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21. August.
O dieses wunderliche Traumleben, ein Leben unter Ausnahmegesetzen.
Einen seltsamen Abend, eine seltsame Nacht und einen seltsamen Tag habe ich durchlebt. Bei Daahlens saßen wir wie sonst auf der Veranda und tranken kalte Ente. Spall war sehr unterhaltend. Er witzelte beständig und machte den alten Herrn lachen. Claudia lachte auch, ein etwas gezwungen lustiges Lachen. Sie war unruhig, ging auf der Veranda auf und ab, blieb zuweilen stehen und schaute in den Mond – plötzlich dann ernst – etwas Gespanntes, fast Angstvolles lag in dem Ausdruck ihres bleichen Gesichtes. In der Hand hielt sie ein kleines Batisttaschentuch und drehte das so fest zusammen, als wollte sie es zerreißen. Spall und Daahlen begannen eine Partie Schach. Ich trat zu Claudia. Merkwürdig war es, wie sich ihre Erregung mir mitteilte. Ja, der Nerv in mir gehorchte den Schwingungen des fremden Wesens. Meine Stimme klang unsicher, als ich sagte:
»Wir haben solange den Weiher nicht gesehen.«
»Ja, gehen wir noch einmal zum Weiher hinunter«, erwiderte Claudia freundlich.
Wir stiegen in den Garten hinab. Anfangs sprachen wir aufs Geratewohl von allerhand, von den Rosen, an denen wir vorübergingen, von den Kröten, die dick und runzelig mitten auf dem hell beschienenen Wege saßen. Eine Weile gingen wir auch schweigend nebeneinander her. Im Dunkeln unter den Bäumen sagte ich:
»Sie sind heute heiterer« – und in Gedanken nahm ich sie fest an mich, die ganze, kleine, vor Erregung und Qual bebende Gestalt.
»War ich sonst nicht heiter?« fragte Claudia. »Ja – diese Tage über, glaube ich, waren Sie nicht recht heiter«.
»Ich weiß nicht, ob ich heiter bin«, fuhr Claudia sinnend fort. »Geht es Ihnen zuweilen auch so? Es kommt eine Müdigkeit – so eine unendliche Faulheit, weiter zu leben. Als Schulmädchen hatte ich solch ein Gefühl, wenn ich den französischen Aufsatz bis zum letzten Augenblick aufgeschoben hatte, und nun kam die Faulheit, still sitzen wollte ich – schlafen – ja tot sein lieber und im Grabe Ruhe haben lieber als diesen Aufsatz schreiben über: La cruche va à l'eau tant qu'elle se casse«.
»Aber der Aufsatz wurde doch geschrieben«, warf ich ein.
»Ja, geschrieben wurde er.«
»Solche Stimmungen überkommen uns«, bemerkte ich, und es war wichtig, daß ich das sagte, obgleich ich es fühlte, daß meine Stimme dabei nicht den rechten Tonfall hatte: »Solche Stimmungen überkommen uns meist in Augenblicken, in denen wir uns anschicken, mit allen unseren Kräften dem Leben zu dienen.«
»O – glauben Sie?«
Wir waren an den Weiher gekommen. Hellbeschienen stand die Danaide in dem schwarzen Wasser und streckte ihre händelosen Arme lässig vor sich hin.
»Die hat Ruhe, so sagten Sie doch?« fragte Claudia, »die Hände sind fort, wir müssen ruhen.« »Das kommt so über uns«, begann ich wieder. Ich weiß nicht, ich brachte heute alles nur mühsam heraus. Jetzt mußte ich etwas Schönes sagen, allein es kam gesucht und nicht ganz echt heraus.
»Denken Sie sich einen Rosenstrauch über und über voller Knospen, solche dicke, rote Knospen, die bereit sind, alle zu gleicher Zeit zu springen. Gut! er steht da in der Mondnacht, schwer von Knospen, mutlos und müde –«
»Ach, das ewige Blühen beginnt wieder. Könnte man doch seine Ruhe haben! Das hindert ihn aber nicht, den nächsten Morgen ganz rot von Rosen zu stehen.«
Claudia sah forschend zu mir auf.
»Das ist hübsch. Sie sind eine Art von Dichter.«
»Ich? Ach Gott nein!«
Wir waren am Weiher entlang gegangen und stiegen jetzt den schmalen Laubgang hinauf.
»Sie, natürlich«, sagte Claudia, und ich hörte Spott aus ihrer Stimme heraus. »Sie kennen solche Stimmungen, Sie sind ja ein Lebenskünstler.«
Das ärgerte mich.
»Sagen Sie das doch nicht, was bin ich denn für ein Lebenskünstler? Ich warte, wie alle, auf die Hand, die etwas Wertvolles in mein Leben hineinlegt. Wir sind ja doch alle einer auf den andern angewiesen, damit aus unserm Leben etwas wird.«
Claudia lachte:
»Wie hübsch Sie das sagen. Wenn man das so hübsch sagen kann, dann, glaube ich, braucht man es gar nicht mehr zu erleben. Nicht? Aber auf andere warten. Und wenn nun ein Pfuscher kommt?«
Wieder das fremde, kranke Lachen, das grell in die Finsternis hineinklang. Über uns flog eine Krähe rauschend auf. Irgendwo in der Dunkelheit standen Nachtviolen und dufteten schwül.
»Ach bitte, lachen Sie nicht – so«, entfuhr es mir angstvoll. Sie schwieg, blieb stehen, lehnte sich gegen einen Baumstamm. Ich stand vor ihr. Ich verstand nicht und war daher befangen und ratlos. Da hörte ich einen leisen Ton.
»Sie weinen?« fragte ich.
»O – es ist nichts«, erwiderte Claudia. »Die Nerven. Das hab' ich zuweilen. Verzeihen Sie nur einen Augenblick.« Ich wartete. Ich stand da und horchte auf das leise Schluchzen, mir war, als nähme mein Atem auch den langen, stoßweißen Takt des Weinens an. »Jetzt«, dachte ich, aber ich sagte und tat nichts. Warum? Nun versteh' ich es. Diesem hilflos vor mir schluchzenden Kinde gegenüber durfte ich nichts tun – so nicht. Aber noch ein solcher Augenblick und es geschah, was doch geschehen muß. Ich durchlebte ihn, diesen Augenblick. – Stumm würde ich ihre Hand fassen – eine kühle Hand, die feucht von Tränen ist – und wir würden zu der Veranda hinauf steigen und vor den einsamen, alten Mann hintreten und ihm sagen: »Wir können nicht anders« – und in all die Süßigkeit unserer Liebe würde sich die Bitterkeit unserer Grausamkeit und unseres Mitleids mischen.
»So, nun ist es vorüber«, sagte Claudia, »gehen wir.«
Wir gingen weiter.
»Ich danke Ihnen«, fuhr Claudia fort. »So was ist dumm. Wir wollen's den anderen nicht sagen.«
»Ach nein. Vor einem anderen hätte ich mich so geschämt – aber Sie sind so gut, so – so wie eine Tante.« »Eine Tante«, fuhr ich auf.
»Ja, so gemütlich, so zuverlässig –«
Ich schwieg. Ich war verletzt. Jetzt verstehe ich das. Sie zürnte mir, weil ich sie geschont hatte. Das mußte so sein.
Als wir auf der Terrasse an den Rosenbeeten vorübergingen, riß Claudia sich eine Rose ab, nur den feuchten, roten Kopf einer Rose und kühlte sich damit die Augen. Auf der Veranda bei den Kerzen mit den Windgläsern saßen Daahlen und Spall. Spalls laute, heiter erzählende Stimme klang bis zu uns auf die Terrasse hinab. Daahlen lachte. Claudia blieb stehen.
»Wie sie da sitzen«, sagte sie und dann wie aus tiefen Gedanken heraus:
»Wissen Sie, was ist Mitleid? Das ist doch so, wie Menschen, die uns auf der Straße nicht auszuweichen verstehen. Nicht wahr? Fremde Schmerzen, die uns nicht vorüberlassen wollen.«
Ich war freudig überrascht, daß sie denselben Gedanken hatte, der mir dort unter den Bäumen gekommen war!
»Ja,« sagte ich, »wir müssen daran vorüber, wenn unser Weg daran vorüberführt.« Sie bog den Kopf zurück und schaute zum Monde auf. Wie bleich ihr Gesicht war, ihr herrlicher Mund lächelte ein seltsames, unvergeßliches Lächeln. Den rechten Arm hob sie empor und bewegte wie triumphierend die Hand, in der sie fest die rote Rose zerdrückte.
»O ja, wir müssen vorüber«, sagte sie leise. Dann ging sie schnell die Treppe zur Veranda hinauf.
Die beiden Herren dort waren sehr heiter. Spall erzählte Anekdoten. Claudia stellte sich zu ihnen, wollte mitlachen, lachte ein wenig mühsam, die Augen immer noch seltsam erregt. Spall schaute erstaunt zu ihr auf, erhob sich dann, nahm einen Schal, der auf einem Stuhle lag, legte ihn Claudia um die Schultern und sagte: »Du bist blaß, du frierst.«
Mir mißfiel das. Es sah aus, als sei es sein Recht und seine Pflicht, für sie zu sorgen. Die ganze Lebenslage war mir jetzt zuwider. Ich verabschiedete mich. Da wollte auch Spall gehen und schloß sich mir an. Während wir die Allee hinabschritten, sprach Spall beständig, ich weiß nicht was, ich hörte nicht zu. Eine starke Aufregung arbeitete in mir. Beständig wiederholte ich mir alles, was Claudia gesagt hatte, deutete – legte es aus mit philologischer Gewissenhaftigkeit. In der Stadt vor dem Hause des Klubs blieb Spall stehen: »Gehen wir hinauf?« fragte er. Ich zögerte. Er war mir ziemlich unangenehm mit seiner krampfhaften Heiterkeit.
»Kommen Sie,« drängte er, »auf eine Stunde. Ich habe diese Nacht noch etwas vor und kann nicht schlafen gehen.«
»Renommist!« dachte ich – ging aber mit. Ich fürchtete mich, nach Hause zu gehen. Es war mir, als lauere dort ein Umschlag meiner Stimmung auf mich, etwas Quälendes und Trauriges.
Im Klub herrschte sommerliche Leere. Im Spielzimmer saßen einige alte Herren beim Whist. Im Lesezimmer gähnten ein unbeschäftigter junger Arzt und ein unbeschäftigter junger Rechtsanwalt hinter ihren Zeitungen. Wir setzten uns in das Speisezimmer.
»Ich muß Sekt trinken«, sagte Spall. So tranken wir denn Sekt.
Spall versank in Gedanken.
Sein hübsches, freches Knabengesicht nahm einen ältlichen, fast kranken Ausdruck an. Mit einem Ruck fuhr er dann auf.
»Sie spielen nicht?« fragte er.
»Nein, ich mache mir nichts draus.«
»Ich spiele gern,« fuhr Spall fort, »Hazard nur, dabei fühlt man sich so angenehm aufrichtig als Automat.«
»Automat?«
»Ja, wir glauben wohl, wir berechnen. Ein Automat hält auch das Uhrwerk, das er im Leibe hat, für Verstand, aber das ist Unsinn, es schnurrt in uns und wir müssen auf die Neune oder den Buben setzen. Angenehme Unverantwortlichkeit – was?«
Es fiel mir auf, daß Claudia auch das Wort angenehm unverantwortlich gebraucht hatte und das war mir peinlich.
»Geschmackssache«, warf ich mürrisch hin.
Spall lächelte sein erfahrenes, böses Lächeln. »Das ist auch der Reiz bei den Weiberaffären.« Er sah mich sinnend an über den Rand seines Glases hin. »Wie stehen Sie eigentlich zu den Weibern?« fragte er. Er war mir sehr unsympathisch. »Gott,« erwiderte ich gereizt, »zu den Weibern steh' ich gar nicht. Das ist so, als fragte man mich, wie ich zu den Tagen stehe. Zu Tagen steh' ich nicht. Ich kenne nur einen Montag, Dienstag – und jeder Montag ist von dem andern verschieden und zu jedem steh' ich anders.«
Spall nickte: »Sie haben recht, aber gemeinsam bei diesen Weibergeschichten ist das Automatengefühl. Es schnurrt in uns und wir tun alles um eines Weibes willen und dann schnurrt es wieder und es ist aus. Da können wir nichts dazu tun.«
Ich antwortete nicht, all dies mißfiel mir, gerade deshalb, weil es mich an ein Gespräch erinnerte, das ich mit Claudia gehabt hatte. Spall erzählte nun ein Erlebnis mit einer Tänzerin. Ich hörte nicht zu. Ich trank recht schnell und hing meinen erregten Gedanken nach. Spall sah nach der Uhr.
»O – es ist spät,« rief er, »ich muß fort«.
»Don-Juan-Pose«, dachte ich. So gingen wir denn. Als wir uns trennten, rief ich ihm ironisch ein »Viel Glück« zu.
»Danke, danke«, sagte er.
Ich war froh, allein zu sein. Der Wein gab mir eine angenehme, vertrauensvolle Sicherheit, etwas Triumphierendes. Ich saß in der schweigenden Allee auf der Bank, sah in den Himmel hinein, der weiß vom Mondlicht war, und dachte daran, daß Claudia vor mir geweint hatte, um meinetwillen, und wenn ein Weib vor uns weint, dann ist es hilflos uns gegenüber. Und später dann die kleine Feindseligkeit. Ich mußte lächeln. Nach Hause zu gehen, wagte ich nicht, ich traute der Stille meines Schlafzimmers nicht. Und als ich im aufdämmernden Morgen doch endlich heimging und mich schlafen legte, da kam das, was ich fürchtete ... ein kurzer, unruhiger Schlaf, dann ein langes Wachliegen mit bohrenden Gedanken, die alles, was ich erlebt hatte, zerpflückten, farblos, bedeutungslos machten. Es war sehr quälend. Als Kind, da ich das einzige Kind war, war ich gewohnt, still für mich und sehr eifrig zu spielen. Ich verlor mich ganz in die Welt meiner Kinderphantasie. Aber zuweilen mitten im Spiel kam eine Ernüchterung über mich, das quälende Bewußtsein, daß es kein Pferd, sondern ein Stuhl, kein Schiff, sondern ein Sofa sei. Unendliche Mutlosigkeit ergriff mich und ich weinte. »Was weinst du?« fragte mich meine Mutter. »Ich kann nicht spielen,« sagte ich dann. Daran mußte ich denken, als ich mich ruhelos in meinem Bette hin und her warf. Ich beschloß, nicht aufzustehen. Ich wollte es machen wie die Fledermäuse, in meinem dunklen Winkel bleiben und ärgerlich nach den Spalten schielen, durch die der Tag hereinscheint. Als Josef herein kam, sagte ich ihm, ich wollte nicht aufstehen. Ich gestattete ihm nicht, die Vorhänge aufzuziehen, ließ Licht anmachen und mir den Tee an das Bett bringen. Ich tat, als sei ich krank, trank den Tee, rauchte eine Zigarette und ließ mich von Josef unterhalten.
»Gestern«, berichtete er, »war ich bei Zierer wegen der Hemden des Herrn Barons. Da war auch der Baron Spall. Er kaufte eine Reisedecke, eine sehr schöne teure Reisedecke.«
»Gott, Josef,« seufzte ich, »bist du langweilig! Deine geselligen Talente nehmen ab. Was geht mich die Reisedecke des Barons Spall an? Erzähle lieber, wie du als Junge da oben bei euch mitgenommen wurdest, wenn dein Vater auf die Güter mähen ging und ihr bei den Pferdehütern schlieft und wie die Pferde dich mit feuchten kühlen Nasen beschnupperten.« »Ja, das war so,« begann Josef. Er hatte das schon oft erzählen müssen, wenn ich verstimmt und mutlos war.
Ich hörte ihm zu, ließ dann das Licht auslöschen und versuchte wieder zu schlafen. Wirklich schlief ich sanft ein und bin sehr erquickt erwacht. Ich habe mit Appetit gegessen, habe dieses geschrieben und gehe zu Daahlens. Ich bin wieder mit Claudia und mir zufrieden, ich bin wieder Claudias und meiner sicher, ich verstehe uns beide, mich erwärmt ein gutes Festtagsgefühl, wie wir es haben, wenn sich etwas Schönes ereignet, das in unserem Leben mitzählt.
Nachts.
So soll es hier stehen, deutlich und nüchtern – wie ich das Erlebnis eines anderen sehe – ein Text, bei dem ich mir die Exegese vorbehalte.
Also: Es war die Zeit des Sonnenunterganges, als ich zu Daahlens ging. Mir war leicht und sicher zumute. Ich lebte gern. Ich liebte Claudia sehr stark. Ich konnte mich an dem Sonnenuntergang erfreuen, an den großen kupferfarbenen Wolken ganz dunkel, wie ein veilchenfarbener Hecht in einem rosafarbenen Wasser. Hübsch. Die Leute, denen ich begegnete, schienen auch fröhlich. Die Herren trugen den Hut in der Hand, die Mädchen lächelten dem rotem Lichte zu. In einem Hause wurde Mendelssohn gespielt; die selbstverständliche Süßigkeit, die so ohne weiteres einleuchtete, gefiel mir heute. Ein Paar kam mir entgegen. Es war Toni mit ihrer Pappschachtel, am Arm eines blonden jungen Mannes. Sie nickte mir zu, machte sich von ihrem Begleiter los, um mich zu begrüßen.
»Ach, Herr Magnus, Sie –«
»Ja – Toni – wie geht es?«
»Danke, gut. Ach, hab' ich auf Sie auf der Bank gewartet, und Sie kamen immer nicht. Einmal gingen Sie vorüber und sahen mich gar nicht.«
»– O, wirklich«, murmelte ich verlegen.
»Ich war sehr böse. Aber jetzt ist's vorüber –«
»Sie haben einen – einen?« fragte ich zögernd. Sie lächelte selig.
»Ja, einen Ophtalmologen. Ein lieber Mensch.«
»So. Viel Glück!«
»Danke. Gleichfalls, Herr Magnus.« Und sie nahm wieder den Arm ihres Ophtalmologen.
Gut, gut, dachte ich. Die lieben Mädchen.
Als ich über den Vorplatz der Villa ging, sah ich an der Schmalseite des Hauses wieder Julchen sitzen, in ihrem blauen Kleide, die Brille auf der Nase, die Haube ganz rot vom Abendlicht. Sie hatte eine Schüssel auf dem Schoße – eine andere stand neben ihr auf der Erde, und sie schälte, kleine, goldgelbe Birnen. Als ich sie grüßte, nickte sie ernst. An der Haustüre mußte ich zweimal schellen, ehe mir geöffnet wurde.
»Die Herrschaft zu Hause?« fragte ich leichthin und wollte eintreten.
»Der Herr Baron ist krank. Der Herr Baron empfängt heute nicht«, sagte der Diener und machte ein feierlich ausdrucksloses Gesicht.
»Krank? Es ist doch nicht schlimm?«
Die Ausdruckslosigkeit des Dienergesichtes nahm etwas Gequältes an.
»Nun denn, ich wünsche gute Besserung.«
War das nicht um die rasierten Lippen wie das Zucken eines säuerlichen Lächelns? Ich blieb auf dem Vorplatz stehen und dachte noch: Da war etwas nicht in Ordnung. Ich beschloß, Julchen zu fragen.
Als ich vor ihr stand, sah sie mich über die Brillengläser hinweg streng an. »Ach, Fräulein Julchen, es ist doch nicht schlimm, hoffe ich, mit dem Baron?«
Julchen schälte eifrig an ihrer Birne weiter und zog die greisen Augenbrauen hinauf.
»So 'was greift an«, meinte sie und begann wieder eifrig ihre Birne zu schälen. »Heute Morgen, als er den Brief fand, hatte er einen so starken Anfall, daß wir den Doktor holen wollten, aber er wollte das nicht.«
»Ah, der Brief«, sagte ich, als verstände ich, und wirklich etwas in mir verstand sofort das, was mir doch unbegreiflich war. »Und wie – wie kam das?« fuhr ich auf das Geratewohl fort.
Julchen warf die geschälte Birne klatschend in die Schüssel, die auf der Erde stand.
»So gegen zwei Uhr muß sie fortgegangen sein. Der Portier von drüben ist in der Nacht von der Kneipe heimgekommen. Da hat er einen Wagen in der Allee stehen sehen. Da wird er wohl auf sie gewartet haben.«
»Er?«
»Ja, der Herr von Spall. Und die Gemüsefrau, als sie zur Stadt gekommen, ist dem Wagen begegnet. Sie werden wohl bis zur nächsten Station gefahren sein.« »Das werden sie wohl«, sagte ich mechanisch.
Julchen schüttelte traurig den Kopf: »So 'was! Zu still war es ihr hier, das hab' ich gemerkt. Solche unruhige Augen. Wenn ich mit ihr unten im Garten spazieren ging, dann rannte sie, rannte sie, so daß es schwer war, ihr nachzukommen, und dann blieb sie auf einmal stehen und packte mich an dem Arm, fest, daß es weh tat, und sagte: ›Julchen, Sie haben auch tüchtig geliebt.‹
›Ach, Frau Baronin‹ sagte ich, ›was werde ich schon viel geliebt haben.‹
Dann lachte sie und sagte: ›Ja, ja, Julchen, Sie sind ein ausgebrannter Vulkan.‹
›Wie Frau Baronin meinen,‹ sagte ich. Was kann unsereins viel sagen! Der Herr von Spall hat mir gleich nicht gefallen. Ach ja. So gut wie bei uns wird sie es anderswo nicht leicht finden. Da hab' ich mit Mühe ihr zu heute Schnabelerbsen besorgt, weil sie die so gerne ißt. Nun ist sie fort.«
Julchen seufzte und beugte den Kopf tiefer auf ihre Birnen nieder.
»Wird auch schon ruhiger werden«, murmelte sie.
Ich fand nichts Rechtes zu sagen, ich stand, bis ich fühlte, daß ich eine lächerliche Figur machen müßte.
»Ich gehe ein wenig in den Garten«, sagte ich.
Julchen nickte: »Ja, Herr von Brühlen, es ist ja so jetzt keiner drin.«
Langsam ging ich zwischen den Blumenbeeten hin. Ich fühlte anfangs nur sehr großes Erstaunen. Spall und sie – war es möglich? Wie ist das? Ich verstehe nicht. Diese Frau von Daahlen, die mit Herrn von Spall durchgegangen war, schien mir so fremd. Ich ging zum Weiher hinab, hörte den Fröschen zu. Eine tiefe, fette Froschstimme erzählte zuerst etwas allein. Dann fielen die anderen ein, alle zusammen, eifrig und heiser, und aus ihren Reden klang es immer wieder wie »Spall – Spall –« heraus.
Als ich nun dort stand, überkam mich ein schmerzvolles, weiches Gefühl, ein sehr starkes Vermissen. Alles in mir dürstete nach Claudias Gegenwart, nach jenem geheimnisvollen Verstehen, jener Vertraulichkeit meines Körpers und des ihren. Das war doch gewesen. Mein Gott – warum war sie nicht da! Ich stieg den finstern Laubgang hinan, den ich mit ihr gegangen war. Die Nachtviolen dufteten wieder im Dunklen.
Ich lehnte mich an den Baum, an dem sie gestanden und geweint hatte. Hier bekam mein Schmerz etwas Pathetisches, das fast wohltat. Wie deutlich sah ich sie vor mir, ihren Mund sah ich, vor allem ihren wunderschönen Mund, bis daß der Gedanke, daß ein anderer über diesen Mund herrscht, mich auffahren ließ, wie von einem körperlichen Schmerz getroffen. Und er, der andere, war immer da gewesen, auch wenn mein Begehren sich am heißesten an sie herangedrängt hatte, um ihn hatte sie hier geweint, an ihn gedacht. Und ich, was hatte ich denn hier getan? Eine demütigende Wut schüttelte mich, eine Wut, als dächte ich an einen Schlag, den ich empfangen und versäumt hatte, zurückzugeben. Ich eilte auf die Terrasse, ich wollte fort aus diesem Garten, in dem ich mir selbst zum lächerlichen Gespenst wurde.
Auf der Terrasse begegnete mir der Diener.
»Der Herr Baron lassen bitten,« sagte er, »ob der Herr Baron nicht einen Augenblick heraufkommen wollen.«
»Ich?« »Ja, der Herr Baron lassen bitten.«
»Gut, gut, ich komme.«
Ich folgte dem Mann, aber ich dachte dabei: »Es ist unmöglich, daß ich da hinaufgehe.« Ich ging aber doch. Daahlen begrüßte mich mit einer hastigen, aufgeregten Freundlichkeit.
»Da sind Sie, mein junger Freund. Ich sah Sie da unten herumirren. Danke, daß Sie gekommen sind. Diese Einsamkeit macht einen ja verrückt.«
Er sah angegriffen, älter als sonst aus. Das Gesicht war vergilbtes Pergament, die Augen blank und tiefliegend. »Setzen Sie sich doch,« fuhr er fort, »hier ist eine Zigarre. So, wollen wir gemütlich plaudern.« Er sah mich forschend an. »O,« meinte er, »Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen, ich werde nicht von meinen Geschichten sprechen. Jeder hat seine Geschichten, nicht wahr? Aber es gibt noch andere Themata – Gott sei Dank.« Er lächelte und legte die Hand auf ein Buch, das aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch lag.
»Da lese ich ein Buch über Afrika, eine Reise von Buonaventura Meyer. Gut. Ich kenne ihn, ein vernünftiger Mensch. Er hat die Gegenden gesehen, die ich gesehen habe, dieselben Neger, dieselben Sitten, nicht wahr? Aber er sieht etwas ganz anderes, als ich gesehen habe. Ich frage mich, lügt der, oder lüge ich? War er betrunken, als er das sah, oder war ich betrunken? Wie erklären Sie das?«
Ich mußte antworten und begann zu sprechen, ohne noch zu wissen, was ich sagen würde.
»Das kommt wohl daher, daß alles, was wir sehen, wir ganz allein sehen. Es hat sozusagen jeder sein eigenes Afrika. Es hängt z.B. ein Bild in meinem Zimmer, das ich liebe. Es wird mir gestohlen, oder ich muß es verkaufen. Da ist es dann ein Trost, daß das Bild, welches ich gesehen habe und geliebt habe, nicht gestohlen oder verkauft werden kann, das ist einzig, das – das« – ich verwirrte mich, denn ich sah an Daahlens Gesicht, daß ich taktlos wurde.
»Das ist nicht wissenschaftlich«, sagte Daahlen streng.
»– Nein, wissenschaftlich nicht«, stotterte ich.
»Ja, aber die Wissenschaft.« Daahlen begann begeistert von der Wissenschaft zu sprechen, er wurde warm, inbrünstig, ja fast sinnlich. Es klang wie eine Liebeserklärung des Ehemannes an seine ihm ewig treue Gattin. Da öffnete der Diener die Türen des Speisezimmers und meldete das Abendessen.
Wir aßen Hammelkotelette mit Schnabelerbsen, die für Claudia besorgt waren, und tranken alten Steinwein. Daahlen trank viel und sprach unausgesetzt von sehr fernliegenden Dingen, von Dingen, die alle jenseits des Ozeans lagen. Und er hatte das Bedürfnis, sich selbst zu bewundern: »Ja, mein Lieber, was ich durchgeführt und erlebt habe, dazu gehört eiserner Wille, davon wissen unsere Klubherrchen nichts. Die Sinne schnell wie beim Raubtier, Geistesgegenwart und Energie, ich sage Ihnen, man fühlt die Energie im Blute, wie eine Faust, die uns hält und treibt und schiebt.« Er wuchs immer mehr in seinen eigenen Augen.
Die Fenster zum Garten hin standen offen. Ein Wind hatte sich draußen erhoben. Er trieb die Wolken schnell über den Mond. Licht und Schatten wechselten, als stünde dort oben eine mit dem Erlöschen kämpfende Flamme. Die alten Bäume rauschten und plötzlich fuhr ein Windstoß in das Zimmer und brachte die Düfte all der Rosen da draußen mit. Daahlen schwieg. Sein Gesicht nahm einen weichen, hilflosen Ausdruck an. Und auch ich dachte: »Claudia, Claudia« – es war mir, als sei sie durch das Zimmer gegangen. Selbst der Diener neigte das bleiche Gesicht ein wenig auf die Schulter und schaute mit seinen ausdruckslosen Augen wehmütig ins Leere.
»Sie,« sagte Daahlen zum Diener, »sagen Sie Fräulein Julchen, sie soll uns von dem ganz alten Kognak schicken, den in der Ecke, sie weiß, und die großen englischen Gläser, gut mit Eis ausgekühlt. Dieser Kognak,« wandte er sich an mich, »hat noch im Keller Ludwigs XVIII. gelegen, während der Katastrophe mag ein Kellermeister ihn gestohlen haben; ich habe ihn von einem Pariser Bekannten. Ich sage Ihnen, dieser Kognak ist unter den Spirituosen, was das Genie unter den Menschen ist.«
Der Kognak kam. Daahlen beugte sich über sein Glas und atmetete den starken Duft ein. »Ah, das wärmt die Seele.« Als der Diener gegangen war, beugte Daahlen sich mir vor und schaute mich aus verschleierten Augen an und sagte leise: »Lieber, junger Freund, was werden Sie denken, wenn ich Ihnen sage, ich habe es gewußt, daß so etwas kommen würde.«
»Wie das«, murmelte ich und schaute ihn mit Abneigung an.
Daahlen nickte wehmütig. »Man wird feige mit dem Alter, wo bleibt die schöne Energie? Es muß etwas geschehen, du mußt handeln, sagte ich mir in schlaflosen Nächten, aber sehen Sie, ich setzte mir eine Frist. Diesen Monat noch Ruhe und Gemütlichkeit, dann Strenge, le mari jaloux – na und da habe ich denn diese Gnadenfrist in kleinen Bissen genossen, so wie manche Kinder ihren Kuchen krümchenweise essen, damit er ewig dauere. Ich sage Ihnen, wenn sie mir eine Stunde mein Manuskript vorlas, zerhackte ich diese Stunde in so kleine Teilchen, daß sie mir dreimal so lang erschien. Das lernt man mit dem Alter. Ich denke da an eine Geschichte in Ostafrika. Ich hatte mich dem Leutnant von Marlow angeschlossen, der eine Strafexpedition machte. Nun war da ein junger, schokoladenfarbener Bursche, der sich schwer vergangen hatte, – Verrat oder so 'was. Er sollte erschossen werden, aber nicht an Ort und Stelle, sondern wir mußten noch so ein 10 Kilometer marschieren. Nun, nach 4 Kilometern beginnt der Bursche die Füße zu schleppen, als könnte er vor Müdigkeit nicht. ›Er soll sich erholen‹, sagt Marlow. ›Hören Sie,‹ sage ich zu Marlow, ›der kann doch nicht müde sein, was sind für den 4 Kilometer?‹ Was antwortet mir nun Marlow? ›Für den Burschen sind diese 4 Kilometer so gut wie 40. Der lebt jetzt nicht so obenhin wie wir, der lebt jede Sekunde durch, und das macht müde.‹ Verstehen Sie das?«
Ich antwortete nicht. Mir war dieser afrikanische Vergleich zuwider. Daahlen stützte den Kopf in die Hand und sann trübe vor sich hin.
»Einen Monat wollte ich in ihr noch die Claudia sehen, die ich kannte, und dann wollte ich mich mit der anderen Claudia auseinandersetzen. Sie hat nicht solange gewartet.«
Er richtete sich auf, wurde stolz, ganz Tigerjäger. »Und ich hätte gehandelt, mein Lieber, die alte Energie ist nicht ganz fort. Ich kann schrecklich sein, mein Lieber. Alles Ding hat seine Zeit, steht in der Bibel, Steine sammeln und Steine zerstreuen. O, ich hätte Steine zerstreut.« Er lachte höhnisch und goß sich den Kognak in die Kehle. Aber dann wurde er gleich wieder gefühlvoll, er legte seine Hand auf die meine und sagte: »Sie war Ihnen auch sympathisch, ich weiß. Nun sitzen wir beide da.« Ich stand auf, ich wollte gehen. Es war mir unerträglich, der Bundesgenosse dieses alten Mannes und seines Schmerzes zu sein.
»Sie gehen schon,« meinte Daahlen, »ich danke Ihnen, mein junger Freund; über die Einsamkeit kommen wir nicht hinweg, da helfen alle Veranstaltungen nichts.«
Ich ging hinaus. Die Nacht war jetzt dunkel und warm. Über mir in den Bäumen der Allee flüsterte ein leichter Regen. Es gibt Augenblicke, in denen uns die Welt sehr unwahrscheinlich vorkommt, in denen wir gleichsam neben uns selbst einhergehen, wie neben einer wunderlichen und unverständlichen Erscheinung. Ich weiß, daß ich in dem Augenblick nicht an Claudia, sondern an Toni dachte. Wenn sie jetzt ein wenig schwer an meinem Arme hinge, meinen Arm leicht gegen ihre Brust drückte und mich mit den friedlich lüsternen nemophilenblauen Augen ansähe, das wäre beruhigend klar und verständlich.
Jetzt sitze ich in meinem Zimmer und habe all das niedergeschrieben. So war es. Aber was ist es, was ich erlebt habe? Mir fällt jetzt der Abend auf der einsamen Veranda bei Bohrer ein. Die weite, dunkle Ebene, die einsame Stimme, die dort erwachte und die andere, die ihr antwortete. War es vielleicht nur ein Echo? Sind unsere sogenannten Liebeserfahrungen nicht vielleicht alle nur ein Echo unserer selbst? Das ist vielleicht die Formel dafür. Das wäre dann gut und es ginge mich nichts an, was diese Frau von Daahlen und dieser Herr von Spall miteinander haben. Mein Liebesverhältnis wäre gesichert. Aber, warum tut das so weh? Warum läßt das solch einen häßlichen demütigenden Schmerz zurück?
Der Morgen graut hinter den Vorhängen. Ich werde Joseph wecken und ihm befehlen, daß er die Koffer packe. Ich muß fort. Ich will in ein Fischerdorf an der Ostsee reisen, dort still sitzen, die Füße im warmen Sande, und den Wellen zusehen, wie sie rufen und antworten, miteinander gehen und vergehen. Das wird mir jetzt gut tun. Warum? Auch dafür wird sich die Erklärung wohl finden lassen.
Ende