Eduard Graf von Keyserling
Bunte Herzen
Eduard Graf von Keyserling

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ein sehr heller Augustmorgen lag über Kadullen. Im Hause war es noch still. Nur Komtesse Betty ging durch die sonnigen Zimmer und ließ die Fenstervorhänge herab, denn der Tag versprach heiß zu werden. Dann ging sie in den Garten hinaus um Rosen zu schneiden. Zuweilen hielt sie in der Arbeit inne und schaute blinzelnd in den Sonnenschein hinein, sah zu dem Gartenburschen hinüber, blickte den Küchenmägden nach, die mit großen Körben voller Gemüse aus dem Gemüsegarten kamen, überall regte sich schon emsig das behäbige und geregelte Leben. Das tat gut. Wenn das eigene Leben sich sachte dem Ende zuzuneigen beginnt, muß man sich an dem starken jungen Leben der Anderen wärmen, die Hände voll großer kühler Rosen haben und mit geöffneten Lippen den Morgenduft dieses Gartens eintrinken. Dort von der Allee her grüßte jemand. Ach ja, das war Moritz, der zum See hinunterging, um zu baden. Der arme Junge. Seitdem er so stark in Billy verliebt war, kam er aus dem Wasser gar nicht mehr heraus, immer wieder war er unterwegs zum See. Die lieben Kinder, wie sie einander liebten und einander Schmerz bereiteten und wie hübsch das alles war. Ja das Leben, das liebe Leben. Ob zwischen dem Leutnant und Elsa etwas zustande kommt. Komtesse Betty wollte mit Madame Bonnechose darüber sprechen; die hatte in solchen Dingen einen sehr scharfen Blick. Sie nahm ihre Rosen zusammen und ging in das Haus hinein. Sie war erstaunt, um diese Zeit schon Boris im Wohnzimmer zu finden. In seinem Anzug aus rahmfarbener Seide mit dem nelkenroten Gürtel saß er wartend in einem Sessel, bleich, sehr hübsch und ein wenig feierlich.

»Wie? Du schon auf, mein Junge«, sagte die alte Dame.

»Ja«, meinte Boris ernst, »ich habe etwas vor, ich habe den Onkel fragen lassen, ob er mich gleich nach dem Frühstück empfangen will, ich muß mit ihm sprechen.« Komtesse Betty sah ihren Neffen unsicher, ein wenig ängstlich, an.

»Ach so, ja warum soll er dich nicht empfangen. Aber, was ist denn? Ist es wegen ... wegen –«

Boris nickte: – »Ja, wegen Billy«.

»Lieber Boris«, sagte die alte Dame und bog den Kopf ein wenig zurück, um ihrem Neffen in die Augen zu sehen, »muß das gerade jetzt sein? Das wird Billy so aufregen – und den Onkel, und mich und uns alle und wir sind gerade so glücklich und so gemütlich beieinander. Kannst du damit nicht warten?«

Aber Boris wurde noch feierlicher: »Das tut mir leid, liebe Tante, daß ich Eure Gemütlichkeit stören muß. Das ist, fürchte ich, nun einmal die Rolle, zu der ich bestimmt bin«, und er lachte bitter, »nein, gemütlich bin ich nicht, aber ich tue, was ich tun muß.«

»So, so«, sagte Komtesse Betty ängstlich, »ja dann – vielleicht geht alles gut. Ich gehe gleich zu Billy hinauf, vorläufig muß sie jedenfalls im Bett bleiben, ich bringe ihr das Frühstück.« Geschäftig eilte sie fort und Boris setzte sich wieder bleich und entschlossen auf seinen Sessel und wartete.

Als Boris zu seinem Onkel gerufen wurde, fand er diesen in seinem Schreibzimmer am Fenster sitzend. Er rauchte seine Morgenzigarre und schaute auf den Hof hinaus. Dort regte sich emsig die landwirtschaftliche Vormittagsarbeit. Im Teich wurden Pferde geschwemmt, ganz blank in der Sonne. Erntewagen fuhren vorüber, grellgelb gegen den blauen Himmel. Flüchtig wandte sich der Graf zu seinem Neffen um, nickte ihm zu und schaute dann gleich wieder zum Fenster hinaus.

»Guten Morgen, Boris«, sagte er, »du willst mich sprechen, schön, bitte setze dich.« Als Boris sich gesetzt hatte, war es ganz still im Zimmer. Er hatte so viel große Worte vorbereitet, aber hier in diesem Zimmer vor diesem alten Manne, der mit seinen Gedanken so sehr weit fort von allem zu sein schien, von allem, was Boris anging, schien all das Vorbereitete nicht mehr zu stimmen. Ob er wirklich nur sich für die vorüberfahrenden Erntewagen interessiert, dachte Boris, oder ob er Komödie spielt aus Bosheit?

»Wie der Bursche dort oben auf dem Gerstenfuder liegt«, begann jetzt der Graf, »so ganz königlich hingerekelt. Der hat wirklich Besitzgefühl jetzt, wenn ihm auch kein Halm gehört. Der hat mehr Besitzgefühl in diesem Augenblick, als ich hier an meinem Fenster. Merkwürdig, nicht?« Er wandte sich Boris zu. Als er den gespannten Ausdruck auf dem bleichen Gesicht sah, zog er ein wenig die Augenbrauen empor und bemerkte: »Ja so, du willst von dir sprechen, also bitte.« Dann schaute er wieder zum Fenster hinaus.

»Ja Onkel«, sagte Boris und seine Stimme klang gereizt und kampflustig, »ich wollte dir sagen, ich ..... ich liebe Billy.« Der Graf zog an seiner Zigarre und sprach dann langsam und stark durch die Nase: »Gewiß, das ist verständlich. Das ist natürlich. Es wird vielleicht manchem anderen ebenso gehen. Billy ist ein ungewöhnlich hübsches, junges Mädchen, da verlieben die jungen Leute sich in sie, das war von jeher so.«

»Aber Billy liebt auch mich«, stieß Boris entschlossen hervor. Sein Onkel schaute ihn aus den grauen Augen scharf an, das Gesicht blieb ruhig, nur die Nase schien noch weißer zu werden: »Lieber Boris, auch in meiner Jugend verliebten wir uns in junge Mädchen, wir sagten wohl auch zuweilen, ich bin in die und die verliebt, aber zu sagen, dieses junge Mädchen ist in mich sterblich verliebt, das galt damals für nicht geschmackvoll.«

Boris errötete, aber er fühlte, wie er seine Sicherheit zurückgewann, so eine angenehme Kampfstimmung machte ihm das Herz warm. Er konnte sogar wieder seine Lippen zu dem traurigen und hochmütigen Lächeln verziehen, von dem eine Dame ihm gesagt hatte »das ist so hübsch, daß es schwer sein muß, später nicht zu enttäuschen.«

»Vielleicht ist es geschmacklos«, sagte er, »aber es gibt Lebenskrisen, in denen wir auch über den Geschmack hinweggehen, ich wollte nur sagen, daß Billy und ich miteinander einig sind. Ich bin geschmacklos, gut, aber nur, weil ich klar sein möchte.« »So, so«, erwiderte Graf Hamilkar und die Zigarre zitterte ein wenig in seiner Hand, »dann werde ich auch klar sein müssen. Da ich von jeher mich für dich interessiert habe, so bin ich häufig in die Lage gekommen, dir aus all den Schwierigkeiten herauszuhelfen, in die dein Leichtsinn oder, um mich weniger klar auszudrücken, deine interessante Natur dich verwickelt hat. Da du nun all das weißt, was ich von dir weiß, so wirst du verstehn, daß ich für das Glück meiner Tochter auf dich in keiner Weise gerechnet habe.«

Jetzt fand Boris seine Beredsamkeit wieder, er fand all die großen Worte wieder, die er sich gestern in der Ahornallee zurechtgelegt hatte, und er mußte sich von seinem Stuhl erheben um sie zu sprechen.

»Ich weiß, Onkel, alles, was du für mich getan hast. Ich kenne auch meine Fehler. Aber das entscheidet hier nicht. Billys Liebe ist für mich ein unverdienter Glücksfall. Solch ein Glück ist immer unverdient. Aber die Hände nicht darnach ausstrecken wäre für mich ein Selbstmord, ja geradezu Selbstmord.«

»Mein Lieber«, unterbrach ihn der Graf, »von dem Worte Selbstmord als rhetorischer Wendung ist im Interesse des guten Geschmacks dringend abzuraten.« Boris wurde heftig, seine Stimme nahm eine scharfe Diskantlage an: »Ich kümmere mich nicht um rhetorische Wendungen und um Geschmack. Es handelt sich hier um mein Schicksal, aber das wäre ja gleich, das wäre dir gleich. Aber es handelt sich um Billy, Billy gibt mir mein Recht und wenn ich auch leichtsinnig bin und unwürdig und eine schlechte Partie und unsympathisch, Billys Liebe ist mein Recht.«

Er war zu Ende und setzte sich auf seinen Stuhl zurück. Das hatte wohlgetan. Der Graf strich sanft seine weiße Nase und versetzte: »Das Recht, dich in meine Tochter zu verlieben, kann ich dir nicht absprechen, ebensowenig das Recht, mich um die Hand meiner Tochter zu bitten, aber was du da eben gesagt hast, klang eher so, als hieltest du in Billys Namen bei mir um deine eigene Hand an.«

»Ich wollte offen und loyal gegen dich sein«, erwiderte Boris.

»So, wolltest du das?« meinte der Graf. »Du nennst das loyal, wenn du als Gast in meinem Hause hinter meinem Rücken mit meiner siebzehnjährigen Tochter, wie du es nennst, einig wirst.« »Es war vielleicht nicht korrekt«, sagte Boris müde und überlegen, »aber, mein Gott, wenn etwas so Starkes hier im Herzen und hier im Kopf sich festsetzt, dann sprechen wir es eben aus.«

Scharf und böse erwiderte der Graf: »Ein anständiger Mensch behält eben neun Zehntel von dem, was ihm durch Herz und Kopf geht, für sich.«

»Du willst mich beleidigen, Onkel«, Boris lächelte dabei sein hübsches melancholisches Lächeln, »gut, gut. Wir Polen können unsere Köpfe und Herzen vielleicht weniger im Zaum halten, als ihr Deutsche; deshalb sind wir doch anständig.«

»Es ist sehr wohlfeil, mein Lieber«, höhnte der Graf, »seine Fehler seiner Nation in die Schuhe zu schieben; die kann sich nicht wehren. Übrigens...« Er hielt inne, seine Zigarre war ausgegangen; er zündete sie umständlich an und als er wieder zu sprechen begann war die Gereiztheit aus seiner Stimme fort, es war wieder der beschaulich näselnde Ton. »Die Diskussion ist hier wohl unfruchtbar, wir sind dazu, beide, in der Sache zu wenig objektiv. Ich bedauere also, deinen Antrag ablehnen zu müssen.« Boris erhob sich und verbeugte sich formell. »Dann kann ich wohl gehen«, sagte er. »Ja«, erwiderte der Graf, »der Gegenstand wäre soweit erschöpft. Es wäre noch hinzuzufügen, daß ich dich bitten muß, deinen Besuch bei uns heute abzubrechen.«

Boris verbeugte sich wieder. »Nachmittag natürlich«, fügte der Graf hinzu.

»Danke«, sagte Boris und ging dann sehr auf, recht hinaus.

Graf Hamilkar tat einen langen Zug aus seiner Zigarre und schaute wieder zum Fenster hinaus. Er wünschte wieder einen Erntewagen zu sehen und einen Burschen, der schläfrig hoch oben in den heißen gelben Halmen lag. Im Hof hinter einem Busch hatte die ganze Zeit über Marion gestanden und zu ihm in das Fenster hineingeschaut. Jetzt, da Boris gegangen war, lief auch sie dem Hause zu. Der Aufklärungsdienst der Jugend gegen die Alten dachte der Graf. Er lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen.

Er war ein wenig müde. Natürlich würde sie gleich kommen. Wie er seine Tochter kannte, so würde sie sich den Rausch der Treue, des Bekennens, des Mutes vor den bösen Vater hinzutreten, nicht entgehen lassen. Gott, wie das Leben immer wieder dieselben alten Rollen verteilte. Widerlich. Jetzt ging die Tür. Er öffnete nicht die Augen, eine unendliche Trägheit machte ihm die Augenlider schwer. Er hörte, wie Billy in das Zimmer trat, nahe an ihn herantrat und vor ihm stehen blieb. Da öffnete er die Augen und lächelte ein wenig. »Nun, meine Tochter?« fragte er, »komm, setze dich zu mir.«

»Nein, Papa«, erwiderte Billy, »ich möchte lieber stehen.«

»Gut, steh«. Er mußte auch stehen, als er seine Rede hielt, dachte Graf Hamilkar. Billy stand da in ihrem weißen Kleide, rote Nelken im Gürtel, die Arme niederhängend und die Hände leicht ineinander verschlungen. Das Gesicht war bleich und die Augen sehr blank. Entschlossen sieht sie aus, ging es dem Grafen durch den Sinn, Charlotte Corday vor der Badewanne Marats.

»Ich wollte nur sagen, Papa«, begann Billy, »daß ich für Boris bin, daß ich auf Boris Seite stehe. Wenn du ihn auch beleidigst und fortschickst, ich bin für ihn, ich muß das.«

Sie sprach ruhig, nur daß sie beim Sprechen die roten Nelken aus ihrem Gürtel zog und nervös zerpflückte. Der Graf nickte: »Gewiß Kind, ich habe das nicht anders erwartet. Ich fürchte, wir werden einander nicht überzeugen. Du wirst Boris immer anders sehen, als ich ihn sehe. Unsere Augenpunkte sind eben zu verschieden. Auch über das, was du fühlst, werden wir nicht einer Meinung sein. Du hältst das für etwas Dauerndes, ja für etwas Ewiges, nicht? Und ich für etwas Vorübergehendes. Ich könnte mich nun auf meine Erfahrung berufen und sagen, ich habe mehr Dinge vergehen sehn als du. Aber du wirst mir einwenden, das, was du erlebst, sei noch nie erfahren worden, sei einzig. Wir kommen nicht zusammen. Da bleibt also nichts übrig als die altbewährte Regel, daß ich bestimme und du gehorchest. Ich verwalte dein Leben und habe es dir, wenn du anfängst es selbst zu verwalten, ungeschmälert zu überliefern. Die Zugabe des polnischen Vetters aber würde ich für eine unvorteilhafte Belastung dieses mir anvertrauten Kapitals halten.«

»Ich will aber lieber, daß es belastet ist und ... und ... und alles, was du sagst, aber mit Boris«, rief Billy und warf die Nelken zornig zur Erde. Der Graf zuckte leicht mit den Achseln. »Ja, mein Kind, darin sind wir eben verschiedener Ansicht, und meine Ansicht ist vorläufig die herrschende.« Billy schwieg. Sie ließ jetzt ihre Arme schlaff niederhängen, ihre Augen wurden ganz rund und klar und es kam ein wunderlicher Ausdruck in sie von Hilflosigkeit, ja von Angst. »Dann – dann –« brachte sie mühsam heraus, »dann weiß ich nicht.« Ein unendlicher Widerwille gegen seine Vaterrolle stieg in ihm auf, war er denn wirklich dazu da, um dieses schöne Wesen zu quälen? Aber als er zu sprechen begann, klang seine Stimme noch um einiges kühler und ironischer:

»Geh jetzt, meine Tochter. Vielleicht gewährt es dir einige Beruhigung, zu denken, daß für den Schmerz, den du jetzt empfindest, nicht du selbst verantwortlich bist, sondern ich. An solchen kleinen Hilfshypothesen, wie der Professor sagen würde, ist das Leben reich, und warum sollen wir sie nicht benutzen.« Billy hörte ihn nicht mehr, die klaren Augen schienen auf etwas hinauszustarren, über das sie sich wunderten und das sie erschreckte. Dann plötzlich machte sie Kehrt und ging hinaus.

Der Graf fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Ein verteufeltes Gefühl, das Mitleid. Es ist eigentlich ein starkes körperliches Unwohlsein. Dann bückte er sich und hob die Nelken auf, die Billy zerpflückt hatte. Er wollte sie in der Hand halten.

An diesem schwülen Tage war auch das Leben in Kadullen wunderlich gespannt. Überall standen Leute zu zweien beieinander und flüsterten mit ernsten Gesichtern. Die Professorstöchter saßen ein wenig verlassen auf der Veranda und sprachen leise miteinander. Zuweilen gesellte sich Egon zu ihnen und machte ihnen lau und zerstreut den Hof. Billy hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen und Komtesse Betty brachte viel Himbeerwasser zu ihr hinauf und Marion jagte beständig zwischen Billys Zimmer und dem Garten hin und her, um Nachrichten zu überbringen. Keiner fand es gemütlich. Lisa ging unter ihrem roten Sonnenschirm zwischen den Blumenbeeten umher. Diese Liebesgeschichte, an der sie keinen Teil haben sollte, machte sie unruhig. Der Leutnant war auf die Hühnerjagd gegangen. Natürlich, das kannte sie an den Männern; wenn es galt sich zu entscheiden oder sonst die Lebenslage schwierig wurde, gingen sie immer auf die Hühnerjagd. Diese armen Tiere schienen nur dazu da zu sein, um über unangenehme Lebenslagen hinwegzuhelfen. Jetzt suchte sie Boris, sie wollte mit ihm sprechen. Wer konnte den Liebenden besser Rat erteilen als sie. Aber er war nicht da. Es hieß, er sei auf die Wiese hinausgegangen. Gut, dann wollte Lisa mit Billy ein Gespräch haben. Aber als Marion das Billy meldete, wurde diese sehr heftig. »Nein, sie soll nicht kommen. Was wird sie sagen und sie wird von ihrem alten Griechen sprechen. Der Fall mit ihrem Katakassianopulos ist ganz anders wie mein Fall. Sag ihr das. Sie kann mir nicht helfen, mir kann niemand helfen.« Und sie drückte das Gesicht in die Kissen und weinte. Ratlos stand Marion vor ihr. »Und Boris ist verschwunden«, klagte Billy wieder, »geh zu Moritz, sag ihm, er soll Boris aufsuchen, er soll acht geben auf ihn, er soll bei ihm bleiben. Geh schnell.« Marion stürmte wieder die Treppe hinab.

Sie fand Moritz im Park faul und kummervoll unter einem Baume hingelagert. Er blinzelte Marion schläfrig an, als sie ihren Auftrag ausrichtete. »Was, auf ihn acht geben«, sagte er, »was wird ihm geschehn? Dem geht es ja gut. Von mir aus kann er sich auch – – –«

»Sie will es«, sagte Marion. Seufzend richtete Moritz sich auf, nahm sein Badetuch, das neben ihm am Boden lag, hing es sich über die Schulter und schlug widerwillig den Weg zur Wiese ein.

Auf der gemähten Wiese glitzerten allerort Spinnweb über dem kurzen Grase. Schwalben flogen ganz niedrig an der Erde hin. Die Sonne stach unerbittlich herab.

»Unglaublich«, murmelte Moritz, »bei solcher Hitze diesen polnischen Narziß suchen zu müssen. Wo wird er denn sein? Er wird hier irgendwo liegen.«

Wirklich fand er Boris unter einer Weide glatt auf dem Rücken im Grase liegend. Als Moritz vor ihm stehen blieb, schaute ihn Boris gleichgültig an und fragte: »Was willst du?«

»Ich?« sagte Moritz, »ich will eigentlich nichts, aber Billy schickt mich, ich soll auf dich acht geben.«

Boris antwortete nicht, sondern starrte wieder zum Himmel auf. Da legte sich Moritz auch in das Gras. Dieser schöne Pole im gelben Seidenanzug war ihm unendlich zuwider. Wie er da lag, gleichsam schwer und satt von der Bewunderung all der schönen Weiber, die an ihm hingen. Er hätte ihn schlagen mögen. Dennoch war es ihm ein Bedürfnis, in seiner Nähe zu sein, denn etwas von Billy war da, wo Boris war, er wußte um sie, er war die dumme, widerwärtige, verschlossene Türe, hinter der das stand, was Moritz jetzt allein begehrte. Vor dieser Tür zu sitzen war schmerzvoll, aber dieser Schmerz war eben jetzt die einzige Beschäftigung, die ihm blieb.

»Nachdenklich?« bemerkte Moritz endlich.

»Ja«, erwiderte Boris mit seinem lyrischen Stimmton, »wer mit seinem Leben nicht fertig ist, hat eben noch manches zu überdenken.« Moritz lachte höhnisch: »Na, du hast in dein Leben ja schon hübsch viel hineingepackt.«

»Das alles ist noch nichts«, sagte Boris schläfrig. Moritz dachte jetzt darüber nach, was er sagen könnte, dann begann er: »Sag mal, wie war es damals in Warschau mit der Tänzerin Zucchetti? Du hattest doch ein Verhältnis mit ihr?« Aber Boris ärgerte sich nicht. »Wie es war? Ja, wie soll ich das jetzt noch wissen. An so etwas erinnert man sich doch nicht. Du könntest mich ebensogut fragen, wie die Flasche Sekt war, die ich am 12. August vor drei Jahren getrunken habe. Ich weiß das nicht.« Und behaglich, als läge er im Bett, wandte er sich um, legte sich mit dem Bauch in das Gras, um sich von der Sonne den Rücken wärmen zu lassen. »Gut«, fuhr Moritz eigensinnig fort. »Du hast aber genug tolle Sachen um ihretwillen angestellt, also hast du sie geliebt.«

»Wenn Ihr das im Deutschen Liebe nennt«, entgegnete Boris, »so tut mir Eure arme deutsche Sprache leid.«

»So?« Moritz wurde gereizt. »Was ist denn die polnische Liebe?«

»Die polnische Liebe«, sagte Boris und gähnte diskret, »die polnische Liebe ist etwas unendlich Heikles. Es genügt eine Bewegung oder ein Wort, damit von Liebe nicht mehr die Rede sein kann, sondern – nun mein Gott – sondern von allem Anderen.« Boris richtete sich ein wenig auf, kniff seine großen Augen ganz schmal zusammen und schaute träumend zum Walde hinüber, der dort drüben einen sehr schwarzen Strich in all die Helligkeit hineinzeichnete. »Da war einmal eine sehr schöne Frau. Sie war unsere Nachbarin. Ich stand mich sehr gut mit ihr. Sie pflegte mich nachts um zehn Uhr in ihrem Park zu erwarten. Nun gut. Einmal hatte ich mich verspätet, statt zehn, war es dreiviertel elf Uhr geworden. Wie ich nun komme und sehe, sie steht da unter dem Baum und sie hat doch gewartet, da freue ich mich und in dem Augenblicke liebe ich sie wirklich ganz stark. Aber, als ich näher komme, macht sie ein strenges Gesicht und sagt: Nun, du bist pünktlich, das muß man sagen, auch ist es recht ritterlich, eine Dame so lange warten zu lassen. Das klang so spitz und säuerlich und alltäglich, daß von Liebe nichts mehr da war. Eine Gouvernante, die mit einem Schüler spricht, der sich verspätet hat, dachte ich.«

»Was tatest du?« fragte Moritz. – »Ich machte eine Verbeugung und sagte: ich bin nur gekommen, gnädige Frau, um zu melden, daß ich heute nicht kommen werde. Nun, und dann ging ich.«

Moritz zuckte die Achseln: »Daran finde ich nichts Besonderes. Das sind so Dinge, die man erlebt, um sie später zu erzählen.«

»Ihr erlebt nichts und ihr erzählt nichts«, schloß Boris, legte seinen Kopf wieder auf den Rasen und zog sich den Hut über die Augen.

Die beiden jungen Leute schwiegen, Boris schien zu schlafen, Moritz saß an den Stamm der Weide gelehnt da und schaute auf die Ebene hinaus, über die ein gleichmäßiges Summen erklang, die tiefberuhigte Geschäftigkeit eines sonnigen Werktages. Das machte ihn traurig und mutlos. Er empfand sich selbst unangenehm deutlich als uninteressant und alltäglich. Die Mädchen verliebten sich in andere, die seltenen Erlebnisse waren für andere da, ja er fühlte sein glattes, semmelblondes Haar, sein rundes Gesicht, seine hellblauen Augen als etwas, das ihm weh tat. Und plötzlich kam ihm eine sehr ferne Erinnerung. Er mußte ein sehr kleines Kind gewesen sein, als er drüben auf dem Gut in Westpreußen mit der alten Wärterin in der sonnigen Gartenecke saß. Die Alte schlief, das magere Gesicht von der Wärme gerötet, die Luft war voll eines gleichmäßigen, schläfrigen Klingens. Die großen Klettenblätter, von der Sonne erhitzt, strömten einen starken säuerlichen Geruch aus und das Kind empfand es wie etwas, das immer so bleiben würde. Hinter dem Zaun aber, von unten im Dorf, tönte zuweilen das Lachen und Schreien von Kindern herüber, der Kinder, welche etwas erlebten. Moritz fuhr auf, »Unsinn«, murmelte er, beugte sich vor und begann Boris zu schütteln. »Du, schlafe nicht.« »Was gibt es«, fragte Boris, »wozu die Brutalität?« »Du sollst baden kommen«, sagte Moritz. »Baden?« wiederholte Boris, schlug die Augen auf und schaute Moritz scharf und sinnend an, als wollte er aus ihm etwas herauslesen. »Gut, gehen wir also baden«, beschloß er dann.

Der See war sehr blau und voll harter, sich sachte wiegender Lichter. Zwischen den Schachtelhalmen und dem Kolbenrohr lagen Wildenten regungslos wie blanke Metallsachen. »Hübsch«, sagte Boris, »in diesen Farbentopf zu steigen, ist allerdings schick.« »So«, meinte Moritz ironisch, »du glaubst also, der See wird dir gut stehen.« »Ja, das wird er wohl« erwiderte Boris und begann sich auszukleiden. »Du schwimmst wohl sehr gut?« – »Es geht, und du?« – »Ich schwimme sehr gern«, berichtete Boris, »aber es regt mich auf; ich habe nicht das Gefühl, als sei das Wasser mir befreundet.« – »Das heißt auf deutsch, du schwimmst schlecht«, bemerkte Moritz trocken. Boris lachte: »du sprichst ein besonders gutes Deutsch.«

Das Wasser war lau. Man wühlt sich hier wie in warmer Milch, dachte Moritz, als er langsam in das Lichtgeflimmer hineinschwamm. Alle Traurigkeit, alle »diese Dummheiten« waren fort, nur ein starkes, stilles Lebensgefühl wärmte ihm die Glieder. Er legte sich auf den Rücken, er wollte sich wie die Enten wohlig und faul vom Wasser wiegen lassen. Die Libellen setzten sich auf seine Brust, Wasserpflanzen kitzelten wie mit kleinen, nassen Fingern seine Haut, über ihm flatterten Möwen mit hellgrauen Flügeln, sie schauten auf ihn nieder und riefen schrille Töne herab, die wie das Lachen der beiden Professorentöchter klangen. »Billy, Billy«, murmelte er. Er konnte das jetzt ohne Schmerz sagen, es war nur der Ausdruck des tiefsten Behagens. Dann dachte er an Boris, er hob ein wenig den Kopf. Teufel, war der Mensch verrückt, so weit hineinzuschwimmen. Boris' Kopf tauchte wie ein dunkeler Punkt dort drüben zwischen den Sonnenflittern auf, aber er kam ja nicht vorwärts, jetzt war er verschwunden, jetzt war er wieder da. In kräftigen Stößen begann Moritz der Stelle zuzuschwimmen, er kam noch gerade zurecht, um Boris am Arm zu packen, der in ein Netz von Wasserrosen und Froschlöffeln verstrickt, noch einmal auftauchte, die Augen unheimlich weit und schwarz in dem bläulichen Gesicht. Moritz zog ihn mit sich fort und als er Grund zum Stehen fand, nahm er ihn in seine Arme, um ihn zum Ufer zu geleiten. Er redete ihm freundlich zu: »Wasser geschluckt, mein Alter, ja das ist verdammt, wenn man in den Salat dort hineingerät. Wart', wir sind gleich im Trocknen.« Boris spie das Wasser von sich und rang mit dem Atem. Am Ufer legte er sich in das Gras, er fühlte sich zum Tode ermattet und schloß die Augen. Moritz saß neben ihm und schaute ihn an. Plötzlich richtete sich Boris auf, er schlang die Arme um seine Knie und schaute mit den noch immer angstvoll aufgerissenen, wunderlich dunkelen Augen vor sich hin. »Schlafe doch«, sagte Moritz freundlich. »Ich kann nicht« erwiderte Boris, »sobald ich die Augen schließe, ist es mir, als wickelten sich diese verfluchten glatten Stengel wieder um meine Beine und zögen mich hinunter. Ein wunderliches Gefühl. Ich hatte den Gedanken, nun kommt das Sterben, aber das zu denken dazu war keine Zeit, ich fühlte so maßlose schmerzhafte Wut gegen diese Stengel, gegen das Wasser, das mich herabdrückte, alle zusammen gegen einen, so etwas Ähnliches muß ich gefühlt haben.« Boris sann eine Weile schweigend vor sich hin, das schöne Gesicht war ganz bleich und böse, dann plötzlich lächelte er sein hochmütiges, leichtsinniges Lächeln. »Du hast mir also das Leben gerettet, Bruder«, begann er wieder. Moritz zuckte die Achseln. »Ach was«, meinte er. – »Doch, doch«, fuhr Boris fort. »Du bist mein Lebensretter, ich danke dir. Aber eins möchte ich wissen, du hassest mich doch, wie?« Moritz errötete: »Was werde ich dich viel hassen!« – »Natürlich hassest du mich«, versicherte Boris. »Nun möchte ich wissen, als du mich dort so in der letzten Not fandest, dachtest du da nicht, wenn ich jetzt ruhig zusehe, dann bin ich ihn los. Oder hattest du nicht einen Augenblick Lust, die Hand auf meinen Kopf zu legen und so ein wenig zu drücken? Wie?« Moritz schaute Boris verwundert an: »Nein, so etwas denkt man doch nicht.«

Boris legte sich wieder zurück, die Hände im Nacken verschränkt. Die Erregung des eben Erlebten zitterte noch in ihm nach und trieb ihn, zu sprechen, verträumt, ein wenig wie im Rausch. »Ach wirklich, an so etwas denkt man nicht, was seid ihr für Menschen, ich habe gleich daran gedacht, als du mir sagtest, wir sollen baden gehen; man hat schließlich keinen Katechismus als Seele im Leibe. Tun, ja das ist etwas anderes, man tut manches nicht, aber denken! Ich liebe es, solch eine Tat ganz nah an mich herankommen zu lassen. Es ist so, als ob wir etwas Seltenes, das uns nicht gehört, doch für einen Augenblick in die Hand nehmen und halten dürfen. Und dann, es ist so herrlich aufregend diese Spannung, wirst du es tun oder wirst du es nicht tun. Solche Lebenslagen müssen wir aufsuchen; gleichviel, ich bin dir dankbar, es war sehr unangenehm dort unten. Ich habe nicht geglaubt, daß man sich so allein fühlt, wenn man stirbt, nur so unter Froschlöffeln und den Tauchern, die sich nichts draus machen. Nein, der Tod muß eine gemeinsame Unternehmung sein. Also ich bin dir sehr dankbar für die Lebensrettung.«

»Bitte, bitte«, warf Moritz gleichgültig hin, während er sich ankleidete. – »Ja, sehr dankbar«, fuhr Boris fort, »wir sollten von jetzt ab eigentlich Freunde sein, so 'ne Freundschaft schließen.«

Moritz war jetzt fertig angekleidet. Er blieb vor Boris stehen, schaute mit Abneigung auf ihn nieder und sagte: »Wegen des bißchen Wassers, das du geschluckt hast, nein, ich danke,« Dann ging er.


 << zurück weiter >>