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Freie Scheidung

Der Wille der Jugend, die Prostitution durch die Freiheit der Liebe abzuschaffen, ist schon als einer der Beweise für die höhere Entwicklung der geschlechtlichen Sittlichkeit hervorgehoben worden. Ein anderer ist der Wille der heutigen Zeit, den Ehebruch durch die freie Scheidung abzuschaffen.

Die Vertreter der Monogamie fürchten, dass dieser Wille einer offenen Polygamie an Stelle der jetzt wenigstens geheimen den Weg ebnen wird. In der Presse und von den Kanzeln, in Schul- und Hörsälen misst man der modernen Literatur die Schuld an dieser »neuen Unsittlichkeit« bei.

Ob diese Prediger wohl die Sitten vor dem »Umschwung«, Ende der siebziger Jahre, vergessen haben oder sie nur vergessen wollen?

Gab es damals im Norden keine Prostitution? Waren alle Kinder ehelich? Alle Ehen glücklich? Keine Frauen verlassen, keine Ehegatten ungetreu?

Wir kennen die Antwort. Das gesellschaftliche Gewissen war damals noch so schlummernd, dass die geschlechtliche Unsittlichkeit für naturnotwendig und unangreifbar gehalten wurde, solange sie nur durch äussere Anständigkeit der monogamen Moral ihren Tribut darbrachte.

Alle wissen, dass die Ehemänner und Söhne auf den Gütern die Frauen und Töchter ihrer Untergebenen ebenso wie die Dienerinnen des Hauses verführten. Den Frauen und Müttern dieser Herren war dies oft nicht unbekannt – aber sie wurden als weise gepriesen, wenn sie taten, als ahnten sie nichts! Alle wissen, dass Ehemänner wie Ehefrauen Geliebte in ihrem eigenen Umgangskreis hatten. Alle wissen auch, dass in den Städten Männer in oder vor der Ehe Nebenfamilien hatten, ja, dass Gatten, Söhne, verlobte Männer oft direkt von Familienfesten weg verrufene Häuser besuchten!

Aber der Geist dieser Zeit war »idealistisch«. Das bedeutet, dass diese selben Männer »das Weib« und die »reine« Liebe besangen, Trinksprüche auf »die Gattin und Mutter« ausbrachten und dass die Literatur nur von der Tagseite des Lebens – am liebsten von der Sonntagsseite – sprach, während die Nachtseite verschwiegen blieb!

An einem Abend Ende der siebziger Jahre wurde in einem hochadeligen Familienkreis eine dort vorgefallene Scheidung mit darauffolgender Wiederverheiratung besprochen. Die Männer wie die Frauen konnten gar nicht genug harte Worte für den Verwandten finden, der seine Frau um eines anderen Weibes willen verlassen hatte. Eine einzige in der Gesellschaft, eine junge, eben verheiratete Gräfin, fragte die männlichen Redner, wie sie sich erkühnen könnten, das offene, alle Folgen tragende »Vergehen« zu verurteilen, das sie selbst – im Geheimen, unter niedrigeren Formen und viel öfter – begangen hätten?

Von den anwesenden Männern wagte es kein einziger, die Anklage zurückzuweisen!

Diese Stunde war eine von jenen, in der sich die Klingen zum ersten Male kreuzen, die sich dann auf allen Schlachtfeldern begegnen, wo der Kampf um neue oder alte Sittlichkeit tobt.

Die letztere hat mit grosser Ruhe die Polygamie ertragen, vom Thron an durch die ganze Gesellschaft hindurch. Aber wenn für einen königlichen oder gewöhnlichen Menschen die Liebe eine Lebensfrage geworden ist – dann hat sich die ganze Gesellschaft in ihrem sittlichen Bewusstsein aufs tiefste gekränkt gefühlt! Diese alte Sittlichkeit hat noch die Macht – folglich auch den Ruhm und die Herrlichkeit – auf ihrer Seite. Sie spricht in Reichstagen und Stadtvertretungen; sie steht ordengeschmückt und breitschulterig als die den »auflösenden Tendenzen der Zeit« zum Trotz gesellschafterhaltende Macht.

Aber dessen ungeachtet sind viele Ehemänner der Oberklasse in den Städten des Landes zuweilen das ganze Jahr regelmässige Kunden irgend eines käuflichen Weibes; dessen ungeachtet teilen nach Übereinkommen die Vorsteherinnen gewisser Häuser es jedesmal gewissen Familienvätern mit, wenn frische Ware eingetroffen ist.

Ernste Sittlichkeitsprediger antworten freilich: dass sie diese geheimen Ehebrüche ebensowenig gutheissen wie die offenen; dass sie in den einen wie in den anderen eine Äusserung der Macht der Sünde sehen, die nur die Religion zu besiegen vermag. Man hat aber dann das Recht zu fragen: ob in ihren eigenen Reihen – unter Geistlichen, Missionaren, Laienpredigern – keine derartigen Sünden vorkommen?

Die Ehrlichen antworten: ja, aber betonen, dass dies Beschämung bei den übrigen Christen erregt, und dass diese Gläubigen selbst einsehen, dass sie gesündigt haben. Dasselbe tun auch die Weltmenschen, die heucheln, um ihr Ansehen zu bewahren. Aber die grosse Gefahr für die Gesellschaft tritt erst dann ein, wenn Freidenker ohne Gewissensbisse die Sünde begehen, Schriftsteller sie ohne sittliche Entrüstung schildern. Das drückt das Sittlichkeitsideal herab.

Hier ist der Scheideweg für die Richtung der alten und der neuen Sittlichkeit.

Die Vertreter der letzteren fahren fort zu fragen, ob wirklich alle Ehebrecher – Weltkinder wie Gotteskinder – sich in ihrem innersten Bewusstsein als Sünder fühlen. Die Forderung, die ihre Triebfeder war, ist vielleicht so gebieterisch gewesen, dass sie sie vor ihrem eigenen Gewissen berechtigt hat, ein kleineres Übel einem grösseren vorzuziehen, da sie in ihrer Ehe – aus dem einen oder anderen Grunde – diese Forderung nicht befriedigen konnten oder durften.

Anmerkung: Ein einziges Beispiel mag angeführt werden. Ein Landpastor bekannte sich von seiner eigenen Kanzel aus des Ehebruchs schuldig. Aber seine Frau war durch eine Missbildung zur Ehe unfähig, und er hatte darum 12 Jahre im Zölibat gelebt, bevor er die Treue brach. Da sie im übrigen glücklich waren, hatte er von seinem gesetzlichen Recht, sich scheiden zu lassen, nicht Gebrauch machen wollen.

Wenn dem so ist, dann werden die Verkünder der neuen Sittlichkeit wohl Grund für ihre Anschauung haben: dass Selbstbeherrschung nicht die einzige Lösung aller Probleme des Geschlechtslebens sein kann und darf, dass die Unzucht – das heisst hier Ehebrüche ohne Liebe – wohl am verwerflichsten bleibt, aber dass auch eine Lösung gesucht werden muss, die allmählich die Männer hindern wird, sei es in Unzucht, sei es in einem durch die Ehe verhüllten Zölibat die Kraft zu vergeuden, die dem Menschengeschlechte gehört. Die Lösung kann nur die sein, dass man nicht nur das Recht der Liebe verficht, ohne äussere Bande zu vereinen, sondern auch das Recht des Menschen, freier als jetzt die Bande zu lösen, wo wirkliche Einheit nicht mehr möglich ist.

Bei der Frage der Auslese der Liebe wurde hervorgehoben: dass eine zunehmende Erkenntnis des Wertes und der Bedingungen der Artveredlung Ausnahmefälle mit sich bringen dürfte, in denen eine Ehe offen gebrochen werden kann, ohne darum aufgelöst zu werden.

Aber die eigentliche Entwicklungslinie wird ganz gewiss nicht diese sein, sondern vielmehr die: dass die Ehescheidung frei wird und nur von dem eine gewisse Zeit lang festgehaltenen Willen eines oder beider Teile abhängt; dass die allgemeine Meinung sich hinsichtlich gelöster Ehen zu jener weiteren Auffassung aufschwingt, die man schon in bezug auf die gelöste Verlobung erreicht hat, die einstens als ebenso herabwürdigend angesehen wurde, wie jetzt eine Scheidung.

Mit immer grösserem Ernst wird der neue Sittlichkeitsbegriff geltend gemacht: dass die Gattung nicht für die Monogamie da ist, sondern diese für die Gattung: dass die Menschheit folglich Herr über die Monogamie ist und sie bewahren oder aufheben kann.

Auch die Verfechter der freien Scheidung wissen wohl, dass sie Missbräuche mit sich bringen wird. Aber sie wissen auch, dass nichts die unglaubliche seelische Trägheit des Menschen besser beweist, als die Unruhe, die bei dem Gedanken an die durch eine neue Gesellschaftsform möglichen Missbräuche entsteht, während uralte Missbräuche mit der stumpfesten Ruhe hingenommen werden!

Welche Missbräuche die freie Scheidung auch bringen kann, schwerere als die, die die Ehe mit sich gebracht hat und noch immer mit sich bringt, dürfte sie wohl kaum herbeiführen können! Die Ehe, die zu den rohesten Geschlechtsgewohnheiten, dem schamlosesten Handel, den qualvollsten Seelenmorden, den grausamsten Misshandlungen und den gröbsten Freiheitsverletzungen herabgewürdigt wird, die irgend ein Gebiet des modernen Lebens aufzuweisen hat! Man braucht nicht zur Kulturgeschichte zurückzugehen, sondern nur zum Arzt und zum Rechtsanwalt, um zu erfahren, wozu »der heilige Ehestand« benützt wird – und zwar nicht selten von denselben Männern und Frauen, die seinen sittlichen Wert preisen!

Anmerkung: Jeder Arzt weiss, dass noch immer keine Übertreibung in J. St. Mills Worten liegt: »The law of servitude in marriage is a monstrous contradiction to all the principles of the modern world and to all the experience, through which these principles have been slowly and painfully worked out ... Marriage is the only actual bondage known to our law: There remain no legal slaves, except the mistress of every house ...«

Neben diesen Ausspruch kann man den Björnsons stellen, der über die Ehen früherer Zeiten gesagt hat, dass sie selten »zur Scheidung führten, aber zu Püffen und Schlägen, oft zu Mord, sehr oft zu Untreue, Trunksucht, Sklavensinn, Heuchelei und schlechtem Beispiel für die Kinder«.

Man mag antworten, dass Missbräuche nichts gegen den Wert einer bestimmten Gesellschaftseinrichtung beweisen, solange nur der richtige Gebrauch derselben dem Zwecke gut entspricht, zu dem sie entstanden ist.

Die Majorität meint, dass dies bei der Ehe noch immer der Fall sei. Die Minorität findet hingegen, dass ihr Zwang nun ihrem eigenen ursprünglichen Zweck, der Erhöhung der geschlechtlichen Sittlichkeit, entgegenwirkt.

Diese Minorität meint, dass, sobald man die Liebe als sittliche Grundlage der Ehe erkannt hat, die unvermeidliche Folge die ist, dass man dem, der zu lieben aufgehört hat, das sittliche und gesetzliche Recht zusprechen muss, seine Ehe zu lösen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch machen will.

Und dieselbe Minorität weiss, dass die Liebe, ganz unabhängig vom Willen des Menschen, aufhören kann und dass darum niemand mit verpflichtender Kraft mehr zu versprechen vermag, als was in das Gebiet des Handelns fällt.

Nichts ist natürlicher, als dass die Ewigkeitssehnsucht der Liebe Liebende zu Gelöbnissen ewiger Treue veranlasst; nichts wahrer, als dass es »eine satanische List der Gesellschaft ist, dieses Gelöbnis zu packen und eine gesetzliche Institution darauf zu gründen« (Carpenter). Nichts ist notwendiger, als die gesetzlichen Rechtsansprüche aufzuheben, die die Menschen, gestützt auf Liebesgelöbnisse und Treueschwüre, aneinander stellen.

Je mehr die Menschen die Gesetze ihres eigenen Wesens begreifen, desto mehr beginnen die Gewissensfeinen zu zaudern, Versprechungen zu geben, die sie vielleicht eines Tages aus einer inneren Notwendigkeit heraus brechen müssen. Immer Zahlreichere finden es unmöglich, eine Ehe einzugehen und sie vom anderen Teile zu verlangen – oder auch die Fortdauer der Ehe, wenn die Liebe erloschen oder für einen anderen erwacht ist. Ein Bräutigam oder eine Braut konnten – noch vor einem Mannesalter – die Bitte des anderen Teiles um Freiheit mit der Antwort abschlagen: dass er oder sie Liebe genug für beide hätte!! Heute wäre dies in den entsprechenden Kreisen undenkbar. Aber damals wurde noch eine öffentliche Verlobung als ein bindendes Band angesehen, und die Trauung fand unwiderruflich statt! Es war nach mehrjähriger Verlobung eine »Ehrensache« für den Mann, das Mädchen nicht der Gefahr auszusetzen, unverheiratet zu bleiben. Und sie gab sich damit zufrieden, wenn er nur seine Ehrenschuld bezahlte!

Solche Gefühlsroheiten werden glücklicherweise immer seltener, obwohl sie noch durchaus nicht ausgestorben sind. Immer mehr sehen die Menschen ein, dass man ebensowenig das Recht hat, eine Ehe nur zu schliessen, um Treupflichten zu erfüllen, wie das Recht, zu stehlen, um Versorgungspflichten zu erfüllen; dass man nicht mehr die Pflicht hat, in einer Ehe zu verharren, in der man fühlt, dass man untergeht, als die Pflicht, sich einem anderen zu Liebe umzubringen!

Dies werden einmal allgemeine Wahrheiten sein, ebenso gewiss wie es jetzt verkannte Wahrheiten sind – wenigstens wenn man danach lebt!

Sie brauchen eigentlich nicht einmal mehr ausgesprochen zu werden – weil schon lange danach gelebt wurde – in jedem Kreise erotisch verfeinerter Menschen. So geschah es in der Zeit Goethes und der Romantik in Deutschland; so ist es in Frankreich geschehen, so geschieht es nun überall in Europa. Die höchst entwickelte Jugend erkennt keine andere Treue als die der Liebe, keine andere Ehe als die in Freiheit geschlossene.

Es fällt heutzutage Freunden nicht mehr ein, sich den Bruderschwur zu leisten, ebensowenig wie es je Eltern und Kindern oder Geschwistern in den Sinn gekommen ist, gegenseitig öffentlich bindende Gelöbnisse ewiger Gefühle abzulegen. Auf allen diesen Gebieten weiss man, dass keine Gelöbnisse die Gefühle sichern können, die ebenso gut ohne sie bestehen und durch sie nicht bewahrt werden können.

Die neuen Menschen meinen, dass das erotische Gefühl in gleicher Weise der Obhut der Individuen selbst überlassen werden kann. Selbst wenn diese Menschen aus Gesellschaftsrücksichten ihrem Bunde die Form der Gesetzlichkeit geben, so schliessen sie doch das Übereinkommen: dass jeder die volle Freiheit hat, den anderen zu verlassen, wenn er oder sie es so wünscht.

Jeder ist so ebensowohl auf die Möglichkeit des Glücks, wie auf die des Leids gefasst.

Die Liebe früherer Zeiten fürchtete vor allem, der andere Teil könnte sich nicht genügend gebunden fühlen. Das feinste erotische Gefühl der Gegenwart bebt davor, eine Fessel zu werden; es schaudert vor der Zärtlichkeit des Mitleids, es scheut vor der Möglichkeit zurück, ein Hindernis zu werden. Dieser Seelenzustand weiss von keinem anderen Rechte, als dem der vollen Ehrlichkeit. Die Freiheit des einzelnen gesetzlich zu begrenzen, damit keiner dem anderen Leiden zufüge, ist unter diesen Verhältnissen sinnlos. Denn beide würden unter einer ohne volle gegenseitige Neigung fortgesetzten Vereinigung gleich tief leiden.

So stellt sich für die neuen Seelen die Scheidungsfrage, wenn keine Kinder da sind. Wo dies der Fall ist – und das ist ja die Regel – meinen auch sie, dass der Irrtum der Eltern sie nicht von der Pflicht lösen kann, für die Erziehung der Kinder, denen sie das Leben gegeben haben, zusammenzuwirken.

Aber sie sind der Meinung, dass dies nicht immer durch ein fortgesetztes Zusammenleben geschehen muss. Oft kann dies jedoch notwendig sein, und dann müssen sie ihre persönlichen Glücksforderungen denen des neuen Geschlechtes unterordnen. Ein so Denkender hält jemanden, der ein für allemal dieselbe Antwort gibt – mag diese nun »Freiheit um jeden Preis« oder »Verzicht um jeden Preis« lauten – für nichts anderes als einen Moralautomaten.

 

Es ist wahr, dass die neuen Menschen Unglück in ihrer Ehe weniger ertragen können, als die früherer Zeiten. Dies beweist, dass der eheliche Idealismus anspruchsvoller ist als früher.

Der bewusste Lebenswille unserer Zeit sträubt sich gegen die sinnlosen Leiden, durch die die Menschen früherer Zeiten, vor allem die Frauen, sich erniedrigen, abstumpfen, verbittern liessen. Eine feinere Selbstkenntnis, ein stärkeres Persönlichkeitsbewusstsein, zieht nun dem eigenen Leiden eine Grenze, wenn man die Gefahr fühlt, Schaden an seiner Seele zu nehmen. Diese Entschlossenheit des Individualismus macht es der modernen Frau unmöglich, sich für das Griseldisideal zu begeistern – schon deshalb, weil sie fühlt, dass all die geduldige Sanftmut die Ungerechtigkeit nur mehrt. Die »guten alten«, von der Opferfreude der Frauen getragenen Ehen verschwinden, das ist glücklicherweise wahr! Aber dass die neuen guten an ihre Stellen treten, das merkt man nicht. »Denn die Gesundheit schweigt still.« (Geijer.)

Wenn die, welche jetzt gierig alle Scheidungen zählen, auch alle glücklichen Ehen zählten, würde es sich zeigen, dass die Neugestaltung weiter vorgeschritten ist, als die Auflösung.

Man muss einsehen, dass die Frage der Scheidung die Verfolgung der Entwicklungslinie des Protestantismus ist. Mit der bei der Behandlung eines Kulturproblems gewöhnlichen Einseitigkeit vermochte die Reformationszeit nur das Recht der Sinnlichkeit im Menschenleben zu verfechten. Dass es sich jetzt im tiefsten Grunde um das Recht der Seele auf dem Gebiete des Geschlechtslebens handelt, das will man nicht einsehen. Dem Rechte des Individuums stellt man das Recht der Kinder gegenüber. Sind keine Kinder da, dann geben gewisse Christen zu, dass eine Scheidung zuweilen berechtigt sein mag. Unglückliche Eltern müssen hingegen der Kinder wegen zusammenhalten.

Aber der erotisch verfeinerte Mensch von heute kann nicht – ohne das Gefühl der tiefsten Erniedrigung – jemandem angehören, den er nicht liebt oder von dem er sich nicht geliebt weiss. Für einen oder für beide Ehegatten kann so eine – ohne die Liebe des einen oder beider – fortgesetzte Ehe entweder durch diese Erniederung oder durch ein lebenslängliches heimliches Zölibat ein tiefes Leid werden.

Dies ist der Kernpunkt der Frage, den alle umgehen, die über der Sorge für die Kinder vergessen, dass die Eltern doch auch als Selbstzweck betrachtet werden müssen. Man verlangt nicht, dass Vater oder Mutter um der Kinder willen andere Verbrechen begehen; man würde sie tadeln, wenn sie für den Lebensunterhalt ihrer Kinder Banknoten fälschten. Aber man verurteilt Mütter ruhig dazu, sich »um ihrer Kinder willen« Jahr für Jahr in ihrer Ehe prostituiert zu fühlen!

Dass es Ehepaare gibt, die als Freunde weiterleben, weil beide geringe erotische Forderungen haben; dass andere die Erniedrigung eines Zusammenlebens ohne Liebe nicht empfinden; dass die ersteren wie die letzteren wahrscheinlich am besten für die Kinder handeln, wenn sie ihnen ein Heim erhalten – das alles hindert nicht, dass andere unter solchen Verhältnissen so leiden, dass das Leben jeden Wert für sie verliert. Und diese sind es, welche entweder beim Ehebruch oder bei der Ehescheidung landen.

Eine junge Frau, die in missbilligende Worte über eine Ehescheidung ausbrach, bekam von ihrem Oheim, einem alten Naturforscher, eine Antwort, die sie nie vergass und die sich alle mit ihr einprägen sollten:

»Du darfst dich nicht durch Urteile über eine Sache erniedrigen, über die weder du noch sonst jemand ausser den Eheleuten selbst etwas wissen kann! Eine Scheidung wird freilich im Gerichtssaal verkündigt – aber sie fängt immer im Schlafzimmer an.«

Wenn auch ein Feind der Scheidung diese Schwierigkeiten zugesteht, so sagt er doch: dass der einzelne für seine erotischen wie für seine anderen Irrtümer büssen muss, denn nur so werden Menschen dazu erzogen, keine Irrtümer zu begehen.

Aber die Sache dürfte sich anders verhalten: sowie die Morde in früheren Zeiten desto häufiger wurden, je mehr Hinrichtungen das Volk beiwohnte, so entstehen desto mehr unglückliche Ehen, je mehr schon bestehen. Denn es ist vor allem der ganze Geist, der um uns herrscht, der über unser Handeln entscheidet. Ist es die Jugend gewohnt, zu sehen, dass die Älteren sich in hässliche und falsche Verhältnisse finden, so wird sie wohl das gleiche tun. Sieht sie hingegen rings um sich das Streben nach idealen Liebesverhältnissen – einen Idealismus, der sich einmal durch ein schönes Zusammenleben offenbart, ein anderes Mal durch die Aufhebung eines unschönen – dann wird auch sie ihre Ideale hoch stellen.

Diejenigen hingegen, welche selbst einmal fehlgegriffen haben, werden vielleicht klarer sehen, wenn sie ein zweites Mal wählen.

Aber weder die, welche die Irrtümer begehen, noch die, welche sie mit angesehen haben, können durch das Unglück anderer vor dem grossen Anlass der Irrtümer bewahrt werden, vor der erotischen Verblendung. Und ehe sich nicht die erotische Sympathie verfeinert hat, sind diese Irrtümer die allerunschuldigsten. Jeder Liebende wähnt sich von dem Trug der Illusion ausgenommen, und die Erfahrung, dass die erotischen Irrtümer anderer unwiderruflich waren, haben noch nie einen Liebesberauschten klarsehend gemacht!

Wenn man der Ansicht ist, dass die Gesellschaft das Leben aller so wertvoll als möglich machen soll, so bedingt dies auch die Forderung, dass unschuldige Irrtümer so wenig verhängnisvoll als möglich werden.

Auch auf dem Gebiete der Ehe muss man Ernst mit dem modernen Grundsatze machen: dass die Strafe die Fehlenden bessern und einen höheren Rechtsbegriff vorbereiten soll. Aber dies bedeutet, dass die Ehe unter immer besseren Voraussetzungen geschlossen werden, nicht unter immer schlechteren Wirkungen fortdauern soll!

Die Zwangsehe nötigt die Menschen, ihr Zusammenleben fortzusetzen, Kindern unter einem Seelenaufruhr das Leben zu schenken, der Spuren in ihrem Wesen und folglich auch in ihren zukünftigen Schicksalen hinterlassen muss. Aber dies ist nicht eine »wohlverdiente Strafe« für einen Irrtum: es ist die tiefste Verletzung der Heiligkeit der Persönlichkeit und der neuen Generation.

Man muss mit Georg Brandes fragen, »wozu die Völker eigentlich ihre grossen Dichter brauchen?«, wenn man fast ein Mannesalter nach »Nora« und den »Gespenstern« noch an der unbedingten Pflicht der Gatten festhält, die Ehe um der schon geborenen Kinder willen fortzusetzen. An die möglichen Kinder denkt man nicht!

Hier weiss niemand eine Antwort, der »die persönliche Liebe für die Grundlage der Ehe« ansieht, aber »die unbedingte Treue für den wirklichen Ausdruck der Persönlichkeit«!

Folgerichtig ist hier wie immer nur die volle individuelle Freiheit oder die unbedingte Unterwerfung.

Die katholische Kirche sagt – und von ihrem Gesichtspunkt aus mit vollem Recht – dass, weil auch Ehen, die unter den besten Voraussetzungen, aus innigster Neigung geschlossen wurden, unglücklich werden können, es unmöglich ist, die Sittlichkeit der Ehe auf dem Liebesgefühl aufzubauen. Nichts, was auf Gefühlen aufgebaut ist, hat Bestand. Ja, je reicher, je eigenartiger und vielseitiger entwickelt eine Persönlichkeit ist, desto weniger verbleibt ihr Seelenzustand unverändert. Folglich brauchen auch die Höchststehenden ein unverrückbares Gesetz, ein unzerreissbares Band, damit ihre Seelenregungen sie nicht durch Wind und Wellen treiben, so wie die niedriger Stehenden dessen bedürfen, um nicht durch ihre Begierden in die Irre geführt zu werden. Die Zugeständnisse des Protestantismus führen daher zur Auflösung der Ehe, denn mit dem Augenblick, wo die Liebe zu ihrer Grundlage gemacht wird, ist sie auf Sand gebaut.

Die Ehe, die die Kirche darum zum Sakrament und unauflöslich machte, war schon durch das Gesetz der Ausdruck für das private Eigentumsrecht des Mannes an Frau und Kindern geworden. Der Entwicklungsverlauf hat in einer unablässigen Umgestaltung dieser religiös-ökonomischen Anschauung bestanden. Und die Entwicklung kann nicht eher Halt machen, als bis das letzte Überbleibsel dieser Rechtsauffassung ausgetilgt ist.

Darum verwerfen die Lebensgläubigen sowohl die halben Konzessionen des Protestantismus wie den folgerichtigen Zwang des Katholizismus. Sie fordern, dass der Schritt von der Autorität zur Freiheit ganz gemacht werde, weil sie wissen, dass die lebenvereinfachende äussere Gewalt keine tiefere Sittlichkeit schaffen kann. Der Zwang fesselt die gesetzliche Handlungsfreiheit, macht aber die geheimen Übertretungen zu einer Gesellschaftsinstitution.

Und selbst wenn ein Mann oder eine Frau in äusserer Hinsicht eine Versuchung überwunden hat, wird dies sie nicht hindern können, in den Armen des legitimen Gatten von Gefühlen für einen anderen erfüllt zu sein. Sind sie dann dem Ehebruch entgangen? Nach ihrem eigenen feinsten Bewusstsein nicht – dem Bewusstsein, das Goethe durch seine grosse Dichtung von den Wahlverwandtschaften erweckte. Erfüllte Pflichten können ebenso gewiss wie unerfüllte Pflichten unberechenbare und tragische Folgen nach sich ziehen. Ein Tor, der glaubt, eine andere Seele über die haarfeine, messerscharfe Brücke geleiten zu können, wo jeder seinen einsamen Weg über den Abgrund zur Seligkeit geht: den Weg der persönlichen Gewissenswahl!

Wenn Sitte und Gesetz auf den tiefst-persönlichen Gebieten – dem Glauben, der Arbeit, der Liebe – einem Menschen die volle Wahlfreiheit rauben, dann wird das Dasein um grössere Werte geplündert, als die erzwungene Pflichterfüllung bieten kann.

 

In der Liebe hat der Persönlichkeitsbegriff dahin geführt, dass »Eigentum Diebstahl ist«; dass nur freiwillige Gaben etwas schenken; dass die Begriffe »eheliche Pflichten« und »Rechte« dem grossen neuschaffenden Gedanken gewichen sind: dass Treue niemals versprochen, wohl aber jeden Tag errungen werden kann.

Damit ist die Triebkraft zu immer höheren erotischen Organisationsformen gegeben, eine Kraft, die die Buddharuhe der unlösbaren Ehe mit ihrem gesetzlichen Besitzrecht brach liegen gelassen hat.

Es ist traurig, dass diese Wahrheit – die schon den adeligen Sinnen der Liebesgerichtshöfe klar war – noch verkündet werden muss. Einer der Gründe dieser Gerichtshöfe, warum die Liebe in der Ehe unmöglich sei, war nämlich: »dass die Frau vom Ehemanne niemals das feine Betragen erwarten kann, das der Geliebte zeigen muss, weil dieser nur aus Gnade empfängt, was der Mann als sein Recht nimmt!«

Wenn die Scheidung frei wird, dann wird man in der Ehe die Aufmerksamkeit der Verlobungszeit für die Seelenbewegungen des anderen bewahren, die Feinfühligkeit des Betragens, das Bestreben sich zu erneuern, um zu fesseln. Jeder wird – wie in der ersten Zeit der Liebe – dem anderen volle Freiheit in allen wesentlichen Lebensäusserungen gewähren, aber seine eigenen vorübergehenden Stimmungen beherrschen, während die Ehe jetzt in der Regel dieses glückfördernde Verhältnis umkehrt.

Die Sicherheit des Besitzrechtes schläfert jetzt den Eifer, zu erringen, ein; der Zwang, zu erwerben, wird auf diesem wie auf allen anderen Gebieten die Energie anspannen.

Nur eine so errungene Treue wird man in Zukunft des Besitzes wert finden. Eine feinfühligere Glücksforderung wird wohl einstmals ebenso erstaunt der gesetzversicherten Treue unserer Zeit gegenüberstehen, wie ihrem erbrechtlich versicherten Reichtum. In beiden Fällen wird man dann eingesehen haben, dass nur die eigene Kraftentwicklung Glück schafft und die Siegesseligkeit gibt, vor der unredlich ausgestreckte Hände sich beschämt zurückziehen.

Ein dänischer Denker hat unsere Übergangszeit treffend so gezeichnet: dass die Menschen jetzt auch auf erotischem Gebiete reicher und empfindungsvoller sind und dass dies mehr Möglichkeiten zu neuen Erlebnissen mit sich bringt, während andrerseits die tiefere Sensibilität der Zeit die Macht der Erinnerung grösser macht. Man kann das verflossene nicht in dem späteren Glück vergessen: die Pflichten gegen die Vergangenheit bedrücken, während das Neue alle Kräfte heischt. Gleichgewicht ist nur für jene möglich, die entweder fortfahren dort zu lieben, wo die Erinnerungen sind, oder die vergessen können, was sie nicht mehr lieben. Der moderne Mensch kann nicht mehr dem Ideal der unbedingten Treue huldigen, er hat es in die neue ideale Forderung umgewandelt: alle Verhältnisse voll auszuleben, was gleichbedeutend mit der Treue gegen uns selbst ist. Daraus folgt, dass wir Lebensverhältnisse weder übereilt knüpfen, noch zerreissen sollen – aber auch zur rechten Zeit nicht versäumen, beides zu tun.

Dieser Ausspruch ist doppelt beachtenswert, weil er den neuen Ernst der feinfühligsten Jugend ausdrückt. Eine Jugend, die mit der Liebe getändelt hat, hat es zu allen Zeiten gegeben, folglich auch in unserer, wenn auch der Leichtsinn mit den Zeiten Namen und Gestalt ändert. Aber die Jugend, die die Liebe als den grossen Inhalt des Lebens auffasst, die ist in unserer Zeit zahlreicher als in irgend einer anderen.

Überall sind die Lebenbejahenden durch den Willen charakterisiert, jedem Verhältnis den Wert des einzig Dastehenden, das Gepräge des Besonderen, des niemals früher Gewesenen, niemals Wiederkehrenden zu geben. Wie die Lebensanbeter der Renaissance haben auch die unserer Zeit begonnen, die Macht wiederzuerlangen, stark zu geniessen und stark zu leiden, die Macht, die stets eine zunehmende geistige Einheitlichkeit, eine neue Kraftkonzentration durch ein neues religiöses Gefühl beweist.

Die neue Art, das Leben aus dem »Gesichtspunkt der Ewigkeit« zu sehen, bringt auch die Möglichkeit, eine Lebenszeit in ein Jahr zusammenzupressen, ein Jahr in einen Tag und so »den Augenblick zu einer seligen Summe von Ewigkeiten« zu machen.

Für diese Lebensanschauung ist die Dauer des Glücks weniger wesentlich als seine Fülle, solange es währt.

Spinoza, der die Eifersucht geschildert hat wie kein anderer, hat auch von der Liebe das tiefe Wort gesagt: eine je grössere Seelenbewegung wir hoffen, dass der Geliebte durch uns erfährt, je mehr das geliebte Wesen in seinem Verhältnis zu uns von Freude bestimmt ist, desto grösser ist auch unser eigenes Liebesglück.

Der moderne Mensch hat angefangen, den Begriff dieser »grössten Freude« von dem lebenslänglichen Besitzrecht zu trennen. Und damit beginnt auch die Eifersucht in ihrer niedrigeren Form zu verschwinden.

Eifersucht gehört wie andere Schatten zu dem auf- und untergehenden Licht und schwindet in der vollen Mittagsklarheit. Aber ihre Gefühlsbetonung ist eine ganz andere geworden, seit der Mensch weiss, dass es ein Wunder – und kein Recht – ist, wenn die Sonne für ihn auf ihrer Höhe stille steht. Die höchstentwickelten Menschen von heute sagen mit derselben Einfachheit »ich bin geliebt« oder »ich bin nicht geliebt«, wie sie sagen, die Sonne scheint oder die Sonne scheint nicht. Der Unterschied ist in beiden Fällen unermesslich, aber die Notwendigkeit lässt – im einen wie im anderen Fall – das Gefühl der Demütigung nicht aufkommen. Der Schmerz, der entsteht, wenn ein liebendes Wesen nicht mehr die Freude des geliebten bildet oder sieht, wie ein anderer es tut, ist naturnotwendig und ehrfurchtgebietend. Er hört auf es zu sein, wenn er sich als gieriger Besitzrechtswille äussert, als brutaler Instinkt, der oft nicht nur das Gefühl des anderen, sondern auch das eigene überlebt.

Aber obgleich die seelische Differenzierung unserer Zeit grössere Möglichkeit bietet, jemanden zu finden, der irgend eine Seite der erotischen Sehnsucht stillt – während man immer schwerer das Wesen findet, das diese immer zusammengesetztere Sehnsucht ganz zu stillen vermag – so wird diese Gefahr der Zersplitterung gerade durch den zunehmenden Willen, seine Sehnsucht ganz zu stillen, aufgewogen. Dadurch, dass die Liebe immer mehrverlangend wird, wird sie auch immer treuer.

Wer die Auflösung der Gesellschaft durch die Betonung des Rechtes der Liebe fürchtet, der bedenkt nicht, dass das Recht, eine Ehe zu brechen, nur dem Gefühle zuerkannt wird, das nicht nur die rote Glut der Leidenschaft hat, sondern auch die Klarheit, durch die zwei Menschen einander als eine Offenbarung des ganzen ungeahnten Reichtums des Lebens empfunden haben. Eine Offenbarung, die alle Fülle des Verstehens, allen Frieden des Vertrauens barg; wo beide ebenso anspruchsvoll wie anspruchslos gegeben haben – nicht kärglich und zögernd, nein, so, dass jedes ohne Vorbehalt dem anderen entgegenströmte. Nur dieses Glück wollen die erotischen Adelsmenschen erleben. Und es wird immer schwerer und schwerer werden, es auch nur einmal zu erleben – geschweige denn mehrere Male!

Eine grosse Liebe gleicht nie den erotischen Gewittern, die gegen den Wind gehen – das heisst gegen die ganze Lebensrichtung der übrigen Persönlichkeit.

Alle wertvollen Gefühle – für einen Menschen wie für einen Glauben, eine Scholle, ein Land – sind konservativ. Und wie kann die Freiheit von Jemandem missbraucht werden, der weiss, was es kostet, ein Herz von dem zu lösen, woran es sich einmal gehängt?!

Für die flüchtige Natur ist das Glück, das eine festhaltende durch die Liebe erfährt, ebenso verborgen, wie dem Polytheisten die Seligkeit des Mystikers, der in die Fülle der Gottheit versinkt!

Hier wie überall ist das Glück für den Lebensgläubigen eins mit der Sittlichkeit. Weil das Glück in den grössten Seelenbewegungen besteht, ist es seine erste Voraussetzung, alle Gefühle zu verinnerlichen und zu vergrössern, vor allem die ehebegründenden.

Aber ausserdem hängt der ganze Gehalt der Persönlichkeit in wesentlichem Grade davon ab, ob die Treue für uns ein Lebenswert ist. Wer Treue will, schliesst seine Stimmungen um die Wesentlichkeit zusammen, konzentriert seine Kräfte auf sie, schützt sie vor den Windstössen des Zufalls. Nur dies verleiht dem Dasein Stil und Grösse. Der Wille zur Treue wird darum eins mit dem Gefühle eines Menschen für seine eigene Integrität, seinen inneren Zusammenhang, die Haltung und Würde seines geistigen Wesens.

Wenn die Treue aus diesen tiefen Gründen bewahrt wird, wird sie auch nur aus diesen Gründen gebrochen werden. Die Treue, die auf überkommenen Pflichtbegriffen ruht, wird hingegen im Feuer eine Rettungsleiter aus Stroh sein.

Man vergisst überdies, wenn man so viel von den Gefahren der freien Scheidung spricht, dass unter dem Einfluss der Liebe der ganze Seelenzustand sich in der Richtung der Treue bewegt. Die grosse Liebe saugt alle Ideenassoziationen auf, und ohne bewusste Mühe verinnerlicht und vertieft sie so die Persönlichkeit. Die Treue wird ein naturnotwendiger Zustand der Liebe, aber ein Zustand, dem die Zwangsehe ungünstig ist.

Die Treue gegen sich selbst – auch im neuen Sinne des Wortes – bedeutet folglich nicht allein, dass man im Notfall die Brücke zwischen sich selbst und seiner Vergangenheit abbrechen kann. Sie bedeutet auch eine bessere Brückenbaukunst, um den Zusammenhang zwischen unserer Persönlichkeit und der Mitwelt zu befestigen. Sie bedeutet nicht allein die Fähigkeit, mit einem Schicksal fertig zu werden. Sie bedeutet auch, mit einem Menschen nicht zu rasch fertig zu sein. Sie kann freilich die Notwendigkeit eines neuen Lebensversuchs mit sich bringen. Aber sie bringt noch sicherer die Forderung mit sich, sich nicht durch eine vorübergehende Ermattung des Gefühls zu neuen »Erlebnissen« verleiten zu lassen. Dieser Ausdruck – der an Stelle des alten Wortes »Abenteuer« getreten ist – birgt jedoch eine Vertiefung des Gefühls: wo man früher nur die Spannung des »Abenteuerlichen« fand, sucht man nun einen reicheren Lebensinhalt. Aber es ist oft ein verhängnisvoller Irrtum, zu glauben, dass er in neuen Verhältnissen errungen werden kann, während man ihn vielleicht durch Vertiefung des ersten hätte erringen können. Durch grössere Empfänglichkeit und Ehrfurcht vor der Persönlichkeit des anderen entdeckt man in ihm oft mehr, als man erwartet hat. Denn manche Menschen sind wie manche Landschaften oder Kunstwerke: sie fangen erst dann an etwas zu geben, wenn man wähnt, mit ihnen fertig zu sein. Aber es bedarf der Frömmigkeit, um von einer Seele und von einem Werke Offenbarungen zu erwarten. Frömmigkeit ist Versinken. Und dies verlangt Frieden. Aber unsere Zeit ist dem Frieden nicht günstig, ihr Wesen ist gerade ihre Zerstreutheit und Zerstreuung.

Dass unsere Zeit wie jede andere ihre besonderen Seuchen auf erotischem Gebiete hat, steht fest. Und gerade die Zerstreutheit ist das Erdreich, in dem die gefährlichsten derselben ihre Nahrung finden. Es gehört darum zur erotischen Lebenskunst, dass Eheleute sich hier und da eine Zeit des ungestörten Beisammenseins miteinander – oder eine Zeit der Einsamkeit jeder für sich – schaffen, um so die Gesundheit ihres Gefühls zu stärken. Auf diesem wie auf allen übrigen Gebieten sind äussere Schutzmassregeln gegen die Ansteckung bedeutungslos im Vergleich mit der Gesundheitspflege im ganzen.

Nur wer sich nach unablässigem Streben, nach anhaltender Selbstprüfung sagen kann: dass er alle seine Hilfsquellen an Güte und Verständnis gebraucht, seinen ganzen Glückswillen, seine ganze Empfänglichkeit im Zusammenleben betätigt, jede Möglichkeit gesucht hat, die Natur des anderen zu vertiefen, und doch gescheitert ist – nur der kann mit Gewissensruhe die Ehe aufgeben.

 

Der Lebensbaum eines Menschen ist ebensowenig wie der des Waldes nach einem Mass für die Länge der Äste, nach einem Muster für den Zuschnitt der Blätter gemacht. Seine Schönheit beruht auf der Freiheit der Äste, unberechenbare Biegungen zu beschreiben, auf der Lust der Blätter, ihre Formen ins Unendliche zu variieren. Nur wer den Baum nicht nach seinem eigenen inneren Gesetze wachsen lässt, sondern ihn nach dem der Gartenkunst beschneidet, kann sicher vor Überraschungen sein, sicher davor, dass hier ein Zweig unerwartet treibt, dort ein anderer unvermutet welkt. Niemand vermag für die Umwandlungen einzustehen, denen das Leben unser eigenes Wesen unterwerfen kann; für die Erschütterungen, die die Umwandlung im Wesen eines anderen in unserem eigenen Gefühle bewirken können. Man kann die vortrefflichsten Anlagen zur Treue haben, den redlichsten Willen, sich auf seine Liebe zu konzentrieren, sich um sie zusammenzuschliessen, »die Persönlichkeit rings um sie wachsen zu lassen, wie um ihren Kern« – es hängt doch nicht allein von diesem Willen ab, wenn der Kern zusammenschrumpft oder verdirbt.

Darum kann, darf, soll der Wille zur Treue nichts anderes bedeuten als den Willen, den tiefsten Forderungen seiner eigenen Persönlichkeit treu zu sein.

Auf anderen Gebieten als dem der Liebe geben die Menschen das bereitwillig zu. Niemand hält es für eine unabweisliche Pflicht, sogleich in der Jugend die Lebensanschauung oder die Arbeit zu finden, bei denen man dann sein ganzes Leben lang verbleiben kann. Wovor man die Jugend mit Recht warnt, das ist das planlose Umherirren zwischen verschiedenen Meinungen und verschiedenen Bestrebungen. Denn nur der Glaube oder die Arbeit, von denen und für die man ernstlich zu leben sucht, kann wirklich die Kräfte der Persönlichkeit zur Betätigung bringen und so seine Macht zeigen, sie zu steigern. Aber der tiefste Ernst vermag es nicht zu hindern, dass eine fortgesetzte Persönlichkeitsentwicklung den Menschen eines Tages zwingt, diesen Glauben, diese Arbeit aufzugeben. Es wird wohl keinem denkenden Geistlichen in den Sinn kommen, sich einem solchen Menschen gegenüber auf die Konfirmationsgelöbnisse zu berufen, keinem denkenden Vater einfallen, dem Sohne seine Berufswahl in jüngeren Jahren vorzuhalten.

Lebenslängliches Ausharren wurde in den Zeiten gefordert, wo man annahm, dass eine einzige Lehre, eine einzige Zunft das ganze Leben hindurch der persönlichen Entwicklung voll entsprechen könne. Das Verbrechen, davon abzuweichen, wurde damals folgerichtig mit Bann oder Bussen bestraft.

Diese tiefere Auffassung, zu der wir auf dem Gebiete des Glaubens und der Arbeit gelangt sind, muss auch auf dieses dritte Gebiet erstreckt werden. Wir müssen einsehen, dass unbedingte Treue gegen einen Menschen die Persönlichkeit ebenso zerstören kann wie unbedingtes Festhalten an einer Lehre, einem Beruf. Die, welche heut' das asketische Bussgewand mit ein paar Fetzen vom Purpurmantel des Persönlichkeitsbegriffes flicken wollen, verpfuschen beide. Man stelle entweder wie der Katholik die Forderung des Selbstverzichtes rein oder man gebe die Persönlichkeitsforderung voll zu. Unrein wird hingegen das ganze Problem gestellt, wenn man die »persönliche Liebe« zur sittlichen Grundlage der Ehe macht, aber dann so von dieser Liebe spricht, als handelte es sich nur darum, sich leicht und fröhlich zu einem Gesellschaftsspiel zu paaren, bei dem nichts gewöhnlicher ist, als dass jede Frau den rechten Mann findet und gewinnt, jeder Mann die richtige Frau – und damit ist alles in Ordnung! Wäre das Leben so leicht, dann hätte man Grund zu dem Anspruche, der jetzt von so grosser Flachheit ist: nämlich, dass nur der charakterlose Mensch, die haltlose Persönlichkeit ausserstande sei, Liebe für Lebenszeit zu versprechen und das Versprechen auch zu halten.

Anmerkung: Man sehe u. a. Johann von Müllers Buch über die Bestimmung der Frau.

Die Persönlichkeit, der einzig dastehende und eigengeartete Wert, wird wohl durch einen Teil ihres Wesens mit den von der Gesellschaft aufrecht erhaltenen Rechtsnormen verknüpft, aber sie wird doch niemals kongruent mit denselben.

Das einzige, was ein psychologisch Denkender daher verlangen kann, ist, dass die Liebe in keiner Epoche der Entwicklung eines Menschen die Persönlichkeit zersplittere, sondern stets ein wirklicher Ausdruck derselben sei.

Aber nur jemand, der vom Begriffe der Persönlichkeit nichts weiss, kann glauben, dass das Verhältnis, in das ein Mensch mit 20 Jahren sein Gefühl ganz und rein einsetzt, dieser Persönlichkeit, so wie sie sich mit 30 oder 40 Jahren gestaltet, notwendigerweise entsprechen muss! Nur ein solcher Unwissender kann sich weismachen, dass das Schicksal unserer Liebe mit Naturnotwendigkeit unserer hohen Theorie von der Liebe, unserem reinen Willen zur Treue gleichen muss. Wenn schon unser eigener Wille wenig mit der Liebe zu schaffen hat, die wir fühlen, um wieviel weniger dann mit der, die wir empfangen oder verlieren!

Infolgedessen ist die Aufgabe der Treue nicht schon dadurch gelöst, dass man an sich selbst die Forderung der Treue stellt. Denn erstens sind es in der Liebe zwei, die dasselbe wollen müssen. Und zweitens ist jeder dieser beiden vielfältig.

Kein Mensch ist allein Herr seines Schicksals, wenn er es mit dem eines anderen vereint hat. Die Möglichkeit, durch die Liebe eine ganze Persönlichkeit zu werden, hängt zur Hälfte von dem ganzen und reinen Willen des anderen ab, seinerseits das Zusammenleben zu vertiefen.

Das vergessen die, welche so beredt »von der Treue als Ausdruck der Persönlichkeit« predigen. Und das macht ihre Behauptung von der Pflicht der lebenslänglichen Liebe ebenso sinnlos, als wollte man von der Pflicht der lebenslänglichen Gesundheit sprechen!

Es ist ein schönes Bild, wenn zwei Liebende den ganzen Lebenstag »der schweren Tränen Trauertrunk, der Feste Jubel« zusammen geniessen.

Es ist auch ein schöner Anblick, wenn das Leben gleich einer klaren Sonne am Horizonte versinkt, nicht gleich einem müden Flusse im Sande verebbt.

Aber schöne Schicksale sind Glücksschicksale, nicht Pflichtgebote.

Die Liebe, wie die Gesundheit, kann freilich vernachlässigt oder gepflegt werden, und durch gute Pflege lässt sich sowohl die mittlere Lebensdauer des Menschen wie die seiner Liebe erhöhen.

Aber die letzten Ursachen des Entstehens der Liebe und ihres Sterbens sind ebenso geheimnisvoll, wie die des Ursprungs und Untergangs des Lebens. Ein Mensch kann daher ebensowenig versprechen, zu lieben oder nicht zu lieben, wie er versprechen kann, alt zu werden. Was er versprechen kann, ist, sein Leben und seine Liebe wohl zu hüten.

 

Dieses letztere geschieht, wie schon oben dargelegt wurde, durch den bewussten Willen zur Treue, durch den festen Entschluss, die Liebe zu einem grossen Erlebnis zu machen.

Aber die Mehrzahl dürfte wohl bewusst noch wenig tun, um ihr Glück zu bewahren. Das Leben arbeitet in diesem Falle für sie, sowie Gott es seinen Dienern im Schlafe gibt.

Wenn je die Lehre von der Bedeutung des unendlich Kleinen zur Anwendung kommen kann, so ist es in bezug auf die Macht, zu vereinen oder zu trennen, die die Kleinigkeiten des Alltagslebens in der Ehe besitzen.

Es ist wahr, dass »die Ehe zwei psychisch-physisch neue Wesen schafft« (Ch. Albert). Sowie dies sie in einem Falle zur äussersten Grenze der Entwicklungsmöglichkeiten in aufsteigender Richtung führen kann, kann es sie im anderen an die Grenze des Untergangs und darüber hinaus bringen. Die letztere Möglichkeit kommt als allgemeine Wahrheit in all den Tragödien – und Tragikomödien – des »Liebeshasses« zum Ausdruck, die Strindberg der Gegenwart geschenkt hat.

Er hat all seine Stärke an die Bilder des Zusammenlebens verschwendet, das »die Eheleute lehrt, ineinander zu lesen«, gegenseitig ihre Gedanken und Absichten zu verurteilen, und ihnen so eine satanische Macht gibt, zu verwunden und »Verdienste in Fehler zu verwandeln«. Mit einem Worte, einander zu demaskieren, wird nach Strindberg der böse Wille der Ehegatten: also der Gegensatz zu Dehmels Überzeugung von ihrer glückbringenden Macht, einander von der Maske zu befreien!

Aber Strindbergs Ehetragödien weisen doch in einer Hinsicht in die rechte Richtung, nämlich, dass die sensitiveren und anspruchsvolleren Menschen der Gegenwart die jetzigen Formen der lebenslänglichen Ehe nicht mehr ertragen. Denn wenn man selbst zugibt, dass »das Leben Rücksicht und Nachgiebigkeit verlangt«, muss, meint er, der Mensch zur Furie werden, »wenn er mit Unterdrückung seiner inbrünstigsten Wünsche in einer Luft des Widerspruchs lebt«.

Dass geteilte Mühen und Erinnerungen, Freuden und Sorgen auch ohne die Fortdauer der Liebe Menschen miteinander verbinden; dass sie sich im tieferen Sinne des Wortes nicht trennen können, weil ein grosses Stück des Wesens des einen immer in dem des anderen bleibt – dies bildet das in Wahrheit bindende Band, aber nicht die klaren oder unklaren, festen oder freien Pflichtbegriffe, und es ist die Stärke von Geijerstams Eheschilderungen, dies zu zeigen. Wenn das eine Mal ein Zusammenleben die Gefühle beider in dem Grade ausgedorrt hat, dass ein Windstoss sie auseinanderwirbelt wie zwei welke Blätter, so kann es hingegen ein anderes Mal den Gefühlen so tiefe Wurzeln gegeben haben, dass wenn auch alle Blätter, die der Frühling schenkte, fortgerissen sind, wenn auch das Zusammenleben kalt und kahl erscheint wie winterlich nackte Zweige – es doch auf jeden Fall bestehen bleibt.

Weder Gesetze noch Pflichtbegriffe, noch Theorien sind im letzten und innersten Grunde das Zusammenhaltende, sondern nur das geheimnisvolle Zusammenwachsen der Wesen in dem Leben, das sie gemeinsam haben; das sie, ihnen selbst unmerklich, einander anpasst, so dass sie in tieferem Sinne als dem des Bibelwortes wirklich ein Fleisch werden.

Es ist eine physiologische und psychologische Tatsache, dass der Mann oder die Frau, die dem andern zum ersten Male die Lust der Sinne mitteilt, eine Macht über diesen erhalten kann, die niemals ganz aufhört. Man sagt sogar, dass die Frau noch lange nach dem Tode des Gatten einem anderen Manne Kinder gebären kann, die dem ersten gleichen. Da der erwähnte Einfluss bei der Frau ausgesprochener ist, ist ihre Treue auch aus diesem Grunde naturnotwendiger geworden als die des Mannes – obgleich dasselbe, wenn auch in schwächerem Grade, auch von ihm gilt. Selbst wenn keinerlei Gewissensbisse über das Leiden anderer sich in ein neues Glück mischen, so werden doch die beiden, die bei einander ihre Vergangenheit zu vergessen suchen, in mancher anderen Hinsicht vielleicht für immer einen Dritten zwischen sich finden.

Die Ehe hat mit einem Worte so sichere Bundesverwandte in den psychisch-physischen Lebensbedingungen des Menschen, dass man nicht zu befürchten braucht, dass die Freiheit der Scheidung gleichbedeutend mit Polygamie sein wird. Was diese Freiheit aufheben würde, wäre nur die Sklaverei auf Lebenszeit.

 

Jedem Denkenden ist es sonnenklar, dass echte geschlechtliche Sittlichkeit ohne frühe Ehen beinahe unmöglich ist. Denn die Jugend nur auf die Enthaltsamkeit als wirkliche Lösung des Problems zu verweisen, ist – wie schon früher dargelegt – ein Verbrechen an der Jugend und der Menschheit, ein Verbrechen, das die Urkraft der Natur, das Feuer des Lebens zu einem Erdbrand macht.

Aber die Folge der frühen Ehen muss die freie Scheidung sein.

Schon wenn man an die Aussenseite des Eheproblems herantritt, macht man die Erfahrung, dass R. L. Stevenson das Richtige getroffen haben dürfte, wenn er die meisten Ehen »eine Art von der Polizei anerkannte Freundschaft« nennt und die »Neigung«, die sie herbeiführt, mit der lebhaften Lust vergleicht, die man zuweilen für irgend eine bestimmte Frucht in einer Schale, die herumgereicht wird, empfindet!

Aber die Ursache, warum so viele Ehen aus so lauen Gefühlen geschlossen werden, dürfte wenigstens in den höheren Klassen die sein, die ein junger Schwede angab, als er bemerkte: er kenne fast keinen Mann, der seine grosse Liebe geheiratet habe. Denn wenn er diese erlebt, kann er nicht heiraten; wenn er es zwischen dreissig und vierzig kann, muss er meistens mit geringeren Gefühlen vorliebnehmen.

Aber selbst wenn man einmal dahin gelangt, dass die frühen Liebesehen die Regel werden, so steht man auch bei diesen bis auf weiteres noch vor der Ordnung, die noch in den oberen Klassen herrscht: dass die Ehe die Liebenden bindet, ehe noch die Liebe sich erfüllt hat. Es liegt darum eine beachtenswerte Wahrheit in den Worten der Brüder Margueritte bei ihrer Verteidigung der freien Scheidung: da das junge Mädchen das nicht erlebt hat, wozu sie sich bei der Trauung verpflichtet, beginnen die meisten Scheidungen schon in der Hochzeitsnacht.

Freie Scheidung ist darum eine unbedingte Forderung jener jungen Menschen, die wissen, dass auf dem Gebiete der Seele wie der Sinne unberechenbare Umwandlungen sich vollziehen können, und die infolgedessen jetzt oft in dem geheimen Besitzrecht der Liebe Schutz vor einer Übereilung suchen, die das gesetzliche Eheband unwiderruflich machen kann.

Wenn irgend jemand, so fühlt es die Jugend, dass keine Form der Liebe schöner ist, als wenn zwei junge Menschen einander so früh finden, dass sie gar nicht wissen, wann ihr Gefühl entstanden ist, und sich dann durch alle Schicksale folgen, ja zuweilen in den Tod – denn manchmal gönnt das Leben den Menschen ein solches Übermass an Glück. Es gibt keine grössere Möglichkeit für das Glück des einzelnen wie des neuen Geschlechtes, als eine Liebe, in der beide sich in dem Alter begegnen, wo sie in gemeinsamer Entwicklung zusammenwachsen können; wo beide alle Erinnerungen der Jugend und alle Ziele der Zukunft gemein haben; wo niemals der Schatten eines Dritten über den Lebensweg eines von ihnen fiel und ihre Kinder ihrerseits dann von der grossen Liebe träumen, die sie von den Eltern ausstrahlen sahen.

Wäre diese wunderbare Liebe wirklich die erste und einzige, die jedem jungen Manne oder Mädchen begegnete, und wäre es allen möglich, sie zur rechten Zeit zu verwirklichen – dann gäbe es weder eine Sittlichkeits- noch eine Scheidungsfrage!

Aber die Jugend von heute weiss, dass diese Liebe nicht allen zuteil wird. Sie hat aus der Literatur, aus dem Leben, aus ihrer eigenen Seele so viel von den Wandlungen der Liebe gelernt, dass man sich versucht fühlt, dieser Jugend den romantischen Glauben ihrer Väter und Mütter an die Ewigkeit einer Liebe zu wünschen, die – ebenso leicht erlosch wie die von heute! Der Unterschied ist nur der, dass man, wo man sich früher mit verkohlter Glut begnügte, jetzt noch immer Feuer haben will.

Die Gegenwart weiss, dass, wenn auch die Jugendliebe die sicherste Grundlage der Ehe sein kann, sie häufiger das Gegenteil ist. Hier ist, wenn je, ein Tummelplatz des Zufalls. Der Mann, mit dem man aufgewachsen ist; das junge Mädchen oder der Jüngling, mit dem man zusammenkommt, wenn gerade das erotische Leben erwacht; der Mann, vor dem man befangen war, von dem man hörte, er sei »in einen verliebt«; der, mit dem man zusammentrifft, wenn das Liebesglück anderer die Luft mit Sehnsucht erfüllt – diese und ähnliche Zufälligkeiten, aber keine persönliche Wahl, entscheiden oft die Jugendliebe.

Dann beginnt die Phantasie ihre schaffende Tätigkeit, um die Wirklichkeit nach dem Idealbild umzuformen, das man sich – auch dies oft durch einen zufälligen Einfluss – geschaffen hat! Es ist darum nicht zu verwundern, dass die meisten, wenn sie nach zehn Jahren den Gegenstand ihrer ersten Liebe wiedersehen, einen dankbaren Stossseufzer zum Schicksal emporschicken, das diese Liebe »unglücklich« machte!

Wenn sie dies nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes wurde, ist dies für einen von beiden oft viel trauriger. Und gerade die Jugend, die ohne Zögern ihre Liebe im Glauben an ihre Beständigkeit verwirklicht, wird durch die Zwangsehe oft ein Opfer ihres reinen Willens, ihres frischen Mutes, ihres glühenden Idealismus.

Denn je jünger ein Mensch im reichsten Sinne des Wortes ist, desto gewisser hat er die Dichtergabe, die die Wirklichkeit nach dem Traume umwandelt. Die feine Kurve eines Lippenpaars erneut das Wunder des Märchens: jede Kröte, die darüber gleitet, verwandelt sich in eine Rose. Mag auch eine unklare Ahnung erwachen, wenn jeder ernste Gedanke, jedes innige Gefühl schweigender Leere oder leerer Redseligkeit begegnet, so überzeugt doch die Phantasie leicht den Instinkt, dass das Schweigen »Inhaltsreichtum« oder die Rede »Unmittelbarkeit« verrät. In jedem Alter, aber namentlich in diesem, ist die Liebe ein grosser Aberglaube. Sicher wie Schlafwandler in Lebensgefahr stürzen sich diese Anbetungswürdigen in die Entscheidung. Und diesen Wagemut der Unschuld belegt der jetzige Sittlichkeitsbegriff mit lebenslänglichen Strafen. Die Vorsichtigen finden hingegen oft mit der Zeit die grossen Werte – dank ihrem eigenen geringeren Wert!

Es trifft mehr in einem Menschenleben ein als die Hochzeit und schliesslich der Tod. Vieles kann sich in einer Menschenseele zwischen der Hochzeit und dem Tode begeben. Die gangbare Annahme, dass alles, was einen Gatten vom anderen entfernt, das Böse ist, was überwunden werden muss, alles, was sie aneinander bindet, das Gute, was gefördert werden muss – gehört zu jener das Leben vereinfachenden Weisheit, die wohlfeil und darum am meisten im Schwange ist.

Denn eine höhere Weisheit bedingt einen höheren Preis.

Nichts ist, besonders bei der Frau, die erst durch die Ehe die Erotik erlebt, häufiger, als dass sie die Liebe geliebt hat, nicht den Mann. Oft erfährt sie, was eine junge Schriftstellerin kürzlich geschildert hat: dass, wenn die Ehe den roten Nebel zerteilt hat, wenn die Unruhe des Blutes gestillt ist, sie mit frierender und dürstender Seele vor einem Mann steht, mit dem keine einzige Fiber der Sympathie sie verbindet.

Anmerkung: Man sehe Grete Meisel-Hess: »Fanny Roth« – wo gefordert wird, dass die Frau die Ehe versucht haben soll, ehe sie davon gebunden wird.

Aber häufiger als durch ihre Sinne wird die Frau durch den Morgentau der Gefühlsinnigkeit betrogen, den Jugend und Liebe auch über die trockensten männlichen Seelen zu breiten vermögen, ein Tau, der mit dem Morgen verschwindet. Ein anderer Sinnentrug, der in diesen Zeiten des Verkehrs viele erotische Irrtümer verursacht, ist die Eigenart einer fremden Nationalität, die als persönliche Originalität wirkt – bis sie sich allgemach als nur eine andere Art von Alltäglichkeit entpuppt als die, an welche man gewöhnt war.

In anderen Fällen wieder ist der Mann alles, was sie in ihm sah. Aber die junge Frau macht in der ersten Hälfte der Zwanzig selbst oft eine so durchgreifende Umgestaltung der Denk- und Fühlweise durch, dass sie nach einigen Jahren der Ehe die Empfindung hat, vor einem ihr vollständig fremden Manne zu stehen.

Dieser Zeit der Trugbilder in der ersten Jugend entspricht eine andere am Ende der Jugend. Hat eine Frau bis dahin die Liebe nicht erlebt, dann ist dies der psychologische Augenblick, in dem fast jede Illusion möglich wird. Da hat eine nun allseitige Liebesforderung, die Sehnsucht eines gereiften Frauenwesens zahllose Male ein herrliches Weib dahin gebracht, ihre Perlen – nicht gerade buchstäblich nach dem biblischen Bilde – aber doch wenigstens in eine Leere zu werfen, wo sie sicherlich ebensowenig geschätzt werden.

Für die Männer gibt es andere oder entsprechende Möglichkeiten dafür, dass die frühe Ehe auf Selbstbetrug gegründet wird.

Aber selbst wenn die Liebe wirklich und wohlbegründet war, so entstehen aus dem oben dargelegten Zauber der Gegensätze noch zahllose Anlässe zu unheilbarer Disharmonie.

So gibt es Naturen, so einfach, dass sie gleichsam lahm, so unzusammengesetzt, dass sie einfältig, so einheitlich, dass sie schwerfällig wirken. Diese sind es, die gewöhnlich ein für allemal lieben, mit vollkommener Hingebung. Aber besonders wenn es Frauen sind, gilt von ihnen oft Goethes Wort: dass es das grösste Unglück für eine Frau ist, nicht liebenswürdig zu sein, wenn sie liebt. Erst die volle Sicherheit gibt diesen Naturen jene Ruhe des Gleichgewichts, jene Freimütigkeit des Selbstvertrauens, die »das innere Lächeln des Glücks« hervorruft, durch das auch sie einnehmend werden. Aber diese Wesen, von allen des Glückes am meisten wert, kommen meistens mit einem beständig in Seelenwandlungen auf- und niederwogenden Stimmungsmenschen zusammen, der äusserst sensitiv auf jeden Eindruck reagiert, aber niemals tief lieben kann und darum bald die Einheitlichkeit und den Ernst auf Leben und Tod, der ihn zuerst durch seine Gegensätzlichkeit bezauberte, nicht zu ertragen vermag.

Solche Menschen sind oft Dichter, Künstler, Denker, die von der Liebe nur immerwährende Anregungen wollen. Für sie bedeutet lieben »am Morgen mit neuen Worten auf den Lippen erwachen«, und ihre erotischen Schicksale haben daher eine Rotationsgeschwindigkeit, die mit der der Monde um den Mars vergleichbar ist. Sowie für manche Naturen eine im Anfang leichtsinnige Verbindung von Lebensdauer werden kann, durch die Tiefe des Gefühls zusammengehalten, wird hingegen für diese Art Naturen – infolge der Oberflächlichkeit ihres Gefühls – keine Verbindung ernst.

Nicht selten sind gerade die, welche ihre seelenvollen Stimmungen, ihre auserlesenen Gefühle am feinsten schildern, in den Handlungen ihrer Liebe kleinlich, selbstsüchtig oder rücksichtslos hart. Denn die Vorratskammer der Intelligenz an Kultureindrücken bestimmt ihr bewusstes und sprechendes Wesen: ihr unbewusstes Ich wird hingegen beim Handeln entscheidend. Und dieses letztere Ich steht oft um Jahrhunderte hinter ihrem kulturellen zurück! Der im Reden Knappe und Herbe oder im Wesen Dürftige und Linkische kann hingegen oft im Innersten eine Feinheit besitzen, die er nur im Handeln zu zeigen vermag, wie die anderen nur in Worten. Aber in unserer Zeit sind leider die Gelegenheiten zum Reden zahlreich, die zum Handeln selten – und so gehen die Frauen an den letzteren vorbei zu den ersteren. Wie manche Frau hat sich nicht später – vor einer der Handlungen des Redenden – gefragt, wie es möglich war, dass sie je diesen Mann lieben konnte? Wie manche hat nicht vor den Handlungen des Schweigenden geseufzt: wie schade, dass ich ihn nicht zu lieben vermochte!

Aber in dem einen wie im anderen Falle wurde sie – durch das Gesetz der Gegensätze – mit ihm vereint und fühlt in dieser Vereinigung die besten Möglichkeiten ihres Wesens sterben oder hinsiechen!

Die am meisten irreleitenden Illusionen sind jedoch diejenigen, welche durch die Handlungen genährt werden, die die Liebe hervorruft. Denn nicht diese bestimmen den Gehalt einer Persönlichkeit. Solange die Liebe um ihr Glück kämpft, kann sie nämlich einen gewöhnlichen Menschen in etwas Höheres als er sonst ist umwandeln, ebenso wie auch in etwas Niedrigeres. Wenn die Spannung aufgehört hat, zeigt es sich, dass die Liebe im ersteren Falle – besonders beim Manne, es vermochte

to unmake him from a common man
But not complete him to an uncommon one ...

Es war kein organisches Wachstum der Persönlichkeit, sondern nur eine Überanstrengung, hervorgerufen durch die Liebe.

Aber diejenige, welche ihn geliebt hat, wird sich dann die Augen nach dem aussehen, was sie einstmals sah!

Die solche in dem einen oder anderen Sinn Unzulängliche geliebt haben, lernen durch sie die am teuersten erkaufte Wahrheit der Menschenkenntnis, eine Wahrheit, von der das Herz sich so lange als möglich abwendet: dass, wenn wir auch für einen Menschen unser eigenes Blut in Strömen vergiessen – wir doch ihm selbst dadurch nicht einen Tropfen reicheres oder edleres Blut geben können als das, welches durch sein eigenes Herz fliesst!

Dieses Geheimnis lernte so mancher in jenen Ehen, wo die sichere Freundschaft, die treue Kameradschaftlichkeit vollauf vorhanden war, also gerade jene Gefühle, die als das unfehlbare Mittel gegen die Irrtümer der Liebe anempfohlen werden!

Denn wie oft fand nicht einer von diesen, für und miteinander tätigen Gatten, dass sie einander niemals in geistige Tätigkeit versetzen, dass die Seele des einen niemals das Innerste des anderen erreichte? Aussenstehende finden, dass sie zueinander passen wie »die Hand zum Handschuh«. Das Bild ist bezeichnend, denn der Handschuh ist leer und zwecklos, wenn er nicht eine Hand umschliesst. Aber wie Hand zu Hand passen sie nicht! Und darum geschieht es nicht selten, dass die eine eines Tages von der leidenschaftlichen Sehnsucht gepackt wird, eine andere Hand zu finden, die sich stark und still in die ihre legt und so ihre Kraft verdoppelt; dass die Stimme, die stets in eine Leere hinausgesprochen – aus der unfehlbar ein treues Echo kam – schliesslich vor Sehnsucht verstummt, von einer anderen Stimme Antwort zu empfangen, von einer tiefen, dunklen, die niemals gehörte Worte spricht!

In nicht wenigen Ehen findet man Männer, die über die Frau so feine Gedanken gedacht, so holde Träume von ihr geträumt haben, dass sie ihre Sinne nur durch ihre Seele gewinnen wollten und es verschmähten, ihr etwas anderes zu bieten als ihr Bestes, den reichsten Inhalt ihrer Persönlichkeit. Aber ein solcher Mann bekam vielleicht eine Frau, die nur den Erwerb versteht und nur Verliebtheit will. Wenn er alle Herrlichkeiten seiner Seele ausbreitet, ahnt sie nicht einmal, wann eine Stimmung auf ihrer Höhe ist; für sie kann die Stille niemals beredt sein; sie vermag nicht auf den Gedanken eines anderen zu warten; sie kann das Schwerfassbare nicht ertragen und wird stets dem Seltenen mit mürrischem Unverständnis oder heiterer Überlegenheit begegnen.

Unter seinen plastischen Werken aus der Tragödie des Weibes und des Mannes hat der grosse norwegische Bildhauer Gustav Vigeland besonders in einem eine Stärke des Ausdrucks erreicht, die durch ihre Schlichtheit unheimlich wirkt: ein Mann und ein Weib, einander so nahe, dass die Schulter des einen die des anderen berührt. Aber Antlitz und Blicke eines jeden nach entgegengesetzten Seiten gerichtet: wie die beiden Glieder eines Winkelmasses sind sie im Ausgangspunkt vereint – aber die Linien, die von diesem fortführen, müssen zum Schluss in die Unendlichkeit divergieren!

Die Entfernung begann sich vielleicht zwischen ihnen aufzutun, als der eine die Abwesenheit des anderen empfand, während er selbst ganz gegenwärtig war. Oder als der eine die Körper zwischen den Seelen stehen fühlte, der andere die Seelen zwischen den Körpern. Oder als der eine unter der geistigen oder sinnlichen Übermacht des anderen Unfreiheit empfand. Oder als der eine merkte, dass er nie sein innerstes Wesen enthüllen konnte, ohne dass dies verstimmend auf den anderen wirkte. So können zwei Schuldlose einander im selben Bette und am selben Tische tief einsam machen. Keiner empfängt von dem anderen das, was seine innerste Natur braucht – und was der eine gibt, wird für die Natur des anderen nur ein Zwang. Nicht ein Ton in der Seele des einen ist zu Zusammenklang mit der des anderen gestimmt; nicht eine Regung im Blute des einen vermag das des anderen in Wallung zu versetzen. Bald sind es unleidliche Verschiedenheiten, bald unleidliche Ähnlichkeiten, die die Qual hervorrufen; jeder findet bei dem anderen »alle Tugenden, die er verabscheut, aber keinen einzigen der Fehler, die er liebt«. Dabei kann vollständiger äusserer Friede herrschen, ja in gewissem Sinne Achtung und Zuneigung. Dass dies das Schicksal zahlloser Ehen ist, übersieht man im allgemeinen, weil die Ehe gewöhnlich fortgeführt wird – falls nicht ein Dritter kommt! Gerade weil kein Dritter kommt, ist Karl Larsens Doppelbuch »Warum aber siehst du den Splitter?« eine typische Schilderung einer unglücklichen Ehe ohne äussere Geschichte. Jeder der Gatten erzählt seine Erfahrung, und beide sagen die Wahrheit, soweit sie sie sehen. Keiner weiss vom andern irgendwelche niedrige Züge zu erzählen; beide sind brave Menschen ohne böse Neigungen, nur mit gewissen leeren Räumen. Jeder steht hoch genug über dem Durchschnitt, um den anderen nicht mit den lächerlichen Torheiten des Alltagsmenschen zu quälen; keiner zerreisst das Leben durch die Leidenschaften der Ausnahmenatur. In innerer Beziehung sind sie anfangs von denselben Anschauungen und Interessen bestimmt; in äusserer gehören sie derselben Sphäre an. Keine das Innere plötzlich offenbarenden oder das Äussere plötzlich umwandelnden Ereignisse stossen hinzu: alles fällt in den Umkreis der guten Menschen, der bevorzugten Schicksale.

Aber diese Menschen, die in der Jugend mit gegenseitiger Liebe und dem guten Willen, sie zu bewahren, beginnen, enden doch mit der Gewissheit, in zwei getrennten Welten zu leben.

Anmerkung: Es gibt mehrere Berührungspunkte zwischen Karl Larsens Buch und der mit Recht berühmten Novelle »Marie-Elisa« der deutschen Schriftstellerin Emmy von Egidy. In der letzteren findet man ebensowenig äussere Konflikte oder Fehler: nur eine, wie es scheint, ebenso ausgesprochene Unvereinbarkeit zwischen den beiden Gatten. Aber hier hat die junge Frau das, was ihr in Karl Larsens Buch fehlt, das Genie zur Liebe und die mit dem Genie Hand in Hand gehende Schaffenskraft. Da ist sie, was der Mann in Karl Larsens Buch von seiner Braut erhoffte: die neue Frau, die Frau, in der die Kultur Gedankenleben, Herzensleben, Sinnesleben vertieft und verfeinert hat, ohne sie zu schwächen. Und darum sehen wir in »Marie-Elisa«, wie die Gestalten der jungen Menschen, die sich zuerst von dem Grau eines trüben Frühlingsmorgens abzeichnen, schliesslich vom Lichte eines sonnigen Sommermorgens umflossen dastehen, während in Karl Larsens Buch triste Novembernebel das schon alternde Paar einhüllen.

Für die Begriffe der Kirche befreite die Ungeeignetheit des einen Teiles zur Ehe den anderen von der Pflicht der Treue. Für die seelenvollere Anschauung der Zukunft wird es ebenso selbstverständlich sein, dass die Menschen dasselbe Recht haben, die Ehe, die im geistigen Sinn unvollzogen ist, aufzulösen. Und es kann ebenso viele Möglichkeiten des Unvermögens, die geistigen Anforderungen der Ehe zu erfüllen, geben, als es Menschen gibt; folglich auch ebenso viele Scheidungsgründe. Es ist nicht mehr genug, dass man – nach Kierkegaards Ausdruck – »das Allgemeine realisieren« kann, seit die Menschen einsehen, dass Liebe im physischen wie im psychischen Sinne das im höchsten Grade Individuelle bedeutet!

Im Vorhergehenden wurden nur gewisse typische Unglücksschicksale angedeutet. Die vielen tragischen Ausnahmeschicksale werden hier ganz unberücksichtigt gelassen. Ebenso jene Ursachen der Scheidung, die die Monogamieprediger als wirkliches Unglück ansehen: Trunksucht, körperliche Misshandlung u. dgl. Denn mit dem gewöhnlichen Realismus des »Idealismus« geben sie zu, dass dies gültige Motive für eine Trennung sind. Die Qualen, die eine Seele leidet, können ihrer Ansicht nach mit Gottes Beistand ertragen werden, während er leider nicht dazwischenzutreten pflegt, wenn – Männer ihre Frauen prügeln! Und je länger eine Seele gelitten hat, desto überzeugter sind sie, dass sie auch fortfahren kann zu leiden.

Sie sehen auch nicht ein, dass ein Verhältnis gut erschienen – ja, vielleicht sogar gewesen sein kann – bis nach Jahrzehnten eine Stunde gekommen ist, die die Seele des einen nackt dastehen liess, zuweilen in ihrer ganzen Hoheit, häufiger in ihrer ganzen Erbärmlichkeit. War das letztere der Fall, dann wird das früher Mögliche von diesem Augenblick an das Undenkbare.

Ein Künstler kann im Masse von Sekunden das offenbaren, wonach die Worte schwerfällig tappen.

Eine solche Offenbarung gibt Agnes Sorma als »Nora« im letzten Akt. Zuerst dem Manne mit grossen, wilden, nichts sehenden Augen lauschend, mit halboffenem, ausdruckslosem, beinahe dummem Mund; dann mit voll sehenden, ja weit wachen Blicken, die aus ihrem Dunkel Funken der Verachtung sprühen, während die Lippen vor Ekel zittern; schliesslich mit Augen, die nach innen blicken, schwarz und tot wie Quellen nach dem Sonnenuntergang, die Lippen erstarrt in der Kälte des Unwiderruflichen. Wer sie so gesehen hat, weiss mit unerschütterlicher Gewissheit: so haben Tausende von Frauen vor der Wirklichkeit gestanden, in einem jener Augenblicke, die unwiderruflicher scheiden als der Tod. Aber sie haben nicht gehen können – und überall im Leben begegnet man dann diesen geschiedenen Frauen an der Seite ihrer Männer! Noch häufiger lebt ein seelenvoller Mann oder eine seelenvolle Frau neben einer Frau oder einem Manne von so fehlerloser Vortrefflichkeit, dass sie das Heim mit Eisnadeln erfüllt. Eines Tages stürzt der Mann oder die Frau fort, weil die Luft so dünn geworden ist, dass man darin nicht atmen konnte. Die allgemeine Meinung bedauert – den vortrefflichen Mann oder die vortreffliche Frau!

Dass die Seele vor einem Entweder-Oder auf Tod und Leben stehen kann, will man mit einem Worte nicht zugeben. Die Seele ist »ein Geist«, ein »unsichtbares und unvergängliches Wesen«! Dass ihre Lebensbedingungen ebenso wechselvoll und zusammengesetzt sind wie die des Organismus, will dieser »Idealismus« nicht verstehen: Mit Gottes Hilfe kann jeder seine Seele erlösen. Aber diese Hilfe ist in dieser Art Not ebenso unsicher, wie in Seenot – und auch in diesem Falle findet man, wie Nietzsche sagt, nicht die Votivtafeln der Gescheiterten, sondern nur die der Geretteten in den Tempeln.

 

Ganz besonders wenn ein Mann oder eine Frau sich scheiden lässt, um eine neue Ehe zu schliessen, wird man über die Schlaffheit des Zeitgeistes in dem Ertragen von Leid empört. Ja, man pflegt da überhaupt gar nicht zuzugestehen, dass die Ehe Leid mit sich gebracht hat. Selbst jene, welche früher ein Ehepaar äusserst unzusammengehörig gefunden haben, vergessen diese ihre Meinung sogleich – wenn einer der Teile »einen Dritten dazwischen treten lässt«!

Und sie vergessen nicht nur ihre früheren Urteile, sondern auch die Erfahrung: dass, wenn zwei Gatten ganz eins sind, kein Dritter Raum zwischen der Rinde und dem Stamme findet. Im entgegengesetzten Falle kommt früher oder später der Dritte dazwischen. Zuweilen ist es das Kind, zuweilen die Lebensaufgabe, zuweilen ein neues Gefühl – aber immer kommt etwas, dank dem Grauen der Natur vor dem leeren Räume, der niemals verhängnisvoller wird als in der Ehe. In den Dimensionen der Seele wie des Raumes kann niemand den Platz des anderen einnehmen, sondern nur den Raum, den ein anderer leer gelassen hat oder nicht zu behalten vermochte.

Im letzteren Falle ist es gerecht, den mittelbaren Anteil zuzugeben, den die Literatur an der Rücksichtslosigkeit der erotisch Gewissenlosen hat. Die Rechtsbegriffe auf dem Gebiete der Erotik mussten erweitert werden. Aber bei dieser von der Literatur bewerkstelligten Verschiebung der Grenzpfähle ist eine allgemeine Rechtsunsicherheit eingetreten.

Die Dichtung erfüllt mit vollster Freiheit ihre Pflicht, die Geheimnisse der Liebe zu erforschen, nach denen Seelen und Sinne angezogen und abgestossen werden, von jenem Gesetz der Wahlverwandtschaft bestimmt, das die Gegenwart immer eifriger zu entdecken sucht, um die erotischen Kräfte zu einer höheren Entwicklung hinanzuleiten. Die Literatur ist der vornehmste dieser Entdecker. Und schon dies allein genügt, um die volle Freiheit zu rechtfertigen, ohne die sie überdies nicht so sein kann, wie Brandes die erotischen Dichtungen genannt hat: das feinste Messgerät für die Stärke und Wärme des Gefühlslebens einer Zeit.

Dass die Literatur oft die Macht wird, durch die erotische Unruhe entsteht, ist sonnenklar. Und so wirkt sie immer in irgendwelchem Masse bei dem Unglück mit, das durch Phantasie- oder Verstandesverliebtheiten hervorgerufen wird, und dem die feste und fertige Persönlichkeit entgeht. Die Schwachen sind hingegen jene, die in ihrer Liebe wie in ihrem Glauben die Richtung annehmen, die der Wurf eines anderen ihnen gibt.

Auch das erotische Tennisspiel – das in gewissen Kreisen die Ehen stiftet oder stört – wird von Sommerluft und Müssiggang begünstigt. Aber zu allen Jahreszeiten gibt es Männer und Frauen, für die jeder zum Balle wird, der ihre Phantasie oder Eitelkeit in Bewegung setzt. Keine Selbstbehauptung ist berechtigter als die, seine Willenskraft und seine Würde einem derartigen Gebrauch seiner Persönlichkeit entgegenzustemmen. Was das Spiel antreibt, ist nicht einmal die Macht der Sinne. Nein; dieses Spiel ist die einzige Erfindungsgabe der seelischen Armut, das Kennzeichen der erotischen Unbildung. Nur der Verfeinerte kann sich auf jedem Gebiete an den Lebensreizen freuen, deren Mittel er selbst nicht besitzt. Noch haben wenige Menschen eine Kultur, gleich der des Bettlers in Athen, der Alcibiades dankte, weil er ihm die Juwelen geschenkt hatte, die Alcibiades allerdings trug – aber an denen der Bettler sich frei erfreuen konnte! In bezug auf Menschen wie auf Dinge diesen von allem Besitzwunsch freien freudigen Sinn zu erreichen, ist die Blüte einer feinen Kultur.

Doch die Nevrose der Gegenwart stachelt die erotische Kleptomanie an. Menschen stehlen Menschen bald aus derselben Art von Hysterie, die die Pariser Damen zu Diebinnen der stilvollen Neuigkeiten der Modemagazine macht; bald aus derselben Roheit, die das Kind veranlasst, alle Blumen auszureissen, die es sieht; bald aus derselben Begierde, die den Sammler anreizt, stets neue Nummern zu erwerben.

Wenn man Menschen gegenüber allgemein zu der Freude des Kunstfreundes, nicht zu der des Kunstsammlers vorgedrungen ist, dann wird die höchste aller Freuden – die des Menschen durch den Menschen – nicht so oft durch erotische Verwicklungen gestört werden. Sich bei leichtsinnigen Zugeständnissen an solche auf die Freiheit der Persönlichkeit zu berufen, ist derselbe grobe Missbrauch des Begriffes, als wollte man im Namen dieser Freiheit im Sturm mit einem Leck im Boote eine Segellustfahrt unternehmen!

Die Freiheit der Persönlichkeit veranlasst zu dem grossen Wagestück, den grossen Lebensinhalt zu erringen. Aber nicht dazu, sich in Gefahren zu stürzen, in denen man um einer Bagatelle willen sein eigenes und andrer Leben aufs Spiel setzt. In Verhältnisse zu gleiten, in denen man nicht ein Hundertstel seines innersten Ichs einsetzt, dies heisst seine Persönlichkeit nicht beweisen, sondern sie vergeuden. Denn alle Handlungen, die geringer sind als wir selbst, erniedrigen unsere Persönlichkeit.

Vernichtend kann es auch werden, Handlungen zu vollführen, die grösser und stärker sind als wir selbst. Wer sich in ein Ausnahmeschicksal wagt, muss – gleich dem Bergsteiger – ein Übermass von Kräften und das daraus entstehende Sicherheitsgefühl haben. Denn sonst wird, in beiden Fällen, das Wagestück nur gelingen, wenn alles nach der günstigsten Berechnung geht. Bei einem unvorhergesehenen Missgeschick sind die Unzulänglichen verloren. Und darum hat, im einen wie im anderen Falle, die allgemeine Meinung unbewusst recht, wenn sie das Wagestück, das gelingt, verherrlicht, aber das, welches missglückt, verurteilt.

Die meisten Menschen sind den Folgen ihrer Entschlüsse nicht gewachsen. Wie abgeworfene Reiter werden sie im Gegenteil von ihrer Handlung durch niedrige Verhältnisse geschleift, mit denen sie nicht gerechnet haben. So wurde so manches Liebespaar, das frühere Bande zerrissen hatte, nur ein warnendes Beispiel, weil die Tat lebenverheerend, nicht lebensteigernd wurde.

Der Untergang kann der Höhepunkt des Lebens sein. Aber die Unzulänglichkeit ist immer ein Niedergang. Und von allem Unfertigen in diesem Leben ist der unfertige Entwurf zu einem Ausnahmeschicksal das Wehmütigste.

Darum ist – wenn ein neues Gefühl einen Menschen ergreift, der nicht allein Herr über sein Schicksal ist – nichts weiser, als dieses Gefühl ebensoviel erdulden zu lassen, wie den Schwan in dem Andersenschen Märchen – bis seine Schwannatur offenbar ist!

Und dazu kommt noch, dass wenige Menschen, die über die Jugend hinaus sind, den Mut oder die Kraft zu solchen neuen Erlebnissen haben, die eine wirkliche Lebenssteigerung bedeuten. Die meisten werden besser daran tun, ihre Persönlichkeit für die Aufgabe einzusetzen, ihr Schicksal mit Würde zu tragen und das Beste daraus zu machen.

Und – trotzdem so häufig das Gegenteil behauptet wird – das tun auch die meisten Menschen und werden es immer tun!

Die, welche es nur dem Zügel des Zwanges zuschreiben, dass der Mann seine Frau nicht verlässt, vergessen, in wie hohem Grade seelische Einflüsse schon jetzt die Scheidung leicht gemacht haben, trotz aller Zwangsgesetze. Es gibt in unserer Zeit selten einen hochsinnigen Mann oder eine solche Frau, die den anderen gegen seinen Willen zurückhalten, falls nicht der eine Teil die Überzeugung hat, dass die Scheidung, in die er willigte, den anderen ins sichere Verderben stürzen würde. In der Regel machen jetzt nur die Beschränkten und niedrig Gesinnten von dem Rechte Gebrauch, die Scheidung zu verweigern. Wenn dieses Recht aufgehoben würde, so wären damit ja nicht die Einflüsse aufgehoben, die schon jetzt Gatten zusammenhalten, obgleich sie in den meisten Fällen frei werden könnten, wenn sie es nur wünschten?!

Die sich leichtsinnig trennten, wenn es ihnen leichter gemacht würde, wären dieselben Menschen, die einander jetzt in der Zwangsehe im Geheimen betrügen. Für die Ernsten ist eine Scheidung immer ernst. Ehe ein Mensch mit Gefühlen und Gedanken wissentlich einem Menschen, der ihn geliebt hat oder noch liebt, wehe tut, hat er selbst Unerhörtes gelitten. Die Dankbarkeit für eine grosse Liebe hat sich oft in einem freien Verhältnis mächtiger bindend erwiesen, als das Gesetz hätte sein können. Ja, für einen gewissensfeinen Menschen sind die Bande, die das freie Verhältnis knüpft, stärker als die gesetzlichen, weil er im ersteren Falle eine seine eigene und die Persönlichkeit des anderen entscheidendere Wahl getroffen hat, als wenn er Gesetz und Herkommen befolgt hätte.

Und auch wenn keine zärtlichen Gefühle ihre zurückhaltende Macht ausüben, so ziehen es viele Menschen doch vor, als Wracks am selben Strande zu bleiben, anstatt jeder einzeln neuen ungewissen Schicksalen entgegenzutreiben.

Man hält die Menschennatur für gar zu einfach und widerstandsfähig, wenn man annimmt, dass ein Lebensversuch den anderen ablösen würde, sowie man die Scheidung freigäbe. Das Leben selbst, nicht das Gesetz, zieht in diesem Falle die unübersteiglichen Grenzen. Für tiefere Naturen, die sich aus einem Lebensverhältnis losgerissen haben, ist das Leid dabei oft so gross gewesen, dass es für immer die Farben des Lebens gebleicht hat.

 

Im Zusammenhang mit der modernen Forderung der Befreiung von der Mutterschaft wurde schon der Ausweg zurückgewiesen, der Liebe durch Staatserziehung der Kinder Freiheit zu bereiten. Die Bedeutung und der Wert des Elternhauses wurde gleichzeitig so stark als nur möglich betont.

Hier ist es hingegen am Platz, die Einseitigkeit der Vorstellung hervorzuheben, dass nichts wichtiger sei, als dass die Eltern um der Kinder willen zusammenhalten – während es doch im letzten Grunde immer darauf ankommen muss, wie die Eltern zusammenhalten und was sie selbst durch dieses Zusammenhalten werden.

Je erniedrigender das Zusammenleben für ihre Persönlichkeit ist, desto weniger bedeutet es auch für die Kinder, wenn diese heranwachsen.

Nur wer in der Ehe eine unmittelbar von Gott gegebene Einrichtung sieht, eine Form der Verwirklichung der göttlichen Vernunft, kann den Satz aufrechterhalten, dass in einer solchen Ordnung das Gute die menschlichen Mängel überwiegen muss. Die, welche meinen, dass der Zusammenhalt der Ehe immer das Gesunde und Sittliche ist, müssen auch den Beweis auf sich nehmen, dass die stumpfen ehelichen Gewohnheiten innerlich zerfallener Gatten eine reine Quelle für den Ursprung neuer Wesen sind; dass ihre einander widerstreitenden Einflüsse das Wohl der Kinder besser fördern, als eine ruhige Erziehung durch einen der beiden; dass das Glück des einen in einer neuen Verbindung gefährlicher für die Kinder wird als sein Unglück in der früheren.

Für den Lebensgläubigen wird das Problem der Kinder bei jeder neuen Scheidung neu sein. Auch hier muss man zu dem bedingten Urteil gelangen und die Schachbrettmoral mit ihren gleichmassig in Schwarz und Weiss geteilten Feldern verlassen. Von allem Vorhergehenden und allem Nachfolgenden hängt die Gefahr einer Scheidung für die Kinder ab. Wer seine Ehe auflöst gegen sein innerstes Bewusstsein, dass dies zum Schaden der Kinder ist, begeht eine Sünde, der unfehlbar auch jene Reue folgen wird, die Freunde zuweilen eifrig als – mildernden Umstand anführen! Wer hingegen mit Gewissensruhe »sündigt«, hat so gewählt, dass das Wohl der Kinder in der einen Wagschale lag. Diese Gewissensruhe ist dann nicht Sorglosigkeit und verhindert folglich nicht, dass der so Handelnde tief unter den Folgen des Entschlusses leiden kann, den er doch nicht bereut. In den meisten Fällen, wo Kinder da sind, dürfte auch für den von seinem persönlichen Recht noch so Durchdrungenen das geringere Leid das sein, bis zum Äussersten zu versuchen, ein Zusammenleben zu bewahren, das die Kinder in der gemeinsamen Hut eines Vaters und einer Mutter aufwachsen lässt, und um der Kinder willen diesem Zusammenleben freundliche und würdige Formen zu geben.

Aber wenn einer der beiden oder beide in diesem Streben scheitern, dann wird es auch für die Kinder das Beste sein, wenn das Zusammenleben aufhört. Und dieses Streben scheitert oft, denn es bedarf zweier oder wenigstens eines Ausnahmemenschen, um ein solches Zusammenleben möglich zu machen.

Die Menschen früherer Zeiten flickten bis ins Unendliche. Die psychologisch entwickelte Generation von heute ist mehr geneigt, das Zerbrochene zerbrochen sein zu lassen. Denn ausser in den Fällen, wo äussere Missverständnisse oder verspätete Entwicklung die Ursache eines Bruches waren, erweisen sich zusammengeflickte Ehen – wie zusammengeflickte Verlobungen – selten als haltbar. Es waren oft tiefe Instinkte, die den Bruch verursachten; die Versöhnung vergewaltigte diese Instinkte, und früher oder später rächt sich eine solche Vergewaltigung.

So kommt es vor, dass selbst die Ausnahmenatur sich an ihrer Bürde überhebt. Und die Kinder werden dann nicht Zeugen des Zusammenlebens ihrer Eltern, sondern nur ihres Zusammensterbens.

Weder die Religion noch das Gesetz, weder die Gesellschaft noch die Familie kann entscheiden, was eine Ehe in einem Menschen tötet oder was er in derselben retten kann. Nur er selbst weiss das eine und ahnt das andere. Nur er selbst kann die Grenze ziehen, ob er mit seinem eigenen Dasein so ganz fertig ist, dass er voll im Leben der Kinder aufgehen kann; ob er das Leiden einer fortgeführten Ehe so zu tragen vermag, dass es kraftsteigernd für ihn selbst und die Kinder wird. Eine Mutter vermag dies häufiger als ein Vater, aber in keinem Falle gibt es Masse und Gewichte, nach denen andere entscheiden können, wann ein Übermass an Leiden eingetreten ist. Ja, es gibt eigentlich keine Leiden: es gibt nur leidende Wesen, die das Leid jedesmal nach der Art ihrer Seele neuschaffen.

Nur eines steht fest: dass niemand mehr Aussenstehender ist, als gerade der, der das Leid verursacht. Nichts kann also unbilliger sein, als die eben erwähnten Masse und Gewichte der Entscheidung des einen Ehegatten zu überlassen. Die Gewissheit, eine Scheidung abschlagen zu können, bringt Rücksichtslosigkeiten gegen die Missstimmungen des anderen mit sich, die nie vorkämen, wenn Rücksicht erforderlich wäre, um zurückhalten zu können. Und diese Rücksichten sind besonders bedeutungsvoll zu Beginn des Zusammenlebens, wo die meisten jungen Ehepaare mit grösserer oder geringerer Schwierigkeit die kleinen und grossen Probleme der Anpassung lösen. Die erste Mutterschaft ist ausserdem oft von anormalen Seelenzuständen begleitet, die zu der übereilten Schlussfolgerung führen, man passe nicht zueinander und sei sich unsympathisch. Die Widersacher der freien Scheidung meinen, dass gerade in diesen Jahren übereilte Scheidungen vorkommen könnten. Aber sie bedenken nicht, dass Mann und Frau sich jetzt in dem Gefühl ihres Eigentumsrechts in einer Weise die Zügel schiessen lassen, die undenkbar sein würde, wenn diese Sicherheit nicht vorhanden wäre. Die jungen Ehepaare halten so allerdings zusammen – aber zerstören nicht selten die feinsten Möglichkeiten des Glücks. Die Notwendigkeit der Behutsamkeit gegeneinander würde bei diesen Konflikten in viel tieferer Weise zusammenhaltend wirken, als jetzt die Gewissheit, nicht frei werden zu können. Wenn dann Kinder kommen, ist für alle – ausser für herzlose Naturen – die Gefahr gering, dass ein Leidender seine Kräfte zu rasch für erschöpft hält. Die Zusammengehörigkeit, die Kinder zwischen ihren Eltern hervorrufen, wenn diese sie zusammen betreuen und lieben, ist zuweilen unauflöslich. In den meisten Fällen ist sie so stark, dass sie das wirkliche Band bildet, ohne das doppelt so strenge Gesetze nicht die Macht hätten, zwei unwillige Wesen zu vereinigen.

Im Zusammenhang mit der Auswahl der Liebe wurde auf die Zeichen hingewiesen, die darauf deuten, dass das Gefühl für die Nachkommenschaft – das seit urdenklichen Zeiten Mann und Weib um einen Herd zusammengeschlossen, in seiner Nähe den Altar errichtet und um beide die Stadtmauer gebaut hat – seiner Renaissance entgegengeht. Das Bewusstsein vom Rechte der Kinder ist unverkennbar im Steigen begriffen, zugleich mit der Überzeugung vom Rechte der Liebe. Und gegen das Heranstürmen dieses bewegtesten, gefährlichsten Meers des Daseins wird noch immer das Gefühl für die Nachkommenschaft als die gesellschaftbewahrende Mauer stehen, obgleich in neuer Gestaltung, um neue Widerstandskraft zu erlangen.

Aber die Gegner der Scheidung meinen im Gegenteil, dass das Glücksgefühl durch die Kinder – besonders beim Vater – schon so schwach geworden ist, dass die meisten Väter sich von jeder Verantwortung befreien würden, wenn sie es nur könnten!

Wenn dem so ist, trägt die Gesellschaft selbst die Schuld daran. Sie begünstigt nicht nur Geschlechtsverhältnisse, die von der Geschlechtsaufgabe ganz unabhängig sind: sie befreit auch den Mann von der Verantwortung für die illegitimen Kinder und fördert so den unter-tierischen Standpunkt der Männer. Die der Nachkommenschaft dienlichen Instinkte, die bei den Tieren unerschüttert geblieben sind, können nicht ihre volle Stärke erlangen, ehe nicht der Mann voll verantwortlich für jedes Leben ist, das er schafft. Im selben Augenblick, in dem die Gesellschaft feststellt, dass die Elternschaft zweier Menschen das verpflichtende Moment der Geschlechtsverbindung ist, wird das Lebensverhältnis selbst allmählich das Gefühl vertiefen, und der Mann wird die Freudequellen besitzen und bewahren wollen, deren Lasten er immer zu tragen hat. Selbst wenn die Vatergefühle der Männer nur langsam erwachen – und eine Anzahl der modernen Väter wirklich die freie Scheidung dazu gebrauchen sollten, Weib und Kind leichtfertig zu verlassen – so gibt es Mütter, die ihre Kinder in der Regel nicht leichtfertig verlassen: die im Gegenteil jetzt das tiefste Unglück ertragen oder auf ein grosses Liebesglück verzichten, um bei ihnen zu bleiben; die – selbst wenn sie sich von ihnen losreissen – sich doch fast nie loslösen können. Wenn das Gesetz jeder Mutter die Rechte gibt, die jetzt nur die unverheiratete Mutter hat, aber allen Vätern die Pflichten auferlegt, die jetzt nur die Verheirateten haben – dann dürften die Kinder für den Mann ein neuer und kostbarerer Wert werden! Wenn er nur jenen Einfluss erhält, den er durch die Achtung, welche die Frau für seine väterlichen Eigenschaften hat, erlangen kann, wenn seine Bedeutung für das Leben der Kinder von persönlicher Kraftentwicklung, nicht von gesetzlicher Machtausübung abhängen wird, dann wird die Vaterschaft in hohem Grade veredelt werden. Und damit wächst auch die Zärtlichkeit, nach dem unumstösslichen Gesetze: dass der Mensch um so mehr liebt, je mehr er gibt.

Wenn das Matriarchat in einer neuen, durch die ganze Entwicklung verfeinerten Form der Schlusspunkt für die Familie werden wird – sowie es nach der Meinung Vieler der Ausgangspunkt war – dann würde dies bedeuten, dass die väterliche Gewalt bedingt wäre, abhängig von dem Wert und der Wärme des Vatergefühls. Jetzt sind noch viele Väter nur eine Episode im Leben der Kinder.

Bis auf weiteres dürfte es feststehen, dass die freie Scheidung vor allem das Gute mit sich bringen würde, dass eine Menge Frauen, die einen verkommenen Mann erhalten, für Nahrung für die Kinder anstatt für Spirituosen für deren Väter arbeiten könnten; dass eine Menge Mütter, die um ihrer Kinder willen gezwungen sind, die tiefste Erniedrigung zu ertragen, sich befreien könnten – und in beiden Fällen würden die Kinder dabei gewinnen. Den Vater hingegen, der infolge der freien Scheidung seine Familie leichtsinnig abschütteln würde, dürfte diese in der Regel leicht entbehren können!

In den meisten Fällen, in denen Charakter- und Meinungsverschiedenheiten der Eltern der Anlass zu einer Scheidung waren, haben es auch die Kinder durch eine solche besser. Jeder der Ehegatten kann für sich ein wertvoller Mensch sein. Wenn sie sich infolge ihrer Uneinigkeit trennen, haben beide das Gefühl, dass sie an den Kindern etwas zu sühnen haben. Dies spornt sie an, ihre Schuld gutzumachen, und die Kinder erhalten so – von jedem der beiden – weit mehr, als da die Eltern vereint waren, die Kinder aber ihren Streitigkeiten beiwohnten und ihre Naturen von der ungünstigsten Seite sahen. Die Kinder werden von der Qual befreit, der Gegenstand der Zwistigkeiten zwischen Vater und Mutter zu sein; Partei für einen von beiden ergreifen zu müssen; zwischen zwei verschiedenen Willen hin- und hergezerrt zu werden, zwischen den eifersüchtigen Bestrebungen beider, sie für sich zu gewinnen. Sie entgehen zum Teil der Gefahr, aus zwei verschiedenen, einander entgegenwirkenden Gesichtspunkten erzogen zu werden, wobei der eine bestrebt ist, den Kindern die Meinungen »auszutreiben«, die der andere ihnen einprägt!

Aber all das rechnen die Gegner der Scheidung für nichts. Die Hauptsache ist, dass die Eltern zusammenhalten, wie gewitterschwer oder nebelgrau die Luft auch sein mag, in der die Kinder aufwachsen!

Dieser Gesichtspunkt trägt der Wirklichkeit ebensowenig Rechnung wie die Anschauung derer, welche in demselben Augenblick, in dem die Liebe aufgehört hat, auf Scheidung dringen. Das Zusammenhalten kann in gewissen Fällen den Kindern eine frohere und reichere Kindheit bereiten als die Verhältnisse nach der Scheidung. Und es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, dass die Uneinigkeit zwischen den Eltern zuweilen durch den Wert des männlichen Wesens des einen, des weiblichen des anderen Teiles aufgewogen wird, die – wenn sie auch nicht zusammenwirken – doch gut nebeneinander wirken können; sowie dass Kinder, die durch Disharmonie im Hause frühzeitig genötigt werden, nachzudenken und einen Standpunkt einzunehmen, oft stärkere Charaktere werden als die in glücklichen Familien Aufgewachsenen.

Während man einerseits Kinder, deren Eltern sich trennten, bedauern hört, dass diese nicht mit mehr Geduld zusammenhielten, wird man andrerseits Kinder, die in einer unglücklichen Häuslichkeit aufgewachsen sind, klagen hören, dass die Eltern ihre Ehe fortsetzten. Wäre diese aufgelöst worden, so hätten sie selbst wenigstens ein gutes Heim haben können, vielleicht zwei, während sie so gar keines hatten.

Aber jeder weiss ja nur, wie er unter dem gelitten hat, was geschehen ist; nicht, was er durch einen anderen Ausgang gelitten haben könnte. Und folglich darf die Meinung der Kinder weder im einen noch im anderen Falle als ausschlaggebend betrachtet werden, wenn es gilt, den Grundsatz festzustellen.

Bedeutungsvoller ist schon die Erfahrung, die man über die Stellung jener Kinder hat, die ihren Vater durch den Tod verloren.

Während der Witwer sich in der Regel wieder verheiratet, wenn die Kinder klein sind, bleibt hingegen die Witwe in den meisten Fällen unvermählt. Und es dürfte gewiss sein, dass eine Statistik über die tüchtigen Männer das Überwiegen der Söhne von Witwen ergeben würde!

Eine Scheidung bringt die Kinder oft der Mutter gegenüber in eine ähnliche Stellung der liebevollen Fürsorge und des Verantwortlichkeitsgefühls. Aber während die Gesellschaft sich vor der »harten Notwendigkeit« beugt, dass eine einzige Feldschlacht mehr Kinder vaterlos macht als die Scheidungen während einer Generation – und sich da ruhig auf die Fähigkeit der Mütter verlässt, allein ihre Söhne zu guten Staatsbürgern zu machen – scheut sie vor derselben harten Notwendigkeit zurück, wenn es sich darum handelt, einen lebenden Vater vor lebenslänglichem Unglück zu retten!

Die grösste Gefahr für die Kinder ist bei einer Scheidung die, dass sie oft zwischen Mutter und Vater geteilt werden und dadurch teilweise das vor allem freudebringende Geschwisterleben verlieren. Das nächstgrösste Unglück ist nicht, dass Vater und Mutter nicht unter einem Dache leben, sondern dass sie sich nicht weiter treffen können. Dieses Unglück könnte oft vermieden werden, wenn Verwandte und Freunde es unterlassen wollten zu dekretieren, dass die getrennten Gatten sich hassen und in jeder Beziehung quälen müssen. Wenn man einsähe, wie überlegen es ist, wenn zwei Menschen – die imstande sind, sich als Freunde zu trennen und als solche zusammenzutreffen – dies auch wirklich tun; wenn das Zusammensein des einen Gatten mit den Kindern niemals eine Beeinflussung zum Schaden des Abwesenden mit sich brächte, dann brauchten die Kinder auch nach einer Scheidung nicht ihr wesentliches Verhältnis zu beiden Eltern zu entbehren. Jetzt hingegen, häufig zwischen feindlichen Eltern geteilt, voneinander getrennt, und – ohne gemeinsame Erinnerungen und andere bindende Bande – allmählich einander entfremdet, verlieren die Kinder durch eine Scheidung so viel, dass die Eltern in den meisten Fällen nichts gewinnen können, das aufzuwiegen vermöchte, was die Kinder verlieren; und darum müssen sie eher die Bürden des Zusammenlebens tragen, als den Kindern die der Scheidung auferlegen.

Auch auf dem Gebiete der Scheidung muss der grosse Grundgedanke des Protestantismus durch die volle Anerkennung der Wahlfreiheit des Individuums angewendet werden. Denn kein Fall lässt sich im allgemeinen entscheiden, da man das Rechte und Unrechte auch hier nur durch die eigene Prüfung jedes Gewissens entdecken kann.

Oft verschloss – im grossen entscheidenden Augenblick – ein Kind den Weg, der von der Türe des Heims fortführte. Aber es wurde darum hinter dieser Türe nicht heller und wärmer für das Kind!

Im Vorhergehenden ist die Stellung der Kinder zur Scheidung aus dem Gesichtspunkt der Disharmonie der Eltern betrachtet worden. Wenn hingegen die Scheidung zugleich durch ein neues Gefühl eines von beiden verursacht wird, dann muss dieser Vater oder diese Mutter bereit sein, einmal – wenn die Kinder sie verstehen können – ihr Recht dadurch zu beweisen, dass sie ihnen zeigen, dass die neue Liebe sie zu reicheren und grösseren Persönlichkeiten gemacht hat. Dem Niedergang der Eltern haben die Kinder das volle Recht nicht geopfert zu werden. In jedem Falle werden die Kinder immer die unbestechlichsten Richter der Eltern sein.

Aber dass ein Mensch schon einigen Kindern das Leben gegeben hat, gibt diesen Kindern nicht das unbedingte Recht zu verlangen, dass ein Vater oder eine Mutter ihnen die Liebe opfere, die sie selbst und durch sie die Menschheit grösser machen kann, der sie vielleicht noch vortrefflichere Kinder oder vortrefflichere Werke schenken, als sie früher gekonnt hätten. Manche Frau gebar ihrem Manne Kinder, ohne ihr Kind gesehen zu haben; mancher Mann gab der Gesellschaft seinen Fleiss, niemals sein Werk, – bis die grosse Liebe ihre innerste Sehnsucht erfüllte, und das Kind, das Werk, das so geschaffen ward, wurde das einzige für die Menschheit unentbehrliche!

Die Forderung der Gesellschaft, dass ein von Glücksmöglichkeiten strahlender Vater oder eine Mutter diese um der Kinder willen opfern soll, wird nicht mehr so häufig gestellt werden, wenn das Gefühl für den Wert des Lebens erstarkt und die Pflicht der Eltern, für ihre Kinder zu leben, immer mehr so gedeutet wird, dass sie ganz lebensvoll bleiben müssen, mit Kräften zur Erneuerung. Andrerseits dürfte gerade diese jetzige Verjüngung der Eltern oft zur Folge haben, dass sie so reich mit ihren Kindern zusammen leben, dass sie keiner anderen Erneuerung bedürfen als jener für alle Teile beglückendsten: dass sie ihren »zweiten Frühling« durch den ersten der Kinder empfangen!

Ist die Folge der verlängerten Jugend der Eltern hingegen die, dass Vater oder Mutter ihr Leben umformen, dann müssen die Kinder leiden, bis sie verstehen können, dass sie im tieferen Sinne vielleicht gar nicht darunter gelitten haben. Zuweilen übte der neue Gatte oder die neue Gattin einen reicheren Einfluss auf die Kinder aus als ihre eigenen Eltern, wie dies ja auch bei einem Stiefvater oder einer Stiefmutter der Fall sein kann. Jetzt wird diese Möglichkeit jedoch oft durch die eben erwähnte allgemeine Meinung beeinträchtigt, die auch dekretiert, dass die Kinder die hassen sollen, die sie, sich selbst überlassen, vielleicht hätten lieben lernen.

Die selbstsüchtige Forderung erwachsener Kinder, dass das Leben der Eltern in und mit ihnen seinen Höhepunkt erreicht haben, persönlich abgeschlossen sein muss, ist ebenso grausam wie unberechtigt, gibt es doch Seelen, die nicht mit dem Früchtetragen verblühen, sondern gleichzeitig Früchte und neue Blüten zu tragen vermögen. Die Kinder erhalten mit dem Leben das Recht auf die Bedingungen, die sie voll lebenstauglich machen, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Was die Eltern darüber hinaus von ihrem eigenen Lebensinhalt opfern wollen, muss freie Güte sein, nicht Pflicht.

Wenn so der grossen Liebe ein Recht, das dem der Kinder vorgeht, zuerkannt wird, so taucht selbstverständlich die Frage auf, wie diese Liebe von der vorübergehenden unterschieden werden kann?

Ein Irrtum ist in einer Ehe, wo Kinder da sind, schon schwer möglich. Denn die Hindernisse, die die Menschen in solchen Fällen zu überwinden haben, sind so gross, dass nur die grosse Liebe sie besiegt, falls die Eltern derart sind, dass sie überhaupt wirkliche Bedeutung für die Kinder haben.

Eben durch ihre Entstehung allen Hindernissen zum Trotz verrät die schicksalsbestimmte Liebe oft ihre Art und wird so das, was man »sündig« nennt. Wenn die von diesem Gefühle Ergriffenen auch die Pflicht Weltenmeere zwischen sich legen liessen – so werden sie sich doch in jeder grossen Stunde des Lebens bis zur letzten in der Überzeugung begegnen, dass »his kiss was on her lips, before she was born« ..

Wenn die Menschen tiefer in die Kenntnis der Gesetze der Seele eindringen, werden sie, wie Carpenter es ausgedrückt hat, entdecken, dass es auch in der Welt der Gefühle eine Astronomie gibt; dass dort durch eine von ewigen Gesetzen regierte Wahlverwandtschaft Zusammengehörigkeiten, Sympathien und Antipathien entstehen, die alle Himmelskörper in den richtigen Abstand zu einander bringen; dass folglich die Bahn der Liebe eine ebenso unabweisliche Notwendigkeit hat wie die eines Sternes und sich ebenso unmöglich durch irgendwelche ausserhalb ihres eigenen Gesetzes wirkenden Gesetze bestimmen lässt.

Anmerkung: Edward Carpenter: »Wenn die Menschen reif zur Liebe werden.

Und ohne Zweifel wird man einstmals auch auf diesem Gebiete das Teleskop finden, das den Kurzsichtigen endlich die Fixsterne, Planeten und Kometen des erotischen Weltenraums offenbart und zeigt, dass ihre Konstellationen sich nach einem höheren Gesetze ordnen, als dem des »rohen Triebs«!

Bevor man die astronomische Gewissheit erreicht, muss man sich jedoch mit der kunstkritischen begnügen.

Die grosse Liebe hat, wie der grosse Künstler, ihren Stil. Welchen Gegenstand dieser auch behandelt, welches Stoffs er sich auch bedient, so gibt er doch der Leinwand wie dem Marmor, dem Papier wie dem Metall, das Gepräge seiner Hand, und man erkennt sie in den geringsten Dingen, die er geformt. So ist in jeder Zeit und jedem Lande, jeder Gesellschaftsklasse und jedem Alter die grosse Liebe eine und dieselbe: ihre Merkmale sind unverkennbar, wenn auch das Schicksal, das sie schafft, oder die Individuen, die sie prägt, im einen Falle bedeutender sind als im anderen.

Turgenjew, der von allen grossen Prosadichtern des vorigen Jahrhunderts am meisten von der Erotik wusste, wusste auch, dass »die Liebe, für die es keinen Grund gibt, die stärkste und dauerndste ist«. Ein paar Jahrhunderte vor ihm hatte eine seelenvolle Frau, Mme. Lambert, dasselbe gesagt: »II n'y a des passions que celles qui nous frappent d'abord et qui nous surprennent; les autres ne sont que des liaisons où nous portons volontairement notre cœur. Les véritables inclinations nous l'arrachent malgré nous.« Und sie hat in dieser Meinung den tiefsten Seelenkenner ihrer Zeit, Pascal, auf ihrer Seite: auch er ist überzeugt, dass man sich nicht fragt, ob man lieben soll, man fühlt es: on ne délibère point là dessus, on y est porté.

Aber dieses mächtige Gefühl – das das ganze Wesen aufwühlt und dem ganzen Wesen Ruhe in dem eines anderen gibt – dieses Gefühl ergreift den Menschen, ohne danach zu fragen, ob er gebunden oder frei ist! Wer stark und voll genug fühlt, braucht nie über das nachzugrübeln, was er empfindet: nur das schwache Gefühl wird vor sich selbst fragwürdig. Und wer stark genug fühlt, fragt sich auch nie, ob er das Recht auf sein Gefühl hat. Er wird von seiner Liebe so vergrössert, dass er fühlt, das Leben der Menschheit zu vergrössern. Nur die kleinen, halben Leidenschaften empfindet ein gebundener Mensch mit vollem Rechte als »sündig«. Für den hingegen, der sein grosses Gefühl einen verbrecherischen Taumel, einen schamlosen Egoismus, einen tierischen Trieb nennen würde, hat ein liebender Mensch nur ein mitleidiges Lächeln. Er weiss, dass er eine Sünde begehen würde, wenn er seine Liebe tötete, so wie wenn er sein Kind mordete. Er weiss, dass seine Liebe ihn wieder gut gemacht hat, wie in seinen Kindheitsgebeten zu Gott, reich wie den, dem sich die Pforten des Paradieses aufs neue erschlössen!

Die Kunst verkündet eine allgemein menschliche Erfahrung, wenn sie Adam und Eva, als sie aus dem Paradiese vertrieben werden, immer jung darstellt. Man wundert sich nur, dass kein Künstler sie – in reiferem Alter – vor die Mauern des Lustgartens gestellt hat, vergrämt durch das Gefühl, nun Weisheit genug zu besitzen, um das Glück zu bewahren, dessen Voraussetzungen sie nur in der Jugend besassen!

Denn nicht selten kommt im Menschenleben eine Zeit, wo die Klarheit vor der Kälte eintritt; wo die Blüte noch reich ist, obgleich die Früchte zu reifen begonnen haben. Da leuchtet das grosse Glück oft auf und verschwindet. Zuweilen sah der Mensch es gar nicht, denn es kam sachte und legte – gleich einer trauten Gespielin – eine sanfte Hand über seine Augen und fragte: wer bin ich? Man riet falsch, und das Glück entschwand, ehe man es noch anflehen konnte, zu verweilen. Nur zu seinen Lieblingen kommt es mit vollen und offenen Händen. Für die Mehrzahl gelten die Worte des sterbenden Hebbel: entweder fehlt der Becher oder der Wein.

Die tiefste Tragik der Liebe ist, dass viele Menschen erst, nachdem Seele und Sinne aus ihren Irrtümern gelernt haben, für die grosse Liebe reif sind, die aus zwei Wesen ein vollkommeneres schaffen kann.

In der Dichtung wie im Leben wird zuweilen die erste, zuweilen die letzte Liebe als die stärkste gepriesen. Keine braucht es zu sein, und jede kann es sein. Die stärkste Liebe ist die, welche – gleichviel in welchem Alter sie kommt – alle Kräfte der Persönlichkeit am meisten in Anspruch nimmt.

Bourget, der in diesen Fragen die Feinheit des Franzosen hat, die dem Germanen so oft abgeht, sagt sehr wahr: dass es kein bestimmtes Alter zum Lieben gibt, weil der, welcher »dans le sens complexe d'exaltation idéale« lieben kann, nie aufhört, es zu tun. Und er hält auch die Grenze der Möglichkeit, Liebe zu erwecken, für ebenso unbestimmt – wenn man von überlegenen Wesen spricht, die imstande zu »des émotions supérieures« sind – eine Meinung, die auch Stendhal teilte und deren Wahrheit die gallische Seele oft bewiesen hat.

Es geschieht auch mehr als einmal, dass ein Mensch erst, wenn er mit der Liebe fertig sein soll, wirklich für sie fertig ist. Desto geringer sind die Möglichkeiten, die Liebe zu finden, die er zu geben und zu empfangen wünscht. Noch geringer die Möglichkeit, dass er sich ihr – mit Einstimmung seines ganzen Wesens – hingeben kann.

Denn eines ist es, das Recht zu seinem grossen Gefühle zu haben; ein anderes, das Recht oder die Möglichkeit zu seinem vollen Glück zu besitzen.

Die Liebe mag in ihrer gesellschaftlichen Form noch so frei sein: von den von ihrem eigenen Wesen untrennbaren Leiden und von den durch den Zusammenhang mit der Vergangenheit unvermeidlichen Kämpfen kann keine Freiheit der Sitte oder der Scheidung die Kinder der Menschen erlösen. Diese Leiden und Kämpfe hat das Leben selbst so tief gemacht, dass das Gesetz sie wahrlich nicht tiefer zu machen braucht.

Der häufigste Konflikt ist, dass ein Mensch von der vorübergehenden Erotik – in legitimer oder freier Form – gebunden oder gebrochen ist, wenn die schicksalsbestimmte in sein Dasein eingreift.

Dass so viel mehr unglückliche Ehen bestehen, als aufgelöst werden, dürfte weniger auf dem Pflichtgefühl beruhen, als darauf, dass nur wenige den grossen Gefühlen gewachsen sind. Peer Gynts Symbol – die Zwiebel – versinnbildlicht das erotische Wesen der meisten. Sie blüht willig im Sande wie im Wasser, in der Erde wie im Topfe. Aber hat sich eine Eichel in einen solchen verirrt, dann wird es – infolge der Lebensbedingungen der Eiche – unvermeidlich sein, dass sie eines Tages ihr Gefängnis sprengt oder stirbt.

Und in solchen Fällen ist es unheilvoll, wenn eine christlich-ethische Anschauung ernste und wirkliche Möglichkeiten hindert, das Leben so zu erneuen, dass es bedeutungsvoller für das Ganze wie für den Einzelnen selbst wird. Mit reichen Möglichkeitswerten ausgerüstete Menschen lassen sich noch von jenen unbedingten Rücksichten auf das Gefühl anderer bestimmen, die vom Christentum auch dem Evolutionismus aufgepfropft wurden und besonders durch George Eliot ihren grossen, aber einseitigen Ausdruck erhalten haben.

Dass die Menschheit nicht nur Menschen braucht, die willig sind, ihr Leben zu opfern, um es zu gewinnen, sondern auch Menschen mit dem Mute, andere zu opfern, um ihr eigenes zu gewinnen – dies ist eine Wahrheit, die doch unauflöslich mit einer evolutionistischen Lebensanschauung verbunden sein muss, für die der Wille, das eigene Dasein zu bewahren und zu steigern, eine ebenso unabweisliche Pflicht ist wie die, durch Opferwilligkeit das anderer zu erhalten und zu steigern. Mut zu seinem Glücke haben, die von einem Konflikte unzertrennlichen Qualen ohne Gewissensqual leiden zu können, das vermögen aber nur jene, die aus ihrer innersten Notwendigkeit heraus handeln. Dass Liebespaare, die ausserhalb des Gesetzes stehen, sich so oft zusammen töten, ist kein Beweis für die Übermacht der Erotik; eher ein Beweis für die Ohnmacht des Gefühls, zu wagen und das Recht zu erringen, unmittelbar zu leben und so des Lebens Reichtum zu mehren. Denn nur für eine Liebe, die durch und durch Lebenswille ist, werden die Verhältnisse wie Wachs in der Hand des Künstlers.

Diese Ohnmacht ist aus dem Gesichtspunkte des Lebensglaubens bedauerlich, ebenso wie der heimliche Ehebruch. Gewiss kann beides die Schönheit des grossen tragischen Liebesschicksals haben. Niemand, der das Inferno gelesen hat, wird wohl Francesca die Stärke gewünscht haben, Paolos Liebe zurückzuweisen! Und so wunderbar sind die Wege einer Seele heim zu sich selbst, dass es Fälle geben kann, wo ein Mensch sich im Ehebruch von der Besudlung der Ehe gereinigt fühlt – dadurch, dass er zum ersten Male jene Einheit der Seele und der Sinne erlebt, die sein Traum von der Liebe war, seit er ihn zu träumen begann!

Aber selbst in diesen Ausnahmefällen – um wie viel mehr dann in anderen – ist der geheime Ehebruch, den die ältere Moral verhältnismässig harmlos fand, aus dem Gesichtspunkte der neuen Sittlichkeit schlimmer als der offene Bruch. Denn die Persönlichkeit wird durch die Schwäche und den Trug erniedrigt, durch den man sich der Verantwortung für die Folgen seiner Handlungsweise entzieht. Und dies verringert ausserdem den Lebenswert der Liebe für die Menschheit. Die neuen Lebensversuche, die offen geschehen, können eine Bedeutung für die Persönlichkeit selbst und für die Gesellschaft erlangen, die die geheimen Übertretungen in den meisten Fällen niemals haben können.

Ein Dichter oder Künstler hat z. B. eine Frau, über deren Unzulänglichkeit für ihn alle einig sind – solange er sie noch hat. Mit einem Male findet er den Raum, der öde und leer war, von einer neuen Schöpfung erfüllt; die Luft klingt und leuchtet von Liedern und Bildern. Er fühlt nicht nur seine entschlummerten Kräfte erwachen, nein, er weiss, dass die grosse Liebe in ihm Kräfte erweckt hat, die er nie geahnt; er erkennt, dass er nun bewältigen wird, was er früher nie vermochte. Er folgt dem Lebenswillen seiner Liebe. Und er tut recht. Denn die unverbrüchlich gehaltenen Ehen haben allerdings viele kulturelle Werte eingeschlossen. Aber nicht ihnen schulden Poesie und Kunst den grössten Dank. Ohne die »unglückliche« oder »sündige« Liebe wären alle Schönheitswerke der Welt in diesem Augenblick nicht nur unendlich weniger an der Zahl, sondern hauptsächlich unendlich dürftiger. Ja, die ganze Welt des Geistes dürfte sich nach einer solchen Ausschliessung so ausnehmen, wie eine der vom Boden bis zur Decke mit Fresken geschmückten Kirchen nach dem reformierten Weisstüncheeifer!

Aber vor einer Wahl wie der eben erwähnten, ist die allgemeine Meinung immer noch überzeugt: dass das Leid der für das Ganze bedeutungslosen Frau als das Grosse angesehen werden muss, das des für das Ganze bedeutungsvollen Mannes hingegen als das Unwesentliche!

Er, der den neuen Frühling erlebt, der in Liedern, Tönen, Farben erblüht, steigert doch das Leben Generation für Generation, Jahrhunderte nachdem der Mensch oder die wenigen Menschen, die durch ihn litten, längst aufgehört haben zu leiden!

Wer hätte gewonnen, was die Menschheit durch sein Seelenopfer verloren haben würde? Nicht die Frau, wenn sie ein Herz, nicht nur einen Stolz hatte, der leiden kann!

Nicht nur aus dem Gesichtspunkt der allgemeinen, sondern auch aus dem der individuellen Lebenssteigerung, sollte man nicht alles Mitgefühl dem zuwenden, den man »gebrochen« nennt. Warum sieht man das Herz, das gebrochen wird, für so viel mehr wert an, als das eine oder die beiden, die das Leid verursachen müssen, um nicht selbst zugrunde zu gehen? Und warum will man nicht sehen, dass das Wesen, das man für gebrochen hielt, zuweilen ein neues und reicheres Glück findet? Aber vor allem, warum vergisst man stets, dass der Leidende durch den Schmerz oft ein grösserer Mensch wurde, als er es je in dem gesicherten Besitz seines »Eigentums« hätte werden können?

Anmerkung: Eine der stärksten literarischen Ausdrucksformen dieser Erfahrung ist »Heimkehr« in den »Tales of Unrest« des englischen Schriftstellers M. Conrad.

Es gibt andere Arten, von einem grossen Gefühl zu leben, ausser der, im gewöhnlichen Sinne dadurch glücklich zu sein.

Dies muss jedoch vor allem der bedenken, der, selbst gebunden, von einem neuen Gefühle ergriffen wird. Sind alle drei Teile grossgesinnt genug, so kommt es zuweilen so, dass das Gefühl sich in eine amitié amoureuse umwandeln lässt, die alle reicher und keinen unglücklich macht – allerdings auch keinen ganz glücklich.

Aber auch unter anderen Verhältnissen sollten die Menschen eingedenk sein: dass man nicht immer das besitzt, was man hat – und zuweilen das am sichersten sein eigen nennt, was man niemals besass!

Die Heiligkeit und Hoheit des eigenen Gefühls ist der unzerstörbare Teil eines Liebesglücks. Nicht mehr lieben können, ist der grösste Schmerz. Aber ebensowenig wie ein Mensch an und für sich weniger Liebe wert ist, weil er Liebe unerwidert lässt, ebensowenig wird er an und für sich weniger Liebe wert, weil seine eigene erloschen ist.

Wirklich vernichtet kann also nur der sich fühlen, der einzig und allein das Mittel für die Lust oder das Spiel, die Entwicklung oder Arbeit eines anderen war; ein Mittel, das weggeworfen wird, wenn es nicht mehr Nutzen oder Genuss zu bereiten vermag. Der Mensch, der so um die Liebe betrogen wurde, entweder weil sie niemals da war oder später fortgelogen wurde; der Mensch, der die Persönlichkeit, die er liebte, als etwas anderes entschleiert sieht, als das, was er zu lieben glaubte – dieser Mensch muss seine ganze Seelenmacht dafür einsetzen, seine Seele davor zu behüten, verringert, verbittert, zerstört zu werden. Denn alle anderen grossen Schicksalsschläge können so getragen werden, dass der Mensch unter ihnen wächst. Aber den Glauben an einen Menschen verlieren, das ist die grösste Qual von allen, weil sie zugleich die unfruchtbarste ist; weil sie in keiner Hinsicht die Seele vergrössert oder das Dasein steigert.

Aber selbst aus diesem Leid kann die Seele sich schliesslich durch das Bewusstsein erheben: dass sie selbst einen zu grossen Wert hat, um sich durch die Niedrigkeit oder Kleinheit eines anderen vernichten zu lassen. Nur wer den Kampf in allen Schrecknissen der Wüstennacht allein ausgekämpft hat, weiss, was Sonnenaufgang ist. Jahre oder Jahrzehnte später kann es einem solchen Menschen, der mit einem Schlage alles verlor – die Heiligkeit seiner Erinnerungen, den Inhalt seiner Erlebnisse, den Glauben seiner Liebe – widerfahren, dass er an sich selbst die Wahrheit der Mahnung Spinozas erlebt: die Handlungen eines Menschen weder zu belächeln, noch zu beweinen, zu vergöttern oder zu verfluchen, sondern nur zu versuchen, sie zu verstehen. Und dann beginnt für ihn eine schwere und grosse Arbeit, die vielleicht erst mit dem Leben zu Ende ist, die Arbeit, auch dieser anderen Seele in die Seele zu blicken; in der Perspektive der Entfernung das Verflossene wieder zu betrachten; sich selbst in seiner Begrenzung einzusehen ebenso wie den anderen in der seinen und so anfangen zu verstehen. Das ist die einzige Verzeihung, die es gibt.

Aber so kann schliesslich der einmal im lebendigen Leben tote und begrabene Mensch über seinem Grabe das Gras grün wachsen und die Sonne scheinen fühlen.

 

Wenn dies Wahrheit werden kann – und es ward für viele Menschen Wahrheit, die andere für zerschmettert hielten – um wie viel mehr kann es dann für jemanden wahr sein, der einmal wirklich reich war und dem nie sein grösster Reichtum, die Herrlichkeit seiner eigenen Liebe, geraubt wurde?

Eine Frau z. B., die Jahrzehnte ihres Lebens ein volles Glück besessen hat, die dadurch Mutter geworden ist – ihr sollte alles geraubt sein, wenn dieses Glück aufhört?!

Es gibt doch noch immer anderer Glück, um ihm zu dienen, anderer Leiden zu lindern, die grossen Ziele der Menschheit zu fördern! Für so manchen, der nie ein eigenes Glück besessen, muss doch all dies Trost genug sein! Aber wir urteilen über das Glück wie über den Reichtum. Dass unzählige Menschen täglich vor Not vergehen, rührt uns wenig. Aber wenn einer unserer Freunde aus dem Reichtum in die Armut gestürzt wird, scheint uns das entsetzlich. Dass dieser vielleicht durch die Armut eine Entwicklung nimmt, die der Reichtum ihm nicht geben konnte; dass der vom Schicksal Geplünderte sich ein neues Vermögen schaffen kann, das vergisst man.

Das Leben hat unzählige Möglichkeiten, ebenso wie unzählige Widersprüche. Es ist erfüllt von geheimen Heilkräften wie von verborgenen Todeskeimen. Und – endlich – es ist noch sehr ungewiss, ob nicht die beiden, die zusammenbleiben oder zusammenkommen, die »Zerrissenen« werden – während der im ersteren Falle für die Ehe, im letzteren für die Liebe Geopferte ganz verbleibt.

Denn das Lieben ist ein Heilkraut auch für die Wunden, die die Liebe schlägt. Nur eines kann ein Liebender nicht ertragen, die geliebten Wesen leiden zu sehen. Selbst schweigend fortgehen, um ihnen Qual zu ersparen, das kann eine grosse Liebe. Und dies bedeutet nicht, dass zahme Resignation den roten Strom des Bluts mit Wasser verdünnt. Es bedeutet, dass die Liebe so gross geworden ist, dass sie Ernst mit den grossen Worten macht, die das Glück so leicht ausspricht: dass Qualen, die das geliebte Wesen bereite, köstlicher seien als Freuden, die ein anderer bringe. Wenn die Liebe die Macht geworden ist, in der ein Mensch lebt, sich bewegt und sein Wesen hat, so erfüllen sich die Worte des Korintherbriefes von der Liebe in schönerer Weise, als Paulus sich träumen liess. Die grosse Liebe liebt nicht nur um zu lieben; sie erreicht das Unglaubliche: das geliebte Wesen mehr zu lieben als ihr eigenes Gefühl. Wenn es gälte, diesem anderen ein vollkommeneres Glück zu bereiten, würde diese Liebe ihre eigene Flamme dämpfen können und damit die Fülle von Qual und Freude, die das Leben aus diesem Gefühle geschöpft hat. Frauen bringen zuweilen ein solches Opfer. Hier und da vermochte es ein Mann. Aber wer diese Höhe des Gefühls erreicht hat, lebt ein so wunderbares Leben, dass das Glück, das die beiden Vereinten geniessen, ausserordentlich sein muss, damit nicht diese Reichen tatsächlich die Armen sind.

Wenn es den Menschen einmal in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass niemand beglückt werden kann, ohne zu fühlen, dass er selbst beglückt; dass nur die höchste Kraftentwicklung des eigenen Gefühls das unvergängliche Glück ist alles andere Glück Gnade, nicht Recht – dann wird es jedenfalls weniger »Zerrissene« geben, wenn auch nicht mehr Glückliche!

Aber so ist noch die Liebe, so die Männer, so die Frauen, so die Menschen um sie, dass man einem gebundenen Manne oder einer gebundenen Frau lieber die Stärke wünscht, ihre Ehe zu tragen. als die Stärke, sie zu brechen, wenigstens wenn sie Kinder haben, die die unberechenbaren Möglichkeiten ihrer Liebesschicksale mit ihnen teilen müssten. Vor diesen wird man, wenn je von dem Gefühle ergriffen, das das bretagnische Fischerlied ausdrückt:

... la mer est grande, et ma barque est petite ...

Wie oft ist nicht das kleine, den letzten Reichtum des Lebens tragende Boot auf dem weiten Meere verschwunden?

Möge darum niemand dort seine Lust suchen, sondern einzig und allein sein Leben.

 

Dass unsere Handlungen auf erotischem Gebiete – wie auf jedem anderen – die Urteile anderer hervorrufen müssen, ist ebenso unvermeidlich, wie dass unsere Gestalt von der Spiegelfläche zurückgeworfen wird, an der wir vorbeigehen. Aber die allgemeine Meinung ist ein konvexer Spiegel, eine von Vorurteilen angeschwollene Kugel, die das Bild verzerrt. Nur eine klare und stille Seele gibt ein richtiges Bild der Handlung eines anderen.

Und vor einer solchen Seele wird es sich nicht selten zeigen, dass das »Verbrechen« für die eine Natur das richtige war, für die andere nicht. Diese letztere fühlte, dass ihr innerstes Wesen verletzt würde, wenn die Treue gegen die Vergangenheit nicht bis zum äussersten bewahrt bliebe – und entschied sich dafür, ihre erotischen Kräfte welken zu lassen, um nur durch den Pflichtwillen zu leben. Von dieser Art von Selbstmördern gilt dasselbe wie von den leiblichen: die einen sind grosse Seelen, die andern grosse Schwächlinge. Ja, dasselbe Opfer kann zu einer Zeit unseres Lebens sublim, zu einer anderen schmachvoll sein!

Das Leben zeigt uns nie »die Ehe«, nur unzählige verschiedene Ehen; niemals »die Liebe«, nur unzählige Liebende. Wer auf diesen Gebieten ein Ideal aufstellt, muss sich darum begnügen, möglicherweise auf die Zukunft zu wirken, aber darf das Ideal nicht als Urteilsspruch auf die Gegenwart anwenden. Ja, er darf nicht einmal für die Zukunft die Alleinherrschaft seines eigenen Ideals wollen, da der Niedergang des Mannigfaltigen zu dem Gleichartigen ein Zurückgehen der Entwicklung sein würde.

Das Streben der Gesellschaft, des Lebens unendliche Menge von verschiedenen Fällen unter denselben Verhältnissen oder desselben Falles unter verschiedenen Verhältnissen, desselben Einflusses auf verschiedene Persönlichkeiten oder derselben Persönlichkeiten unter verschiedenen Einflüssen in eine einzige Idealform zu pressen, ist auf dem Gebiete der geschlechtlichen Sittlichkeit eine ähnliche Vergewaltigung gewesen, als wenn man für alle Gestalten Polyklets Kanon der Schönheitsmasse festgestellt hätte. Die Torheit wäre im letzteren Falle augenscheinlich. Aber Gewalttaten gegen Seelen sind nicht so augenscheinlich. Darum werden sie noch immer gesetzlich geschützt!

Erst wenn die Verschiedenheit der Seelen einmal für unsere Begriffe eine ebenso wirkliche Wahrheit wird, wie die der Gestalten, wird man einsehen, dass die Monogamie von allen Dogmen dasjenige war, das die meisten Menschenopfer gefordert hat. Man wird einmal zugeben, dass die Autodafés der Ehe ebenso wertlos für die echte Sittlichkeit waren, wie die der Religionskämpfe für den echten Glauben!

Die Grossinquisitoren der Vergangenheit glichen vermutlich denen der Gegenwart darin, dass sie – vor einen bestimmten Fall in ihrem eigenen Familien- oder Freundekreis gestellt – recht leicht mildernde Umstände fanden, die sie sonst nicht gelten liessen. Aber man muss einsehen lernen, dass jeder Fall ein besonderer Fall ist und dass darum zuweilen eine neue Regel – nicht nur eine Ausnahme von einer alten Regel – notwendig wird. Man darf nicht länger dieses zweierlei Mass für Bekannte und Unbekannte, für Freunde oder Feinde, für die Literatur oder das Leben aufrechterhalten. Es muss von einem ernsten Willen zu echter Sittlichkeit abgeschafft werden.

Dieses zweierlei Mass zeigt jedoch, dass man auch unter den Dogmatikern der Monogamie anfängt einzusehen, wie undenkbar es ist, eine für alle geltende monogamische Moral durchzuführen. Aber das Streben, doch im grossen Ganzen dieses Undenkbare zu erreichen, steht immer noch dem Denkbaren im Wege, das rings in der Welt aufkeimt, der Erreichung der Sittlichkeit der Liebe.

Obgleich das neue Leben schon seine Stärke zeigt – gleich den Frühlingsblumen, die durch den rostbraunen Laubteppich des Vorjahres dringen – müssen doch die welken Blätter aus dem Wege geräumt werden, denn erst dann tritt der Duft der fruchtbaren Erde ganz hervor, und es wird Platz für den neuen Frühling. Und nur die, welche nicht schon des neuen Lenzes Macht in der Luft verspüren, fürchten, dass die Erde des welken Schutzes nicht entraten könne.

Anmerkung: Es ist bezeichnend, dass in Europa gerade Frankreich in erster Linie die Forderung der freien Scheidung aufstellt. Der internationale radikale Frauenkongress in Paris im Jahre 1900 hatte eine Resolution angenommen, die verlangte, dass die Ehetrennung schon auf das Verlangen eines Teils bewilligt werde, wenn drei Jahre langdaran festgehalten wird. Die zwei französischen Schriftsteller Paul und Victor Margueritte haben heuer oder voriges Jahr diese Resolution aufgenommen und in einem Roman – Les deux vies – einer Broschüre und einer Petition dieselbe Forderung an die Kammer gestellt. Sie sagen in der letzteren: »Nach zweijährigem Studium sind wir von der Notwendigkeit der Reform überzeugt. Jetzt wird die Ehescheidung nur auf Grund von bewiesenem Ehebruch, entehrenden Strafen, Brutalität u. dgl. bewilligt. In allen diesen Fällen hängt die Bewilligung von der augenblicklichen Stimmung des Gerichtshofs ab. Die Urteile widersprechen einander. Unheilbare oder widerwärtige Krankheiten, verschiedene religiöse Anschauung, unüberwindlicher Widerwille gelten nicht als Scheidungsgrund. Wir verlangen die Ehescheidung, sowohl wenn beide Gatten, wie wenn einer derselben sie wünscht. Man braucht nicht zu fürchten, dass die Frauen hierbei den Kürzeren ziehen werden. Bisher haben nämlich gerade die Frauen die meisten Ehescheidungen verlangt.« In der Broschüre »L'élargissement du divorce« verlangen die Verfasser zivile Ehescheidung, wobei eine Magistratsperson und ein Vertreter jedes Ehegatten zu fungieren hätten. Keine öffentliche Verhandlung, kein Ausbreiten der inneren Geschichte der Ehe vor dem Gericht. Nur die Ordnung der Vermögensverhältnisse soll der Gegenstand der rechtlichen Amtshandlung sein, und die ganze Scheidungsangelegenheit soll rasch und zartfühlend abgewickelt werden. Es ist von Interesse, neben diese Forderungen Ernest Legouvés Aussprüche in seiner »Geschichte der Frau« zu stellen, die während des zweiten Kaiserreichs geschrieben wurde: »Was verschuldet im Volke so viele wirkliche Doppelehen? Die Unlösbarkeit. Was trägt die Schuld daran, dass man unter acht Arbeitern immer wenigstens zwei trifft, die zwei Haushalte haben? Die Unlösbarkeit. Was trägt Schuld, dass die Anzahl der unehelichen Kinder immer steigt? Die Unlösbarkeit. Was vermehrt die Anzahl der Kinder in der Familie, die aus dem Ehebruch der Frau geboren sind? Die Unlösbarkeit. Was schürt den Hass zwischen den Gatten? Die Unlösbarkeit. Was führt zum Mord, oft an mehreren Personen? Die Unlösbarkeit ...« Ein anderer französischer Schriftsteller, Emile de Giradin, hat schon lange vor den Brüdern Margueritte die Sache der Freiheit in der Ehe in »La liberté dans le mariage« geführt, ferner in »L'homme et la femme« zusammen mit der – gegen Alexandre Dumas' des jüngeren Schrift »L'Homme-femme« gerichteten – Abhandlung »L'homme suzerain, la femme vasalle« herausgegeben. In den grossen Kulturländern Europas wie in Amerika hat die Frage im neunzehnten Jahrhundert viele Schriften hervorgerufen, besonders von sozialistischer und anarchistischer Seite, wo auch die »freie Liebe« in einigen Versuchsgemeinwesen probiert wurde – mit den schlechten Folgen, die unter solchen Verhältnissen naturnotwendig eintreten müssen. Eine der frühesten Frauenschriften für die Scheidung dürfte wohl Mary Wolstonecrafts letzte unabgeschlossene Novelle sein. Eine der einflussreichsten ist Tschernischeffskys Roman »Was tun?«


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