Das ist mein Erlebnis. Bitte, morgen streiche ich es wahrlich aus und denke dabei an Asteroiden oder solche Sachen, deshalb ist es für mich doch heute einer, der zu seinem Mädchen geht, bitte.« Alle hatten zum Himmel aufgeblickt und den Stern gesehn, der eilig durch das Dunkel glitt, in weitem Bogen an den anderen Sternen vorüber, als wollte er ihnen ausweichen, hastig und heimlich. »Dieses Ausstreichen,« meinte Graf Hamilkar, »wenn wir's nur auch dann könnten, wann wir wollen.«
Billy sah noch immer zu den Sternen auf. Dieses mit dem Stern, der zu seinem Mädchen geht, hatte ihr plötzlich die ganze freudige Ungeduld ihrer Liebesgeschichte wiedergegeben und sie fühlte sich wie zugehörig zu jener großen heimlichen Gemeinde derer, die unten auf Erden still und hastig durch die Nacht ihrer Liebe entgegeneilen.
Oben in ihrem Zimmer küßte Billy Marion und sagte: »Diese Nacht wollen wir schlafen, ganz tief schlafen. Aber Marion, sieh mich doch nicht so an, als ob ich gestorben wäre.« Marion wollte etwas sagen, schlich aber dann ängstlich und schweigend hinaus.
»Lina,« befahl Billy der Kammerjungfer, »morgen wünsche ich lange zu schlafen und keiner, hören Sie, keiner soll mich stören.«
Allein geblieben, begann sie leise und geschäftig hin und her zu gehen. Sie kleidete sich um, zog ein braunes Tuchkleid an, setzte ihren Hut auf, hüllte sich in ihren Regenmantel, nahm ihren Regenschirm in die Hand, schrieb auf einen Zettel »Ich bin bei ihm« und legte ihn auf die Toilette und saß dann da wie eine Reisende, die im Wartesaal auf den Zug wartet. Draußen donnerte es zuweilen. Unten im schlafenden Hause riefen durch die stillen Zimmer die altbekannten Stimmen der Uhren einander zu.
Billy stieg über die Hintertreppe leise in den Garten hinab. Am Himmel hing schweres Gewölk. Die Nacht war heute ganz voll Stimmen und Tönen, ein Windstoß fuhr in die Bäume und ließ sie erregt aufrauschen. Welke Blätter liefen auf dem Wege raschelnd vor Billy her. Irgendwo knarrte ein Fensterladen, ächzte ein Zweig. Es war, als irrte ein Ereignis durch die Dunkelheit und weckte den schlafenden Garten. Billy ging sehr schnell, so schnell wie als Kind, wenn sie durch das dunkele Wohnzimmer in die helle Kinderstube kommen wollte. Ein Blitz fuhr über den Himmel und riß die Dunkelheit wie eine schwarze Decke von dem Teich, von den nachdenklich über das Schilf gebogenen Weiden, von den still in all dem Schwarz liegenden Wasserrosen, aber all das schien so fremd, als hätte es Billy nie gesehen. Sie hastete weiter, sie dachte und fühlte nur eins, dort an der Linde bei ihm sein, dort war Sicherheit, dort war alles überstanden. Als sie aus dem Park hinaustrat, erhellte wieder ein Blitz das Land und sie sah eine schwarze Gestalt, die spitze Kapuze des Regenmantels über den Kopf gezogen, am Stamm der Linde lehnen. »Boris!« rief Billy aus. »Still!« erwiderte Boris »komm.« Er legte ihren Arm in den seinen und zog sie mit sich fort. Sie gingen über eine feuchte Wiese, dann an einem Gerstenfelde entlang, in dem ein Wachtelkönig aufgeregt schnarrte, als gäbe er ein Signal. »Wohin gehen wir?« fragte Billy leise. Boris blieb stehen. »Du fragst?« sagte er, »wenn du dich fürchtest, führe ich dich zurück. Ich führe dich bis an das Haus, ganz sicher, noch ist es Zeit.«
»Und du?« fragte Billy zögernd.
»Ach ich!« erwiderte Boris und das klang so kummervoll, so unendlich einsam, daß Billy wieder von jenem schmerzvollen bewundernden Mitleid geschüttelt wurde, das sie Boris gegenüber ganz wehrlos machte. »Nein, nein«, rief sie, »gehen wir.« Sie überschritten nun ein Stück Sumpfland, das weiß von Wollgras war und unter ihren Schritten leise schnalzte.
»Das klingt so«, bemerkte Billy, »wie Küsse, von denen Kammerjungfern sprechen«, und sie lachte dabei. Sie hatte das starke Bedürfnis zu lachen, etwas Lustiges zu sagen. Hinter dem Sumpf begann der Wald. Boris blieb ab und zu stehen, um sich in der Finsternis zurechtzufinden, pfiff einmal leise und ein Pfiff antwortete. Endlich gelangten sie auf dem Waldwege an einen Wagen; ein Mann stand dort, Billy sah das im Schein eines Blitzes für einen Augenblick, dann wieder tiefes Dunkel. Boris sprach leise mit jemand, es war von Gewitter und schlechtem Wege die Rede. Sie hörte, wie Pferde ihre Geschirre schüttelten, dann schob Boris sie in den Wagen, stieg selbst hinein, schlug die Tür zu und langsam setzte sich auf dem holperigen Waldwege das Gefährt in Bewegung.
Der Wagen war eng und dunkel, die heraufgezogenen Glasfenster klirrten leise, dahinter lagen der Wald und die Nacht wie schwarze Sammetvorhänge. Zuweilen warfen Blitze ein jähes blaues Licht in dieses Dunkel. Es begann heftig zu regnen, ein lautes gleichmäßiges Rauschen umgab die Fahrenden, die Tropfen trommelten auf dem Verdeck des Wagens und klopften an die Scheiben. Boris seufzte auf, ein tiefer Seufzer des Behagens und der Erleichterung. Er zog Billy zu sich heran, er drückte sie fest an sich, daß es fast schmerzte, er schüttelte sie ein wenig. »So ist es gut, so ist es gut!« flüsterte er. Seine Stimme klang nicht mehr tragisch, sondern knabenhaft und ausgelassen. Und dann wurde er besorgt: »Aber du frierst, natürlich, ich habe für einen Mantel gesorgt, ich habe für alles gesorgt!« Er hüllte sie in einen großen seidenen Mantel, der leicht nach Moschus roch. »So ist es gut, nicht wahr, das ist der Mantel der alten Frau von Worsky. Mein Freund Ladislas hat ihn mir gegeben, du weißt, er wohnt dort an der Grenze in Padony mit seiner alten Mutter; ein guter Junge! er hat viel für uns getan, er kennt dort alle an der Grenze, er hat uns die Wege geebnet, vielleicht sehen wir ihn noch diese Nacht. Ist der Mantel warm?« – »Ja,« meinte Billy, »aber er riecht nach Madame Bonnechose.« Boris ärgerte sich: »Verflucht! Er soll nicht nach Madame Bonnechose riechen; nichts soll nach deinem Zu Hause riechen. Das ist fort, versunken.« »Über die Grenze sagst du?« fragte Billy. Boris' Stimmton nahm wieder etwas Gequältes an, als er antwortete: »Ja – ich weiß nicht, frag' jetzt nicht, dir bleibt ja doch nichts anderes übrig, es wird schon alles gut, aber jetzt denken wir überhaupt nicht. Das ist es, wonach ich mich gesehnt habe, das ist es, was ich haben mußte, ich wäre gestorben, wenn ich es nicht gehabt hätte, hier so mit dir zusammen sitzen, eng, eng, und um uns ist es ganz dunkel und schwarz, alles ist fort, ist ausgelöscht, die dumme Welt trommelt an den Wagen und kann nicht herein, und du und ich sind ganz allein und haben nichts anderes zu tun als beieinander zu sein. Fühlst du das? sag?« Und er drückte sie wieder fest an sich und schüttelte sie ein wenig. »Ja, ich glaube,« antwortete Billy, »aber sprich noch, sprich noch so.« – »Wozu ist denn«, fuhr Boris fort, »das ganze Leben da, als nur für solche Augenblicke, in denen wir alles vergessen können. Dafür plagt man sich doch, läßt sich demütigen und pumpt Geld, damit für eine kurze Zeit alles von einem abfällt und wir nur eines fühlen und eines denken: Billy!« Er küßte sie ganz fest auf die Lippen. »Nicht wahr, du fühlst wie das alles abfällt von dir, es wird ganz blaß und wesenlos, der langweilige Garten zu Hause und Josef mit der Tischglocke und der Tee mit den Butterbrötchen und diese Billy mit dem weißen Kleid, die nichts tun und nichts denken durfte. All das ist unwirklich und es gibt nur ein Wirkliches, das bin ich. Sag', fühlst du das?«
Billy lehnte den Kopf an Boris' Schulter und schloß die Augen. Gewiß, das war alles sehr fern, der Garten, ihr Zimmer mit niedergelassenen Vorhängen, die schlafende Marion, die altbekannten Stimmen der Uhren in den stillen Zimmern, fremd und unwirklich, als gehöre es nicht zu ihr. Aber hier der Wagen mit seiner Enge und Finsternis, das Rauschen des Regens, das Klirren der Fensterscheiben, waren die wirklich? waren die Hände wirklich, die sie faßten, drückten und schüttelten, als gehörte sie nicht mehr sich selbst, als gehörte sie einem anderen, die Lippen, die sich heiß auf die ihren drückten, diese Stimme, die leise und leidenschaftlich in die Dunkelheit hineinsprach. Und sie selbst, wer war sie denn mit dem Körper, mit dem Blut, in denen sich ein seltsames Fieber hervorwagte. Sie fühlte, wie die Billy, die sie gekannt und an die sie geglaubt hatte, in ihr hinschmolz, es war ihr, als ließe etwas sie los, das sie bisher gehalten hatte, und nun trieb sie dahin und alles war jetzt gleich, es gehörte ja doch nicht zu ihr, jenes Brennen und Fiebern, dem zu lauschen und zu gehorchen jetzt ihr einziges Geschäft war. Sie schwiegen nun beide. Der Regen schien stärker zu werden, immer häufiger huschte das eilige Licht der Blitze über den schwarzen Wald. Der Wagen kam nur mühsam vorwärts, schüttelte und wiegte sich. Eine große Müdigkeit machte Billy die Glieder schwer, als gehörten sie ihr nicht und unvermerkt glitt sie in den Traum hinüber, in jenes qualvolle Träumen des beginnenden Schlafes, in dem die Traumgestalten uns so aufdringlich nahekommen. Es war das Gesicht ihres Vaters, das vor Billy auftauchte, dicht vor ihr, so dicht, daß die lange weiße Nase Billys Nase berührte wie etwas Kaltes, und in den strengen eisengrauen Augen regten sich kleine goldene Punkte wie stets, wenn er böse war. Sie hörte ihn auch sprechen, die ruhige, ein wenig näselnde Stimme: »Ja wenn das mit dem Ausstreichen immer so ginge«, sagte er. Ein starker Donnerschlag ließ Billy auffahren, sie wußte nicht, wo sie war, nur etwas Schweres und Trauriges lastete auf ihr. Sie fror. Auch Boris neben ihr war aufgeschreckt, wie angstvoll griff er nach ihr. »Wir haben geschlafen«, sagte er, »nein das können wir nicht, dann kommt wieder alles Mögliche, vor allem der Morgen kommt dann, dieses verfluchte Licht, wie das herankriecht.« Fröstelnd drückten sie sich aneinander. »Es sollte gar nicht mehr Tag werden, sterben sollten wir jetzt, nicht wahr, so in einem Blitz, plötzlich eine starke blaue Helligkeit und dann wieder diese gute warme Finsternis.«
Plötzlich hielt der Wagen. Boris ließ das Wagenfenster hinunter und steckte den Kopf heraus. Durch das Niederrinnen des Regens blinzelte ein gelbes Licht, ein Hund bellte wütend. »Was gibt es?« rief Boris. Dann öffnete er ungeduldig den Wagenschlag und sprang hinaus. Billy hörte ihn aufgeregt sprechen; eine brummende Männerstimme antwortete ihm, dann mischte sich noch eine Stimme hinein, hoch und schnarrend, die heiter und gesellschaftlich klang, als lachte ein Herr in einer Quadrilleunterhaltung über seinen eigenen Witz. Billy, allein geblieben, fürchtete sich, sie fürchtete sich vor der Dunkelheit, vor den Stimmen draußen, vor dem was geschehen würde und dem, was sie getan hatte, so die einfache, schmerzhafte Furcht des kleinen Mädchens mit dem schlechten Gewissen. Boris öffnete wieder den Wagenschlag. »Komm,« sagte er, »wir müssen aussteigen, der Kerl weigert sich weiter zu fahren, der Weg soll unmöglich sein, eine Brücke soll kaputt sein, was weiß ich!« Er war offenbar sehr ärgerlich. Er half Billy aus dem Wagen und führte sie durch die Wasserlachen einige morsche Stufen hinauf. »Vorsichtig, hier ist alles verfault,« sagte wieder die hohe, schnarrende Stimme. Sie traten in einen Flur, in dem es nach Rauch und Zwiebeln roch, von da in ein Wohnzimmer, in dem ihnen eine schwere überheizte Luft entgegenschlug. Hier war es hell, zwei Kerzen brannten auf einem weißgedeckten Tisch, an der Seite über einem kleinen Schenktisch hing eine qualmende Petroleumlampe. Geblendet blinzelte Billy in das Licht, das Zimmer schien ihr voller Menschen zu sein. Jemand nahm ihr den Mantel ab und die schnarrende Stimme sagte: »Ihre Augen müssen sich erst an den Glanz des Wolfschen Salons gewöhnen, Komtesse.« »Setz' dich, setz' dich«, rief Boris und schob sie zu dem großen, schwarzen Sofa, das vor dem gedeckten Tische stand, hin. Jetzt erst unterschied Billy die Gestalten im Zimmer. Da war ein langer Jude mit schwarzem Bart und grellen braunen Augen, er lächelte ganz süß. In der halboffenen Tür drängten sich Kinder im Hemde, unter wirren, schwarzen Haaren schauten sehr große Augen dunkel wie Onyxkugeln unverwandt zu Billy hinüber. Hinter dem Ladentisch saß eine Jüdin, der falsche, rotbraune Scheitel war ein wenig zu tief in die Stirn gerückt, das gelbe, regelmäßige Gesicht, die langen, braunen Augen drückten eine starre, hochmütige Geduld aus. Neben Boris stand ein Herr im Reitanzuge, er trug Sporen an den Stiefeln, sein feines, scharfgeschnittenes Gesicht lachte, er zeigte dabei sehr weiße Zähne unter einem kleinen Schnurrbart, der ihm wie zwei tintenschwarze Kommas auf der Oberlippe saß. »Mein Freund Ladislas Worsky,« stellte Boris vor, »das ist ein Freund! Bei dem Wetter ist er hinübergeritten, nur um uns zu sehen und uns vor irgendeiner Brücke zu warnen.« Ladislas zeigte wieder seine weißen Zähne. »O,« meinte er, »das ist das Verdienst meiner alten Reitstute, die findet den Weg bei jedem Wetter und in jeder Dunkelheit, vielleicht weil sie nur ein Auge hat. Aber Freund Wolf, den Samowar heran und was sonst da ist. Der Kindersegen soll abtreten, machen Sie es etwas gemütlich, und Mutter Wolf machen Sie ein liebenswürdigeres Gesicht. Boris, mein Alter, keine Verstimmungen! Setzen wir uns zum Souper.« Und er setzte sich an den Tisch, beugte sich zu Billy vor, sah sie mit den blanken Augen aufmerksam und ein wenig frech an und begann sich zu unterhalten, heiter und höflich, als säße er in einem Salon.
»Souper, nun ja, was man so nennt, die Delikatessen unseres Freundes Wolf können wir nicht brauchen. Eier allenfalls, in die dringt das alte Testament nicht ein. Da habe ich mir denn erlaubt, von unserer alten Mamsell zu Hause heimlich ein kaltes Huhn herauszulocken und es mitzubringen.« Er wickelte das Huhn aus einem Papier, legte es auf den Teller und begann es zu zerlegen, sehr sauber und regelrecht; ein wenig zu zierlich und dann wieder zu schwungvoll waren dabei die Bewegungen der weißen Hände mit den vielen blitzenden Ringen. Er sprach dabei immerfort vom Wetter, vom Wege, vom Juden Wolf, und Billy antwortete, als sei er ein junger Herr, der seinen ersten Besuch machte und sie mußte ihn empfangen. »Bitte, dieses Stück, Komtesse«, sagte er und legte Billy einen Hühnerflügel auf den Teller, »das ist ein spanisches Huhn; meine Mutter interessiert sich für Hühnerspezialitäten. Aber Boris, du sprichst ja nicht, tu n'es pas en train, mon vieux, du hast unrecht, Bruder. Du hast allen Grund guter Laune zu sein, kolossal viel Grund.« Dabei verbeugte er sich leicht gegen Billy, »aber das wollen wir schon machen; Wolf geben Sie von Ihrem sündigen Sekt her; unser Freund Wolf nämlich hat immer Sekt auf Lager, um damit auf heimlichen Wegen die Barbaren jenseits der Grenze zu beglücken.«
Essen konnte Billy nicht, die blau und weißen Teller, die Messer und Gabeln, das Tischtuch, alles war ihr zuwider. Drüben hinter dem Schenktisch saß noch immer die Jüdin, das gelbe, regelmäßige Gesicht unbewegt, die mandelförmigen Augen schauten Billy an, gleichgültig, hochmütig und geduldig, »ich ertrage dich, weil ich muß«, schienen sie zu sagen. Diese Augen quälten Billy, es war ihr, als sei sie noch nie so angeschaut worden. Sie zwang sich von diesen Augen fortzusehen, auf Ladislas Worsky zu hören, der eifrig in seiner Unterhaltung fortfuhr. Jetzt sprach er von Literatur: »Bourget, ach ja natürlich, sehr fein, aber er will das Frauenherz analysieren, so wie Schmetterlinge auf Nadeln stecken, aber das ist ja gerade das Ding auf der Welt, das sich nicht analysieren läßt. Sie kennen nicht Bourget, Komtesse? Ach ja, die deutschen jungen Damen lesen keine Romane, sie lesen nur Schiller. Nun, Ihr Schiller – – –.« Billy war ihm dankbar für seine Unterhaltung, für das überelegante seiner Bewegungen, für die weißen Manschetten, die er immer wieder aus dem Rockärmel hervorzog, und für die schmalen, frauenhaften Hände voller Ringe. All das legte etwas Bekanntes, etwas Heimatliches in diese fremde, feindliche Umgebung. Billy antwortete, lachte ein wenig, bemühte sich zu tun, als säßen sie auf der Gartenveranda in Kadullen, ja, sie ahmte ein wenig die Weltdamenmanieren ihrer Schwester Lisa nach. Der Sekt kam. »So, bitte, ein anderes Gesicht, Bruder«, rief Ladislas Boris zu und schenkte den Wein ein. »Aber so ist er immer,« wandte er sich an Billy, »je connais mon Boris. Stört ihm etwas sein Programm, dann ist es fort mit der guten Laune, er hat uns immer mit seiner schlechten Laune die halben Sonntage verdorben, nur weil der nächste Tag Montag war. Ja, das ließ sich nicht ändern. Da hatten wir in Prima einen Kameraden, du weißt, Boris, Andreijsky, ein toller, lustiger Junge. Nun plötzlich erschießt er sich. Warum? Man sprach da von Krankheit und solchen Sachen. Nein, ich weiß, er erschoß sich, weil die Ferien zu Ende waren, einfach, weil die Ferien zu Ende waren, er haßte die Schule wie die Sünde. So ist Boris auch.« »Da muß ich doch bitten«, bemerkte Boris. – »Nun, nun,« meinte Ladislas, »ärgere dich nicht, Bruder, du hast gar keinen Grund. Morgen früh ist die Brücke wieder gemacht, hier bist du in Sicherheit, in der reizendsten Gesellschaft, der glücklichste Mensch, also stoßen wir an, auf Ihr Wohl, Komtesse! auf die Erfüllung aller Wünsche!«
Sie ließen die Gläser aneinanderklingen. Boris lächelte matt, das begeisterte Ladislas. »So ist's recht, mein Alter. Sehen Sie, Komtesse, ich bin solch ein harmloser Mensch, seh' ich einen anderen glücklich, dann bin ich wie berauscht. Ich erlebe nie etwas, aber mir ist zumute, als sei das hier mein Abenteuer, als ob Sie und ich, na, gleichviel –.« Er sprang von seinem Stuhle auf, ergriff sein Glas und begann zu singen:
Treibt der Champagner
Das Blut erst im Kreise usw.
Er sang mit einem hübschen Bariton und mit schwungvollen Theaterbewegungen. Der Jude rief »bravo« und klatschte leise in die Hände. In der Tür erschien wieder die Schar der Judenkinder und schaute mit runden, grellen Augen in das Zimmer. Boris und Billy hörten lächelnd zu, nur das Gesicht der Jüdin blieb unbewegt und blickte mit müder Verachtung die drei dort am Tische an. Die leichtherzigen Noten von Mozarts Melodie füllten den qualmigen Raum wie mit etwas Glänzendem und Kostbarem. Boris wiegte sich leicht auf seinem Stuhl, schlug mit den Fingern den Takt auf den Tisch und als Ladislas zu Ende war, nickte er ihm zu und meinte: »Ja, ja, Bruder, das war das Richtige.« »Nicht wahr?« rief Ladislas. Er freute sich so sehr über die Wirkung seines Gesanges, daß er Boris umarmte und auf beide Wangen küßte. Dann setzte er sich wieder an den Tisch, füllte die Gläser. »Erlauben Sie, Komtesse.« sagte er, »daß ich Ihnen die Hand küsse, ich bin so froh, an diesem Glück hier teilnehmen zu dürfen.« Boris lachte ein wenig mitleidig. »Das war immer dein Talent, mein guter Ladislas! Teilnehmen. Erinnerst du dich, wie du als Student eine Zeitlang keinen Wein trinken durftest und mit deinem Selterswasser doch immer früher betrunken warst, als wir mit unserem Wein, nur aus Teilnahme. Du bist dazu geboren, in Prokura glücklich zu sein.« »Bravo!« rief Ladislas, »un mot charmant! Du fängst wieder an witzig zu werden, Gott sei Dank, du hast allen Grund dazu, Bruder, wenn man, wie du, auf der Seite der Wippschaukel steht, die hoch oben ist und nicht allein dort steht – im Gegenteil.« Boris wurde wieder ernst. »Ganz schön, aber vielleicht müssen wir doch ein wenig von Geschäften reden.« Aber Ladislas war empört: »Erbarm dich, Bruder! Warum sollen wir von Geschäften reden! Warum sollen wir die Komtesse damit langweilen? Was ist auch da zu reden, es ist alles geordnet, es wird alles glatt gehen, nein, ich weiß etwas Besseres, wir machen ein Spielchen, da sind Karten, die habe ich mitgenommen. Sie spielen doch, Komtesse? Irgendein Spiel.« Nein, Billy spielte kein Spiel, aber sie wollte zuschauen, die Herren sollten nur spielen. Sie lehnte sich in das Sofa zurück, die überheizte Luft und der Wein machten ihr den Kopf schwer, machten sie schläfrig und ruhig; Ladislas' »es wird schon alles glatt gehen«, klang ihr angenehm in die Ohren. Natürlich, wenn sie nur jetzt schlafen könnte. »Also ein Ecartéchen«, sagte Ladislas und mischte die Karten. »Sehen Sie, Komtesse, ich spiele sehr gern Karten. Warum? Weil das Kartenspiel symbolisch ist. Bitte, Boris, kupiere.« Billy konnte nicht anders, sie legte die Hand vor den Mund und gähnte. »Du bist müde, Kind,« sagte Boris, »leg' dich ein wenig nieder.« »Freilich,« rief Ladislas, »es ist für alles gesorgt.« Er sprang auf und öffnete die Tür zu einem Nebenzimmer: »Bitte. Aber vordem, Komtesse, erlauben Sie, daß ich von Ihnen Abschied nehme, ich reite gleich wieder fort, ich muß zeitig zu Hause sein, damit meine Mutter von meinem nächtlichen Unternehmen nichts merkt.« Er küßte Billys Hand: »Ich danke Ihnen, Komtesse, für das Glück dieser Stunden.« Das klang so gefühlvoll, daß Billy fast gerührt wurde.
Im Nebenzimmer brannte trübe eine Kerze auf einer Kommode. Weiß und goldene Porzellanvasen standen da voller Papierrosen, an der Wand hing eine jüdische Kußtafel. Den meisten Raum im Zimmer aber nahmen zwei mächtige Betten ein, auf denen sich Berge von Federkissen in rotbaumwollenen Bezügen türmten. »Ja, lege dich nieder,« sagte Boris und strich mit der Hand über Billys Haar, »ach Billy, wenn du fühlen würdest wie ich.« – »Warum sagst du, daß ich nicht fühle wie du,« erwiderte Billy ein wenig gereizt, »das ist unfreundlich.« »Nein, nein, ich bin nicht unfreundlich,« meinte Boris, »schlafe jetzt, ich muß mit Ladislas manches besprechen.« Billy legte sich auf das Bett und Boris ging hinaus. Sie hörte die beiden jungen Leute draußen sprechen, anfangs schienen sie Karten zu spielen, dann flüsterten sie eifrig miteinander in polnischer Sprache schnell und zischend. Billy schloß die Augen und lag regungslos da, schlafen wollte sie, aber dann schien es ihr, als stünde neben ihr etwas, etwas das drohte, das heranschleichen wollte, es schien ihr, als müßte sie wachen, als wüßte sie auf ihrer Hut sein. Sie schlug wieder die Augen auf, die Flamme der Kerze wurde von einem Zugwinde leicht bewegt, irgendwo im Hause wimmerte ein Kind, ein leiser unendlich kummervoller Ton, und um sie her lagen die roten Federkissen mit ihrem widerwärtigen üppigen Schwellen und atmeten einen süßlichen Staubgeruch aus. Sie warfen große Schatten an die Wand und die runden weichen Formen zitterten sachte. Ein unendlicher Ekel schüttelte Billy, warum war sie hier, was hatte sie hier zu tun? Ja so, sie liebte ja Boris. Wie war das doch? konnte sie es nicht wieder haben, dieses heiße Gefühl des Mitleids und der Sehnsucht, das alles in ihr veränderte, ihr Mut zu allem gab und das Unmöglichste selbstverständlich machte. Auch dazu war sie jetzt zu müde. Schlafen wollte sie jetzt – irgendwo wo es still und sicher und rein wäre. Sie schloß wieder die Augen, um nicht dieses Zimmer zu sehen, wollte an zu Hause denken, allein auch diese Gedanken gaben keine Ruhe, sie schmerzten. Also an etwas ganz Friedliches wollte sie denken, etwas, das keine Vorwürfe machen konnte, an die Möbel im Gartensaal, wie sie unter ihren weißen Baumwollebezügen in der Dunkelheit standen, an die großen Blumensträuße, die dort in den Vasen welkten und ihre Blätter mit einem ganz leisen Ton auf den Tisch niederregnen ließen. Ja daran, nur daran wollte sie denken.
Sie mußte doch ein wenig geschlafen haben, denn als sie jetzt auffuhr, schien es ihr, als sei sie fortgewesen irgendwo, wo sie geborgen war, wo sie bekannte Stimmen hörte, und nun fiel sie wieder jäh in diesen fremden Traum hinein. Es war noch da, dieses Zimmer, mit der dumpfen Luft, die Wände mit den sachte zitternden Schatten, die weichen roten Kissen saßen um sie her und warteten, alle waren sie noch da und mußten weiter geträumt werden. Und dann stand da noch jemand vor dem Bett ganz regungslos. Es war Boris, aber auch er seltsam fremd und unheimlich. Das flatternde Licht der Kerze ließ Schatten über sein Gesicht hinfahren und es schien, als verzöge es sich, nur die dunkelen Flecken der Augen waren unbeweglich auf sie gerichtet. Müde und mutlos lehnte sich Billy in die Kissen zurück und schloß die Augen.
»Was ist geschehen«, sagte sie ganz leise.
»Nichts ist geschehen«, erwiderte Boris ebenso leise.
»Ist er fort?« fragte Billy weiter.
– »Ja, Ladislas ist fort.«
»Warum stehst du so da?«
Als Boris nicht antwortete, wiederholte Billy die Frage weinerlich und klagend. Da hörte sie, wie er am Bette niedersank. Er umschlang sie mit seinen Armen, sie fühlte, wie sein Gesicht kalt und schwer auf ihrer Brust lag, wie ein seltsames Beben seinen Körper schüttelte, als weinte er.
»Du sagtest doch, es wird alles gut werden«, sagte Billy und ihre Stimme klang wieder weinerlich und gereizt. »Warum sprichst du nicht? Ich weiß ja nicht, ich glaubte, daß ich bei dir sein muß, daher ging ich mit. Du sagtest doch, es wird alles gut werden.«
Boris klammerte sich fester an Billys Arm, er schob sich hinauf, jetzt lag er mit dem Oberkörper auf ihr, sein Gesicht war dem ihren ganz nahe, nun küßte er sie mit trockenen hungrigen Lippen. »Ja,« flüsterte er, »es wird alles gut, wenn du nur willst. Aber ich fürchte mich so furchtbar vor dem einen ....«
»Du fürchtest dich auch,« erwiderte Billy tonlos, »ja dann –«
»Nein, hör',« fuhr Boris fort und sein Flüstern wurde seltsam heiß und leidenschaftlich, »wenn du nur willst. Ich fürchte mich vor morgen, wenn es grau und hell wird, und wir müssen etwas tun und müssen sorgen, und die Menschen kommen, und alles ist so häßlich, die anderen und wir, und unsere Liebe, ach Billy, das habe ich nie ertragen können, so der nächste Morgen nach einem Glück –«
»Wir können es doch nicht ändern, daß es Morgen wird«, meinte Billy immer noch mit dem gereizten Ton.
»Doch, wir können das«, sagte Boris atemlos vor Erregung und seine Hände preßten sich um Billys Schultern so fest, daß es sie schmerzte. »Wir sind doch beisammen, wir können so glücklich, so glücklich sein, daß wir keinen Morgen mehr sehen wollen. Das gibt es. Du wirst sehen. Komm', du und ich, und dann vertragen wir nichts als zu sterben.« Er stammelte das, ganz nah auf sie hinabgebeugt, das Gesicht bleich und böse und seine Hände zerrten fieberig an Billys Kleid.
– »Wie können wir denn sterben?« versetzte Billy müde.
»Wie – ist gleich,« erwiderte Boris ungeduldig, »du wirst sehen, wir können dann nicht weiterleben.«
Billy schlug die Augen auf und schaute Boris scharf und angstvoll an. »Hast du das schreckliche, kleine Revolver, welches du mir zu Hause im Garten zeigtest, und von dem du sagtest, daß es dein Freund sei?« fragte sie.
»Ja, ja, aber warum davon sprechen,« antwortete Boris ungeduldig, »wir denken jetzt nur an uns, an unser Glück. Willst du, sag'? Wir sind einer bei dem anderen und nichts ist da, als nur wir und wir sterben lieber, als daß irgend etwas anderes nahe kommt.«
Billy richtete sich ein wenig auf, sie schob Boris' Hände, die heiß an ihrem Körper entlang fuhren, wie etwas Lästiges fort. Ihre Augen wurden groß und klar vor Angst, aber ihre Lippen zuckten wie in einem spöttischen und ein wenig verächtlichen Lächeln: »Glücklich sein – hier bei diesen häßlichen, roten Kissen. Ach bitte geh jetzt. Du – du bist wie das andere hier, ich fürchte mich auch vor dir!«
Boris ließ Billy los und richtete sich auf. Jetzt kniete er vor dem Bett, ließ die Arme schlaff niederhängen und nagte an seiner Unterlippe. Sein Gesicht trug den Ausdruck kummervoller Enttäuschung. Billy lehnte sich wieder in die Kissen zurück, wandte das Gesicht zur Wand und schloß die Augen. Regungslos lag sie da wie ein geängstetes Kind und horchte gespannt auf das leiseste Geräusch. Boris schwieg eine Weile, dann sagte er einmal: »Aber Billy«, und dies war wieder die Stimme, die sie kannte; aus ihr wehte es sie an wie der duftende Atem des heimatlichen Gartens, und der Boris, den sie kannte, und die Billy, die sie kannte, und ihre Liebe – alles war für einen Augenblick wieder da. Sie wollte sich umwenden, allein sie schloß die Augen nur noch fester, sie wußte, wenn sie die Augen aufschlüge, dann wäre das alles doch fort. Sie hörte sich selbst sagen, überlegen und verdrossen: »Sterben, nein, gewiß nicht. Wenn du sonst nichts weißt!«
Wieder schwieg Boris und Billy wartete in angstvoller Spannung. Da hörte sie, wie er sich erhob, einige Schritte machte, vor sich hinmurmelte: »Ja, das ist etwas anderes, da ist nichts zu machen« und dann langsam und zögernd aus dem Zimmer ging. Sie hörte, daß er die Tür nur anlehnte, im Nebenzimmer auf- und abschritt, stehen blieb, etwas in ein Glas goß und wieder auf- und abging. Sie lauschte aufmerksam dem leisen ruhelosen Knarren dieser Schritte, lauschte mit jener schmerzhaften Wachsamkeit, mit der wir etwas verfolgen, das uns droht, das uns angreifen will. Denn dieser Ton wurde seltsam ausdrucksvoll. Billy glaubte aus ihm kurze ärgerliche Worte, eine mißmutig vor sich hinscheltende Stimme herauszuhören. Als dann der Rhythmus dieser Stimme sich änderte, hielt Billy in Erregung den Atem an. Jetzt geht er auf den Fußspitzen, sagte sie sich, jetzt nähert er sich der Tür. Boris trat wieder sachte in das Zimmer und blieb an dem Bettende stehen. Sie hörte deutlich das leise Aneinanderklingen der Berlockes an seiner Uhrkette, dann wurde es ganz still. Billy rührte sich nicht, sie wartete mit der Ergebung, die wir im Traum haben, auf deren Grund unbewußt die Hoffnung ruht, das Erwachen wird kommen und uns von den Traumereignissen erlösen. Boris begann zu sprechen, klanglos, müde: »Natürlich schläfst du nicht. Du willst mich täuschen. Bitte, bitte, laß dich nicht stören. Ich bitte nie zum zweiten Male. Man versteht mich oder man versteht mich nicht. Du verstehst mich nicht, gut, gut, es ist immer dasselbe. Ihr versteht immer nicht.« Er hielt inne und es war wunderlich, wie das Mädchengesicht mit den geschlossenen Augen, den fest aufeinandergepreßten Lippen errötete und erbleichte. »Es wundert mich nur,« fuhr Boris fort, »daß du hierhergekommen bist. Um korrekt zu sein, dazu brauchen wir nicht hier zu sein. Ja, aber so ist es immer, man glaubt zusammen sehr hoch zu stehen, hoch über allem, was klein und dumm ist, man glaubt, nun kommt der große Augenblick, auf den man sein ganzes Leben gewartet und dann ist es wieder nichts, man ist doch allein und du, du bist doch dort unten geblieben in der Welt von – von – Madame Bonnechose«.
Er schwieg wieder und Billy dachte: »Lachte er jetzt?« Es war in seiner Stimme etwas gewesen, das so klang. Sie drückte die Augenlider fester zu; nicht um eine Welt hätte sie dieses traurige und hochmütige Lachen sehen wollen, vor dem sie sich immer gefürchtet hatte auch in Augenblicken, in denen sie Boris am stärksten liebte. Boris machte einige Schritte, blieb wieder stehen: »Nur Verantwortung auf mich nehmen, sonst nichts, nein ich danke. Aus etwas, das ganz schön und groß hätte sein können, machst du etwas Häßliches und Albernes. Da spiele ich nicht mit. Lächerlich zu sein verstehe ich nicht, dazu haben wir Polen kein Talent.« Wieder machte er einige Schritte, wieder wartete er, ja er wartete, das wußte Billy, allein es kam ihr keinen Augenblick der Gedanke, sie könnte die Augen aufschlagen, sie könnte zu ihm sprechen, ihn zurückrufen, sie hatte nur einen Gedanken, ganz still liegen, sich nicht regen, dann geht vielleicht auch das vorüber. Boris war jetzt an der Türe, sie hörte das leise Knarren der rostigen Türangeln und auf der Schwelle sagte er noch mit einer Stimme, die seltsam fremd und verändert klang, mit der Stimme eines, der irgendwo ganz allein kummervoll und hoffnungslos zu sich selber spricht: »Nein, das nicht, das bin ich so müde, immer nur für ein Mißverständnis leben.« Er ging und lehnte die Tür wieder an und Billy hörte wie er im Nebenzimmer hin und her schritt und sich dann auf das alte knackende Sofa warf.
Das Gewitter hatte aufgehört, beruhigt und gleichmäßig rann ein feiner Regen nieder und klopfte ganz sachte an die Fensterscheiben. Billy lag noch immer still da. Warum sollte sie sich regen? Warum sollte sie die Augen aufschlagen? Um sie her war nichts, das zu ihr gehörte, das teil an ihr hatte, nichts, das sie als Leben empfand. Ein nie erlebtes Gefühl des Alleinseins ergriff sie körperlich, etwas, das sie krank machte, sie frieren ließ.
Boris hatte mit seiner seltsam veränderten Stimme von Glücklichsein und Sterben gesprochen. Diese Worte hatte sie schon einmal gehört zu Hause zwischen den Johannisbeerbüschen, aber dort klang es anders, dort klang es traurig und schwül und süß, sie verstand es dort und es erschien ihr als etwas Mögliches und Leichtes, wenn Boris es wollte. Allein hier – sterben, das war unverständlich und widerwärtig wie alles andere hier, das war eben dieses furchtbar rätselhafte Gefühl der Einsamkeit, das jetzt kalt über sie hinkroch. Sie muß daliegen und das Leben ist unendlich weit, sie sieht es wie einen Fleck ganz gelb von Sonnenschein, ganz bunt von Herbstblumen und bekannte Figuren gehen durch diesen Sonnenschein; vor dem Waschhause steht die Wäscherin mit der weißen Schürze, am Nelkenbeete kniet der Gärtner mit dem großen gelben Strohhut und unter dem Birnbaum steht ihr Vater und zieht den Duft der Augustbirnen und der Pflaumen in seine lange weiße Nase. Billy sieht das, spürt das, riecht das und doch lebt das alles ohne sie, ja sie selbst ist dort, sie sieht sich, ihre Liebe ist dort, Boris, alles, aber sie kann nicht zu sich selber hinkommen. Billy richtet sich auf, die Augen weit offen, der Mund sehr rot im weißen Gesicht und um die Lippen den entschlossenen eigensinnigen Zug, den sie anzunehmen pflegten, wenn Billy fühlte, daß sie etwas haben mußte, nach dem sie sich sehnte.
Sie stieg leise aus dem Bett, schlich zur angelehnten Türe und schaute durch den Spalt. Boris lag auf dem Sofa und schlief. Das Haar hing ihm wirr in die Stirn, das bleiche Gesicht trug den gramvollen und zugleich hilflosen Ausdruck, den ein schwerer Schlaf über ein Gesicht breitet. Auf dem Tisch stand die Sektflasche und ein halbgeleertes Glas. Die Kerze war tief niedergebrannt und der einzige Ton im Zimmer war ein leises Stöhnen, das aus Boris' halbgeöffnetem Munde drang, klagend und dann wieder wie in kleine hohe wie spöttische Laute umschlagend. Billy zog die Türe vorsichtig an. Geschäftig nahm sie nun ihren Mantel und ihren Hut, ging an das Fenster und öffnete es. Der Zugwind verlöschte die Kerze; draußen schien es noch dunkel, der Regen flüsterte in der Finsternis, die großen Tannen rauschten, ein lautes tiefes Rauschen, ein herrlich befreites Atmen aus unendlich weiter Brust, und Billy mußte auch atmen, ganz tief, sie schwang sich auf das Fensterbrett und sprang hinaus.
Der Wind trieb ihr den Regen in das Gesicht und benahm ihr den Atem. Sie stand einen Augenblick da, leicht vorgebeugt, wie jemand, der im Seebade steht und erwartet, daß eine Welle über ihn hingehe. Dann lief sie in die Finsternis hinein mit festen eigensinnigen Schritten, über dem nassen Wege lag eine matte, blinde Helligkeit. Dieser folgte Billy. Klatschend sprang das Wasser an ihren Beinen hinauf, wenn sie in die Pfützen trat, von ihrem Hut rannen kleine kalte Bäche hinter ihren Mantelkragen. Alles war gegen sie, alles war feindlich, was da rings um sie her flüsterte, gurgelte, kicherte und rauschte. Es war furchtbar und sie fürchtete sich auch, aber sie hatte es nicht anders erwartet und sie mußte eben vorwärts. Dabei fand sie in sich etwas, das sie bisher nicht in sich gekannt hatte, sie fand in sich das erregende Gefühl böser Wachsamkeit und gleichsam verbissener Neugier, die das Wesen des Mutes sind. Denken konnte sie nicht, sie hatte nur auf der Hut zu sein. So stürmte sie fort. Der Weg wurde jetzt dunkel. Die großen Tannen rauschten ganz nahe um sie her, zuweilen schlug ein nasser Zweig nach ihr oder wollte sie festhalten und dann stieß sie ihn von sich ingrimmig und kampflustig. Eine große, traumhafte Resignation dem Unbekannten und Lauernden gegenüber machte sie fast gefühllos. Wunderlich war es dabei, wie die ganze Zeit über ein Bild vor ihr stand und empfunden und gesehen werden wollte. Sie sah sich selber deutlich, als ginge sie neben sich selber her, die schmale Gestalt im braunen Regenmantel, den nassen Hut auf dem Kopf, ein wenig vorgebeugt, wie sie die fremden schwarzen Wege entlang lief, unaufhaltsam und willenlos wie eine Kugel, die eine kräftige Hand hinausgeschleudert hat, vorwärts über die Wurzeln, die sich ihr hinterlistig in den Weg stellten, unter Zweigen durch, die sie aufhalten wollten und sie mit Wasser überschütteten, an großen dunklen Vögeln vorüber, die über den Weg rauschten und erschreckende Klagetöne in die Nacht hineinriefen. Aber das mußte so sein, so war das Leben außerhalb der Gartengitter von Kadullen, so war es, wenn man sich wieder zu den Gartengittern von Kadullen durchkämpfen mußte. Und es war Billy, als fühlte sie, daß da in der finsteren Welt um sie her viele solche einsame Gestalten schwarze Wege hinabliefen eilig, eilig. Diese Kameradinnen der Nacht empfand sie so stark, daß sie ihr unheimlich und dennoch ein wenig tröstlich waren. Der Weg wurde immer deutlicher und blanker, Bäume und Sträucher standen jetzt deutlich in einem grauen Licht, Nachtraben klatschten mit den Flügeln, der Tag kam. Aber Billy schaute nicht auf. War es furchtbar diesen Traum zu träumen, so fürchtete sie sich dennoch davor, aus ihm zu erwachen. Sie wußte, dann würde dieses Fieber des Mutes und der gedankenlosen Ergebung von ihr weichen, dann würde sie keine Kraft mehr haben. Den Kopf auf den Weg niedergebeugt stürmte sie weiter, zuweilen war sie mitten in einem weißen Nebel, dann ging sie wieder über Moos hin wie über grün und roten Sammet. Merkwürdig still war es um sie geworden, Regen und Wind mußten aufgehört haben. Plötzlich ging sie ganz in rotem Licht. Sie fühlte dieses Licht wie etwas, das wehe tut, sie kniff die Augen zusammen und beugte den Kopf tiefer. Allmählich wurde das Licht golden, überall lag greller Glanz, überall flimmerte es, in der Luft begann es zu summen, im Moose zu rascheln. Billy fühlte, wie um sie her geschäftiges Leben erwacht war und sie ging schneller, es war wie ein Wettlauf mit diesem Tage, der so ruhig und wach in all seinem Glanze herankam.
Wie lange Billy so gegangen war, wußte sie nicht, es schien ihr unendlich lange. Die Sonne stand schon hoch am reinen, blauen Himmel und stach unerbittlich herab. Es schien Billy, als müßte sie eine sehr warme Last mit sich forttragen, dazu wurden ihr die Füße so schwer, bewegten sich langsam und mechanisch wie Dinge, die nicht zu ihr gehörten, sie waren ihr gleichgültig wie alles an ihr, sie fühlte sich wie eine wunderliche Sache, die mühsam durch den Sonnenschein fortgetrieben wird. Da plötzlich auf einer kleinen grellbeschienenen Waldlichtung sank sie auf einen Mooshügel nieder. Köstlich war es, die Beine von sich zu strecken, den Rücken in das warme Heidelbeerkraut zurückzulehnen. Etwas Schöneres konnte es im Leben nicht geben. Um die Lichtung standen junge Föhren und Tannen blank wie Metall und so regungslos, daß die Tropfen, die noch hier und da an ihren Nadeln hingen, gefroren schienen. Alles war regungslos unter diesem gelben Lichte, die Halme, die Moosblüten, die kleinen blauen Falter, eine Hummel kroch in die Glocke eines Benediktenkrautes und blieb dort hängen wie verzaubert. Im Dickicht kam ein Fuchs daher, den Kopf suchend niedergebeugt, und plötzlich blieb auch er stehen ohne ein Glied zu regen und starrte vor sich hin die Lichter durchsichtig wie grünes Glas, gebannt von dem gewaltsamen Schweigen der Stunde. Billy saß da und auch auf ihr lastete diese Regungslosigkeit, die so wunderbar wohltat, dieser köstliche Rausch des Lichtes, des Schweigens und all der heißen Düfte, welche die Blätter, die Tannennadeln, die großen sich sonnenden Schwämme ausatmeten. Auch sie starrte vor sich hin, sie fühlte, wie auch ihre Augen so glashell wurden wie die Lichter des Fuchses dort und alles in ihr nur dazu da war die sonnige Stille zu trinken. Aufgeregt erscholl jetzt der Ruf des Eichelhähers, als wollte er jemand rücksichtslos wecken. Der Fuchs war fort und auch Billy fuhr auf, sie lehnte sich zurück, hob die Arme empor, streckte sich und machte ein Gesicht, als wollte sie weinen. Etwas sehr Schönes war vorüber. Mühsam erhob sie sich, was half es, sie mußte ja doch weiter.
Ein breiter Waldweg, mit kurzem Rasen bedeckt, führte durch eine junge Föhrenschonung hin und als der Weg eine Biegung machte, lag ein Stück Heideland vor Billy, mitten darin standen einige Häuschen, standen da mit dem goldbraunen Gebälk, silbergrauen Dächern wie kleine, blanke Kästchen auf der rotblühenden Heide. Eine Kuh blökte dort langgezogen und schläfrig, ein Hahn krähte und Rauch stieg aus dem Schornstein gerade in den Himmel. Billy blieb stehen; das hier ergriff sie so stark, sie wußte nicht, warum; die Augen wurden ihr feucht und doch mußte sie lächeln. Sie ging gerade auf das Haus zu, ein niedriger Lattenzaun umhegte einen Garten, in den Billy durch die halbgeöffnete Tür eintrat. Lange Gemüsebeete, Stachelbeerbüsche. Hie und da legten blaublühende Zichorien und dunkelroter Mohn grelle Farbenflecken in den gleichmäßigen Glanz des Mittaglichtes. Überall standen Bienenkörbe umher. Vor einem derselben kniete ein Mann und machte sich mit den Bienen zu schaffen. Billy ging auf ihn zu, er hörte wohl den Kies unter ihren Schritten knirschen, er hob den Kopf, ein altes, wie von unten nach oben zusammengedrücktes, kleines Gesicht schaute Billy aus trüben, ganz hellblauen Augen ruhig an.
»Guten Morgen,« sagte Billy.
»Guten Morgen,« erwiderte der Mann, die Hände hatte er vorsichtig vor sich hingestreckt, denn sie waren dicht mit Bienen wie mit goldgelben Sammethandschuhen bedeckt. Als Billy schwieg, wandte er sich wieder seinem Bienenstocke zu.
»Bin ich weit von Kadullen?« begann Billy wieder.
»Zu gehen drei Stunden«, erwiderte der Mann, ohne aufzuschauen. Wieder schwiegen beide. Der starke Duft der Küchenkräuter in den Beeten, der säuerliche Geruch des Honigs, das leise Summen der Bienen, all das legte sich über Billy wie eine unendlich wohlige Trägheit. Hier ausruhen, dachte sie. »Darf ich hier sitzen?« fragte sie und wies auf einen Schiebkarren, der umgekehrt auf dem Kieswege lag. Der alte Mann nickte nur, während er die Bienen vorsichtig von seinen Händen streifte, und Billy setzte sich, streckte die Füße von sich, ließ die Arme schwer niederhängen, seufzte tief auf, mehr brauchte sie nicht. Ach, es war ja doch nicht so schwer, zu leben.
»Sie sind das Fräulein aus Kadullen?« sagte der alte Mann endlich wieder, »ich komme da oft hin, um Honig zu bringen. Sind wohl naß, wie?«
»Ja.«
»Sind wohl in der Nacht im Regen draußen gewesen, nun wollen Sie wohl nach Hause?«
Ja, Billy wollte nach Hause. Der alte Mann nahm seinen Strohhut ab und fuhr sich bedächtig mit der Hand über den nackten, blanken Schädel. »Man kann anspannen,« meinte er. Dann wandte er sich zur anderen Seite und rief: »Lina!« Drüben vor dem kleinen Stall stand eine rote Kuh und davor hockte ein Mädchen im blauen Leinwandkleide und melkte die Kuh. Das Mädchen richtete sich langsam ein wenig mühsam auf, stand einen Augenblick da, verzog das Gesicht vor dem Sonnenschein, schaute mißmutig zu Billy hinüber und wischte sich die großen, roten Hände an der weißen Schürze. »Komm nur«, sagte der Alte. Da kam Lina langsam die Gemüsebeete entlang, auf dem großen, starken Körper saß ein kleiner Kopf, ein pausbäckiges, sehr erhitztes Kindergesicht unter der schweren Fülle brauner, fetter Haare. Die Hände hielt sie noch immer auf ihrer Schürze, als wollte sie es verbergen, daß sie guter Hoffnung war. Vor Billy blieb sie stehen und fragte verdrossen: »Was denn, Vater?« »Nimm das Fräulein mit hinein,« sagte der Vater, »ziehe ihr trockenes Zeug an, gib was zu essen, nachher, Fräulein, fahren wir.«
Lina wandte sich um und schritt dem Hause zu.
Billy erhob sich, um ihr zu folgen, da schaute der Alte verschmitzt, so von der Seite auf die beiden hin, wies mit dem Daumen auf seine Tochter und sagte: »Die is auch liederlich gewesen.« Lina schaute nach Billy zurück, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und lächelte ein wenig. Das Wohnzimmer, in welches Billy geführt wurde, mußte frisch getüncht worden sein, denn es erschien ihr so überraschend grellweiß. Der Sonnenschein lag so wunderlich schwer und honiggelb auf den weiß und roten Kattunbezügen der Möbel und den Tannenbrettern des Fußbodens. Dazu kam noch ein eifriges, lautes Durcheinander von Vogelstimmen, die einander überschreien wollten, überall an der Decke und am Fenster hingen Vogelbauer mit Kanarienvögeln, es mochten ihrer zehn oder zwölf sein und die Tierchen, vom Lichte erregt, schlugen, als seien sie berauscht vom eigenen Gesänge.
»Oh die Vögel«, sagte Billy überrascht.
»Die!« meinte Lina verdrießlich, »die bellen den ganzen Tag.«
Billy mußte sich auf das Sofa setzen und Lina begann sie zu entkleiden. Sie zog ihr die Schuhe aus, die Strümpfe. »Die kleinen Füße,« murmelte sie, »in einer Hand halte ich so'n Fuß wie'n Vogel.« Sie war ganz in ihrer Arbeit versunken und sprach vor sich hin wie ein Kind, das still in einer Ecke mit seiner Puppe spielt. »Die feine Wäsche, und durch und durch naß und 'n Haut wie Seide haben wir, so, so, und nun kommt das Hemd, ganz neu ist es, für die Hochzeit habe ich es mir gemacht.«
»Für die Hochzeit?« fragte Billy, die willenlos den großen, vorsichtigen Händen gehorchte. »Die Hochzeit, nu ist ja doch nichts damit«, meinte Lina, während sie geschäftig zwischen den Kästen und Billy hin- und herging. »So, dieses Kleid hier, mir ist es ein bißchen zu eng, für Fräulein wird es gut sein. Ne, ne, es ist doch zu weit, das muß man zusammenstecken«, und die beiden Mädchen begannen über das zu lose Kleid zu lachen, ganz laut, ganz hilflos. Lina setzte sich, schlug sich auf die Knie und hielt sich die Seiten. Die Kanarienvögel versuchten das Lachen der Mädchen zu überschreien. Nun war Billy fertig. Sie ließ sich einen Spiegel geben, betrachtete sich aufmerksam, dann legte sie den Spiegel befriedigt fort und sagte: »Sehr gut, Ihre Kleider sind beruhigend wie Baldriantropfen.« Lina ging hinaus um etwas zum Essen zu besorgen und Billy lehnte sich in das Sofa zurück und schloß die Augen. Ja, es war ihr wirklich, als hätte sie mit ihren Kleidern die Sorgen und Unruhen der früheren Billy abgelegt. Mit dem blau- und weißgetüpfelten Leinwandkleide, mit dem großen Kragen und dem groben Hemde, das ihr die Haut rieb, schien es ihr, als hätte sie etwas von dem sorglosen, fast schamlosen Frieden eingesogen, mit dem Lina ihren von der Mutterschaft entstellten Körper faul und bequem an den Gemüsebeeten des Gartens entlang bewegte.
Nun brachte Lina Milch, ein blankes, braunes Brot und sehr viel Honig. Billy begann zu essen; zuerst heißhungrig, dann langsam mit Genuß, fast mit Andacht, sie erinnerte sich nicht, daß ihr je etwas so gut geschmeckt hatte.
Als sie satt war, stützte sie die Arme schwer auf den Tisch. In den ungewohnten Kleidern trieb es sie, Bewegungen zu haben, die sie sonst nicht hatte, die Lina vielleicht haben konnte. Ihre Wangen waren wieder gerötet, ihre Augen blank und Lebensungeduld wärmte ihr Blut. Lina saß ihr gegenüber, die Hände flach auf die Knie gelegt, und schaute sie aus den kleinen, blauen Augen stetig und geduldig an. »Ich denke,« meinte Billy, »wir gehen jetzt zu der Kuh, den Hühnern, zu den Bienen.« Das war es, in diesem komischen, blauen Kleide wollte sie sich draußen im Hofe umtun; ja, sie war überzeugt, sie würde ganz so faul und gemütlich wie Lina zwischen den Gemüsebeeten entlang gehen können. Als sie jedoch aufstand, fühlte sie, daß ihre Beine steif waren und sie schmerzten. »Ach nein, bleiben wir lieber,« sagte sie, »sprechen wir lieber etwas.« Allein die Ruhe des großen, erhitzten Mädchens ihr da gegenüber machte sie ungeduldig. Konnte man diese Ruhe nicht aufstochern, wie sie als Kind die kleinen, stillen Ameisenhügel aufgestochert hatte, so daß sie gleich voll aufgeregten Lebens wurden. »Fürchten Sie sich nicht?« fragte Billy plötzlich.
»Fürchten?« erwiderte Lina, »warum? Ach so, sie meinen deshalb, ne, was kann man sich da viel fürchten?« »Aber manche sterben daran«, bohrte Billy weiter. Lina fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und lächelte ein wenig. »Ja, manche sterben.« Die beiden Mädchen schwiegen eine Weile und lauschten dem Lärm der Kanarienvögel. Dann begann Lina zu fragen mit ihrer tiefen, ein wenig singenden Stimme: »Und Ihrer ist auch fort?« Billy errötete. »Ja, fort,« murmelte sie unsicher. Lina seufzte. »Ja,« meinte sie, »es ist ein Kreuz mit den Männern; immer gehen sie fort. So geht es uns allen.« Billy schwieg, aber sie empfand es wie Sicherheit und wie Frieden dieses uns, das sie einreihte in die Schar der Mädchen, die ruhig und stark das Leben auf sich nehmen.
Draußen hörte man das Rollen eines Wagens. Gleich darauf erschien der alte Mann in der Tür, eine Peitsche in der Hand und sagte: »Jetzt können wir fahren, Fräulein.« Billy mußte sich einen sehr großen, gelben Strohhut aufsetzen und dann fuhren sie.
Der kleine Wagen rüttelte stark, der schwere Schimmel trabte gleichmütig dahin und schüttelte sich geduldig die Bremsen ab, die ihn umkreisten. Die kleinen Schellen, die an seinem Geschirr befestigt waren, klingelten eine schläfrig eintönige Melodie. Eine Weile fuhr der Wagen noch durch die Föhrenschonung wie zwischen stillen, blauen Wänden hin, dann hörte der Wald auf, die Landstraße war da und weite Felder, über all dem lag ein heißer, blonder Staubschleier. Das Land erschien Billy so feierlich leer. »Man sieht keine Leute«, sagte sie.
Der Alte begann anhaltend und leise zu lachen. »Weil es Sonntag ist. Na ja, wenn man des Nachts spazieren geht, weiß man nicht mehr, was für'n Tag wir haben, aber so ist's nu mal mit den Mädchen; die Lina sieht nu auch da.«
»Kann er sie nicht heiraten?« fragte Billy zaghaft.
Der Alte schlug ärgerlich auf seinen Schimmel ein. »Heiraten? Wen denn? Wo ist denn der zum Heiraten? Wo ist denn unser schöner Maschinist von der Sägemühle? Weil er gelbe Katzenaugen hat, laufen sie ihm alle nach. Die Anna in der Wassermühle ist nun auch so weit. Ja, da hilft nichts; wie das Frühjahr kommt, sind die Marjellen in der Nacht draußen, unruhig wie die Bienen vor dem Gewitter, man kann sie hauen, man kann sie anbinden, hast du nicht gesehen – sind sie fort. Jetzt um diese Zeit ist schon seltener«, setzte der Alte hinzu und warf einen Seitenblick auf Billy. Sie lächelte. Ja, dachte sie, in der Frühlingsnacht, wenn wir unruhig werden wie die Bienen vor dem Gewitter, da gibt's das vielleicht dieses Glücklichsein und dieses Sterben, von dem Boris gesprochen hatte, aber dort – – – sie schauerte in sich zusammen, sie wollte nicht daran denken, sie hatten noch lange zu fahren, später würde sie alles überlegen. Gut, gut, aber jetzt nicht denken, nur dem schläfrigen Klingeln der kleinen Schellen zuhören.
Allmählich jedoch wurde die Gegend bekannter, hie und da stand zwischen seinen Feldern im Sonntagsrock ein Bauer, dessen Gesicht Billy sich erinnerte, und endlich tauchte in der Ferne Kadullen auf zwischen den großen Parkbäumen; ein kühler, grüner Fleck im sonnengelben Lande. Billy richtete sich auf; sie wurde plötzlich ganz wach; es war fast qualvoll, wie jäh all das Traumhafte von ihr abfiel und die frühere Billy wieder da war mit der Verantwortung für das, was sie getan, mit der Angst und Scham vor all denen dort. Sie sah deutlich Marions Augen, Tante Bettys hilfloses, kleines Gesicht und des Vaters strenge, weiße Nase. Sie hatten ja wohl den Zettel gefunden, den sie zurückgelassen. Was stand doch auf dem Zettel? »Ich bin bei ihm«, Gott, wie das dumm klang! Und nun näherten sie sich immer mehr dem Hause. Wenn sie nur unbemerkt über die kleine Treppe in ihr Zimmer kommen könnte, in Linas Kleidern würde niemand sie erkennen und oben in ihrem Zimmer würde sie die Türe zuschließen, niemand hereinlassen und schlafen – schlafen. Vielleicht nahm das etwas von ihr, vielleicht war dann, wenn sie erwachte, alles anders, alles besser. »Ach bitte,« sagte sie, »wir halten an der kleinen Türe der Parkmauer drüben.« Der Alte nickte gleichmütig, lenkte in den Seitenweg ein und hielt vor der kleinen Tür in der Parkmauer. Als Billy ausgestiegen war, blieb sie einen Augenblick stehen und sagte zögernd: »Ich muß wohl bezahlen.« – »Schon gut,« antwortete der Alte verdrossen, »ich gehe ohnehin in den Hof den Honig abliefern.« – »Aber nicht gleich«, bat Billy. – »Weiß schon, weiß schon,« murmelte der Alte, »kenne die Dummheiten.« Billy verschwand hinter der Tür. Vorsichtig eilte sie die kleinen Wege entlang, alles war still und menschenleer, das Haus mit niedergelassenen Jalousien lag da wie schlafend. Vorsichtig näherte sich Billy der Hintertreppe. Aus den Fenstern des Gesindehauses tönten langgezogene Töne eines Chorals, das Gesinde hielt seine Sonntagsandacht. Vor dem Waschhause stand die Wäscherin, legte die Hand vor die Augen und schaute in den Sonnenschein hinaus. Wo hatte Billy das eben gesehn? Ja, dort drüben im Traum. Nun lief sie leise die Treppe hinauf, jetzt war sie in ihrem Zimmer. Auch hier hatte alles unverändert auf sie gewartet und der bekannte Duft des Zimmers, das bekannte Licht, alles erschütterte sie so, daß Tränen mühelos und schmerzlos ihr Gesicht überströmten. Sie verschloß die Tür, riß sich hastig die Kleider vom Leibe und verkroch sich in ihr Bett. Weinen und schlafen wollte sie, nur das. Dann, wenn sie erwachte, nur ganz wieder zu all diesem zu gehören, das hier so unverändert, so still und hochmütig auf sie gewartet hatte.
Es war da ein wunderlicher Sonntag über Kadullen aufgegangen. Die Nachricht von Billys Heimkunft verbreitete sich schnell. Die Wäscherin hatte es dem Diener gesagt, der Diener meldete es Komtesse Betty, dann kam der alte Bienenzüchter in die Gesindestube und erzählte seine Geschichte. Er wurde zum Grafen geführt und da verhört, aber was half es, die Sache blieb so unverständlich wie zuvor. Warum war sie fortgegangen? was war geschehen? Marion wurde zu Billy hinaufgeschickt, meldete jedoch, Billy lasse niemand ein, wolle schlafen. Kummervoll saßen Komtesse Betty und Madame Bonnechose auf der Gartentreppe neben Lisa, die sich auf einen Liegestuhl hingestreckt hatte, denn sie fühlte sich sehr matt von all diesen Aufregungen. Die beiden alten Damen schwiegen, was sollten sie sprechen, sie verstanden la chère jeunesse nicht mehr. Nur zuweilen murmelte Madame Bonnechose: » C'est incompréhensible«. Komtesse Betty nickte, aber Lisa lächelte versonnen und sagte: »Verstehen, verstehen kann ich das alles.«
» Mais chère Lisachen, dites nous donc, ce que vous savez«, drängte Madame Bonnechose. Lisa schüttelte den Kopf. »Es gibt Dinge, die wir verstehen und für die es doch keine Worte gibt. Als ich damals mit Katakasianopulos auf der Ebene von Marathon stand, war es mir, als verstünde ich ganz deutlich all den Schmerz, der über uns kommen sollte, aber aussprechen, das hätte ich nicht gekonnt.«
»Ach, liebes Kind,« sagte Komtesse Betty kleinlaut, »das hilft uns jetzt nun nichts mehr.« Marion kam und meldete wieder einmal, daß oben bei Billy alles ganz still sei. »Ach Gott, ach Gott«, seufzte Komtesse Betty, sie konnte nicht so ruhig still sitzen, sie erhob sich und ging zu ihrem Bruder hinüber.
Graf Hamilkar lag in seinem Zimmer auf dem Sofa, er hielt die Augen geschlossen, sein Gesicht war wunderlich fahl, die Züge schienen spitzer und schärfer als sonst. Als seine Schwester vor ihm stehen blieb, öffnete er die Augen und schaute sie mit einem Blick an, der gleichgültig war wie der Blick eines Menschen, der uns zwar anschaut, aber mit seinen Gedanken und Träumen sehr weit von uns fort ist. »Immer noch keine Gewißheit«, sagte Komtesse Betty weinerlich. »Sie läßt niemand zu sich herein, sie sagt, sie will schlafen.«
»Sie soll schlafen«, erwiderte der Graf.
»Ja, aber sie kann uns doch zu sich herein, lassen,« klagte die alte Dame weiter, »was ist denn das alles? all diese Geschichten? das ganze Haus flüstert. Die Professors fahren heute fort und tragen es in die ganze Gegend hinaus und du Hamilkar, du sagst auch nichts.«
Der Graf richtete sich ein wenig auf. »Nein, Betty,« sagte er, »ich sage nichts, weil ich nichts weiß. Daß die anderen Leute sprechen, können wir nicht ändern, wir sollten nur sprechen, wenn es nötig ist. Das Kind soll schlafen, dann soll es dir alles sagen und dann, Betty, werde ich auch das Meinige sagen. Ist es bald Frühstückszeit?«
»Ach Hamilkar,« erwiderte Komtesse Betty eingeschüchtert, »du wirst zum Frühstück doch nicht erscheinen, du bist so angegriffen.«
Der Graf legte den Finger an die Nase und sagte scharf: »Ich werde erscheinen und ich hoffe, daß es pünktlich wie immer sein wird. Ich habe auch nicht gehört, daß ihr einen Choral gesungen habt, habt ihr eure gewohnte Andacht noch nicht gehalten?«
– »Nein, in der Aufregung, siehst du«, entschuldigte die alte Dame, aber der Graf war unzufrieden. »Du hast unrecht, Betty, haltet eure Andacht wie jeden Sonntag, aber wenn ich bitten darf im Bibeltext und im Gebet keine Anspielungen auf die Ereignisse, eine ganz gewöhnliche Andacht. Wir können nichts dafür, daß hier etwas zu uns hereingekommen ist, das nicht zu uns gehört, es ist aber kein Grund da, davor zu kapitulieren, wir bestehen auf unsere Art, also.«
Müde lehnte der Graf sich zurück und schloß die Augen, seine Schwester schaute ihn erschrocken an. »Wie ist dir, Hamilkar?« fragte sie, »du bist so bleich?« Der Graf winkte ungeduldig mit der Hand. »Es geht,« meinte er, »Blutumlauf und Herzschlag lassen sich von uns nun mal nichts dreinreden, das Schlimme ist nur, daß sie sich beständig um unsere Angelegenheiten kümmern. Da liegt ein Fehler im Kontrakt, den wir unser Leben nennen. Es ist übrigens das Alter, Betty, nur das, und das ist ja schließlich verständlich.«
Komtesse Betty verließ leise das Zimmer, draußen sagte sie kummervoll zu Madame Bonnechose: » Chère amie, mein Bruder verlangt, daß wir die Andacht abhalten, da ist nichts zu machen, bitte rufen Sie die Kammerjungfern und den Diener, o ma chère, il est terriblement philosophe.«
Das Leben auf Kadullen kapitulierte nicht, die Andacht wurde abgehalten, zum Frühstück erschien Graf Hamilkar bleich und müde, aber die Unterhaltung zwischen ihm und dem Professor stockte nicht. Sie sprachen von der gelben Rasse und als wäre das noch nicht fern genug vom Bismarck-Archipel. Auf den anderen Anwesenden lag ein verlegenes Schweigen. Egons und Moritz' Plätze waren leer, denn auf die Nachricht von Billys Verschwinden waren sie fortgeritten und noch nicht zurück. Lisa wies die Speisen von sich und schaute mit ihren schönen Augen über die Köpfe der Anwesenden hinweg. »Lisa ist heute ganz in »Marathon«, flüsterte Bob Erika zu. Selbst Herr Post und Fräulein Demme machten ernste, ja ein wenig hochmütig abweisende Gesichter. Herr Post hatte vor dem Frühstück zu Fräulein Demme gesagt: »Man sieht doch, diese sogenannte vornehme Kultur hält nicht stand, es ist doch manches innerlich faul«, worauf Fräulein Demme ihre kurzen locken schüttelnd geantwortet hatte, »es fehlt eben an innerer Freiheit.«
Nach dem Frühstück fuhren Professors fort, sie nahmen einen eiligen und zu herzlichen Abschied. Komtesse Betty hatte Tränen in den Augen. »Es war mir,« sagte sie später, »als sei Billy gestorben und die Professors hätten einen Kondolenzbesuch gemacht.«
Dann kamen die Nachmittagsstunden mit der stetigen Klarheit des Hochsommertages, mit dem stillen Brennen der Farben auf den Beeten, der sonntäglichen Ereignislosigkeit, dem kummervollen Beieinandersitzen und Warten. »Ach Gott, wenn man nur wüßte, worauf man wartet«, seufzte Komtesse Betty. Oben aber hinter der verschlossenen Tür lag das arme Rätsel und vor der Tür stand Marion den Kopf gegen die Tür gelehnt, die Augen zu groß in dem kleinen, bleichen Gesicht.
Einmal wurde die Stille durch den eiligen Hufschlag eines Pferdes gestört, ein Reiter sprengte auf den Hof, er stieg ab und trug einen Brief zu Graf Hamilkar hinein, dann ritt er wieder fort und wieder lag sonntägliche Stille auf dem Hause. »Was ist nun das wieder,« klagte Komtesse Betty, »Hamilkar sagt auch nichts, jeder sitzt wie eine Sphinx vor seinem Geheimnis.«
Und Lisa auf ihrem Liegestuhl sagte in Gedanken versunken: »Selbst wenn sie von uns gehen, haben sie etwas Hilfeflehendes, als wollten sie uns sagen: hilf mir von mir selber.« » Qui? monsieur Boris?« fragte Madame Bonnechose.
»Nein,« erwiderte Lisa, »Katakafianopulos.«
– » Ah ma chère, maintenant il ne s'agit pas de monsieur de Katakafianopulos«, meinte Madame Bonnechose ärgerlich.
Endlich nach dem Mittagessen, als die Sonne schon rot über dem Waldrande stand, verbreitete sich die Nachricht: Marion ist bei Billy drin.
Billy hatte sehr tief geschlafen. Jetzt lag sie auf ihrem Bette, die Arme im Nacken verschränkt, die Wangen gerötet, die Augen wunderbar blank. Sie schaute forschend zu Marion auf, die vor ihr stand und sie angstvoll anblickte.
»Vor allem,« sagte Billy, »sieh mich nicht so an, als ob ich gestorben wäre. Du hast Augen, die einen ansehen können, als ob man eine Spinne wäre.« – »Ach Billy, das ist nur, weil du gerade so wunderschön bist.«
Billy lächelte ein wenig »nun ja, das kann ja sein, setze dich her und erzähle.«
»Also du fandst den Zettel?«
– »Ja.«
»Du trugst ihn natürlich zu Tante und deiner Mutter?«
– »Ja.«
»Was sagten sie?«
– »Mama sagte › la pauvre petite, elle est perdue‹.«
»So, perdue, sagte sie. Erzähle doch weiter.« Marion war dem Weinen nahe. »Ich weiß doch nicht, Tante ging zu deinem Vater hinein. Deine Vetter ritten fort, um dich zu suchen, Moritz sagte, hätte ich diesen Polen nur vor der Pistole. Ich kochte für Tante und Mama Baldriantee.«
»Marion, Marion,« unterbrach Billy, »erzählen ist nicht deine Sache.«
»Nein,« sagte Marion, »du sollst ja erzählen.«
Billy wurde ernst: »Ach so, dazu haben sie dich hergeschickt, gut. Laß die Vorhänge nieder und setze dich dort ans Fenster, sieh' mich nicht an!« Sie schloß die Augen und ihr Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an. »Ich ging fort in der Nacht, du weißt, ich mußte. Es war auch ganz leicht. Ich konnte ihn nicht allein und beleidigt fortgehen lassen, ich wäre vor Mitleid gestorben. Und dann fuhren wir, es regnete, blitzte, endlich konnten wir nicht weiter. Wir stiegen in einem Kruge aus, da war ein Freund von Boris und ein alter Jude und eine Jüdin saß da und rührte sich nicht und sah mich an so wie Leute uns zuweilen in schrecklichen Träumen ansehen. Dann wurde gegessen und Champagner getrunken, Boris Freund sang und die Herren spielten Karten, aber da fing es an, da wurde alles anders, es wurde alles ganz traurig, und ich verstand nicht mehr warum ich da war. Ich ging ins Nebenzimmer und legte mich auf das Bett. Alles roch nach Staub und sehr schlechtem Parfüm, da waren furchtbare rote Kissen, irgendwo weinte ein Kind, alles war entsetzlich häßlich und traurig. Ich habe nicht geglaubt, daß etwas so häßlich sein kann. Boris kam herein. Auch er war ganz fremd. Hier bei den Berberitzen hatte er schon von Glücklichsein und Sterben gesprochen, aber dort, dort klang es furchtbar. Und er war böse und ging hinaus und ich stellte mich schlafend. Sag' Marion, könntest du lieben und tragisch sein oder glücklich sein und sterben, wenn eine der dicken grünen Raupen, vor denen wir uns so fürchten, auf dich herunterfällt und über dich hinkriecht und du kannst sie nicht fortnehmen und sie kriecht immer über dich hin. Sieh', so war alles dort, alles. Als alles still wurde und Boris schlief, sprang ich aus dem Fenster und lief, lief.«
– »Liebst du ihn nicht mehr?« fragte eine zaghafte Stimme von der Fensternische her. Billy schwieg einen Augenblick, dann rief sie leidenschaftlich: »Marion, frag' nicht solche Dinge. Ja, wahrscheinlich – – natürlich, hier werde ich ihn wieder lieben. Aber ich will nicht mehr davon sprechen, sie sollen mich nicht quälen. Geh', sag ihnen, was du willst, aber heute will ich Ruhe haben. Tante kann kommen und neben meinem Bett sitzen, aber sie darf nichts fragen, darf nicht von unangenehmen Dingen sprechen, sie kann von ihrer Jugend erzählen, wenn sie will.«
Billy wandte ihr Gesicht der Wand zu und Marion schlich leise aus dem Zimmer.
Es dämmerte bereits, als Komtesse Betty zaghaft in das Zimmer ihres Bruders trat. Graf Hamilkar saß auf seinem Sofa ein wenig in sich zusammengesunken und schaute zum Fenster hinaus. »Nun Betty«, sagte er ohne sich umzuschauen. Die alte Dame blieb vor ihm stehen, sie stützte sich mit den Händen auf die Lehne eines Stuhles, das bleiche Gesicht ihres Bruders erschreckte sie, es schaute so unnahbar böse drein, als sähe er da draußen vor dem Fenster auf etwas hinab, was er verachtete.
»Nun?« sagte er wieder.
»Sie hat es Marion gesagt«, begann Komtesse Betty und sie erzählte leise, zögernd, die Stimme hatte etwas wunderlich Ratloses. »Das arme Kind,« schloß sie, »ganz allein in der Nacht, was sie gelitten hat, der schlechte Mensch! Was sagst du, Hamilkar?«
»Ich«, sagte er und wandte sich seiner Schwester zu. Die Worte kamen jetzt überdeutlich, scharf und näselnd heraus. »Ich sage, Betty, was erziehen wir da für Wesen? die können ja nicht leben. Denen kann man ja das Ding, das wir Leben nennen, gar nicht anvertrauen. Ein Stubenmädchen, das zum Stallknecht schleicht und sich verführen läßt, weiß was es will, aber was wir da erziehen, Betty, das sind kleine berauschte Gespenster, die vor Verlangen zittern draußen umzugehen und wenn sie hinauskommen nicht atmen können. Das ist's, was wir erziehen, Betty.«
»Ich verstehe dich nicht, Hamilkar,« sagte die alte Dame, die ganz bleich geworden war, »sie ist ein Kind, sie weiß nicht, sie wird vergessen, die anderen werden vergessen, es wird alles gut werden. Gott hat sie behütet.«
Eine leichte Röte stieg in das bleiche Gesicht des Grafen und eine starke Erregung machte ihn ein wenig atemlos: »Daß sie das nicht vergißt, dafür hat der interessante Herr gesorgt, dafür hat er gesorgt, daß diese lächerliche Tragödie an dem Mädchen hängen bleibt wie eine häßliche Krankheit. Er hat es für gut befunden sich dort in dem Judenkruge zu erschießen – da.«
Er hielt seiner Schwester ein Papier hin, das er die ganze Zeit in seiner Faust gehalten und zu einem kleinen runden Ball zusammengeknittert hatte. Komtesse Betty nahm diesen kleinen Ball, mechanisch mit zitternden Fingern faltete sie das Papier auseinander, strich es glatt, versuchte zu lesen. Es waren einige Zeilen von Ladislas Worsky, in denen er Boris' Tod meldete. Eingeschlossen war ein kleiner Zettel, auf den Boris geschrieben hatte: »An Billy. So gehe ich denn allein. Boris.«
Komtesse Betty ließ das Blatt auf ihre Knie sinken und schaute vor sich hin gedankenlos, fast ausdruckslos, nur als der Graf jetzt böse auflachte, fuhr sie in furchtbarem Schrecken auf. »Das ist ein Abgang, was?« sagte er und er sprach jetzt schnell und keuchend: »Das sind diese Leute, die ihr Leben damit verbringen, wie die Schauspieler vor dem Spiegel zu stehen und sich Gesten einzuüben für ein Publikum. Ich liebe – wie steht mir das. Ich bin unglücklich, ich sterbe – wie steht mir das, was werden die anderen dazu sagen. Tod und Leben – – – Toilettensache und ein hübsches Mädchen, das uns liebt, ist auch nur Toilettensache, wie eine Gardenie, die man sich ins Knopfloch steckt, und wir erziehen unsere Mädchen als Gardenien für solche nichtsnutzige Snobs. Und das heißt dann Liebe, mit diesem Worte werden sie gefüttert und betrunken gemacht. Schön herabgekommen diese Liebe und das Leben und das Sterben, wenn sie zu Affären für Kinderstuben und Snobs geworden ist.« Er brach ab, die Erregung benahm ihm den Atem. Er lehnte sich müde zurück und schloß die Augen. Komtesse Betty weinte still in ihr Taschentuch hinein. Nach einer Pause begann der Graf wieder in seiner ruhigen langsamen Weise: »Weine nicht, Betty, ich bin heftig geworden, entschuldige.« Komtesse Betty hob ihr tränenfeuchtes Gesicht zu ihm auf und sagte flehend: »Aber sie darf es heute nicht erfahren.« Graf Hamilkar zuckte die Achseln – »Heute oder morgen, zu ihr und zu uns gehört das jetzt einmal.« Komtesse Betty erhob sich, trocknete sich die Augen und meinte: »Hamilkar, wie bleich du bist, du solltest zu Bett gehen.« Der Graf lächelte wieder sein verhaltenes, gütiges Lächeln: »Ja, Betty, ich werde zu Bette gehen. In aller Not bleibt uns dieser Ausweg immer.«
Billy hatte wieder tief und fest geschlafen, es mußte um Mitternacht sein, als sie erwachte, sie fühlte sich ausgeruht, wach und hatte Hunger. Den Tag über hatte sie ja böse alle Speise zurückgewiesen, sie überlegte, essen mußte sie. Sie entschloß sich zu der Mamsell Fräulein Runtze hinabzugehen und sich etwas geben zu lassen. Leise, um Marion nicht zu wecken, kleidete sie sich an, stieg in den unteren Stock hinab, um an die Tür der Mamsell zu klopfen. Es dauerte lange, bis Fräulein Runtze verstand, wer da bei ihr klopfte, und als sie es verstand, war sie sehr erschrocken. »Ach Gott, Komtesse Billy! was gibt es denn? wieder ein Unglück? essen wollen Sie? Na ja, das kommt davon, wenn man den ganzen Tag nichts essen will.« Leise vor sich hinscheltend ging sie vor Billy her in die Speisekammer. Dort fand sich kaltes Huhn und ein wenig Madeira. Billy begann heißhungrig zu essen. Als sie das Glas nahm und mit gespitzten Lippen von dem Madeira nippte, blinzelte sie über den Rand des Glases zur Mamsell hinüber, die vor ihr stand, das große Gesicht erhitzt vom Schlaf, eng von der weißen Nachthaube eingerahmt, die Mundwinkel ernst und unzufrieden herabgezogen.
»Nun Runtze, was sagen Sie zu dem allem?« fragte Billy.
»Mir hat es sehr leid getan,« erwiderte die Mamsell kühl und förmlich.
– »Warum?«
Die Runtze wandte sich dem Holzgestelle zu, an dem die Würste hingen, und begann mit der Hand sanft eine Wurst zu streicheln. »Nun ja,« meinte sie »eine Komtesse muß wie eine Mandel sein, die ich gut in warmes Wasser eingeweicht habe und aus der Schale pelle, schön weiß.«
Billy hatte sich wieder über ihren Hühnerflügel gebeugt. »So, so,« sagte sie während des Essens, »aber Bonnechose sagt, cette pauvre Runtze hat auch ihren Roman und ihre unglückliche Liebe gehabt.«
Die Mundwinkel der Mamsell zogen sich noch tiefer und säuerlicher herab. »In unserem Stand passiert alles Mögliche, da liebt man eine Zeitlang und dann liebt man wieder nicht und hat seine Ruhe. Aber bei Herrschaften ist das anders. Wenn unten im alten Sofa in meinem Zimmer ein Loch im Überzuge ist, so ist mir das einerlei, ich stopfe das mal, wenn ich Zeit habe, aber oben die Herrschaftszimmer müssen blank sein, dafür sorge ich jeden Morgen.«
»Er war doch ein Müller?« fragte Billy geschäftsmäßig.
– »Ja, Müller.«
»Blond?«
– »Nein, rothaarig.« Billy, nun gesättigt, lehnte sich in ihren Stuhl zurück. »So, rothaarig, das kann ganz hübsch sein, und das Gesicht gepudert von Mehl und dazu das rote Haar. Aber jetzt bin ich fertig.« Sie stand auf. »Ich danke Ihnen, Runtze, Ihr Essen war sehr gut.«
»Das ist die Hauptsache,« meinte die Mamsell, »man liebt, und dann liebt man wieder nicht, aber essen muß der Mensch immer.«
Billy ging hinaus, aber zu ihrem Zimmer, das so voll beängstigender Träume war, mochte sie nicht hinaufsteigen. Sie ging den Korridor hinab bis zur Außentür, die in den Garten führte. Es war ja ohnehin die Stunde, in der sie umzugehen pflegte in letzter Zeit. Sie kam sich selber geisterhaft und unheimlich vor. Allein der Garten war köstlich, heimatlich. Ein Stück Mond und sehr helle Sterne standen am Himmel. Der Nebel war von der Wiese bis in den Garten gekommen. Er schlich über die Rasenplätze und die Beete. Die Blumen standen schwarz in den weißen Schleiern. Eine sehr starke Freude wärmte Billys Herz, als sie fand, daß diese vertraute Wirklichkeit hier auf sie gewartet hatte und daß sie wieder zu all diesem gehörte. Sie ging die Kieswege entlang, sie fuhr mit der Hand den Rosen und Georginen über die taufeuchten Köpfe, sie aß von den Johannisbeeren, sie stand unter den Berberitzen und atmete den feuchten Erdgeruch ein, der aus der alten Kiste dort aufstieg. Aber wie sie so ging, kam eine stärkere Erregung über sie. All diese Orte sprachen von Boris, sie sah ihn, sie fühlte ihn wieder und die Sehnsucht nach ihm machte sie wieder elend und krank. Langsam war sie wieder zum Hause zurückgekommen, stand vor der still verschlafenen Gartenfassade, sah wieder Boris auf der Gartenveranda stehen oder die Gartenwege hinabgehen und mit den verträumten Augen in die Abendsonne sehen, sie hörte ihn wieder mit der feierlichen, singenden Stimme über den Schmerz um das Vaterland sprechen. Wie würde sie ohne all das weiterleben können? Plötzlich fiel ihr auf, daß es durch das schlafende Haus wie eine lautlose Unruhe ging. Da war Licht in Lisas Fenster und hinter den Vorhängen bewegte sich Lisas Schatten hin und her. Billy erkannte deutlich die Gestalt im langen Nachtkleide und dem über den Rücken niederhängenden aufgelösten Haar. Warum schläft sie nicht, dachte sie, warum geht sie umher, es ist doch meine, nicht ihre Liebesgeschichte. Aber nebenan Tante Bettys Fenster war auch erleuchtet. Da war auch der Schatten von Tante Bettys großer Nachthaube und neben ihr noch eine große Nachthaube. Wie die beiden Nachthauben sich leise zueinander bewegten, wackelten und zitterten. Warum schliefen sie alle nicht? War es ihretwegen? Und dort auf der anderen Seite, auch hier Licht, auch hier hinter den Vorhängen ein ruhelos auf- und abgehender Schatten. Jetzt näherte sich der Schatten dem Fenster, der Vorhang wurde aufgezogen, das Fenster geöffnet, Billy sah, wie ihr Vater sich hinausbeugte, mit den Händen riß er das Hemd auf der Brust auseinander, in dem kargen Mondlicht schien sein Gesicht ganz weiß, nur der geöffnete Mund und die Augen legten schwarze Schatten hinein. So stand er da und trank gierig und angstvoll die Nachtluft ein. Billy wich hinter die Buchsbaumhecke zurück. Es fröstelte sie vor Angst. Mein Gott, was hatten sie alle! War es nicht, als sei sie gestorben und als schliche sie nun als Geist ums Haus, um zu sehen, wie sie da drinnen alle um sie trauerten. Vorsichtig sich im Schatten haltend, ging sie zu der Ahornallee hinüber. Es trieb sie, von dort aus zu dem Balkon und dem Fenster ihres Zimmers hinaufzuschauen. Auf der Bank, ihrem Fenster gegenüber, saß jemand und schlief, den Kopf auf die Brust gesenkt. Es war Moritz. Billy blieb vor ihm stehen. Der gute Junge, hier hatte er gesessen und zu ihrem Fenster aufgeschaut und dieser Gedanke gab ihr das Gefühl einer angenehmen, warmen Geborgenheit. Moritz wurde unruhig, schlug die Augen auf und sah sie an. »Ach, Billy, du«, sagte er, als hätte er sie erwartet. Billy lächelte ihn an. »Hast du hier gesessen, Moritz, um zu meinem Fenster aufzusehen?«
»Ja«, erwiderte Moritz verdrossen.
»Das ist gut«, sagte Billy. Sie setzte sich neben ihn auf die Bank und lehnte sich leicht gegen seinen Arm. »Liebst du mich noch?«
»Ja,« erwiderte Moritz im selben verdrossenen Tone, »aber das kann dir ja gleichgültig sein.«
»Ach nein,« meinte Billy klagend, »das ist sehr wichtig, ich komme mir vor wie gestorben, und wenn man sehr geliebt wird, dann – – dann wird man, glaube ich, wieder lebendig.«
Moritz schwieg einen Augenblick, und als er zu sprechen begann, da machte eine große Erregung seine Stimme stockend und ungelenk. »Ach, Billy, wenn ich dir helfen könnte.«
»Wie kannst du das, Moritz«, antwortete Billy und er hörte ihrer Stimme an, daß sie weinte.
»Ich – – ich – sehne mich so schrecklich nach Boris.« Der Arm, an den sich Billy lehnte, zitterte ein wenig, es war, als strafften sich die Muskeln an ihm.
»Der – – « zischte Moritz mit geschlossenen Zähnen, »du darfst an den nicht denken ... wie konnte er dir das antun ... er durfte nicht sterben ... und nicht so sterben, und wenn das Leben ihm auch noch so ekelhaft war ... das tut man nicht, wenn man liebt, das war gemein.«
Es wurde einen Augenblick ganz still. Moritz fühlte nur, wie der Mädchenkörper sich ein wenig schwerer an ihn lehnte. Endlich begann Billy, und es klang wie die leise Klage eines Kindes: »Ist er tot?«
»Wie, Billy, du wußtest nicht – –«
»Doch, ich wußte es, ich fühle jetzt, daß ich's gewußt habe, die ganze Zeit – und schon damals dort, als ich von ihm fortging.« Sie schwieg eine Weile, es wurde so still, daß sie den Nachttau in den Blättern rascheln hörten. Plötzlich richtete Billy sich auf, sie stand vor Moritz, weiß und aufrecht, sie strich sich das Haar aus der Stirn, Mondlicht lag auf ihrem Gesicht, das wunderlich bleich und ruhig schien, und in fast geschäftsmäßigem Tone sagte sie: »Kommst du mit, Moritz?«
»Wohin willst du, Billy?«
»Ich muß doch zu ihm, das siehst du ein; ich habe ihn doch schon einmal verlassen. Er darf doch dort nicht allein in der schrecklichen Stube sein. Die Jüdin sieht ihn an und die Kinder stehen in der Tür. Nein, ich will ihn nicht wieder verlassen, aber wieder allein durch den Wald – bitte, Moritz, komm mit.« Sie schwankte ein wenig, stützte sich auf Moritz' Schulter und sank dann still und schwer vor ihm nieder. –
Billy war lange krank gewesen. Jetzt an einem sonnigen Septembernachmittage durfte sie zum ersten Male in den Garten hinaus. Auf dem Rasenplatze unter dem Birnbaum saß Billy in Tücher gehüllt, das Gesicht schmal und durchsichtig blaß, in den Augen den träge genießenden Blick der Genesenden, der gern lange auf den Gegenständen ruht. Auf dem anderen Rasenplatz lag Lisa auf ihrem Liegestuhl, Madame Bonnechose saß neben ihr und strickte an einem roten Kinderstrumpf. Komtesse Betty und Marion liefen beständig an den Georginenreihen entlang zwischen dem Hause und den Rasenplätzen hin und her. Graf Hamilkar machte seinen Nachmittagsspaziergang. Er ging langsam den Gartenweg entlang, stützte sich schwer auf seinen Stock, zuweilen blieb er stehen, roch in den Duft des reifen Obstes, der Blumen und der welkenden Blätter hinein und machte ein ernstes, böses Gesicht, ja er ärgerte sich. Hier lagen nun diese beiden schönen Wesen, vom Leben geknickt, zerzaust, hinterlistig angefallen. Warum? Warum diese Barbarei? Warum diese Verschwendung? Er zog die greisen Augenbrauen unzufrieden empor und blinzelte zum Waldrande hinüber, der dort fern in violettem Dufte lag. War sie nicht vielleicht ein Mißverständnis, sein Mißverständnis, diese hübsche Kultur, die er sorgsam um sich und die Seinen eingehegt hatte? Konnte man hier leben lernen? Als er an Lisa vorüberging, hörte er sie in ihrer elegischen Weise sagen: »Ich glaube nicht, daß Billy einen großen Schmerz verstehen kann, daß sie ihn genießen kann, denn man muß auch seinen Schmerz genießen können.« »Genießen, ma chère, quelle idée,« meinte Madame Bonnechose, ohne von ihrem Strickstrumpf aufzusehen.
Der Graf ging weiter und blieb vor Billy stehen. »Nun, wie geht es?« fragte er ein wenig streng. Billy errötete. »Danke, Papa, gut. Ich wollte dir etwas sagen.«
»So, so.« Der Graf setzte sich auf einen Gartenstuhl seiner Tochter gegenüber und schaute sie aufmerksam an.
»Ich wollte dich fragen,« begann Billy und schaute hinauf in den Birnbaum hinein, »ich wollte dich fragen, ob du mir verziehen hast.«
»Ja, gewiß,« antwortete der Graf langsam, als gälte es, ein Problem zu lösen. »Wenn wir jemandem verzeihen, so wünschen wir ihm damit über etwas, das er erlebt oder getan hat, hinwegzuhelfen. Dieses ist nun hier natürlich mein lebhaftester Wunsch.«
Befriedigt lehnte Billy ihren Kopf zurück und bewegte ihn sachte auf dem Kissen hin und her wie Fieberkranke zu tun pflegen. »Wenn wir krank sind«, meinte sie, »geht die Zeit, glaube ich, schneller; es liegt so weit, das, was vor der Krankheit war. Mir scheint es, als hätte ich in dieser Zeit der Krankheit so viel getan, besonders bin ich viel gegangen, immer gehen, immer unterwegs und immer solch wunderbar fremde Wege. Ich erinnere mich von all dem nicht mehr viel, nur eins weiß ich noch, ich ging auf einer gelben Landstraße und vor mir her ging jemand und vor diesem wieder jemand und so fort, viele Gestalten und sie trugen alle meinen braunen Regenmantel und mein Musselinkleid mit dem rosa Nelkenmuster, es waren überhaupt lauter Billys und ich wußte, es kommt darauf an, daß ich die Billy, die vor mir herging, einhole. Das schien mir sehr wichtig.«
»Hm!« bemerkte der Graf, »ein interessanter Traum. Das sind unsere Spiegelbilder, die sich im Traume emanzipieren. Und jetzt,« er lächelte seine Tochter an, »jetzt meinst Du, Du hast diese andere Billy erreicht.«
Billy schaute noch immer zum Birnbaum hinauf und wiegte sachte den Kopf. »Jetzt bin ich ganz glücklich«, sagte sie sinnend, »aber vielleicht darf das nicht sein. Lisa sagt, wer einen großen Schmerz hat, soll davor stehen wie ein Soldat auf der Wacht.«
Graf Hamilkar schob ärgerlich seine Unterlippe vor und sagte scharf: »Vor seinen Torheiten zu stehen wie der Soldat auf der Wacht, ist jedenfalls nicht empfehlenswert.«
Billy schien ihn nicht zu hören. Sie sprach noch immer verträumt zu den kleinen goldgelben Birnen hinauf, die über ihr hingen: »Und untreu sein, untreu sein ist so furchtbar häßlich.«
Der Graf beugte sich vor, hob seinen ausgestreckten Zeigefinger in den Sonnenschein hinauf und sprach langsam und eindringlich: »Meine Tochter, dafür daß wir unseren traurigen oder törichten Erlebnissen nicht untreu werden, treu bleiben, ist gesorgt. Die laufen uns ohnehin nach. Wir werden vielleicht immer andere und das ist gut. Aber das Konto bleibt dasselbe. Um auf Deinen merkwürdigen Traum zurückzukommen, wenn die eine Billy glücklich die andere Billy erreicht hat, so kannst Du sicher sein, daß die alte Billy der neuen Billy alles mit auf den Weg gibt, woran sie selber zu tragen hatte. Das ist nun mal nicht anders.«
»Alles – für immer«, sagte Billy leise und sie sah ihren Vater mit einem Blick so hilfloser Angst an, daß er die Augen niederschlug, denn ein starkes Mitleid verursachte ihm einen fast körperlichen Schmerz.
»Nun, nun«, lenkte er ein, »wenn man so viele Billys wie du vor sich hat, so kann es nicht fehlen, daß auch noch manches Gute mit auf den Weg genommen wird.«
»Nicht wahr, es muß noch sehr viel Gutes kommen«, rief Billy. Überrascht schaute der Graf auf. Er sah, daß Billy die Arme erhoben und die gefalteten Hände auf ihren Scheitel gelegt hatte. Sie lächelte dabei ein wunderbar erwartungsvolles Lächeln. »So, so«, murmelte er, »na ja dann – –.«
Er erhob sich, strich flüchtig mit zwei Fingern über Billys Wangen und ging wieder langsam den Gartenweg hinauf. Was sollte er da noch trösten. Dieses Kind war ihm mit seinem Glauben an das Leben weit voraus, da hatte er nicht mehr mitzusprechen. Er setzte sich auf die Bank am Rande der Wiese, er wollte sich sonnen. Wie sie das Leben liebten, diese armen Kinder, wie sie ihm vertrauten. Ja das will es, geliebt werden um grausam zu sein. Vielleicht eine gute Methode, immer vorausgesetzt, daß das einen Zweck hat. Er strich sich sachte mit der Hand über die Stirn und die Augen, wenn nur das Mitleid nicht so ermüdend wäre, immer das Leben der anderen mitleben, obgleich – dreiviertel unseres Lebens liegt irgendwo im Leben der anderen. Können wir das nicht mitmachen, so bleibt uns nur ein Viertel, das ist für den Rausch zu wenig, das ist fast Nüchternheit. Schön, schön, Nüchternheit bringt gewöhnlich Verstehen, nur ist es hier mit dem Verstehen so eine Sache. Er kniff die Augenlider zusammen, als wolle er das grelle Gold des Nachmittagslichtes in seinen Augen sammeln und zerdrücken. Wie war es doch, er wollte sich auf einen homerischen Vers besinnen. Das Gedächtnis ließ ihn auch im Stich, wie heißt es dort wo Hektors Seele laut jammert, weil sie das liebe Leben lassen muß. Er kam nicht darauf. Armer Teufel übrigens, mitten aus dem Rausch heraus. Eine der großen Mücken kam jetzt mit leise schnurrendem Fluge an Graf Hamilkar vorübergeflogen. »Srrr« machte er mit den Lippen und lächelte ein wirklich heiteres Lächeln, während er zuschaute, wie dieses wunderliche Bündel von Florflügeln und Goldfäden durch den Sonnenschein taumelte. Verrückt vor Leben, dachte er, wenn das nur alles einen Sinn hat. Immerhin, es ist mehr Chance für Sinn als für Sinnlosigkeit, obgleich – bin ich eine Zahl in der großen Rechnung, so habe ich zwar einen Sinn, aber das Resultat unter dem schwarzen Strich braucht mir deshalb noch lange nichts zu bedeuten. Es käme darauf an, eine Zahl im Resultat unter dem Strich zu sein, übrigens erschöpfte das Denken ihn. Warum mußte immer gedacht werden, auch so ein Vorurteil. Nicht denken, atmen. Er lehnte sich zurück und öffnete ein wenig den Mund. Das Atmen könnte auch eine leichtere und einfachere Angelegenheit sein. Er fror, er mußte wohl wieder ein wenig gehen, er wollte sich erheben; aber die Beine trugen ihn nicht. Er streckte die langen Arme aus, als wollte er in den Sonnenschein hineingreifen und sein Gesicht nahm einen ärgerlichen angstvollen Ausdruck an, dann fiel er zurück, wurde ganz still, sank in sich zusammen, ein wenig schief über die Seitenlehne der Bank hin, in jener müden Bewegung, die der erste Augenblick des Todes dem Menschen gibt, bevor die kühle Strenge kommt. Die Sonne stand schon tief und badete die schweigende Gestalt in rotes Licht, ein leichter Wind bewegte ein graues Haarbüschel an der bleichen Schläfe, die große Mücke flog wieder schnurrend zurück an der jetzt regungslosen weißen Nase vorüber. Ringsum fielen die reifen Früchte schwer in den Rasen und ließen für einen Augenblick das Wetzen der Feldgrillen verstummen. Drüben aber unter dem Birnbaum saß Billy, schaute mit fieberblanken Augen in die Abendsonne und lächelte noch immer ihr erwartungsvolles verlangendes Lächeln.
3. August 1900.
Jetzt mußte ich das Buch schreiben, ich fühlte es deutlich. Die Gedanken begannen schwer in mir zu werden, zu drücken, wie reife Früchte auf die Zweige drücken. Mit 32 Jahren ist eine Entwicklung nicht abgeschlossen. Der Strich, den ich jetzt unter meine Weltanschauung setzen muß, muß noch nicht definitiv sein. Allein etwas ist fertig in mir und will hinausgestellt sein, will als ein anderes neben mir stehen. Ich muß es auf die Arme nehmen, wie die Mutter das Kind, das sie geboren hat.
Gut! ich wollte mein Buch schreiben und richtete mein Leben darnach ein. In solchen Zeiten müssen wir unser Leben so ordnen, wie es Frauen tun, die guter Hoffnung sind und wissen, daß sie nun nicht mehr nur für sich allein leben. Der Hochsommer ist eine günstige Jahreszeit. Die Straße vor meinen Fenstern ist still und voll grellgelben Sonnenscheins. Hunde liegen auf den heißen Steinen, strecken alle Viere von sich und schlafen. Kinder sitzen auf den Schwellen der Haustüre, die Hände um die nackten Beine geschlungen und sind in der Hitze auch still und schläfrig geworden. Die wenigen Passanten drücken sich die schmalen Schattenstreifen an den Dachvorsprüngen entlang. Dieser unerträglich flimmernden Welt mit ihrem heißen, unreinen Atem seh' ich es sofort an, daß ich in ihr nichts zu versäumen habe.
Ich ziehe die gelben Vorhänge vor mein Fenster, das gibt eine angenehme goldige Dämmerung. Hie und da sticht durch eine Spalte ein scharfer, blanker Sonnenstrahl in die Dämmerung und in diesem Sonnenstrahl kreisen einige Fliegen brummend und unermüdlich umeinander. –
Ich höre das gern. Diese endlose übellaunige kleine Geschichte, die sie sich erzählen, beruhigt mich. Im Klub hatte ich gesagt, daß ich verreise. Joseph hatte den Befehl, keinen Besuch vorzulassen. Die meisten waren ja ohnehin fort aus der Stadt, wer sollte kommen! Mit Frau Meirike hatte ich ein Gespräch über den Küchenzettel. In dieser Zeit mußte sie die schweren, feurigen Suppen vermeiden, die sie so gut zu machen versteht und die ich so gern esse. Mehr Bouillon, viel Geflügel, Spargel, zuweilen einen Fisch. Einen lebhaften Mosel habe ich mir für diese Zeit angeschafft. Der Schneider brachte den Anzug aus blauem Sommerflanell, ganz lose gemacht. Mit Blumen in den Zimmern war ich vorsichtig, in meinem Arbeitszimmer durften keine stehen. Aber im Nebenzimmer stand eine Schale voller Zentifolien, diese gesunden roten Kugeln, die einen frischen, starken Rosenduft haben, nicht die perverse Mischung mit Tee oder Vanille oder Zederholzdüften. Die beste Arbeitszeit ist der Vormittag. Nachmittags zur Zigarre mußte ich etwas lesen (statt der großen schweren Henry Clay rauchte ich jetzt eine kleine blonde Bock) und dazu hatte ich den Livius gewählt. Der würde mich nicht stören und erzählt mit so schön beruhigender Stimme. Und alles was geschieht, erscheint so ordentlich für seinen Zweck zugeschnitten, wie die Holzstückchen eines Geduldspieles, die ja doch alle ineinander passen, um das Bild, die Größe des römischen Reiches zu geben. Das verleiht ein angenehm geordnetes Gefühl, dabei kann man den Kopf nach hinten sinken lassen und die Augen schließen ... die Gedanken vergehen ..... Diese Decius mit der Familieneigentümlichkeit – sich zu opfern – wie die Gicht in anderen Familien – sehr – aristokratisch. – Das ist sehr erfrischend. Wenn ich erwache, dann kann ich wieder bis zum Abend arbeiten.
Wenn es unten auf der Straße lebhaft wird, die Kinder zu lärmen beginnen, ein Geschwirr ganz hoher schriller Stimmen wie von einer Schar betrunkener Vögel und wenn bunte Abendlichter aus dem Nebenzimmer in mein Schreibzimmer kommen, wenn der weiße Gipskopf der Marietta Strozzi errötet – dann mache ich meinen Spaziergang – der Gesundheit wegen. Die Luft in den Straßen ist eine bedrückende, staubige Zimmerluft. Die Vorstadt ist unerträglich mit ihren grau und rot gestreiften Überbetten, die sich in den geöffneten Fenstern lüften, mit ihren heißen, dampfenden Menschen. Draußen setze ich mich in einen der kleinen Biergärten. Das Buch spricht in mir weiter und über meinem Schoppen hinweg sehe ich die Menschen und die bunten Plakate an den Bäumen und die Radfahrer wie ferne fremde Bildchen, die mich nichts angehen. Wenn die Laternen angesteckt werden, bleich und glasig in der Dämmerung, gehe ich heim und die ganze Nacht liegt vor mir für die Arbeit. Ich kann das Fenster an meinem Schreibtisch öffnen. Unten auf der Straße wird es immer stiller – ein »gute Nacht« höre ich zuweilen und das Zuschlagen der Haustüre. Die Lichter in den Fenstern erlöschen. Dort über die niedrigen Dächer ragt ein hohes Haus. Dort im vierten Stock entkleidet sich ein Mädchen bei offenem Fenster. Das Viereck des Fensterrahmens ist voll des gelben Lampenlichtes und ich sehe eine weiße Gestalt, die vor einem Spiegel steht und ihr langes, sehr schwarzes Haar emporhebt, um es auf dem Scheitel aufzubinden. Dann erlöscht auch dieses Licht und ich bin mit meinem Buch allein.
Ich habe mir für das Manuskript ein sehr edles Papier angeschafft, leicht gelblich getönt glanzlos, die heraldische Lilie als Wasserzeichen. Auf dem Umschlag habe ich mit veilchenfarbiger Tinte den Titel geschrieben »die goldene Kette« darunter – den Vers der Ilias, über den Plato so geheimnisvoll spricht: »Auf, wohlan, ihr Götter, versucht, daß ihr all' es erkennet – Eine goldene Kette befestigend oben am Himmel – Hängt dann all' ihr Götter euch an und ihr Göttinnen alle, – Dennoch zöget ihr nie vom Himmel herab auf den Boden!« – So muß es gehen.
4. August.
Kleine, vernachlässigte Verpflichtungen können sehr störend werden. Wir wollen sie vernachlässigen, wir wollen sie vergessen, aber sie haken sich in uns fest, melden sich mit kleinen flüchtigen Stichen. Sie sind lästig wie die Sommerfliegen, die wir immer vertreiben und die sich immer wieder uns ins Gesicht setzen. Das ist nicht Pflichtgefühl, – nur eine Unvollkommenheit in unserem Vorstellungsmechanismus.
Solch eine lästige kleine Verpflichtung ist mir heute zugefallen.
Ich ging nach dem Essen aus, um mir eine goldene Feder zu kaufen. Die Straße war wie ein überheizter, staubiger Korridor. Kaum ein Mensch, dem ich begegne, nur Hunde, alte Schuhsohlen, Papierfetzen sonnten sich auf den heißen Pflastersteinen. Wie ich um die Ecke biege, fährt ein Wagen an mir vorüber, ein hübscher, kleiner Korbwagen mit zwei falben Ponys bespannt. Ein auffallender kirschroter Kutscher sitzt auf dem Bocke und im Wagen ein Herr, der seinen Panama schwenkt und »Ach – Herr von Brühlen« ruft. Der Wagen hält und ich muß herantreten. Es ist der Baron Daahlen-Liesewitz, der alte Weltreisende. Gerade dem hätte ich nicht begegnen wollen. Er war mit meinem Vater befreundet und ich bin ihm einen Besuch schuldig. Ich war ihm früher einmal begegnet und hatte ihm gesagt, daß ich verreise – und nun –: »Wieder hier«, sagte der Baron – Ja ich war wieder hier, das ließ sich nicht leugnen – »in Arbeit« – murmelte ich. »So? – fleißig also!« meint der Baron, »Schön, schön. Aber die Abende sind frei – was. Jetzt muß man die Abende genießen. Mir – ja mir macht die Hitze nichts. Wenn man so'n tropischen Fieberbazillus im Blut hat – der friert leicht und wird dann unruhig. Wir sehen Sie doch bei uns – bestimmt. Ganz ohne Formen. Es ist hübsch da draußen. Ich kündige Sie meiner Frau an. Wenn Sie mich im Stich lassen, gibt's eine Enttäuschung – also?« – Ein starker Hustenanfall unterbrach ihn. Erkältet hat er sich auch auf seinen Weltreisen. Er drückte mir die Hand und fuhr ab. Fatal!
Er schaut gut aus, der alte Bursche. Das Gesicht quittengelb. Solche Reisende sind immer leberleidend. Das dichte Haar und der Vollbart sind schon grau, aber ein seltsam farbiges Grau, wie das Fell junger Mäuse. Dazu die fieberblanken Augen. Er wohnt da draußen vor der Stadt in seinem schönen Landhause und läßt sich von seiner jungen Frau pflegen, der alte Egoist. Er mag sich den Magen tüchtig an den Genüssen der fünf Weltteile verdorben haben. Die Frau soll so etwas wie eine Schönheit sein, sagte Fred Spall, der ein Verwandter von ihr ist. Also ich gehe morgen hin, damit auch das abgetan ist –, aber meine Abende dort verbringen, o nein! Die kann ich besser anwenden als bei dem alten Daahlen mit seiner kranken Weltleber zu sitzen.
5. August.
Ich habe das Manuskript mit der goldenen Kette fortgelegt. Seine Stunde war doch noch nicht ganz gekommen, das weiß ich jetzt. Etwas will noch erlebt sein. – Es soll erlebt werden, ganz – rücksichtslos – bis zur Neige. – Also –
Der Gang durch die Vorstadt war wieder qualvoll. Wie reinlich ist der Winter, der die Menschen in ihre Häuser treibt. Und was nicht alles jetzt auf die Straße herauskriecht und herausschaut und sich breit macht. Der Mensch ist ein Höhlentier und soll in seiner Höhle bleiben – nur abends auf Raub ins Freie hinaus. In der langen Kastanienallee war es besser. Viel gelbe, von der Hitze getrocknete Blätter liegen schon auf dem Wege und rascheln und duften herbstlich. Auf den Bänken sitzen Kindermädchen, große erhitzte Gestalten, seltsam von graugrünen Schatten und grellen Sonnenlichtern gefleckt. Von der Allee muß ich dann wieder in den Sonnenschein abbiegen. Links und rechts Haferfelder voller Mäher. In all dem Rot und Gold stehen Mäher knietief in weißen Leinwandhosen. Die Feldgrillen lärmen wie toll, als wollten sie das Dengeln und Schwirren der Sensen übertönen.
Mitten in dem schweren Nachmittagslicht – sehe ich vor mir das Daahlensche Haus, ein großer, fast gewaltsam dunkler Würfel mit kaffeebrauner Fassade. Über dem Portal auf den schrägen Giebelseiten rekeln sich plumpe Steinfrauen, die ihre riesigen, kaffeebraunen Brüste sonnen. Hinter dem Hause erheben sich kühl und dunkel die alten starken Bäume.
Zögernd ging ich über den Kiesweg auf die Freitreppe zu. Ich blieb vor einem großen Beete stehen, auf dem alle möglichen Sommerblumen ungeordnet durcheinander dufteten, Skabiosen, Ziererbsen, Feuerlilien, ein großer Topf brennender Farben. All das duftete sehr warm und süß mit einem Gemisch scharfen Geruches von Apothekerkräutern.
Ich bin mein Lebtag viel in Gesellschaft gegangen – dennoch – wenn ich zu fremden Menschen gehe – ist immer noch ein Rest von Befangenheit in mir. Das kommt wohl daher, daß ich zu deutlich empfinde – was der Mensch, vor den ich hintrete, denkt – ich sehe mich mit seinen Augen. Endlich entschloß ich mich hineinzugehen. Der Diener, der mich empfing, hatte wohl dort geschlafen, auf der einen Wange stand ein roter Fleck. Sein weißes schwammiges Gesicht war korrekt ausdruckslos, dennoch dachte er – Was hat der durch die Hitze herzurennen? Den Baron fand ich in einem dämmrigen Wohnzimmer. Rote Vorhänge waren vor alle Fenster gezogen. Ganz in weißen Flanell gekleidet, saß er auf seinem Sessel. Auch er hatte eine rote Wange und mußte geschlafen haben. Er empfing mich mit einem Hustenanfall, dann freute er sich laut über mein Kommen: »Das ist recht ... – Setzen Sie sich, setzen Sie sich. Ein heißer Gang, was? Aber hier ist's kühl. Das verstehe ich, darin bin ich raffiniert. Über die Kühlung in den Zimmern hab' ich sozusagen wissenschaftlich nachgedacht.« Er sprach wie jemand, der lange geschwiegen hat und seiner Stimme Motion machen will. Ab und zu schaute er zur Türe hinüber und murmelte: »Wo meine Frau bleibt?« Als Schritte im Nebenzimmer hörbar wurden, rief er: »Claudia« – da kam seine Frau. Ein sehr schlankes, feines Figürchen – ganz farbig – gleich fiel mir die unendlich feine Linie der abfallenden Schultern auf. Der blaue Musselin des Kleides floß so eng am Körper nieder, daß die Knie im Gehen leicht gegen den Stoff stießen, am Gürtel trug sie einen etwas zu großen Strauß weinroter Skabiosen. Der Kopf erschien mir zuerst überraschend; ganz leichtes, hellrotes Haar umgab ihn, das Gesicht darunter weiß und ruhig – und darin große, braunrote Augen farbig und samtig, wie die Blätter mancher Chrysanthemen. »Hier hab' ich uns den Herrn von Brühlen eingefangen«, sagte ihr Mann. Sie kam aufrecht und langsam heran, reichte mir die Hand – sah mich an – wie wir ein neues Möbel ansehen und sagte einfach: »Es freut mich sehr.« Dann setzte sie sich auf das Sofa – saß da gerade – die Hände auf den Sitz gestützt. Der Baron plauderte weiter: »Wir sitzen hier in unserer Einsamkeit wie Spinnen und warten, ob sich jemand in unser Nest verirrt. Zuweilen fahre ich aus. Ein Jagdzug – da hab' ich Sie gefangen. Ja – ja« – Die Baronin sah mich an mit einem stetigen gleichgültigen Blick. Ich fühlte es, daß sie sich von dieser Jagdbeute nicht viel versprach. »Am Tage arbeiten wir« – fuhr der Baron fort – »an meinem großen Reisewerke.« »Sie auch, Baronin?« fragte ich. »Ja, ich auch«, sagte sie. In ihrem Blick lag jetzt etwas Erstauntes. Ich wußte, sie wunderte sich darüber, daß ich so dasaß und sie nicht einmal betrachtete. Gut – – ich will sie betrachten und da fiel es mir auf, wie wunderschön ihr Mund war – diese schmalen hellroten Linien, an den Winkeln etwas heraufgebogen und in ihrem Schwung ich weiß nicht welch seltsame Bewegungs- und Ausdrucksbereitschaft. Jetzt lächelte sie ein wenig, die Lippen noch immer fest geschlossen, sie las wohl auf meinem Gesicht etwas wie Überraschung. »Gewiß arbeitet sie mit«, fuhr der Baron fort – »was ich vormittags schreibe, muß sie mir nachmittags vorlesen«. »Sehr interessant« – wandte ich mich an sie. »O ja«, erwiderte sie mit einer Stimme, in der etwas Herbes anklang, wie oft in Stimmen eben erwachsener Mädchen. »Wenn's nur nicht so heiße Gegenden wären.« Der Baron lachte laut los: »Heiß! Natürlich, wir sind gerade im Herzen von Afrika. Aber meine Frau würde verlangen, ich soll im Sommer über Spitzbergen schreiben und im Winter, wenn es friert, über Afrika –«. Aber das Lachen brachte ihm den Hustenanfall. Claudia erhob sich, nahm ein Glas Wasser vom Nebentisch und ein Pulver, brachte es ihm, stand neben ihm, bis der Anfall vorüber war, ruhig und dienstgewohnt. Der Diener brachte den Tee und Claudia schenkte ein und weil ihr Gatte sich noch nicht erholt hatte, tat sie auch etwas für die Unterhaltung und bemerkte: »Ja, abends ist es sehr schön hier bei uns.« Da konnte der Baron wieder sprechen: »O, wer das kennt, der kommt wieder. – – Kommen Sie nur recht häufig – kommen Sie täglich. Abends sind uns Freunde immer willkommen – nach der Arbeit.« Er sprach weiter von sehr heißen Nächten auf Kapland, von den großen Ameisen, die die Stiefeln anfressen.
Claudia saß wieder still da – sie ließ das Gespräch an sich vorüberklingen wie ein langgewohntes Geräusch. Ich hörte auch nicht zu. Aber während wir da in der roten Dämmerung dieses Zimmers uns gegenübersaßen, fühlte ich deutlich, wie Claudia und ich ein jeder sich mit der Gegenwart des anderen auseinandersetzten. Das ist solch eine Unterhaltung ohne Worte – von Körper zu Körper, von Wesen zu Wesen, – geheimnisvoll – aber gewiß –. Was wir sagen, ist ja gleichgültig – auf dieses stumme Frage- und Antwortspiel des Menschen zum Menschen kommt es an –. Ich erhob mich, um mich zu verabschieden. »Also wir sehen Sie bald, kommen Sie nur. Fred Spall, unser Vetter – Sie kennen ihn doch – kommt auch, sobald er kann.« – – Ja, ich kannte Fred Spall. Als ich im Flur Hut und Stock nahm, sah ich, daß Claudia in der offenen Wohnzimmertür stand, die Schulter leicht an den Türpfosten gelehnt. Sie blickte durch die geöffnete Haustüre in das rötliche Flimmern des Abends hinaus. – »Wie hell das ist,« sagte sie und blinzelte mit den Wimpern – »wir leben hier so in der Dämmerung, daß man Augen wie ein Kauz kriegt.« – Ich blieb noch bei ihr stehen. Etwas Besonderes mußte ich jetzt sagen, fühlte ich. »Wenn man jetzt da hinausgeht,« begann ich, »das ist wie ein Bad in Rotgold.« –
– »Ein sehr warmes Bad«, sagte sie nachdenklich. –
»Wenn die Sonne untergeht,« fuhr ich fort, »kommt die kühle, blaugraue Dusche.«
Jetzt lächelte sie wirklich mit ein wenig geöffneten Lippen. Ich war zufrieden und ging. Als ich an dem großen bunten Beet vorüberkam, sah ich Claudia an der Haustüre stehen – schmal und blau – das Haar flimmerte in der Sonne, die Augen schützte sie mit der Hand und schaute den Weg hinab. Das alte schwere Portal legte sich seltsam wie einen dunkeln Rahmen der Einsamkeit um das farbige Figürchen. –
In der großen Allee war es schon lebhaft. Viel Kinder und Radfahrer – Arbeiter, die aus den Fabriken kamen, Ladenmädchen in hellen Kleidern, Pappschachteln in der Hand. Alle sprachen und strengten ihre Stimmen an, wollten Lärm machen, als seien sie betrunken von dem Flimmern des rötlichen Staubes, der die Luft erfüllte. Ich konnte das jetzt nicht brauchen. Ich bog in einen Seitenweg ein, suchte eine einsame Bank auf, um mich nichts als tüchtig verstaubte Jelängerjelieber-Sträuche. Ein Laubfrosch knarrte auf einem Zweige, dort saß ich lange und rauchte eine Zigarre nach der anderen.
Was wir noch denken nennen, ist sehr oft eine Beschäftigung, bei der wir selbst wenig dazu tun. Man sitzt da und kommt sich wie eine Laterna magica vor, in die eine fremde Hand die Glasbildchen hineinschiebt und langsam hin und her zieht. – Ein Zimmer mit roter Dämmerung – Claudia kommt herein, langsam und aufrecht – Claudia sitzt auf dem Sofa – Claudia sieht mich an – sie schenkt Tee ein – sie steht unter dem großen Portal – immer wieder diese Bilder. Es ist merkwürdig, wie lange wir dasselbe denken können.
Und dazu eine beständige begleitende Gefühlsmusik, die auch kommt und geht ohne unser Hinzutun – wie das Kreisen unseres Blutes. Ich kann jetzt den Laubfrosch verstehen, der Stunden hindurch dasselbe vor sich hinknarrt. Es war dunkel geworden. Drüben in der großen Allee wurde es still. In den Zweigen hingen die Lichtpünktchen der angesteckten Laternen.
Ich erhob mich – ich war hungrig geworden und ging durch die kleinen Seitenwege der Stadt zu. Überall begegnete ich Gestalten, die paarweise – eng beieinander, Hand in Hand schweigend die laue Dunkelheit tranken. Am Rande der Stadt liegt Bohrers Weinstube. An Sonntagen ist sie recht belebt, aber heute am Montage war es dort still. – Von der offenen Veranda aus sieht man auf die weite Ebene hinaus, Wege, Felder. Zwei Gäste waren nur auf der Veranda, ein alter Herr, der seinen Hut abgenommen hatte. Seine Glatze war gelb und blank im Gaslicht – und ein Mann mit einem faltigen grauen Gesicht. Beide saßen stumm vor ihrem Weinglase und starrten in die Dunkelheit hinaus, die über der Ebene lag. Die Kellnerin, ein verkümmertes kleines Wesen, mit geröteten übernächtigen Augenlidern, saß unter einer Gasflamme und las ein Buch. Als ich mich an den Tisch setzte, wischte sie mit der Serviette über die Augen – der Roman hatte sie gerührt – und kam zu mir, um mich leise zu fragen, was ich wünschte. »Ist es traurig, was Sie da lesen, Fräulein«, fragte ich.
»Sehr traurig«, sagte sie bekümmert. Der Wirt ging die Veranda hinab – ein schmaler junger Mann mit einer goldenen Brille. Vor jedem von uns Gästen machte er tief und traurig eine Verbeugung, als wüßten wir alle um ein trauriges Ereignis – dann blieb er stehen und schaute auf die dunkle Ebene hinaus. Ich dachte meine Gedanken weiter, nur daß sie hier plötzlich etwas Tragisches annahmen. Ein Ereignis hatte heute bei mir begonnen, das war sicher, aber jetzt wollte es mir scheinen, als sei es tragisch. Wie es auch kommt, es soll gründlich durchlebt werden. Ich wollte in meinem Leben immer zu viel den Regisseur spielen, wir leben unser Leben doch dann nur ganz, wenn wir es verstehen, unser eigenes Publikum zu sein. – Nur das. Ich bin ein Gedankenpedant. Was war es, was ich erlebte? Verliebtsein – was ist das? Definitionen sind immer falsch, aber sie beruhigen. Ich habe das Bedürfnis der Überschriften. –
Es ist seltsam ergreifend, auf weite, von Dunkelheit verschlungene Flächen hinauszuschauen. Wir alle – der alte Herr, der Mann mit dem faltigen Gesicht, der Wirt und sein alter, räudiger Hund, ich – wir sehen wie gebannt da hinaus. Der Hund stößt zuweilen ein heiseres asthmatisches Heulen aus. Hunde müssen ihre Gedanken aussprechen. Dort unten leuchteten nur einzelne Lichtchen ferner Wohnungen, winzige rote Pünktchen, die blinzelten, als wären sie in Not vor der großen Dunkelheit. Darüber ein dunstiger Himmel mit bleichen verwischten Sternen. Und plötzlich erwachte in dieser stillen Dunkelheit eine Stimme – dort fern auf einem der Wege ging ein Mann und sang laut und heiser – eine klagende Tonfolge, dann ein Vorschlag, dann wieder la-la-la. Sehr einsam klang diese Stimme so in der Dunkelheit, verloren, irrend – suchend. Und dann auf der anderen Seite der Wiese erklang eine zweite Stimme, eine schrille Frauenstimme, die dieselbe Notenfolge sang, la-la-la und der kleine Vorschlag. Die beiden Stimmen begegneten sich – verschmolzen dicht ineinander, wurden zuversichtlich in diesem Beieinandersein. Der alte Herr, der Mann mit dem faltigen Gesicht, der Wirt, alle hoben die Köpfe und lauschten, der Hund spitzte die Ohren, die Kellnerin sah von ihrem Buch auf. Es war, als hätten wir alle darauf gewartet, daß die beiden Stimmen sich begegnen. Plötzlich schwieg der Gesang. Es wurde wieder still in der Dunkelheit. »Zahlen«, sagte ich und stand auf.
Im Heimgehen fiel es mir ein: Natürlich, das ist es, nur das. Wir gehen allein in dunkler Einsamkeit, das ist unser Beruf. Und singen in die Dunkelheit hinein. Und plötzlich antwortet einer – singt mit – wir glauben, die Einsamkeit fällt von uns ab – nur das. Alle die Paare, die da in der Allee auf den Bänken saßen nah beieinander, indem sie sich ein Leben zu zweien phantasieren. Diese Formulierung beruhigte mich.
Zu Hause fand ich auf dem Schreibtische das Manuskript der goldenen Kette. Ich habe es fortgeschlossen. Für eine Zeitlang habe ich anderes zu tun. An meiner Lebensordnung braucht nichts geändert zu werden. Nun werde ich der Frau Meirike sagen, sie kann jetzt mehr Blumen in die Zimmer stellen, Sommerblumen, die stark duften. Edellupine, wohlriechende Erbsen und die braunroten Chrysanthemen mit den geschwollenen goldenen Herzen. – –
6. August.
Es überraschte mich heute morgen, als Joseph die Vorhänge von den Fenstern zurückzog und einen Strom gewaltsamen Sonnenlichtes in das Zimmer ließ, daß das gestrige Erlebnis fort war oder doch nur wie ein Traumbildchen vor mir stand, das vor der Morgensonne in eine verschleierte Ferne rückte.
Etwas war doch geblieben, eine mir ungewohnte Freude daran, den Tag zu beginnen, als stände etwas Angenehmes bevor. Und als ich dann meinen Tee trank, die Zeitungen und die Briefe las, wollte der gestrige Besuch bei Daahlens fast ein gewöhnliches Gesicht annehmen. Ein Teebesuch – eine hübsche Frau – was weiter. Ich konnte das Mystisch-Verhängnisvolle darin nicht mehr so recht finden, dessen ich gestern doch so sicher war. Ich mußte plötzlich an die Zeit denken, da ich als Gymnasiast in den Sommerferien meine Cousine Alma liebte und am Morgen erwachte, froh den verliebten Tag zu beginnen. Aber es war doch da –, nur daß am Morgen unser Denken wacher ist und dieses Denken ist dem Fühlen gegenüber so plump. Das Feinste unseres Denkens liebt die Dämmerung wie Claudias Augen.
Am Vormittage bin ich gewohnt zu arbeiten. Die goldene Kette muß zurückgestellt werden. Einer leichten, etwas mechanischen Arbeit bedurfte ich jetzt. Ich begann einen platonischen Dialog zu übersetzen: »Die Liebenden« – eine etwas pädagogische Liebe. –
Ein sicheres Zeichen, daß etwas in mir vorgeht, war eine gewisse Unruhe – die machte, daß ich nach einiger Zeit die Feder fortlegte und ausging. Ich hatte ohnehin noch etwas mit meinem Schneider zu besprechen. Ich ging also in die Mittagsglut hinaus in die Stadt, die um diese Zeit wie eine große gemeinsame Wohnstube (schlecht gelüftet) aussieht. Ein jeder tut, als sei er allein. Niemand wundert sich, wenn ich vor fremden Haustüren auf fremden Bänken sitze – vor den niedrigen Fenstern stehe und zuschaue, wie da drinnen der Mittagstisch gedeckt wird. Männer in Hemdsärmeln lehnen zu den Fenstern hinaus. Mädchen stehen an den Haustüren, gähnen und strecken die Arme – wie im Bett. Das unterhielt mich. Diese ganze Welt war für mich so beiläufig, ich war hier zu Besuch, um die Zeit zu vertreiben. Meine Wirklichkeit war die dämmerige Wohnstube da draußen, das bunte Figürchen unter dem alten Steinportal. Und ich begann mich wieder stark darauf zu freuen.
Der Gang hatte mich ermüdet. Nach dem Essen als ich den Livius zur Hand nahm, wurden mir die Augenlider schwer. Ich legte mich zurück. Die Fliegen brummten in einem Sonnenstrahl, die Lupinen und Erbsenblüten dufteten sehr süß. Es war köstlich sentimental ruhevoll. Nur eigentümlich, nicht an Claudia dachte ich, sondern an Alma – die Cousine, die ich als Gymnasiast geliebt hatte. Sie trug weiße Kleider, breite, bunte Schärpen, einen über den Rücken niederhängenden Zopf und Schnürstiefelchen. Wenn sie die Gartenwege entlang ging, folgte ich ihr gern, stach mit einem kleinen Spaten ihre Fußspuren aus dem Wege – legte den Sand in ein Körbchen und trug ihn zu einem stillen Platz im Park, dort häufte ich ihn zu einem Hügel auf, dem Almahügel – das Monument meiner Liebe.
Mit dem Umkleiden, um zu Daahlens zu gehen, begann ich ziemlich früh. Als ich vor dem Spiegel stand, fiel es mir auf, daß wir doch recht fremd unserer äußeren Erscheinung, unserem Gesicht gegenüberstehen. Ich lächele und will in dieses Lächeln eine ganz innige Bedeutung legen, ich fühle es – wie es vom Herzen warm in die Lippen steigt, und nun seh ich dieses Lächeln – fremd – mir unverständlich. Unser Äußeres führt doch die Aufträge, die unser Wesen ihm gibt, nur sehr obenhin aus. Mein Gesicht, regelmäßig etwas feierlich, ist darin glaube ich recht ungelenk, nur die Augen, graublau mit einem intensiven ernsten Blick – die führen manchen Auftrag besser aus.
Die Sonne war schon im Untergehen, als ich in die große Allee einbog. Der Duft der von der Hitze getrockneten Blätter auf dem Wege, des reifen Hafers, der in Garben auf dem Felde stand, – gab mir sofort alles wieder, was ich gestern erlebt hatte.
In der Villa waren heute die Vorhänge zurückgezogen. Die Fenster und die Glastüren zur Veranda standen offen. Von dem ein wenig tiefer liegenden Garten – aus dem Schatten der mächtigen alten Bäume wehte es kühl und ein wenig feucht in die Zimmer. Claudia kam mir an der Verandatüre entgegen. Sie trug ihr blaues Kleid und eine Korallenschnur um den Hals. Die braunroten Augen sahen mich wieder mit dem ruhig wartenden Blick an. »Oh«, sagte sie, »wie hübsch, daß Sie kommen. Mein Mann wird sich freuen. Er ist eben in sein Zimmer gegangen, um etwas an dem Manuskript zu ändern, das wir heute gelesen haben.« Wir lehnten am eisernen Geländer der Veranda und schauten in den Garten hinaus. »Ja«, sagte ich, »ich habe mich den ganzen Tag darauf gefreut.«
Ich wunderte mich, daß das so einfach herauskam, denn ich hatte mir viel kompliziertere Dinge zurechtgelegt.
»Heute wird es hübsch hier«, bemerkte Claudia, »ein wenig Mond ist schon da.« Die Sonne war untergegangen, die Luft wurde blau. Über den zackigen Wipfeln der großen Ahornbäume hing eine schmale, weiße Mondsichel. Wir schwiegen. So an dem Gitter zu stehen, nebeneinander und in das Herabdämmern hinein zu blicken – ihre Gegenwart zu fühlen war wunderbar ruhevoll. Aber endlich mußte doch etwas gesagt werden.
»Wie heimlich dunkel diese Wege sind,« begann ich, »dort unten höre ich auch Frösche.«
Claudia nickte: »Ein kleiner Weiher ist unten. Die Frösche, ja die höre ich kaum mehr, ich bin sie so gewohnt. Die Wege – ja sie sind sehr heimlich, später im Jahr etwas unheimlich, wenn so die Blätter rascheln. Mein Mann darf abends nicht heraus dann. Ich gehe gern in der Dunkelheit da umher.« – »Allein?« fragte ich. – »Ja«, sagte sie, »oder nein, Julchen geht hinter mir her.«
»Julchen?«
»Ja – Sie kennen sie nicht – natürlich. Unsere Mamsell. Sie ist schon lange hier.«
»Julchen«, meinte ich, »klingt so gemütlich. Ich glaube nicht, daß es unheimlich sein kann, wenn Julchen hinterher geht.«
Sie lächelte ein wenig.
»Gott! ich bin an Julchen so gewöhnt, daß ich sie vergesse. Es ist wie mit den Fröschen.«
»Ich möchte dieses Julchen doch sehen«, meinte ich.
»Ich will sie Ihnen mal zeigen«, sagte Claudia.
Wir schweigen wieder.
Unten am Weiher begann ein melancholischer Wasservogel immer den gleichen hellen Ton vor sich hinzusingen und aus den feuchten dunklen Gängen des Parkes wehte uns ich weiß nicht welche Traurigkeit an. Ich hatte plötzlich starkes Mitleid mit der kleinen Frau, die einsam hier durch die raschelnden abendlichen Herbstwege ging – aber Mitleid, das fast körperlich wohltat. Das war mir neu und interessant an mir. Aber das ist wohl immer so, wenn uns ein anderes Leben ganz nahe kommt.
»Und dann?« fragte ich. Claudia warf den Kopf ein wenig zurück, um mich anzusehen. – »Wie?« –
»Ich meine, was Sie dann tun nach diesem Gange?«
Ich fragte sie aus, wie wir ein kleines Mädchen nach seinem Tage ausfragen. Es war mir, als hätte ich ein Eigentumsrecht auf dieses Leben.
»Dann«, sagte sie und zuckte leicht mit den Schultern, »dann lese ich meinem Manne vor.«
»Wieder das Manuskript?«
»Nein, andere Reisebeschreibungen. Er liebt es, den Fehlern der anderen auf die Spur zu kommen. Er sagt, die anderen lügen.«
»Das mag wohl sein.«
»Ja, das werden sie wohl«, meinte Claudia, unendliche Gleichgültigkeit im Ton. Hinter uns erscholl Daahlens knarrende Stimme. – »Bitte, mein Lieber, versuch' doch nur zehn Kilometer auf diesen Steinen zu gehen, ja, ja.« Er sprach mit dem Baron Spall – Fred Spall. Sehr lärmend begrüßte er mich: »Ach, das ist schön. Also Sie haben wir auch eingefangen. Das wird gemütlich. Schön hier, was? Das ist 'n Garten. Mystisch heiliger Hain.« Lebhaft sprach er auf mich ein.
Ich hörte nicht zu, ich mußte hinübersehen, zu Spall hinübersehen, der sich neben Claudia an das Gitter lehnte, sich vertraulich zu ihr beugte – er war ja ein Vetter – und etwas erzählte und lachte. Claudia blickte gerade vor sich hin und ihr schöner Mund zuckte so seltsam wie in einer Qual. Natürlich, ich verstand. Spall war verliebt in sie und sie mochte ihn nicht, den schönen Spall mit dem schmalen Mädchengesicht, den sentimentalen Augen und den blanken, blonden Locken. In dem hübschen Mädchengesicht nahm sich das Monokel im linken Auge und das böse Lächeln der knabenhaft roten Lippen fast gespensterhaft aus.
»Und das Essen, Claudia, Kind,« rief Daahlen, »wie weit ist's denn?« – »Gleich,« sagte Claudia, »Julchen holt den Wein.« Daahlen lachte sehr laut. – »Sehr gut, unsere Vorsehung heißt Julchen. Wir wandeln im heiligen Haine und Julchen sorgt für den Leib.«
Das Abendessen war sehr gepflegt und Daahlen lachte und erklärte und sprach von den Speisen aller fünf Weltteile. Er ließ kaum einen anderen zu Wort kommen. Nur Spall unterbrach ihn zuweilen, um eine Stadtnachricht mitzuteilen. Daahlen fragte dann weiter und sie begannen wild zu klatschen. Ich schwieg soviel wie möglich, es war mir angenehm, mit Claudia zusammen zu schweigen, es war, als verstünde sich unser Schweigen. Claudia, nah' auf ihren Teller niedergebeugt, aß aufmerksam die kleinen, guten Sachen, Eier à la Meyerbeer, Hühnersteaks mit Krebssauce.
»Sie essen gern?« fragte ich sie halblaut.
»Ja,« sagte sie ernst, »wenn es etwas Unterhaltendes ist.«
Spall hatte das gehört und lachte: »Das ist echt Claudia, verlangt von dem armen Hühnerkotelett, es soll sich essen lassen und dabei unterhaltend sein.« Er hatte dabei eine Art, sie mit den sentimentalen Augen anzusehen, als gehörte sie ihm. Claudia errötete leicht und schob mißmutig die Unterlippe vor, wie ein böses kleines Mädchen: »Na, ja, dabei ist doch nichts.«
»Echt weiblich«, dozierte Daahlen. »Die Frauen sagen wie Römer zu den Gladiatoren: stirb, aber gefall' mir. Mir fallen da die – Neger ein.«
Ich hörte nicht recht, wie es bei den Negern war, ich dachte an Spall. Der konnte mich nicht beunruhigen.
Nein, mein Lieber, so kommst du ihr nicht nah' mit diesen Augen, die keine Distanz halten!
Die Fenster zum Garten hin standen offen. Die tiefe Dunkelheit der großen Bäume schaute herein, über den schwarzen Wipfeln hatte die Mondsichel jetzt ein starkes weißes Leuchten.
»Hören Sie die Frösche – unsere Tafelmusik«, sagte Daahlen.
Nach dem Essen gingen wir wieder auf die Veranda hinaus, saßen in bequemen Korbstühlen. Der Diener brachte kalte Ente in silbernen Bechern. Die große Ruhe der Nacht machte auch Daahlen eine Weile schweigsam. Dann wandte er sich an mich und sprach von einer Mondnacht am Kongo. Claudia und Spall saßen etwas abseits. Spall sprach leise. Einmal antwortete Claudia, schnell, hart, wie mir schien. Du arbeitest für mich, mein Lieber, dachte ich. Ich wunderte mich, wie glücklich und sicher ich mich fühlte. Spall erhob sich. – »Komm,« sagte er, »wir wollen ein wenig zu den Fröschen gehen.« – Claudia erhob sich auch, machte einige Schritte, dann wandte sie sich hastig – ja, ich täusche mich nicht, hilfesuchend zu mir. »Ach, Herr von Brühlen, ich wollte Ihnen ja den Weiher zeigen.« Ich stand ein wenig zögernd auf. Konnte ich Daahlen allein lassen? In dem Lichte, das durch die Türe auf die Veranda fiel, sah ich deutlich, wie Spalls hübsches Gesicht sich verzog. Er kehrte kurz um und setzte sich in seinen Stuhl zurück. »Ach so – dann will ich Daahlen nicht allein lassen«, meinte er. »Machen wir ein Ecarté?« Claudia und ich gingen in den Garten hinunter. Es machte mich zuerst ein wenig befangen, so allein mit ihr in die Nacht hineinzugehen. Unter den Bäumen war es kühl wie unter einem Kirchengewölbe und sehr dunkel. Ich hörte nur den leisen Ton ihrer Schritte und der leichten Musselinschleppe auf dem Kies. Dann sprachen wir von dem Garten und von der Hitze und von Lavendel, glaube ich, der von der Terrasse her zu uns herüber duftete. Höflich und ruhig waren unsere Stimmen, aber ich es empfand es deutlich, wie die Dunkelheit uns eng verband. Wir waren einander viel näher, als unsere Stimmen einander waren; ich spürte deutlich, als hätte ich sie gefaßt, ihre Hand in der meinen, schmal und kühl wie nächtliche Blumenblätter; ich fühlte, wie ich den Arm um ihre Taille legte, der Skabiosenstrauß an ihrem Gürtel mußte jetzt ein wenig feucht vom Tau sein. Gott, die wirklich äußere Berührung ist doch immer das letzte Symbol, die letzte Hilflosigkeit dieser heimlichen Zwiesprache unserer Körper. Ich weiß nicht, wie das Gespräch darauf kam, aber Claudia sagte: »Sie heißen Magnus?«
»Ja, Magnus!« erwiderte ich. »Ich bedaure das. Man heißt eigentlich nicht Magnus.«
»Ein Familienname?«
»Ja, mit dem Namen geht es, wie mit dem Leberflecken, den ein Ahne hat, und dann taucht er immer wieder auf.«
»Ich liebe meinen Namen auch nicht«, meinte Claudia sinnend. »Claudia klingt so, wie – wie etwas, das nicht lebt.« »Claudia«, wiederholte ich und versuchte etwas Musikalisches in den Ton zu legen, das mißlang jedoch. »Früher stellte ich mir dabei eine große römische Gestalt vor, schwere, gerade Gewandfalten.«
»Und jetzt?«
»Jetzt – ich las den Namen gestern im Livius und da, da spürte ich den Duft von dem großen Beet dort vor Ihrer Treppe.« »Ach das,« sagte Claudia, »das riecht nach Einsamkeit.«
»Nach Einsamkeit?«
»Ja, finden Sie das nicht? Wenn die Nachmittagssonne grell darauf scheint und die Blumen so warm durcheinander duften, das ist so einsam – so einsam.«
Wir blieben am Weiher stehen, eine grüne Pflanzendecke lag auf dem Wasser. Der Mond legte ein wenig weißes Licht auf die schwarze Fläche.
»Was steht da drin?« fragte ich – denn mitten im Teich stand eine große dunkle Gestalt und schien ihre Arme in die Finsternis hinauszustrecken.
»Das dort«, sagte Claudia, »ist eine Danaide aus Stein, aber ihre Hände und das Sieb sind fortgebrochen.«
»Na, dann hat sie also Ruhe«, bemerkte ich. Claudia lächelte ein wenig. »Ja – ja – nun hat sie Ruhe.«
Langsam gingen wir am Ufer entlang, hörten den Fröschen zu, die unter der Pflanzendecke eifrig plauderten, erzählten, der eine dem anderen das Wort vom Maul nahm. Ich war in ganz unwahrscheinlicher Stimmung, sehr weit von allem, was mir sonst wirklich schien, allein mit Claudia in dieser dämmerigen Welt, über der es wie Schmerz lag, aber wie Schmerz, den ich mit Claudia gemeinsam zu tragen hatte, als gingen wir engverbunden einen gemeinsamen Leidensweg. Das ist, glaube ich, sehr charakteristisch für meinen Zustand. Claudia bog in einen dunklen Laubengang ein, der ein wenig steil hinauf dem Hause zuführte. Die Dunkelheit brachte sie mir wieder ganz nah – mir war es wieder, als nähme ich ihre kleine Gestalt, ja als küßte ich ihren wundervollen kühlen Mund.
»Sie lieben nicht die Einsamkeit, Baronin?« fragte meine Stimme höflich.
»Ach Gott!« erwiderte Claudia, »ich bin sie so gewohnt – so – so – wie –«
»Julchen«, schlug ich vor.
Sie lächelte. »Ja – wie Julchen.«
»Sind Sie soviel allein gewesen?« fragte ich, was vielleicht zu dreist war.
»Das ist es nicht«, meinte sie. Einsam – ist man, glaube ich, wenn man wartet – sitzt und wartet. Warten macht einsam.«
»Sehr richtig«, schaltete ich ein – was stillos war.
»So bei uns zu Hause«, fuhr Claudia fort. »Wir waren fünf Schwestern, immer nur ein Jahr zwischen uns – wir waren immer zusammen. Wir kamen wenig hinaus – wir gingen auch ungern ins Dorf. Unsere Kleider saßen so schlecht. Ich glaube, mein Konfirmationskleid war das erste, das nicht zwei Schwestern vor mir getragen hatten, ich war so klein. Es war kein Geld da und wir mußten sehr sparen.« Sie lachte mit dem harten Unterton des Lachens halberwachsener Mädchen.
»O!« sagte ich nur, was ich jetzt bedaure.
»Ein Schusterjunge sagte, wenn wir vorübergingen – ach, die fünf Modejournale. – Beliebt waren wir nicht. Auch zu Hause, wenn was passierte, waren immer die fünf Komteßchen schuld.«
Ich hätte etwas sagen sollen, ich sagte jedoch nichts – ich liebte Claudia nur sehr stark in diesem Augenblicke.
»So trieben wir uns in dem großen Garten umher «, erzählte Claudia weiter und ich glaubte ihrer Stimme anzuhören, daß sie lächelte. »Viel wurde für diesen Garten nicht getan. Nur Kohl war da gepflanzt und die Obstbäume waren vermoost. Aber viel Stachelbeeren waren da. Auch die waren zurückgegangen, sie waren klein und haarig geworden. Bei denen lagen wir gern. Wenn die Sonne auf Stachelbeerbüsche scheint, das riecht nach warmer Wolle, nicht wahr?«
»Ja – ich – ich erinnere mich recht –«
»Ja und das ist einsam, wir lagen da, aßen die kleinen haarigen Beeren – und warteten, daß etwas kommen sollte.« Gott! Wie deutlich ich sie sah, die Mädchen mit den hellroten Haaren und schlechtsitzenden Kleidern und den schönen, wartenden Gesichtern bei den besonnten Stachelbeerbüschen – –
»Und es kommt immer«, sagte ich.
»Ja – natürlich«, erwiderte Claudia.
»Und dann«, fuhr ich fort – ich unterstrich die Worte –, »dann müssen wir gehorchen.« Vielleicht etwas lebhaft kam das heraus.
Claudia blieb stehen. Ihre Stimme wurde jetzt leise vor Erregung: »Nicht wahr, wir müssen – ganz gleich, wir müssen.« Das war, glaube ich, etwas Entscheidendes, was ich da gesagt hatte.
Wir traten aus dem Dunkel der Bäume auf die Terrasse vor dem Hause hinaus. Auf der Veranda, wie ein gelbes Lichtbildchen in all dem Schwarz, sahen wir die beiden Herren beim Schein zweier Kerzen mit Weingläsern bei den Karten sitzen, die Profile hell beschienen. Um Spalls Kopf legten die blonden Locken ein schwaches goldenes Glänzen. Claudia lachte lustig auf. »Das ist hübsch«, meinte sie. Ich wunderte mich, daß sie nach der Erregung, die wir beide eben gefühlt hatten, so lachen konnte. Als wir auf die Veranda kamen, bemerkte Spall spöttisch: »Nun – in Lyrik gemacht?« Dabei sah er Claudia wieder mit dem seltsam gierigen Besitzerblick an. Claudia wandte sich ab und trat in den Schatten an das Geländer zurück. »Du treibst sie gewaltsam zu mir her, mein Lieber«, dachte ich.
»Famos da unten,« begann Daahlen, »Stimmung, nur zuviel Stimmung. Meine Frau liebt das. Ich nenne das Depression kneipen.«
Bald darauf gingen Spall und ich fort. Unterwegs bemerkte Spall:
»Eine merkwürdige Frau – meine Cousine« – »Eine scharmante Dame«, erwiderte ich. Das war das Kälteste, was ich fand, das errichtete gleichsam eine Barriere um Claudia.
So – und jetzt will ich schlafen – nicht denken. Diese Gefühle dürfen wir nicht jeden Abend sorgsam wie unsere Kleider zusammenfalten und fortlegen. Mir ist's, als säße ich in einem Traum und müßte mit ihm sehr behutsam umgehen, um nicht zu erwachen.
8. August.
Das kann ich wohl jetzt schon mit Bestimmtheit sagen, die Liebe ist eine Beschäftigung – eine Beschäftigung, welche die Tage ausfüllt.
Bisher in meinem Leben habe ich, glaube ich, wenig für andere getan. Es hat sich so gemacht, daß ich alles nur für mich tat. Jetzt ist es mir, als täte ich alles, auch das Geringfügigste, für einen anderen – für sie. Bisher ließ ich die Menschen nicht nahe an mich herankommen – ich mußte allein sein können. Jetzt ist es mir, als sei ich nie allein – ich spüre immer die Gegenwart eines andern – ihre Gegenwart. Und was tue ich denn all diese Tage voll grellen Sonnenscheins hier hinter meinen gelben Vorhängen im starken, süßen Duft der Erbsenblüten und Edellupinen. Ich übersetze Plato, sehe Korrekturen nach, ordne meine Bibliothek, aber eigentlich tue ich immer etwas anderes – und immer dasselbe. Fühlen ist die Hauptbeschäftigung. Ich verstehe die Feldgrille jetzt, die den langen Sommertag hindurch bis in die Nacht hinein eifrig, leidenschaftlich denselben Ton vor sich hingeigt, als wäre dieser Ton das einzig Wichtige in der Welt. Dieses sind Beobachtungen, die ich gesichert halte. Zu Daahlens wollte ich diesen Abend nicht gehen. Das schien mir richtig zu sein. Claudia sollte wieder einmal allein durch den Park gehen, allein im Mondenschein am Weiher stehen. In solchen Augenblicken des einsamen Fühlens wachsen unsere Empfindungen klarer und stärker, als in den beruhigenden und berauschenden Augenblicken des Zusammenseins. Ich ging aber am Abend zur Allee hinaus, setzte mich auf eine Bank und sah zu, wie die Abendsonne in den Fenstern der Daahlenschen Villa brannte. Dort wollte ich sitzen, bis die Dunkelheit kam. Es würde mir gut tun, meinte ich, umgeben zu sein von der flüsternden Gemeinde der Liebespaare. Zu mir auf die Bank setzte sich ein kleines Ladenfräulein, ein rundliches, blondes Mädchen. Sie legte die Pappschachtel, die sie trug, neben sich auf die Bank. Müde streckte sie die Füße von sich, klappte die Spitzen der gelben Schuhe aneinander. Den kleinen Knabenstrohhut schob sie ein wenig zurück, einige feuchte blonde Löckchen kräuselten sich auf der Stirn. Das Gesicht war rund und rosa, hübsch weich waren die nemophilenblauen Augen zwischen die ein wenig fetten Augenlider gebettet. So ein ruhevoller Friede lag über der Gestalt. Es war ordentlich beruhigend, daß dieses Mädchen neben mir saß. Sie schaute zu mir herüber und dann wieder fort – wie sie das alle tun. Diese Mädchen brauchen alle ruhig und sicher dieselbe Methode – wie beim Bügeln oder Handschuhanziehen. Wenn sie sich bewährt hat, wozu eine neue suchen? So begann ich mit ihr zu sprechen: – Es war heiß. – Ja, es war heiß. – Sie wollte wohl hier warten, bis es kühl wurde. – Freilich, das wollte sie. – Wartete sie sonst noch auf jemanden? – Nein, auf wen denn? – Nun, man ist doch zu zweien an Sommerabenden. – Das wohl – aber sie hatte keinen. – War er fort? – Ja – fort. Ein tiefer Seufzer straffte die rot- und weißgestreifte Bluse. »Sie heißen Toni?« sagte ich.
»Wie wissen Sie?«
»Sie sehen so aus.«
»Ja, Toni Ledrer, ich bin bei Großmann im Handschuhladen in der Herrnstraße.« – »O ich weiß, das ist der große Laden, in dem es immer so dämmerig und feierlich ist. Eine strenge, ältere Dame mit einer goldenen Brille sitzt an der Kasse und die jungen Mädchen streichen ganz still und ernst den Kunden die Handschuhe über die Hände.« – »Die Alte ist böse«, beichtete Toni, »und sprechen darf man gar nicht und wenig sitzen.«
»Dann kommen Sie abends hierher, um zu sitzen und zu sprechen?«
»Ja, wenn wer da ist zum Sprechen,« meinte Toni träumerisch. »Ich wohne so hoch, da sind die Nächte so heiß. Man hat keine Lust zu Bett zu gehen.«
»Sie haben wohl so eine kleine Lampe mit gelbem Licht und stehen ganz weiß vor dem Spiegel und heben die Arme hoch, um sich das Haar aufzubinden« – –
Toni sah mich erstaunt an: »Nun ja, – wie soll man das anders machen?« Die Dämmerung war gekommen. Durch die Blätter der Kastanien blitzte der Mond.
»Gehen wir ein wenig«, schlug ich vor.
Toni stand gehorsam auf, strich ihr Kleid glatt und nahm die Pappschachtel. Langsam gingen wir die Allee hinab und bogen in die kleinen, finsteren Nebenwege ein.
»Nehmen Sie nicht meinen Arm?« fragte ich.
»Ich bin so frei«, erwiderte Toni. Sie nahm meinen Arm, wie alle diese Mädchen unsere Arme nehmen. Sie hängen sich ein wenig schwer ein, drücken unsern Arm leicht gegen ihre Brust. Zu sagen hatten wir uns nichts. Es war auch genug, so aneinandergelehnt zu spüren, wie unser Blut den gleichen Takt hielt – es tanzte zusammen. Und Tonis hatte einen friedlich-energischen Takt. Wenn an einer Biegung des Weges plötzlich die Mondhälfte in einem hellen, leeren Himmel sichtbar wurde, dann blinzelte Toni hinauf und sagte: »Wie schön. Ach, überhaupt der Mond.«
»Gehen wir zu Bohrer essen«, schlug ich vor.
»Das ist ja nicht nötig«, meinte Toni, »heute am Werktag.«
Wir gingen doch hin. Auf der stillen Veranda erregte unser Erscheinen Aufsehen. Der alte Herr, der Herr mit dem faltigen Gesicht, die kleine, bleiche Kellnerin, alle hoben die Köpfe und sahen uns ernst und vorwurfsvoll an. Der alte Hund, der am Eingang saß und zum Mond emporschaute, knurrte leise.
»Was wünschen Sie?« flüsterte die Kellnerin.
Wir setzten uns in eine Ecke. Die Ebene vor uns war voll eines weißen, nebeligen Lichtes und einsamer denn je. Toni streckte wieder unter dem Tische die Füße von sich und legte die Hände flach auf den Tisch, dann aß sie langsam, sorgfältig, kaute die Bissen, indem sie zum Monde aufsah. Wir tranken einen kleinen, säuerlichen Schaumwein. Toni seufzte zuweilen so tief, daß die weiß- und rotgestreifte Bluse krachte.
»Warum seufzen Sie?« fragte ich.
»Weil es hier so gut – so gut ist«, meinte sie. »Man hat seine Ruh« – und sie gähnte diskret. Ja, mir wurde auch so wohlig und schläfrig zu Sinn. Es war mir, als hätte ich den ganzen Tag über gearbeitet und dürfte nun die Glieder von mir strecken und ruhen. Ich wollte mich ein wenig unterhalten. »Ist es schwer, den Leuten die Handschuhe anzuziehen?« fragte ich.
»Ach«, sagte Toni, »ich bin daran gewöhnt. Ja, manche halten die Hand schlecht. Aber wollen wir nicht von Handschuhen sprechen.«
Nein – wir wollten nicht von Handschuhen und den Mühsalen des Lebens sprechen. Wozu auch sprechen!
»Es ist spät«, sagte Toni endlich, und wir gingen. In den schmalen Wegen zwischen den Jelängerjelieberbüschen blieb sie stehen, ganz nah vor mir.
»Ich gehe hier hinab«, sagte sie. – Ich küßte sie. Ihre Lippen waren weich und warm, wie die Lippen eines schläfrigen Kindes. »Sonntag bin ich um zwei Uhr schon frei«, bemerkte sie im Fortgehen.
Auf dem Heimwege hielt das angenehme, beruhigte Gefühl an. Aber als ich in mein Zimmer trat, war wieder Claudias erregende Gegenwart da. Ich legte mich gleich zu Bett – ich war müde und habe gut und fest geschlafen.
Aber im Einschlafen dachte ich wieder an Toni, es war mir, als würde ich von dem ruhigen, kräftigen Takt ihres Blutes in Schlaf gewiegt. Für das, was mir mit diesem Mädchen begegnet, muß sich doch auch eine Formel finden lassen.– –
10. August.
Heute war ein schlechter Tag. Gleich beim Erwachen spürte ich das. Frühmorgens war ein Gewitter niedergegangen, das wirkte wohl noch auf meine Nerven. Die Luft war kaum abgekühlt, die Sonne stach wieder.
Eine unangenehme Nüchternheit war in mir, die allem widersprach, was ich gefühlt hatte, die höhnte und mit allem in mir zankte. Claudia war fern und fremd. An allem war überhaupt nichts. Dazu kam noch, daß Joseph beim Frühstück erzählte, er sei heute morgen der Baronin Daahlen begegnet. »Sie ritt. Der Stallknecht ritt hinter ihr. Der Baron Spall war auch dabei.«
Dieser Bericht erregte in mir ein Gefühl unendlichen Widerwillens – so ein körperliches Unbehagen. Ich mußte den Tee und das gerüstete Brötchen, das ich eben sorgsam mit Butter bestrichen hatte, stehen lassen. Die eigentlichen Erscheinungen der Eifersucht sind das nicht. Ich bin nicht eifersüchtig auf Spall. Claudia haßt Spall, das habe ich an ihren Blicken, an der müden Art, wie sie sich von ihm abwendet, gesehen. Claudia wird nur einer Liebe gehorchen, die bis zum äußersten mit der Distanz zwischen ihr und dem Geliebten kämpft. Erst wenn beide sagen: Wir können nicht mehr – dann gehorcht sie. Das habe ich verstanden. Aber dennoch... So werde ich mich denn recht elend bis zum Abend hinziehen.
Ein seltsam unwirkliches Leben, das ich führe. Nur dort auf der Veranda wird es wirklich, vor dem dunklen, feuchten Garten, in der Traumbeleuchtung des Mondes, bei dem leisen Ton von Claudias Musselinschleppe auf dem Kies. So fühlen wohl die Fledermäuse, wenn sie am Tage in den finsteren Ecken wie kleine, schwarze Teufel an der Wand hängen und durch eine Spalte in das Tageslicht blinzeln, ob das dumme Licht noch da sei, das allem widerspricht, was sie abends erleben, wenn sie mit dem kleinen, schrillen Jauchzer über die mondbegrenzten Wipfel flattern.
Nachts.
Heute begegnete mir etwas Eigenes, eine Kleinigkeit, die mir doch einen nicht unwichtigen Zug zu dem Bilde von Claudias Leben lieferte.
Claudia war mir heute nicht recht nah. Sie schwieg viel; wenn sie sprach, klang es leicht gereizt, wobei der herbe Unterton ihrer Stimme besonders deutlich herausklang. Ihr Mund hatte heute eine herrlich bitter-tragische Linie. Spall bemühte sich sehr glänzend und ausgelassen zu sein. Daahlen lachte viel über ihn, aber Claudia schien das zu ärgern. Spall hat auch so eine verwandtschaftlich aufdringliche Art, mit ihr zu verkehren – als gehörten sie zusammen. Ungeschickter kann man nicht sein. Ich fand wenig Gelegenheit, mit Claudia zu sprechen. Wir unterhielten uns eine Weile über das Gewitter und über Pferde. Ich war sehr reserviert und formell – was richtig war. Dennoch wollte ich ihr einige Worte sagen, leise und erregt und bedeutsam, Worte, die sie empfinden mußte, als drückte ich flüchtig ihre Hand und sagte – »Ich weiß – wie – wir – beide leiden« – – aber mir fiel das Rechte nicht ein, Daahlen war heute besonders in Erzählerlaune und nahm mich ganz in Beschlag. Er schilderte mir einen schwierigen und langwierigen Weg, den er irgendwo in Afrika gemacht haben wollte. Schließlich zwang er mich, mit ihm in sein Arbeitszimmer zu gehen, um diesen uninteressanten Weg auf der großen Karte, die dort an der Wand hing, zu verfolgen.
Als wir wieder auf die Veranda heraustraten, waren Spall und Claudia fort. Sie mochten wohl in den Garten hinuntergegangen sein.
Daahlen erzählte weiter, aber es schien mir, als verwirrte sich der Weg, als kämen wir nicht recht vorwärts. Zuweilen hielt er inne, spähte in den Garten hinab, über dem jetzt sehr hell ein großes Stück Mond hing, und murmelte: »Sind sie das?« »Nein« – sagte ich – »das Weiße, das ist das Tuberosenbeet.« – »So – so« meinte er – – »hm – macht nichts – allons – allons!«
Im Mondlicht sah ich deutlich, daß sein braunes, scharfes Gesicht mit dem mausgrauen Bart sich wunderlich verzog – wie bei einem siechenden Schmerz.
»Na ja, also,« fuhr er fort – »wir waren also fünf Kilometer von dem Dorfe Biri-biri.« – Er war aber nicht bei der Erzählung, sondern sah beständig in den Garten hinaus und ich hörte nicht zu, sondern sah auch in den Garten hinab und wir warteten beide gespannt.
– – »Da sind sie!« entfuhr es mir plötzlich.
»Wo – wo?« fragte Daahlen. »Ja – ich seh' – na also.«
Claudia und Spall traten jetzt aus dem dunklen Laubgang auf die hellbeschienene Terrasse hinaus.
Er ist eifersüchtig, der Arme – dachte ich – ja, es wird vielleicht der Augenblick kommen, da wir ihn nicht schonen können. Das Leben ist grausam. Aber mir war es auch lieb, daß die beiden wieder zur Veranda hinanstiegen. »Also – so kommen wir glücklich nach Biri-biri,« berichtete Daahlen erleichtert und setzte sich knarrend in den Korbstuhl.
Claudia und Spall kamen auf die Veranda. Claudia ging, als sei sie müde. Daahlen erzählte weiter, als sähe er sie nicht.
Am anderen Ende der Veranda standen zwei Stühle. Spall schlenderte darauf zu, warf sich in den einen und rückte den anderen für Claudia zurecht. Claudia machte auch einige zögernde Schritte zu ihm hin – dann wandte sie sich schnell ab – ja ich weiß es – mit Widerwillen, mit Angst, ich sah das deutlich in den Umrissen der zarten, leicht in den Falten des Musselinkleides schwankenden Gestalt. Entschlossen kam sie zu mir herüber und setzte sich auf den Sessel, der neben mir stand – schutzsuchend – – zu mir gehörig. Seit meinen Knabenjahren hatte ich nicht mehr dieses starke Freudengefühl empfunden, das uns von Kopf bis zu Fuß mit einer süßen Wärme erfüllt. Nun kam eine köstliche Stunde – Claudias Hand lag auf der Armlehne ihres Sessels, meine auf der Lehne des meinen. Unsere Hände waren einander nah – sie sehnten sich nach einander, sie fühlten einander. Hätte ich wirklich Claudias Hand ergriffen, so wäre das trivial gewesen. So etwas tut Spall vielleicht. Aber so war es gut. Die Ahornwipfel standen still und schwarz im Mondlichte. Daahlens Stimme erzählte jetzt ruhig knarrend, sprach die barbarischen Negernamen tönend in die nächtliche Stille hinein.
12. August. Sonntag Nacht.
Zu Daahlens wollte ich heute nicht gehen. Besuche am Sonntage sind nicht stilvoll. Aber ich ging um zwei Uhr schon aus. Der Tag war sehr hell – blitzblank, wie in Sonntagskleidern. In den Straßen roch es nach den Sonntagsbraten, die durch die geöffneten Fenster herausdampften. Die große Allee war noch einsam. Hie und da ein geputztes Dienstmädchen, das Gesicht rot vom starken Waschen, das auf seinen Sonntagskameraden wartete. Ich bog zur Daahlenschen Villa ein. Ich wollte beobachten, wie der Anblick dieses Hauses, das in Mondschein und Dämmerung mir zu einem erregenden Traumbilde geworden war, in der Wirklichkeit des gelben Mittagslichtes auf mich wirke. Das schien eine nötige Ergänzung. Das Haus mit seinen niedergelassenen Jalousien stand da sehr still, wie schlafend im Sonnenschein. Nur an der einen Schmalseite, dort wo die Küchenräume liegen, war ein Stuhl in einen schmalen Schattenstreifen hinausgestellt. Dort saß eine Frau in blauem weißgetüpfelten Kleide – ein großes, bleiches Gesicht mit mehreren Kinnen unter einer weißen Haube, runde, schwarzgefaßte Brillengläser. Das war wohl Julchen. Sie hielt ein Buch und sang mit näselnder Stimme einen Choral. Das hatte so den zitternden, schläfrigen Takt, nach dem die Kohlweißlinge das große, bunte Beet vor der Freitreppe umflatterten. Ich ging um das Haus herum, außen am Gartengitter hin. Ich wollte die Terrasse im Tageslicht sehen. Da war sie. Da war auch Claudia. Sie trug ein weißes Batistkleid und einen großen weißen Batisthut und ging die Lavendelstreifen entlang, die den Weg einfassen, um mit einer Gartenschere Lavendel abzuschneiden. Als sie bis nah an das Gitter kam und sich aufrichtete, erblickte sie mich. Ich grüßte. Sie lächelte ein wenig und nickte. Als sie so dastand, das Gesicht blaßrosa unter dem grellen Gekräusel des Haares, gefiel sie mir so stark, daß es mir die Kehle zuschnürte. Seit meinen Knabenjahren war mir das nicht mehr begegnet, daß ich so stark empfand, daß ich fast weinen wollte. Claudia fühlte das – sie mußte das fühlen – sie hielt still – in der Hand den großen Lavendelstrauß, die Augen weit offen, schaute sie mich an, als wollte sie sagen: »Du siehst, so ergeht es uns beiden«. »Ach, Herr von Brühlen,« versetzte sie dann, »Guten Morgen! Wollen Sie nicht ein wenig hereinkommen und meine Lavendel riechen? Da im Gitter ist die kleine Türe.« – Ich trat zu ihr in den Garten. Sie streckte mir den sommerwarmen Lavendelbusch entgegen.
»Ich schneide ihn gern,« sagte sie, »und lege ihn zu der Wäsche. Das riecht so gut altmodisch.« »Ja, meine Mutter hatte die Schränke auch voll davon«, meinte ich. Ich war befangen. Meine Stimme klang ein wenig atemlos, das Herz schlug mir heftig.
»Sie gehen schon so frühzeitig spazieren?« fragte Claudia.
»– Ja – ich – ich wollte den Garten und – und vielleicht Sie, Baronin, um die Zeit sehen. – Bisher ist mir das so – so visionär, Dämmerung – und Mondschein – ich glaubte« –
»– Und nun?« fragte Claudia neugierig.
»– Nun? – Ja – das Visionäre bleibt – nur – die Vision hat andere Farben – jetzt eine Vision in weiß, rotgold und lavendelblau –«
Claudia hatte sich auf einen umgestürzten Schiebkarren gesetzt, der auf dem Wege lag, und schaute aufmerksam zu mir auf. »Das ist gut«, meinte sie. »Wir dürfen Visionen nicht – wie man sagt – materialisieren – sagt man nicht so? – Visionen sind doch unverantwortlich«. – »Wie?« – Claudia schaute nachdenklich auf ihren Strauß nieder: »Ich träume gern, das ist so angenehm. Man liegt und ist an dem, was man erlebt, nicht schuld – tut nichts dazu. – Es nimmt einen und trägt mit sich fort.« »Das tut das Leben ohnehin – ob wir wollen oder nicht«, bemerkte ich ziemlich erregt.
Claudia schaute auf, ein wenig verwundert.
»Ja – nicht wahr?« sagte sie. Dann entstand eine Pause. In meiner Unterhaltung mit Claudia kommen diese Pausen häufig. Ich glaube, es sind die Augenblicke, in denen unser Gefühl besonders stark zusammenklingt.
»Sie haben schon gearbeitet, Baronin?« begann ich formell. Das schien mir wichtig. »Mit meinem Mann – das Manuskript – ja«, erwiderte Claudia obenhin. »Das war wohl interessant?«
»Gott!« sagte Claudia, und zuckte leicht mit den Schultern, sie schob die Unterlippe vor. Diese Bewegung hatte so sehr etwas von einem trotzigen, kleinen Mädchen, daß ich an die fünf Komteßchen in dem großen Garten denken mußte, die stets an allem Unheil schuld waren.
»Gott – ich hasse diese Neger mit ihren unmöglichen Namen und ihren dummen Sitten. Aber wissen Sie, was ich noch mehr hasse?«
– »Nein?« –
»Die Kilometer. – Immer – und überall sind die da. Man denkt Afrika – da ist Licht und große Blumen und Farben. Nein – es ist nur ganz voll von diesen langweiligen Kilometern.«
»Ja, die lassen sich nicht gut vermeiden«, bemerkte ich ziemlich geistlos. Aber so war es vielleicht richtig in diesem Moment, da sie gegen ihren Mann sprach.
»Wieso,« sagte Claudia wegwerfend – »ich geh' – aber ich geh' nicht Kilometer.«
Wieder stockte die Unterhaltung. Ich hätte jetzt kameradschaftlich scherzen müssen. Aber ich war zu erregt.
»Sehen wir Sie heute Abend?« fragte Claudia.
»Ach, heute Sonntags«, erwiderte ich zögernd.
»Gott! unter Freunden«, meinte Claudia.
Dieses »unter Freunden« sollte eine Barriere sein. Ja, wir wollen Barrieren zwischen uns setzen, gefällig gegen unser Gewissen sein, das doch stärker ist.
Eine Glocke erscholl im Hause.
»O – Zeit sich anzukleiden«, rief Claudia erschrocken, wie ein kleines Mädchen, das zu spät zur französischen Stunde kommt. Wir reichten uns flüchtig die Hand und ich ging nachdenklich meinen Weg zurück. In der Allee auf der gewohnten Bank saß Toni. Sie trug eine weiße Seidenbluse, einen goldenen Gürtel und zuviel Rosen auf dem Hut. Ihr Gesicht war erhitzt und die Augen gerötet.
»Du hast geweint?« fragte ich.
Sie fuhr mit dem Handrücken über die Augen und machte ein böses Gesicht.
»Ich warte so lange,« sagte sie – »ich dachte, Sie kommen nicht.«
»Ah – das ist's! Na also gehen wir.« Toni erhob sich und nahm meinen Arm, sicher, ein wenig rauh. Sie nahm von mir Besitz, als von ihrem Sonntagsrecht. Sie gefiel mir heute nicht besonders. Schweigend gingen wir die Allee hinab. Auf einer Bank saß ein Mädchen mit einer hellen Bluse und zuviel Blumen auf dem Hut.
»Die weint auch«, sagte ich.
Da wurde Toni beredt: »Nu ja. Die Woche plagt man sich und freut sich auf den Sonntag und zieht sich seine guten Sachen an und dann kommt er nicht« –
»Ja – ja, das ist unrecht«, sagte ich. Wie verständlich das war. Die Liebe ist hier so klar – eine Einrichtung – ein Recht. Wir gingen aus der Stadt hinaus über die große Ebene hin. Die Wege waren hier laut von sonntäglichen Spaziergängern. Überall die geputzten Mädchen erhitzt und zufrieden am Arm ihres jungen Mannes. Anfangs verstimmte mich alles, aber dann überkam mich beruhigend das Gefühl, eingereiht zu sein in eine Ordnung, fast in einen Beruf. Wir gingen weit hinaus, dort wo es einsam wird. Die Sonne stach auf das Weideland nieder. Eine Kiesgrube lag dort. Wacholder, Heidekraut, Katzenpfötchen wuchsen an den Wänden. Ein großer Stein lag auf dem Grunde und sonnte sich. Wir stiegen ab – streckten uns dort aus. Toni nahm ihren Hut ab, streckte ihre Glieder – blinzelte mit den Augen in der Sonne. »Ah! das ist gut«, stöhnte sie. – Das ganze Behagen der Sonntagsfaulheit kam über sie, strahlte ordentlich von ihr aus. Ich lag auf dem Rücken. Wacholder, Wermut, Schafgarben dufteten so warm, als säßen wir in einer Küche, in der Kräuter gekocht würden. Kleine Schmetterlinge, bronzefarben und stahlblaue Farbenfleckchen, flirrten vorüber. Leise vor sich hinsingend, bummelten Hummeln durch die Luft und hingen ihre Samtleiber an die Glocken des Benediktenkrautes. Toni plauderte vor sich hin von anderen Sonntagen, an anderen Ausflugsorten mit anderen Herren – wie das so schön gewesen wäre.
Ich schloß die Augen. – Ich wollte wieder die Vision in rotgoldweiß und lavendelblau haben. – Gott! aber auch auf mir lag die feiertägliche Trägheit. Das mit der Vision und Claudia und mir – das war so kompliziert und das faule, rosa Mädchen neben mir war so einfach und selbstverständlich. Mir vergingen die Sinne, ich schlief wohl ein wenig.
Dann hörte ich Toni vor sich hinsingen, eintönig und schläfrig. Ich schlug die Augen auf. Auf ihren Ellenbogen gestützt, lag sie da, – die Füße hoben und senkten sich taktmäßig.
Zwischen den Lippen hielt sie einen Grashalm und in der Hand einen Wacholderzweig, mit dem sie langsam auf den Boden schlug. – »Rai – la – la – la.«
»Toni,« sagte ich, »hast du – früher einmal – das Vieh gehütet?«
Toni schaute auf.
»Sie haben geschlafen. – Das Vieh? Ja, da unten bei uns habe ich die Schafe gehütet.« »Dann lagst Du so den ganzen, langen Tag.«
»Ja – lang – lang war der Tag.«
»Und wenn du den langen Tag so da lagst, wartetest du da immer auf etwas?«
Toni dachte nach:
»Warten? Ich weiß nicht. Ja, ich wartete, daß die Mutter zum Essen ruft.«
»Ach ja – auf das Essen hast du gewartet – natürlich. Du – komm näher.«
Toni schob sich über das Gras zu mir hin – schmiegte sich eng an mich.
»Ist's so gut?« fragte sie.
Ja, so war's gut. Ich weiß nicht, wie lange wir dort unten in der Kiesgrube geblieben sind. Die Sonne schien schon schräg über die Ebene. Musikklänge kamen zu uns herüber. Das regte Toni auf.
»Das ist die Musik von Deibler – und das von Bohrer«, sagte sie.
»Du willst wohl dahin?«
»Ja, da müssen wir auch noch hin«, erwiderte sie bestimmt. Nun und dann gingen wir zum Deibler. In dem großen Biergarten unter den staubigen Bäumen saßen die Menschen Kopf an Kopf. Die Luft war schwer von Bierdunst. Erhitzte Kellnerinnen schleppten große Portionen Kalbsbraten und Schweinebraten und Papierservietten heran. An allen Tischen die geputzten Mädchen mit ihren jungen Leuten. Auf den Gesichtern lag es wie Abspannung, in den Augen wie schläfrige Enttäuschung. Die Männer hatten vom Trinken rote Köpfe und waren recht laut. Zwei stritten sich und das Mädchen weinte. Die Militärkapelle schmetterte einen Marsch. Später kam ein Kornettsolo, Schuberts Ständchen. Die Leute wieder still, streckten sich vor süßem Gefühl auf den Bänken. Die Mädchen schauten starr vor sich hin und verzogen ein wenig das Gesicht, als wollten sie weinen.
»Nun?« fragte ich Toni.
»Sehr schön!« erwiderte sie. Die Arme unter der Brust gekreuzt, saß sie da, in den Augen auch den schläfrigen, enttäuschten Blick. Die Traurigkeit dieses zu Ende gehenden Sonntags lag schwer auf uns allen. Dagegen gibt es nur Eines – zusammen nach Hause gehen – sich aneinander drücken und vergessen.
»Komm«, sagte ich zu Toni.
Wenn das jetzt nicht hier stünde, so wäre es für mich fort, als sei es nicht gewesen. So muß wohl der Sonntag sein für alle die, welche arbeiten. Es bleibt von ihm nichts Erregendes, nur etwas Müdigkeit – einige welke Feldblumen, die Arbeit kann wieder beginnen und man kann an den nächsten Sonntag glauben. Auch ich gehe heute wieder daran, an meiner erregenden und rätselvollen Liebeserfahrung zu arbeiten.
13. August nachts.
Der Mond steht jetzt rund und hell über dem Daahlenschen Park. Claudia hielt sich heute von mir fern. Einen Augenblick sprachen wir miteinander, gleichgültige Dinge, und ihre Stimme hatte etwas Fremdes – etwas Gläsernes und Lebloses. Ich verstand das. Auch ich bemühte mich, ganz kalte Höflichkeit – gleichsam fern von ihr zu sein. Ich weiß, wir litten beide.
15. August.
Heute spielte ich mit Daahlen auf der Veranda Schach. Claudia und Spall sprachen am anderen Ende der Veranda miteinander ziemlich leise, aber ich hörte ihren Stimmen an, daß sie sich stritten.
»Was habt ihr denn?« fragte Daahlen. Da kam Claudia zu uns, setzte sich still neben mich. Spall ging bald. Unter tiefem Schweigen spielten wir die Partie zu Ende, dann wandte ich mich zu Claudia. Sie hatte sich tief in ihren Sessel hineingesetzt, ein wenig in sich zusammengekrümmt. Die Augen weit offen, starrte sie zum Monde auf. Das Gesicht erschien vom Mondlicht bleich, die Augen sehr dunkel. Ich mußte zu ihr sprechen, gleichviel was, nur damit der Ton meiner Stimme sie liebkose.
»Nicht wahr, Baronin, der Vollmond gibt uns einen Rausch – einen kühlen Rausch?«
Daahlen griff das auf.
»Sehr gut. Der Mondschein hat etwas Frappiertes. Hier nicht, in Afrika. O! Sie verstehen sich auf Nuancen – Sie sind ein Lebenskünstler.«
»Wie ist das, ein Lebenskünstler?« fragte Claudia und es klang gereizt, fast feindselig.
»Ein Lebenskünstler, liebes Kind,« dozierte Daahlen, »lebt eben ein Kunstwerk, lebt so, daß andere sich an seinem Leben erbauen können wie an einem Kunstwerk.«
»So«, meinte Claudia und lachte böse und malitiös. »Das muß nicht amüsant sein, so – so druckfertig zu leben. Wenn man ein Kunstwerk macht, dann weiß man, denke ich, auch immer im voraus, was kommen muß.«
Ich hielt es für richtig, bedeutungsvoll einzuschalten: »Das wissen wir doch ohnehin.«
Aber Claudia widersprach eigensinnig.
»Das finde ich nicht.«
»Wir wollen nur nicht daran glauben«, fuhr ich fort und auch meine Stimme klang gereizt. Claudia zuckte leicht mit den Schultern. Daahlen begann ganz unmotiviert, wohl um uns zu beschwichtigen, von den Niam-Niams zu erzählen. Dann ging ich. So muß es sein. Wir kämpfen und leiden beide.
16. August.
Liebe treibt eines zum andern, nicht damit wir eines das andere glücklich machen, wie man sagt. Diese Glücksrechnung geht die Liebe nichts an. Vielleicht bereiten wir einander Schmerz. Weiser ist es, nicht zu lieben. Liebe ist alogisch und wir kämpfen gegen sie an, aber sie ist stärker als unsere Logik und das ist ihr Zauber.
17. August.
Claudia ist still und bleich. Wir haben kein Wort miteinander gesprochen, das – uns etwas anginge. Aber sie sitzt still neben mir, unsere Hände liegen nah beieinander und sehnen sich nacheinander.
18. August.
Mir ist zuweilen, als fühlte ich ein tiefes Erbarmen mit Claudia und ihrer Hilflosigkeit. Ich kann ihre Hilflosigkeit an der meinen messen.
21. August.
O dieses wunderliche Traumleben, ein Leben unter Ausnahmegesetzen.
Einen seltsamen Abend, eine seltsame Nacht und einen seltsamen Tag habe ich durchlebt. Bei Daahlens saßen wir wie sonst auf der Veranda und tranken kalte Ente. Spall war sehr unterhaltend. Er witzelte beständig und machte den alten Herrn lachen. Claudia lachte auch, ein etwas gezwungen lustiges Lachen. Sie war unruhig, ging auf der Veranda auf und ab, blieb zuweilen stehen und schaute in den Mond – plötzlich dann ernst – etwas Gespanntes, fast Angstvolles lag in dem Ausdruck ihres bleichen Gesichtes. In der Hand hielt sie ein kleines Batisttaschentuch und drehte das so fest zusammen, als wollte sie es zerreißen. Spall und Daahlen begannen eine Partie Schach. Ich trat zu Claudia. Merkwürdig war es, wie sich ihre Erregung mir mitteilte. Ja, der Nerv in mir gehorchte den Schwingungen des fremden Wesens. Meine Stimme klang unsicher, als ich sagte:
»Wir haben solange den Weiher nicht gesehen.«
»Ja, gehen wir noch einmal zum Weiher hinunter«, erwiderte Claudia freundlich.
Wir stiegen in den Garten hinab. Anfangs sprachen wir aufs Geratewohl von allerhand, von den Rosen, an denen wir vorübergingen, von den Kröten, die dick und runzelig mitten auf dem hell beschienenen Wege saßen. Eine Weile gingen wir auch schweigend nebeneinander her. Im Dunkeln unter den Bäumen sagte ich:
»Sie sind heute heiterer« – und in Gedanken nahm ich sie fest an mich, die ganze, kleine, vor Erregung und Qual bebende Gestalt.
»War ich sonst nicht heiter?« fragte Claudia. »Ja – diese Tage über, glaube ich, waren Sie nicht recht heiter«.
»Ich weiß nicht, ob ich heiter bin«, fuhr Claudia sinnend fort. »Geht es Ihnen zuweilen auch so? Es kommt eine Müdigkeit – so eine unendliche Faulheit, weiter zu leben. Als Schulmädchen hatte ich solch ein Gefühl, wenn ich den französischen Aufsatz bis zum letzten Augenblick aufgeschoben hatte, und nun kam die Faulheit, still sitzen wollte ich – schlafen – ja tot sein lieber und im Grabe Ruhe haben lieber als diesen Aufsatz schreiben über: La cruche va à l'eau tant qu'elle se casse«.
»Aber der Aufsatz wurde doch geschrieben«, warf ich ein.
»Ja, geschrieben wurde er.«
»Solche Stimmungen überkommen uns«, bemerkte ich, und es war wichtig, daß ich das sagte, obgleich ich es fühlte, daß meine Stimme dabei nicht den rechten Tonfall hatte: »Solche Stimmungen überkommen uns meist in Augenblicken, in denen wir uns anschicken, mit allen unseren Kräften dem Leben zu dienen.«
»O – glauben Sie?«
Wir waren an den Weiher gekommen. Hellbeschienen stand die Danaide in dem schwarzen Wasser und streckte ihre händelosen Arme lässig vor sich hin.
»Die hat Ruhe, so sagten Sie doch?« fragte Claudia, »die Hände sind fort, wir müssen ruhen.« »Das kommt so über uns«, begann ich wieder. Ich weiß nicht, ich brachte heute alles nur mühsam heraus. Jetzt mußte ich etwas Schönes sagen, allein es kam gesucht und nicht ganz echt heraus.
»Denken Sie sich einen Rosenstrauch über und über voller Knospen, solche dicke, rote Knospen, die bereit sind, alle zu gleicher Zeit zu springen. Gut! er steht da in der Mondnacht, schwer von Knospen, mutlos und müde –«
»Ach, das ewige Blühen beginnt wieder. Könnte man doch seine Ruhe haben! Das hindert ihn aber nicht, den nächsten Morgen ganz rot von Rosen zu stehen.«
Claudia sah forschend zu mir auf.
»Das ist hübsch. Sie sind eine Art von Dichter.«
»Ich? Ach Gott nein!«
Wir waren am Weiher entlang gegangen und stiegen jetzt den schmalen Laubgang hinauf.
»Sie, natürlich«, sagte Claudia, und ich hörte Spott aus ihrer Stimme heraus. »Sie kennen solche Stimmungen, Sie sind ja ein Lebenskünstler.«
Das ärgerte mich.
»Sagen Sie das doch nicht, was bin ich denn für ein Lebenskünstler? Ich warte, wie alle, auf die Hand, die etwas Wertvolles in mein Leben hineinlegt. Wir sind ja doch alle einer auf den andern angewiesen, damit aus unserm Leben etwas wird.«
Claudia lachte:
»Wie hübsch Sie das sagen. Wenn man das so hübsch sagen kann, dann, glaube ich, braucht man es gar nicht mehr zu erleben. Nicht? Aber auf andere warten. Und wenn nun ein Pfuscher kommt?«
Wieder das fremde, kranke Lachen, das grell in die Finsternis hineinklang. Über uns flog eine Krähe rauschend auf. Irgendwo in der Dunkelheit standen Nachtviolen und dufteten schwül.
»Ach bitte, lachen Sie nicht – so«, entfuhr es mir angstvoll. Sie schwieg, blieb stehen, lehnte sich gegen einen Baumstamm. Ich stand vor ihr. Ich verstand nicht und war daher befangen und ratlos. Da hörte ich einen leisen Ton.
»Sie weinen?« fragte ich.
»O – es ist nichts«, erwiderte Claudia. »Die Nerven. Das hab' ich zuweilen. Verzeihen Sie nur einen Augenblick.« Ich wartete. Ich stand da und horchte auf das leise Schluchzen, mir war, als nähme mein Atem auch den langen, stoßweißen Takt des Weinens an. »Jetzt«, dachte ich, aber ich sagte und tat nichts. Warum? Nun versteh' ich es. Diesem hilflos vor mir schluchzenden Kinde gegenüber durfte ich nichts tun – so nicht. Aber noch ein solcher Augenblick und es geschah, was doch geschehen muß. Ich durchlebte ihn, diesen Augenblick. – Stumm würde ich ihre Hand fassen – eine kühle Hand, die feucht von Tränen ist – und wir würden zu der Veranda hinauf steigen und vor den einsamen, alten Mann hintreten und ihm sagen: »Wir können nicht anders« – und in all die Süßigkeit unserer Liebe würde sich die Bitterkeit unserer Grausamkeit und unseres Mitleids mischen.
»So, nun ist es vorüber«, sagte Claudia, »gehen wir.«
Wir gingen weiter.
»Ich danke Ihnen«, fuhr Claudia fort. »So was ist dumm. Wir wollen's den anderen nicht sagen.«
»Ach nein. Vor einem anderen hätte ich mich so geschämt – aber Sie sind so gut, so – so wie eine Tante.« »Eine Tante«, fuhr ich auf.
»Ja, so gemütlich, so zuverlässig –«
Ich schwieg. Ich war verletzt. Jetzt verstehe ich das. Sie zürnte mir, weil ich sie geschont hatte. Das mußte so sein.
Als wir auf der Terrasse an den Rosenbeeten vorübergingen, riß Claudia sich eine Rose ab, nur den feuchten, roten Kopf einer Rose und kühlte sich damit die Augen. Auf der Veranda bei den Kerzen mit den Windgläsern saßen Daahlen und Spall. Spalls laute, heiter erzählende Stimme klang bis zu uns auf die Terrasse hinab. Daahlen lachte. Claudia blieb stehen.
»Wie sie da sitzen«, sagte sie und dann wie aus tiefen Gedanken heraus:
»Wissen Sie, was ist Mitleid? Das ist doch so, wie Menschen, die uns auf der Straße nicht auszuweichen verstehen. Nicht wahr? Fremde Schmerzen, die uns nicht vorüberlassen wollen.«
Ich war freudig überrascht, daß sie denselben Gedanken hatte, der mir dort unter den Bäumen gekommen war!
»Ja,« sagte ich, »wir müssen daran vorüber, wenn unser Weg daran vorüberführt.« Sie bog den Kopf zurück und schaute zum Monde auf. Wie bleich ihr Gesicht war, ihr herrlicher Mund lächelte ein seltsames, unvergeßliches Lächeln. Den rechten Arm hob sie empor und bewegte wie triumphierend die Hand, in der sie fest die rote Rose zerdrückte.
»O ja, wir müssen vorüber«, sagte sie leise. Dann ging sie schnell die Treppe zur Veranda hinauf.
Die beiden Herren dort waren sehr heiter. Spall erzählte Anekdoten. Claudia stellte sich zu ihnen, wollte mitlachen, lachte ein wenig mühsam, die Augen immer noch seltsam erregt. Spall schaute erstaunt zu ihr auf, erhob sich dann, nahm einen Schal, der auf einem Stuhle lag, legte ihn Claudia um die Schultern und sagte: »Du bist blaß, du frierst.«
Mir mißfiel das. Es sah aus, als sei es sein Recht und seine Pflicht, für sie zu sorgen. Die ganze Lebenslage war mir jetzt zuwider. Ich verabschiedete mich. Da wollte auch Spall gehen und schloß sich mir an. Während wir die Allee hinabschritten, sprach Spall beständig, ich weiß nicht was, ich hörte nicht zu. Eine starke Aufregung arbeitete in mir. Beständig wiederholte ich mir alles, was Claudia gesagt hatte, deutete – legte es aus mit philologischer Gewissenhaftigkeit. In der Stadt vor dem Hause des Klubs blieb Spall stehen: »Gehen wir hinauf?« fragte er. Ich zögerte. Er war mir ziemlich unangenehm mit seiner krampfhaften Heiterkeit.
»Kommen Sie,« drängte er, »auf eine Stunde. Ich habe diese Nacht noch etwas vor und kann nicht schlafen gehen.«
»Renommist!« dachte ich – ging aber mit. Ich fürchtete mich, nach Hause zu gehen. Es war mir, als lauere dort ein Umschlag meiner Stimmung auf mich, etwas Quälendes und Trauriges.
Im Klub herrschte sommerliche Leere. Im Spielzimmer saßen einige alte Herren beim Whist. Im Lesezimmer gähnten ein unbeschäftigter junger Arzt und ein unbeschäftigter junger Rechtsanwalt hinter ihren Zeitungen. Wir setzten uns in das Speisezimmer.
»Ich muß Sekt trinken«, sagte Spall. So tranken wir denn Sekt.
Spall versank in Gedanken.
Sein hübsches, freches Knabengesicht nahm einen ältlichen, fast kranken Ausdruck an. Mit einem Ruck fuhr er dann auf.
»Sie spielen nicht?« fragte er.
»Nein, ich mache mir nichts draus.«
»Ich spiele gern,« fuhr Spall fort, »Hazard nur, dabei fühlt man sich so angenehm aufrichtig als Automat.«
»Automat?«
»Ja, wir glauben wohl, wir berechnen. Ein Automat hält auch das Uhrwerk, das er im Leibe hat, für Verstand, aber das ist Unsinn, es schnurrt in uns und wir müssen auf die Neune oder den Buben setzen. Angenehme Unverantwortlichkeit – was?«
Es fiel mir auf, daß Claudia auch das Wort angenehm unverantwortlich gebraucht hatte und das war mir peinlich.
»Geschmackssache«, warf ich mürrisch hin.
Spall lächelte sein erfahrenes, böses Lächeln. »Das ist auch der Reiz bei den Weiberaffären.« Er sah mich sinnend an über den Rand seines Glases hin. »Wie stehen Sie eigentlich zu den Weibern?« fragte er. Er war mir sehr unsympathisch. »Gott,« erwiderte ich gereizt, »zu den Weibern steh' ich gar nicht. Das ist so, als fragte man mich, wie ich zu den Tagen stehe. Zu Tagen steh' ich nicht. Ich kenne nur einen Montag, Dienstag – und jeder Montag ist von dem andern verschieden und zu jedem steh' ich anders.«
Spall nickte: »Sie haben recht, aber gemeinsam bei diesen Weibergeschichten ist das Automatengefühl. Es schnurrt in uns und wir tun alles um eines Weibes willen und dann schnurrt es wieder und es ist aus. Da können wir nichts dazu tun.«
Ich antwortete nicht, all dies mißfiel mir, gerade deshalb, weil es mich an ein Gespräch erinnerte, das ich mit Claudia gehabt hatte. Spall erzählte nun ein Erlebnis mit einer Tänzerin. Ich hörte nicht zu. Ich trank recht schnell und hing meinen erregten Gedanken nach. Spall sah nach der Uhr.
»O – es ist spät,« rief er, »ich muß fort«.
»Don-Juan-Pose«, dachte ich. So gingen wir denn. Als wir uns trennten, rief ich ihm ironisch ein »Viel Glück« zu.
»Danke, danke«, sagte er.
Ich war froh, allein zu sein. Der Wein gab mir eine angenehme, vertrauensvolle Sicherheit, etwas Triumphierendes. Ich saß in der schweigenden Allee auf der Bank, sah in den Himmel hinein, der weiß vom Mondlicht war, und dachte daran, daß Claudia vor mir geweint hatte, um meinetwillen, und wenn ein Weib vor uns weint, dann ist es hilflos uns gegenüber. Und später dann die kleine Feindseligkeit. Ich mußte lächeln. Nach Hause zu gehen, wagte ich nicht, ich traute der Stille meines Schlafzimmers nicht. Und als ich im aufdämmernden Morgen doch endlich heimging und mich schlafen legte, da kam das, was ich fürchtete ... ein kurzer, unruhiger Schlaf, dann ein langes Wachliegen mit bohrenden Gedanken, die alles, was ich erlebt hatte, zerpflückten, farblos, bedeutungslos machten. Es war sehr quälend. Als Kind, da ich das einzige Kind war, war ich gewohnt, still für mich und sehr eifrig zu spielen. Ich verlor mich ganz in die Welt meiner Kinderphantasie. Aber zuweilen mitten im Spiel kam eine Ernüchterung über mich, das quälende Bewußtsein, daß es kein Pferd, sondern ein Stuhl, kein Schiff, sondern ein Sofa sei. Unendliche Mutlosigkeit ergriff mich und ich weinte. »Was weinst du?« fragte mich meine Mutter. »Ich kann nicht spielen,« sagte ich dann. Daran mußte ich denken, als ich mich ruhelos in meinem Bette hin und her warf. Ich beschloß, nicht aufzustehen. Ich wollte es machen wie die Fledermäuse, in meinem dunklen Winkel bleiben und ärgerlich nach den Spalten schielen, durch die der Tag hereinscheint. Als Josef herein kam, sagte ich ihm, ich wollte nicht aufstehen. Ich gestattete ihm nicht, die Vorhänge aufzuziehen, ließ Licht anmachen und mir den Tee an das Bett bringen. Ich tat, als sei ich krank, trank den Tee, rauchte eine Zigarette und ließ mich von Josef unterhalten.
»Gestern«, berichtete er, »war ich bei Zierer wegen der Hemden des Herrn Barons. Da war auch der Baron Spall. Er kaufte eine Reisedecke, eine sehr schöne teure Reisedecke.«
»Gott, Josef,« seufzte ich, »bist du langweilig! Deine geselligen Talente nehmen ab. Was geht mich die Reisedecke des Barons Spall an? Erzähle lieber, wie du als Junge da oben bei euch mitgenommen wurdest, wenn dein Vater auf die Güter mähen ging und ihr bei den Pferdehütern schlieft und wie die Pferde dich mit feuchten kühlen Nasen beschnupperten.« »Ja, das war so,« begann Josef. Er hatte das schon oft erzählen müssen, wenn ich verstimmt und mutlos war.
Ich hörte ihm zu, ließ dann das Licht auslöschen und versuchte wieder zu schlafen. Wirklich schlief ich sanft ein und bin sehr erquickt erwacht. Ich habe mit Appetit gegessen, habe dieses geschrieben und gehe zu Daahlens. Ich bin wieder mit Claudia und mir zufrieden, ich bin wieder Claudias und meiner sicher, ich verstehe uns beide, mich erwärmt ein gutes Festtagsgefühl, wie wir es haben, wenn sich etwas Schönes ereignet, das in unserem Leben mitzählt.
Nachts.
So soll es hier stehen, deutlich und nüchtern – wie ich das Erlebnis eines anderen sehe – ein Text, bei dem ich mir die Exegese vorbehalte.
Also: Es war die Zeit des Sonnenunterganges, als ich zu Daahlens ging. Mir war leicht und sicher zumute. Ich lebte gern. Ich liebte Claudia sehr stark. Ich konnte mich an dem Sonnenuntergang erfreuen, an den großen kupferfarbenen Wolken ganz dunkel, wie ein veilchenfarbener Hecht in einem rosafarbenen Wasser. Hübsch. Die Leute, denen ich begegnete, schienen auch fröhlich. Die Herren trugen den Hut in der Hand, die Mädchen lächelten dem rotem Lichte zu. In einem Hause wurde Mendelssohn gespielt; die selbstverständliche Süßigkeit, die so ohne weiteres einleuchtete, gefiel mir heute. Ein Paar kam mir entgegen. Es war Toni mit ihrer Pappschachtel, am Arm eines blonden jungen Mannes. Sie nickte mir zu, machte sich von ihrem Begleiter los, um mich zu begrüßen.
»Ach, Herr Magnus, Sie –«
»Ja – Toni – wie geht es?«
»Danke, gut. Ach, hab' ich auf Sie auf der Bank gewartet, und Sie kamen immer nicht. Einmal gingen Sie vorüber und sahen mich gar nicht.«
»– O, wirklich«, murmelte ich verlegen.
»Ich war sehr böse. Aber jetzt ist's vorüber –«
»Sie haben einen – einen?« fragte ich zögernd. Sie lächelte selig.
»Ja, einen Ophtalmologen. Ein lieber Mensch.«
»So. Viel Glück!«
»Danke. Gleichfalls, Herr Magnus.« Und sie nahm wieder den Arm ihres Ophtalmologen.
Gut, gut, dachte ich. Die lieben Mädchen.
Als ich über den Vorplatz der Villa ging, sah ich an der Schmalseite des Hauses wieder Julchen sitzen, in ihrem blauen Kleide, die Brille auf der Nase, die Haube ganz rot vom Abendlicht. Sie hatte eine Schüssel auf dem Schoße – eine andere stand neben ihr auf der Erde, und sie schälte, kleine, goldgelbe Birnen. Als ich sie grüßte, nickte sie ernst. An der Haustüre mußte ich zweimal schellen, ehe mir geöffnet wurde.
»Die Herrschaft zu Hause?« fragte ich leichthin und wollte eintreten.
»Der Herr Baron ist krank. Der Herr Baron empfängt heute nicht«, sagte der Diener und machte ein feierlich ausdrucksloses Gesicht.
»Krank? Es ist doch nicht schlimm?«
Die Ausdruckslosigkeit des Dienergesichtes nahm etwas Gequältes an.
»Nun denn, ich wünsche gute Besserung.«
War das nicht um die rasierten Lippen wie das Zucken eines säuerlichen Lächelns? Ich blieb auf dem Vorplatz stehen und dachte noch: Da war etwas nicht in Ordnung. Ich beschloß, Julchen zu fragen.
Als ich vor ihr stand, sah sie mich über die Brillengläser hinweg streng an. »Ach, Fräulein Julchen, es ist doch nicht schlimm, hoffe ich, mit dem Baron?«
Julchen schälte eifrig an ihrer Birne weiter und zog die greisen Augenbrauen hinauf.
»So 'was greift an«, meinte sie und begann wieder eifrig ihre Birne zu schälen. »Heute Morgen, als er den Brief fand, hatte er einen so starken Anfall, daß wir den Doktor holen wollten, aber er wollte das nicht.«
»Ah, der Brief«, sagte ich, als verstände ich, und wirklich etwas in mir verstand sofort das, was mir doch unbegreiflich war. »Und wie – wie kam das?« fuhr ich auf das Geratewohl fort.
Julchen warf die geschälte Birne klatschend in die Schüssel, die auf der Erde stand.
»So gegen zwei Uhr muß sie fortgegangen sein. Der Portier von drüben ist in der Nacht von der Kneipe heimgekommen. Da hat er einen Wagen in der Allee stehen sehen. Da wird er wohl auf sie gewartet haben.«
»Er?«
»Ja, der Herr von Spall. Und die Gemüsefrau, als sie zur Stadt gekommen, ist dem Wagen begegnet. Sie werden wohl bis zur nächsten Station gefahren sein.« »Das werden sie wohl«, sagte ich mechanisch.
Julchen schüttelte traurig den Kopf: »So 'was! Zu still war es ihr hier, das hab' ich gemerkt. Solche unruhige Augen. Wenn ich mit ihr unten im Garten spazieren ging, dann rannte sie, rannte sie, so daß es schwer war, ihr nachzukommen, und dann blieb sie auf einmal stehen und packte mich an dem Arm, fest, daß es weh tat, und sagte: ›Julchen, Sie haben auch tüchtig geliebt.‹
›Ach, Frau Baronin‹ sagte ich, ›was werde ich schon viel geliebt haben.‹
Dann lachte sie und sagte: ›Ja, ja, Julchen, Sie sind ein ausgebrannter Vulkan.‹
›Wie Frau Baronin meinen,‹ sagte ich. Was kann unsereins viel sagen! Der Herr von Spall hat mir gleich nicht gefallen. Ach ja. So gut wie bei uns wird sie es anderswo nicht leicht finden. Da hab' ich mit Mühe ihr zu heute Schnabelerbsen besorgt, weil sie die so gerne ißt. Nun ist sie fort.«
Julchen seufzte und beugte den Kopf tiefer auf ihre Birnen nieder.
»Wird auch schon ruhiger werden«, murmelte sie.
Ich fand nichts Rechtes zu sagen, ich stand, bis ich fühlte, daß ich eine lächerliche Figur machen müßte.
»Ich gehe ein wenig in den Garten«, sagte ich.
Julchen nickte: »Ja, Herr von Brühlen, es ist ja so jetzt keiner drin.«
Langsam ging ich zwischen den Blumenbeeten hin. Ich fühlte anfangs nur sehr großes Erstaunen. Spall und sie – war es möglich? Wie ist das? Ich verstehe nicht. Diese Frau von Daahlen, die mit Herrn von Spall durchgegangen war, schien mir so fremd. Ich ging zum Weiher hinab, hörte den Fröschen zu. Eine tiefe, fette Froschstimme erzählte zuerst etwas allein. Dann fielen die anderen ein, alle zusammen, eifrig und heiser, und aus ihren Reden klang es immer wieder wie »Spall – Spall –« heraus.
Als ich nun dort stand, überkam mich ein schmerzvolles, weiches Gefühl, ein sehr starkes Vermissen. Alles in mir dürstete nach Claudias Gegenwart, nach jenem geheimnisvollen Verstehen, jener Vertraulichkeit meines Körpers und des ihren. Das war doch gewesen. Mein Gott – warum war sie nicht da! Ich stieg den finstern Laubgang hinan, den ich mit ihr gegangen war. Die Nachtviolen dufteten wieder im Dunklen.
Ich lehnte mich an den Baum, an dem sie gestanden und geweint hatte. Hier bekam mein Schmerz etwas Pathetisches, das fast wohltat. Wie deutlich sah ich sie vor mir, ihren Mund sah ich, vor allem ihren wunderschönen Mund, bis daß der Gedanke, daß ein anderer über diesen Mund herrscht, mich auffahren ließ, wie von einem körperlichen Schmerz getroffen. Und er, der andere, war immer da gewesen, auch wenn mein Begehren sich am heißesten an sie herangedrängt hatte, um ihn hatte sie hier geweint, an ihn gedacht. Und ich, was hatte ich denn hier getan? Eine demütigende Wut schüttelte mich, eine Wut, als dächte ich an einen Schlag, den ich empfangen und versäumt hatte, zurückzugeben. Ich eilte auf die Terrasse, ich wollte fort aus diesem Garten, in dem ich mir selbst zum lächerlichen Gespenst wurde.
Auf der Terrasse begegnete mir der Diener.
»Der Herr Baron lassen bitten,« sagte er, »ob der Herr Baron nicht einen Augenblick heraufkommen wollen.«
»Ich?« »Ja, der Herr Baron lassen bitten.«
»Gut, gut, ich komme.«
Ich folgte dem Mann, aber ich dachte dabei: »Es ist unmöglich, daß ich da hinaufgehe.« Ich ging aber doch. Daahlen begrüßte mich mit einer hastigen, aufgeregten Freundlichkeit.
»Da sind Sie, mein junger Freund. Ich sah Sie da unten herumirren. Danke, daß Sie gekommen sind. Diese Einsamkeit macht einen ja verrückt.«
Er sah angegriffen, älter als sonst aus. Das Gesicht war vergilbtes Pergament, die Augen blank und tiefliegend. »Setzen Sie sich doch,« fuhr er fort, »hier ist eine Zigarre. So, wollen wir gemütlich plaudern.« Er sah mich forschend an. »O,« meinte er, »Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen, ich werde nicht von meinen Geschichten sprechen. Jeder hat seine Geschichten, nicht wahr? Aber es gibt noch andere Themata – Gott sei Dank.« Er lächelte und legte die Hand auf ein Buch, das aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch lag.
»Da lese ich ein Buch über Afrika, eine Reise von Buonaventura Meyer. Gut. Ich kenne ihn, ein vernünftiger Mensch. Er hat die Gegenden gesehen, die ich gesehen habe, dieselben Neger, dieselben Sitten, nicht wahr? Aber er sieht etwas ganz anderes, als ich gesehen habe. Ich frage mich, lügt der, oder lüge ich? War er betrunken, als er das sah, oder war ich betrunken? Wie erklären Sie das?«
Ich mußte antworten und begann zu sprechen, ohne noch zu wissen, was ich sagen würde.
»Das kommt wohl daher, daß alles, was wir sehen, wir ganz allein sehen. Es hat sozusagen jeder sein eigenes Afrika. Es hängt z.B. ein Bild in meinem Zimmer, das ich liebe. Es wird mir gestohlen, oder ich muß es verkaufen. Da ist es dann ein Trost, daß das Bild, welches ich gesehen habe und geliebt habe, nicht gestohlen oder verkauft werden kann, das ist einzig, das – das« – ich verwirrte mich, denn ich sah an Daahlens Gesicht, daß ich taktlos wurde.
»Das ist nicht wissenschaftlich«, sagte Daahlen streng.
»– Nein, wissenschaftlich nicht«, stotterte ich.
»Ja, aber die Wissenschaft.« Daahlen begann begeistert von der Wissenschaft zu sprechen, er wurde warm, inbrünstig, ja fast sinnlich. Es klang wie eine Liebeserklärung des Ehemannes an seine ihm ewig treue Gattin. Da öffnete der Diener die Türen des Speisezimmers und meldete das Abendessen.
Wir aßen Hammelkotelette mit Schnabelerbsen, die für Claudia besorgt waren, und tranken alten Steinwein. Daahlen trank viel und sprach unausgesetzt von sehr fernliegenden Dingen, von Dingen, die alle jenseits des Ozeans lagen. Und er hatte das Bedürfnis, sich selbst zu bewundern: »Ja, mein Lieber, was ich durchgeführt und erlebt habe, dazu gehört eiserner Wille, davon wissen unsere Klubherrchen nichts. Die Sinne schnell wie beim Raubtier, Geistesgegenwart und Energie, ich sage Ihnen, man fühlt die Energie im Blute, wie eine Faust, die uns hält und treibt und schiebt.« Er wuchs immer mehr in seinen eigenen Augen.
Die Fenster zum Garten hin standen offen. Ein Wind hatte sich draußen erhoben. Er trieb die Wolken schnell über den Mond. Licht und Schatten wechselten, als stünde dort oben eine mit dem Erlöschen kämpfende Flamme. Die alten Bäume rauschten und plötzlich fuhr ein Windstoß in das Zimmer und brachte die Düfte all der Rosen da draußen mit. Daahlen schwieg. Sein Gesicht nahm einen weichen, hilflosen Ausdruck an. Und auch ich dachte: »Claudia, Claudia« – es war mir, als sei sie durch das Zimmer gegangen. Selbst der Diener neigte das bleiche Gesicht ein wenig auf die Schulter und schaute mit seinen ausdruckslosen Augen wehmütig ins Leere.
»Sie,« sagte Daahlen zum Diener, »sagen Sie Fräulein Julchen, sie soll uns von dem ganz alten Kognak schicken, den in der Ecke, sie weiß, und die großen englischen Gläser, gut mit Eis ausgekühlt. Dieser Kognak,« wandte er sich an mich, »hat noch im Keller Ludwigs XVIII. gelegen, während der Katastrophe mag ein Kellermeister ihn gestohlen haben; ich habe ihn von einem Pariser Bekannten. Ich sage Ihnen, dieser Kognak ist unter den Spirituosen, was das Genie unter den Menschen ist.«
Der Kognak kam. Daahlen beugte sich über sein Glas und atmetete den starken Duft ein. »Ah, das wärmt die Seele.« Als der Diener gegangen war, beugte Daahlen sich mir vor und schaute mich aus verschleierten Augen an und sagte leise: »Lieber, junger Freund, was werden Sie denken, wenn ich Ihnen sage, ich habe es gewußt, daß so etwas kommen würde.«
»Wie das«, murmelte ich und schaute ihn mit Abneigung an.
Daahlen nickte wehmütig. »Man wird feige mit dem Alter, wo bleibt die schöne Energie? Es muß etwas geschehen, du mußt handeln, sagte ich mir in schlaflosen Nächten, aber sehen Sie, ich setzte mir eine Frist. Diesen Monat noch Ruhe und Gemütlichkeit, dann Strenge, le mari jaloux – na und da habe ich denn diese Gnadenfrist in kleinen Bissen genossen, so wie manche Kinder ihren Kuchen krümchenweise essen, damit er ewig dauere. Ich sage Ihnen, wenn sie mir eine Stunde mein Manuskript vorlas, zerhackte ich diese Stunde in so kleine Teilchen, daß sie mir dreimal so lang erschien. Das lernt man mit dem Alter. Ich denke da an eine Geschichte in Ostafrika. Ich hatte mich dem Leutnant von Marlow angeschlossen, der eine Strafexpedition machte. Nun war da ein junger, schokoladenfarbener Bursche, der sich schwer vergangen hatte, – Verrat oder so 'was. Er sollte erschossen werden, aber nicht an Ort und Stelle, sondern wir mußten noch so ein 10 Kilometer marschieren. Nun, nach 4 Kilometern beginnt der Bursche die Füße zu schleppen, als könnte er vor Müdigkeit nicht. ›Er soll sich erholen‹, sagt Marlow. ›Hören Sie,‹ sage ich zu Marlow, ›der kann doch nicht müde sein, was sind für den 4 Kilometer?‹ Was antwortet mir nun Marlow? ›Für den Burschen sind diese 4 Kilometer so gut wie 40. Der lebt jetzt nicht so obenhin wie wir, der lebt jede Sekunde durch, und das macht müde.‹ Verstehen Sie das?«
Ich antwortete nicht. Mir war dieser afrikanische Vergleich zuwider. Daahlen stützte den Kopf in die Hand und sann trübe vor sich hin.
»Einen Monat wollte ich in ihr noch die Claudia sehen, die ich kannte, und dann wollte ich mich mit der anderen Claudia auseinandersetzen. Sie hat nicht solange gewartet.«
Er richtete sich auf, wurde stolz, ganz Tigerjäger. »Und ich hätte gehandelt, mein Lieber, die alte Energie ist nicht ganz fort. Ich kann schrecklich sein, mein Lieber. Alles Ding hat seine Zeit, steht in der Bibel, Steine sammeln und Steine zerstreuen. O, ich hätte Steine zerstreut.« Er lachte höhnisch und goß sich den Kognak in die Kehle. Aber dann wurde er gleich wieder gefühlvoll, er legte seine Hand auf die meine und sagte: »Sie war Ihnen auch sympathisch, ich weiß. Nun sitzen wir beide da.« Ich stand auf, ich wollte gehen. Es war mir unerträglich, der Bundesgenosse dieses alten Mannes und seines Schmerzes zu sein.
»Sie gehen schon,« meinte Daahlen, »ich danke Ihnen, mein junger Freund; über die Einsamkeit kommen wir nicht hinweg, da helfen alle Veranstaltungen nichts.«
Ich ging hinaus. Die Nacht war jetzt dunkel und warm. Über mir in den Bäumen der Allee flüsterte ein leichter Regen. Es gibt Augenblicke, in denen uns die Welt sehr unwahrscheinlich vorkommt, in denen wir gleichsam neben uns selbst einhergehen, wie neben einer wunderlichen und unverständlichen Erscheinung. Ich weiß, daß ich in dem Augenblick nicht an Claudia, sondern an Toni dachte. Wenn sie jetzt ein wenig schwer an meinem Arme hinge, meinen Arm leicht gegen ihre Brust drückte und mich mit den friedlich lüsternen nemophilenblauen Augen ansähe, das wäre beruhigend klar und verständlich.
Jetzt sitze ich in meinem Zimmer und habe all das niedergeschrieben. So war es. Aber was ist es, was ich erlebt habe? Mir fällt jetzt der Abend auf der einsamen Veranda bei Bohrer ein. Die weite, dunkle Ebene, die einsame Stimme, die dort erwachte und die andere, die ihr antwortete. War es vielleicht nur ein Echo? Sind unsere sogenannten Liebeserfahrungen nicht vielleicht alle nur ein Echo unserer selbst? Das ist vielleicht die Formel dafür. Das wäre dann gut und es ginge mich nichts an, was diese Frau von Daahlen und dieser Herr von Spall miteinander haben. Mein Liebesverhältnis wäre gesichert. Aber, warum tut das so weh? Warum läßt das solch einen häßlichen demütigenden Schmerz zurück?
Der Morgen graut hinter den Vorhängen. Ich werde Joseph wecken und ihm befehlen, daß er die Koffer packe. Ich muß fort. Ich will in ein Fischerdorf an der Ostsee reisen, dort still sitzen, die Füße im warmen Sande, und den Wellen zusehen, wie sie rufen und antworten, miteinander gehen und vergehen. Das wird mir jetzt gut tun. Warum? Auch dafür wird sich die Erklärung wohl finden lassen.
Ende