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Die Entwicklungslinie der geschlechtlichen Sittlichkeit

Alle Denkenden sehen, dass die von den Religionen und Gesetzen des Abendlandes aufrecht erhaltenen Begriffe über die Sittlichkeit des Geschlechtsverhältnisses in unserer Zeit eine eingreifende Neugestaltung erfahren.

Wie allen anderen derartigen Umwandlungen stemmt sich auch dieser das Misstrauen der Gesellschaftserhalter entgegen, welches sich auf die Überzeugung gründet, dass dem Menschen die Macht gebricht, selbst die Entwicklung in aufsteigende Richtung zu leiten. Diese Leitung kommt, meinen sie, der transzendenten Vernunft zu, die sich in dem Wirklichen ausdrückt und so das Wirkliche vernünftig macht. Die jetzige Ehe ist eine historisch entstandene Wirklichkeit und folglich auch vernünftig. Die historische Kontinuität – und religiöse und ethische Bedürfnisse – bedingen die Fortdauer der jetzigen Ehe als unabweisliche Voraussetzung für den Bestand der Gesellschaft.

Die Neuerer lassen die transzendente Vernunft aus dem Spiele. Aber auch sie anerkennen den Zusammenhang zwischen dem Wirklichen und dem Vernünftigen in gewissem Grade, nämlich dass das, was wirklich geworden, auch vernünftig gewesen ist – solange es unter gewissen gegebenen Gesellschaftsverhältnissen und Seelenzuständen am besten den Bedürfnissen der Menschen in irgend einer bestimmten Richtung entsprochen hat. Sie erkennen die Unentbehrlichkeit fester Gesetze und Sitten an, denn nur sie vertiefen die Gefühle zu Quellen von Willensimpulsen, welche stark genug sind, von Handlungen ausgelöst zu werden. Sie begreifen, dass die bewahrenden, die festhaltenden Gefühle für die Seele dieselbe Bedeutung haben, wie das Knochengerüst für den Körper.

Die historische Notwendigkeit hingegen, die darin bestehen sollte, dass die Menschheit Schicksale, die sie selbst nicht bestimmt, abwartet und über sich ergehen lässt, ist für diese Neuerer eine Sinnlosigkeit. Das »historisch Notwendige« ist in jeder Zeit der verwirklichte Wille der der Anzahl oder der Art nach stärksten Menschen, verwirklicht in dem Masse, in dem Natur und Kultur ihrer Machtausübung günstig sind. Diese Neuerer wissen, dass die abendländische Ehe teils aus den stets gleichbleibenden physisch-psychischen Ursachen der Arterhaltung entstanden ist, teils aus historischen Ursachen, die vorübergehend waren, obgleich ihre Wirkungen auf diesem Gebiete wie auf vielen anderen, noch immer fortdauern. Sie wissen, dass von allen Schöpfungen des Gesellschaftslebens die Ehe die zusammengesetzteste, die verletzlichste, die bedeutungsvollste ist; und sie begreifen darum, dass Entsetzen die Mehrzahl ergreifen muss, wenn jemand an das Heiligtum so vieler Generationen Hand anlegt.

Aber – sie wissen auch, dass Leben Umwandlung ist; dass jede Umwandlung ein Absterben früher lebenstauglicher Wirklichkeiten und eine Bildung neuer solcher bedeutet. Sie wissen, dass sich dieses Absterben und diese Neubildung niemals gleichförmig vollziehen; dass Gesetze und Sitten, die sich jetzt für die Höherstehenden als lebenshemmend erweisen, für die Mehrzahl noch lebensfördernd sind und darum auch so lange bestehen müssen, wie sie diese ihre Eigenschaft bewahren. Aber sie wissen auch zugleich, dass durch die wenigen Höherstehenden – diejenigen, deren Bedürfnisse und Kräfte die veredeltsten sind – auch den Vielen schliesslich ein höheres Dasein zuteil wird. Die Voraussetzung aller Entwicklung ist, sich nicht mit dem Seienden zu begnügen, sondern den Mut zu der Frage zu haben, wie alles besser werden könnte, und das Glück, im Denken oder Handeln eine richtige Antwort auf diese Frage zu finden.

Die Unzufriedenheit der Höchststehenden mit den Widersprüchen zwischen ihren erotischen Bedürfnissen und der Form für deren berechtigte Befriedigung ruft nun Angriffe auf die Ehe hervor, die doch ihren eigenen Grosseltern noch genügte, wie sie unzähligen Zeitgenossen genügt. Diese Menschen wissen wohl, dass ihre Unzufriedenheit die Ehe nicht zerstören wird, so lange die Seelen- und Gesellschaftszustände fortdauern, die sie aufrecht erhalten. Aber – sie wissen auch, dass ihr Wille allmählich Seelen- und Gesellschaftszustände umgestalten wird. Und sie sehen schon auf der Hemisphäre der Seele Zeichen und Wunder, die die Erfüllung der Zeit künden.

Die Neuerer glauben nicht, dass die Missverhältnisse und Widersprüche, die mit den natürlichen Bedingungen der Arterhaltung unauflöslich verbunden sind, durch irgendwelche Gesetze aufgehoben werden können. Und weil sie einsehen, dass vollkommene Freiheit ein Begriff ist, der nur mit vervollkommneter Entwicklung zusammenfällt, sehen sie auch ein, dass neue Formen oft nicht nur Freiheitserweiterungen, sondern auch bisher unbekannte Freiheitseinschränkungen mit sich bringen.

Was sie wollen, das sind solche Formen, die, ob sie nun die Handlungsfreiheit einschränken oder erweitern, einen für das Individuum und das Menschengeschlecht lebenssteigernden Gebrauch der erotischen Kräfte fördern. Sie hoffen nicht, dass die neue Form fertig dastehen werde, ebensowenig wie sie erwarten, dass alle Menschen dafür fertig sein werden. Aber sie hoffen, die höheren Bedürfnisse zu nähren, die reicheren Kräfte zu wecken, die schliesslich die neue Form auch für die Mehrzahl notwendig machen werden. Diese Hoffnung befeuert ihr zielbewusstes Streben, das von der Gewissheit geleitet wird, dass die persönliche Liebe der höchste Wert des Lebens ist, sowohl unmittelbar für den einzelnen selbst, wie mittelbar für die neuen Leben, die seine Liebe schafft.

Und diese Gewissheit breitet sich von Tag zu Tag rings in der Welt aus.

Ohne an eine übermenschliche Vernunft zu glauben, die die Entwicklung leitet, muss doch jeder an eine in-menschliche glauben, an eine Triebkraft, die die jedes besonderen Volkes ebenso sehr übertrifft, wie die des Organismus die des Organs. Diese Vernunft wächst, je mehr die Einheit der Menschheit sich consolidiert. Immer weniger kann das eine Volk seine Eigenart vor dem Einflusse des anderen bewahren. Und dies zeigt sich nun besonders deutlich auf dem Gebiete der Erotik. Während nordische und angelsächsische Ideen über die geschlechtliche Sittlichkeit in der romanischen Literatur aufblitzen, sind romanische Gesichtspunkte der Liebe teilweise für die Meinungen bestimmend, die man im Norden als »die neue Unsittlichkeit« bezeichnet.

So fliegen zwischen Land und Land Schiffchen aus Gold und Schiffchen aus Stahl, die den bunten, feinen Einschlag des Gegenwartsbewusstseins durch Faden um Faden der starken Kette ziehen, die aus den Gesetzen und Sitten der verschiedenen Völker gebildet ist. Das Folgende ist zum Teil eine Zeichnung des neuen Musters, das von dieser Webekunst gebildet ist, zum Teil enthält es einige in dieses Muster eingefügte neue Motive.

 

Diejenigen, welche die Monogamie als das einzige Ziel der geschlechtlichen Sittlichkeit und als die einzige berechtigte Form der persönlichen Liebe betrachten, meinen damit nicht die scheinbare Monogamie, die das Gesetz vorschreibt, aber die Sitten umgehen. Sie meinen die wirkliche Monogamie: ein einziger Mann für eine Frau während der Lebenszeit dieses Mannes; eine einzige Frau für einen Mann während der Lebenszeit dieser Frau, und ausserhalb dessen vollständige Enthaltsamkeit. Als Entwicklung erkennen sie nur eine immer vollere Verwirklichung dieses Ideals an; in der Tendenz der Gegenwart, mehrere Entwicklungslinien anzunehmen, sehen sie nur Verfall – und in diesem Sinne wird das Wort Monogamie in diesem Buche gebraucht werden.

Die Bekenner des Lebensglaubens hingegen sehen die Ideale des Menschen als Ausdrucksformen für die Steigerung seiner Lebensbedürfnisse an. Ideale, die einstmals ein Ansporn zur Entwicklung waren, werden so zu ihrem Hemmnis, sobald die Lebensbedürfnisse neue Formen verlangen, die von dem herrschenden Idealismus nicht gutgeheissen werden. Nur wer an übersinnliche, gotteingegebene Ideale glaubt, stellt sie für alle Naturen und alle Zeiten auf. Der Evolutionismus hingegen weiss, dass niemals alle Wesen, die wir mit einem Worte das Menschengeschlecht nennen, die aber in Wirklichkeit fast ebensovielen verschiedenen Geschlechtern angehören wie die Tierwelt, einem und demselben Ideal gehuldigt haben oder huldigen können. Ja, sie freuen sich, dass sich die Menschheit nicht durch einen einzigen Glauben, eine einzige Sitte, ein einziges Ideal gleichformen lässt, weil sie in der Mannigfaltigkeit des Lebens einen grossen Teil seines Wertes sehen. Sie meinen, dass schon dies Grund genug ist, allmählich den einzelnen innerhalb derselben Zeit und demselben Volke die Freiheit zu geben, die, historisch gesehen, demselben Volke zu verschiedenen Zeiten zuerkannt wird, oder ethnographisch gesehen, verschiedenen Völkern zur selben Zeit: die Freiheit nämlich, innerhalb gewisser Grenzen selbst die Form seines geschlechtlichen Lebens zu wählen. Und dies um so mehr, als die geographischen, klimatischen, historischen und ökonomischen Verschiedenheiten zwischen den Seelen ebenso gross sind, wie zwischen Völkern und Zeiten, und das, was den Bedürfnissen und der Kraftentwicklung des einen entspricht, folglich nicht der des anderen entsprechen kann.

Nichts ist weniger bewiesen, als dass die Monogamie die für die Lebenskraft und die Kultur der Völker unentbehrliche Form des Geschlechtslebens ist. Weder die Geschichte noch die Ethnographie brauchen gegen eine Behauptung ins Treffen geführt zu werden, die sich genügend durch die Tatsache widerlegt: dass die Monogamie in dem eben erwähnten strengen Sinne selbst bei den christlichen Völkern noch niemals Wirklichkeit gewesen ist – ausser für eine verschwindende Anzahl von Menschen; dass alle die Fortschritte, die man der christlichen Kultur zuschreibt, sich vollzogen haben, während die Monogamie wohl Gesetz, aber die Polygamie Sitte war. In der Zeit, die rhetorisch die »der Tugend und Manneskraft« genannt wird, in der nordischen Heidenzeit, herrschten die Gesetze und Sitten, von denen man jetzt – nach weiterer tausendjähriger christlicher Kultur des Gefühlslebens – meint, dass sie die Auflösung der Gesellschaft nach sich ziehen würden! Unsere ausgezeichneten Vorväter, deren Moral in so hohem Grade die unsere überstrahlt haben soll, waren alle in bürgerlichen Ehen geboren, in einem Heim erzogen, wo die Buhlerin nicht selten am selben Herde mit der Gattin lebte, und wo diese letztere aus äusserst unbedeutenden Anlässen verstossen werden oder auch selbst Scheidung verlangen konnte. Ja, zuweilen waren diese Väter Kinder einer »freien Liebe«, die ihr Nest in der Wildnis gebaut, wenn der Muntmann die gesetzliche Vereinigung eines Liebespaares gehindert hatte! Dass die katholische Kirche die unlösbare Ehe einführte, hinderte nicht, dass unser schwedisches Volk im Mittelalter an den Rand des Unterganges kam. Das Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts dürfte hingegen wohl kaum jemand wegen seiner monogamischen Sittlichkeit rühmen. Aber es bewahrte dessenungeachtet Lebenskraft genug, mit seiner ökonomischen, geistigen und militärischen Macht Europas Geschichte zu entscheiden. Ja, der Kern des französischen Volkes besitzt trotz seiner erotischen »Unsittlichkeit« immer noch grosse Gesundheit und Zähigkeit, und vortreffliche bürgerliche Tugenden und Arbeitskräfte.

Die so eifrig beteuern, dass die Monogamie und die Unlösbarkeit der Ehe das Dasein der Völker entscheiden, wissen wenig von der Vergangenheit und der Gegenwart der Völker, oder sie vergessen ihre Einsicht über ihrer Absicht: dass Europas weisse Menschheit – und ihre sittlichen Ideale um 12 Uhr Mittag des heutigen Tages – überall und für immer die Norm für die Sittlichkeit und für den Glauben des ganzen Menschengeschlechts feststellen soll!

Was sich hingegen beweisen lässt, ist: dass die Lebenskraft eines Volkes in erster Linie von der Fähigkeit und der frohen Willigkeit seiner Frauen abhängt, lebenstaugliche Kinder zu gebären und zu erziehen, sowie von der Fähigkeit und dem frohen Willen seiner Männer, das Dasein des Volkes zu verteidigen. Ferner hängt sie von der Arbeitslust des ganzen Volkes ab und von seiner Fähigkeit, Wohlstand für sich selbst und Werte für die ganze Menschheit hervorzubringen, und schliesslich von dem Willen des Einzelnen, eigene Ziele zu opfern, wenn das allgemeine Wohl es erheischt.

Was sich weiter beweisen lässt, ist: dass wenn ein Volk seine Kräfte in geschlechtlichen Ausschweifungen verbraucht, dies oft verhindert, dass das Volk die erwähnten Bedingungen für seine Fortdauer erfüllt und seinen Untergang herbeiführt.

Aber damit ist nicht auch bewiesen, dass ein Volk untergeht, wenn es die Formen des Geschlechtslebens nach einer neuen Erkenntnis der vernünftigsten geschlechtlichen Sitten ändert.

Die Monogamie siegte durch viele Ursachen, vor allem durch die Erfahrung, dass sie viele Vorteile brachte. Sie verringerte die Kämpfe der Männer um die Frauen und sparte so ihre Kräfte für andere Ziele; sie spornte zur Arbeit für die Nachkommenschaft an; sie entwickelte die Schamhaftigkeit und Zärtlichkeit innerhalb der geschlechtlichen Verbindungen und hob so mit der Stellung der Frau auch ihre Bedeutung für die Erziehung der Kinder; sie bot diesen und ihr selbst Schutz vor der Willkür des Mannes; sie entwickelte durch das Familienleben Selbstbeherrschung und Zusammenwirken. Dass die Gatten aufeinander angewiesen waren, führte zum Wohlwollen gegeneinander. Die Machtvollkommenheit des Mannes wurde durch Verantwortlichkeitsgefühl und Beschützerfreude veredelt; die Abhängigkeit der Frau durch Zuneigung und Treue. Diese wurde durch die Furcht vor der besitzrechtlichen Eifersucht des Mannes gestärkt, durch seinen Anspruch zu wissen, dass sein Eigentum sich auf seine eigenen Kinder vererbte; durch Religionen, nach denen die Einmischung von fremdem Blute in den Stamm ein Verbrechen war; durch die Hoffnung des Christentums auf ein Zusammensein jenseits des Erdenlebens; durch die gemeinsamen Kinder, für die sich im Laufe der Entwicklung das Zärtlichkeitsgefühl vertiefte. Und diesen sitten- und seelenveredelnden Einfluss übt die Monogamie noch jetzt aus. Es könnte also den Anschein haben, als müsste diese Anerkennung, die man schon der unvollkommenen Monogamie zollen muss, diejenigen jeder weiteren Beweispflicht entheben, welche behaupten, dass die richtige Entwicklung der geschlechtlichen Sittlichkeit nur durch eine immer vollständigere Monogamie gesichert werden kann. Aber diese vergessen, dass die monogamische Ehe, die schon lange vor dem Christentum Sitte war, von der Stunde an, in der die Kirche sie als einzige Form der geschlechtlichen Sittlichkeit verkündete, der echten Sittlichkeit ebensoviel geschadet wie genützt hat.

Mit einem gewöhnlichen Gedankensprung kam man dann zu der Schlussfolgerung, dass die gewaltige Kulturentwicklung, die sich während der Alleinberechtigung der monogamischen Ehe vollzog, ohne diese unmöglich gewesen wäre. Und so wurde sie einfach als unentbehrliche Voraussetzung jeder höheren Kultur hingestellt!

Der Kern der jetzt immer häufiger entbrennenden Sittlichkeitsdiskussionen ist die Prüfung, ob die freie Ehe oder die unlösbare Liebe den relativ höheren Wert für die echte geschlechtliche Sittlichkeit hat.

So lange der Mensch sich vollkommen geschaffen, dann gefallen und in ewigen Kampf zwischen Geist und Fleisch versetzt glaubte, konnte kein Zweifel an dem unbedingten Wert des christlichen Sittlichkeitsideals auftauchen. Selbst diejenigen, welche, um es zu erreichen, am härtesten kämpfen mussten, selbst die im Kampfe Besiegten bekannten sich als Sünder, in dem Masse, in dem das Fleisch den Sieg über den Geist davontrug. Erst der Evolutionismus hat dem Menschen den Mut gegeben, die Frage aufzuwerfen, ob er nicht auch »sündigen« kann, wenn der Geist über das Fleisch siegt; ob nicht die Ehe um der Menschen willen da ist, nicht diese um der Ehe willen; den Mut schliesslich, das Recht der Gegenwart auf immer allseitigere Erfahrungen über die der Entwicklung der Menschen günstigsten geschlechtlichen Sitten zu vertreten. Denn »die Idee der Ehe« ist für sie keine andere, als die, diese Entwicklung zu begünstigen. Aber allseitige Erfahrungen können nicht gewonnen werden, so lange Religion und Gesetz eine einzige Sitte als die rechte erklären und dadurch alle anderen hart verurteilt oder erschwert werden – sowie sie mit ernster Offenheit hervortreten – während man die heimlichen Vergehungen gegen das Ideal der Monogamie duldet oder sogar begünstigt. Gewiss hat die Feststellung dieses Ideals so manchen angefeuert, es zu verwirklichen zu trachten; ja selbst die Heuchelei ist eine mittelbare Ehrenbezeugung, die seinem Werte gezollt wird. Aber diese Festigkeit gefährdet eine fortschreitende Entwicklung.

 

In Beziehung auf die Ehe, wie in allen anderen Beziehungen, ist das Luthertum die Halbheit, die Brücke zwischen zwei folgerichtigen Weltanschauungen: der katholisch-christlichen und der individualistisch-monistischen. Und Brücken sind dazu da, dass man hinübergeht, nicht dass man darauf stehen bleibt.

Keiner unserer »unsittlichen« Schriftsteller hat stärker als Luther die Macht des Geschlechtslebens betont. Er betrachtet Keuschheit ohne Ehe als undenkbar. Er sieht in der Ehe das von Gott gegebene Mittel, das Verlangen zu stillen, wie in der Nahrung das von Gott gegebene Mittel, den Hunger zu stillen. Aber ebensowenig wie der Mensch diesen letzteren durch Diebstahl stillen darf, darf er das erstere durch Unzucht stillen. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn man nicht jedes Verhältnis ausserhalb der Ehe Unzucht genannt hätte, während Zucht sich mit jeder Art von Ehe deckte!

Luther wusste mancherlei von der Natur, als er lehrte, dass der Mensch ausserhalb der Ehe wohl seine Handlungen unterdrücken könne, nicht aber seine Gedanken und Begierden. Er wusste hingegen nichts von jener Schöpfung der Kultur, die Liebe heisst. Und darum wusste er auch nicht, dass ganz derselbe Satz, den er gebrauchte, um gegen das Cölibat zu sprechen, sich auch gegen die Ehe anwenden lässt. Denn ebensowenig wie das Keuschheitsgelöbnis an und für sich wirkliche Reinheit mit sich bringt, ebensowenig vermag das Treugelöbnis wirkliche Treue hervorzurufen. Diese kann nur entstehen, wenn Ehe und Liebe gleichbedeutende Begriffe werden. Der Ideeninhalt von Luthers Ehekampf war nicht ein höherer Ehebegriff als der der katholischen Kirche, sondern er bestand nur darin, den Klosterleuten und den Männern der Kirche die Ehe wiederzugeben. Man hat ihm den protestantischen Pfarrhof zu danken, und damit einen grossen Einsatz für die Poesie des Landlebens, für Volksbildung, für die Hervorbringung grosser Geister und – mittelbar – auch für die Heranbildung leidenschaftlicher Freidenker! Die lutherische Ehelehre hingegen ist keines Dankes wert, da sie – wie der Protestantismus in seiner Gesamtheit – in einem unlösbaren Widerspruche stecken blieb. Anstatt in dem Geiste Christi und der katholischen Kirche, an der Unlösbarkeit der Ehe festzuhalten und das Ertöten der Sinnlichkeit zu fordern, wenn der Friede der Seele es erheischte, wurde Luther, dadurch, dass er die Macht des Naturtriebs anerkannte, in Konzessionen hineingezwungen, die bis zu der – ganz bibelentsprechend – gutgeheissenen Doppelehe gingen. Für die grobe Auffassung der Reformationszeit bedeutete eine persönlich wählende Liebe nichts. War die Ehe nur vom natürlichen Gesichtspunkt aus möglich, so konnte sie mit jedwedem geschlossen werden, ja, der echten Frömmigkeit dünkte es höher, sie ohne die irdische Liebe einzugehen, die die Liebe zu Gott beeinträchtigte. Die lutherische Ehelehre machte Gott »nachsichtig« gegen all die Unreinheit, die das Geschlechtsleben innerhalb der weissgetünchten Gruft der Ehe einschloss. Er hat vor all den Frauenmorden, die das Gebot der Fruchtbarkeit mit sich brachte, ein Auge zugedrückt; vor all den lebensunfähigen Kindern, die in unzusammengehörigen und unreinen Ehebündnissen zur Welt kamen. Er hat alle aus den niedrigsten Beweggründen, unter den unnatürlichsten Verhältnissen geschlossenen Bündnisse »geheiligt«: Bündnisse zwischen einem kranken und einem gesunden, einem alten und einem jungen, einem willigen und einem unwilligen Teil, oder zwischen zwei unwilligen, von der Familie Zusammengekuppelten. Und immer noch wird solchen »christlichen Ehebündnissen« Gottes Segen und das Gebot der Fruchtbarkeit und Untertänigkeit des Weibes verkündigt. Dieser Ehelehre sowie ihren unbewussten Wirkungen fallen noch unzählige Frauen zum Opfer; ihr ermatteter Schoss ist ein karges Erdreich für das neue Geschlecht; ihre unterjochten Seelen eine zerbrochene Stütze für das Wachstum neuer Willen. Auf eine Frau mit der Entschlossenheit zur Selbstverteidigung kommen Tausende, die ihre Kinder mit Widerwillen empfangen haben und empfangen. Auf eine Gattin, der die zaghafte Bitte der Liebe begegnet, kommen Tausende, die in dem Gefühl ihrer Erniedrigung ihren Gläubigern das Recht bewilligen, das die lutherische Ehelehre und der christliche Untertänigkeitsbegriff einprägen. Aber auch innerhalb der lutherischen Kirche zeigt sich die Macht der Zeit. Es treten jüngere Männer hervor, die den Grundsatz verfechten, dass Liebe da sein muss – nicht nur im Trauungsformular von Liebe gesprochen zu werden braucht – wenn die Ehe als sittlich angesehen werden soll. Und wahrscheinlich machen die neu-protestantischen Verkünder der Liebe ihren Einfluss geltend, eine Anzahl widriger Ehestiftungen zu verhindern. Aber es fällt weder ihnen noch ihrer Gemeinde ein, ein aus den niedrigsten Beweggründen getrautes Ehepaar mit Missachtung zu behandeln. Wenn hingegen zwei junge, gesunde, nur durch ihre Liebe vereinte Menschen zusammenwohnen und das Gebot der Fruchtbarkeit erfüllen, dann werden sie durch schimpfliche Behandlung – wenn nicht seitens des jungen Geistlichen selbst, so doch seitens seiner Gemeinde – davon überzeugt werden: dass nur die gesetzgeweihte Geschlechtsverbindung geachtet wird; dass also durchaus nicht der Ernst der persönlichen Liebe selbst, sondern nur der gesellschaftliche Stempel sie dazu befähigt, die sittliche Grundlage für das erotische Zusammenleben zweier Menschen zu bilden! Und wenn ein in einer liebeleeren Ehe unglücklicher Mensch sich befreit, um ein neues Zusammenleben »auf der sittlichen Grundlage der Ehe, der persönlichen Liebe« aufzubauen, dann beeilen sich die Männer der Kirche, die Sittlichkeit der Ehe auf die Grundlage – der Pflicht zu verlegen!

Der Satz von der Liebe als sittlicher Grundlage der Ehe ist also vorderhand nur noch eine Redensart. Seine Verwirklichung war in der protestantischen Welt lange ein strafbares Verbrechen und wird wahrscheinlich noch im Jahre zweitausend als strafwürdiges Vergehen betrachtet werden.

Nach dem Sittlichkeitsbegriff des Lebensglaubens ist also die Ehelehre des Luthertums – sowie die des Christentums überhaupt – in Unsittlichkeit ausgemündet, weil sie ebensowenig das Recht der Gattung auf die besten Lebensbedingungen schützt, als sie dem einzelnen das Recht zugesteht, seine Liebe nach seiner persönlichen Sittlichkeitsforderung zu verwirklichen. Das Ziel der lutherischen Ehe war, mit oder ohne Liebe Mann und Weib zu paaren, als gegenseitige Sittlichkeitsmittel, als Kindergrosszieher für die Gesellschaft, und zugleich um den Mann als Familienversorger festzuhalten. Dadurch, dass die Kirche rücksichtslos dieses Ziel verfolgte, ist es ihr wohl gelungen, die Sinnlichkeit einzudämmen, nicht aber sie zu läutern, – das Verantwortlichkeitsgefühl zu entwickeln, nicht aber die Liebe. Sie hat so nur den Rohstoff zu einer höheren Sittlichkeit grob zugehobelt. Das Grobgehobelte dürfte jetzt noch das im allgemeinen Verwendbarste sein. Aber ihrer werden immer mehr, die sich nach feineren Geräten sehnen.

Der neue Sittlichkeitsbegriff erwächst aus der Hoffnung, dass das Menschengeschlecht der Steigerung zu immer grösserer Vollkommenheit fähig sei. Die Formen des Geschlechtslebens, die dieser Steigerung am besten dienen, müssen also die Norm der neuen Sittlichkeit werden. Aber da die Art eines Verhältnisses nur durch seine Folgen bestimmt werden kann, wollen die Bekenner des Lebensglaubens auch auf dem Gebiete des Geschlechtsverhältnisses wie auf dem strafrechtlichen Gebiete das »bedingte« Urteil anwenden. Erst das Zusammenleben kann über die Sittlichkeit eines Zusammenlebens entscheiden – mit anderen Worten, über seine Fähigkeit, das Dasein der Zusammenlebenden und das der Generation zu steigern. Folglich kann keinem ehelichen Verhältnis im Vorhinein die Weihe erteilt und auch nicht – mit gewissen, die Kinder betreffenden Ausnahmen – abgesprochen werden. Jedes neue Paar muss – welche Form es auch für sein Zusammenleben gewählt hat – erst selbst dessen sittliche Berechtigung erweisen.

Dies ist die neue Sittlichkeit, die heute von denselben Seelen unsittlich genannt wird, die Luther bei seinem Auftreten als unsittlich verdammten. Ein Urteilsspruch, der in der katholischen Welt wiederholt wird, wo noch »auf den unzüchtigen Mönch« dieselben Schmähungen gehäuft werden, wie in den lutherischen Gemeinwesen auf die Anhänger der »freien Liebe«. Für Luthers jetzige »freisinnige« Nachfolger handelt es sich auf diesem Gebiete wie auf dem des Glaubens darum, dass sie entweder umkehren oder vorwärts gehen müssen. Zurück zu dem festen Boden der unbedingten Autorität oder hinüber über die Brücke der freien Prüfung in das unerforschte Land des voll-persönlichen Glaubens; zurück zur unauflösbaren Ehe oder über die Brücke des Ehezwangs vorwärts zu dem Rechte der Liebe. Der gerade Weg eines folgerichtigen Denkens lässt keine dritte Möglichkeit zu.

Die Ehelehre der Neuprotestanten ist schon viel weniger folgerichtig als die Luthers. Mit ihm erkennen sie das Recht der Sinnlichkeit in der Liebe an, mit ihren Zeitgenossen das Recht der Liebe im Menschenleben. Aber wenn sie dann beiden die Grenzen ziehen, bleiben sie in Unnahbarkeiten stecken.

Nicht weil sie innerhalb wie ausserhalb der Ehe Beherrschung verlangen. Alle Vorbereitung zu einer schliesslichen Lebenssteigerung bringt vorübergehende Lebenshemmungen mit sich. Sondern weil die Beherrschung, die sie fordern, so umfassend ist, dass sie in hohem Grade lebenshemmend wird, ohne eine entsprechende, schliessliche Lebenssteigerung herbeizuführen. Sie beschränken nämlich das geschlechtliche Moment in der Liebe auf die Aufgabe, die Gattung fortzupflanzen, und die Liebe im Menschenleben auf ein einziges Verhältnis. Jene Ehegatten, welche die Verantwortung für ein neues Leben nicht auf sich nehmen sollen, wollen oder können, werden so zum Zölibat in der Ehe verurteilt, und die Gatten, welche einmal ihre Ehe auf Liebe gegründet haben, müssen sie auch ohne Liebe fortsetzen.

Aber diese Forderungen sind rücksichtsloser gegen die menschliche Natur als der Zwang, den Luther bekämpfte. Das vollkommene Zölibat ist leichter als das eheliche. Die Forderungen der Seele sind stärker als die der Sinne. Dies dürfte jedoch kein Hindernis für die Aufstellung der strengen Forderungen sein, wenn diese wirklich einem geschlechtlich höheren Dasein förderlich wären. Aber nur der von der Wirklichkeit des Lebens Wegsehende – und der Christ ist gewöhnlich ein solcher Wegsehender – kann die persönliche Liebe als Grundlage der geschlechtlichen Sittlichkeit aufstellen und zugleich ihr Recht innerhalb der oben erwähnten Grenzen der Sittlichkeit einsperren.

Denn so wie die Kultur jetzt die persönliche Liebe entwickelt hat, ist diese so zusammengesetzt, so umfassend und eingreifend geworden, dass sie nicht nur an und für sich – unabhängig von der Arterhaltung – einen grossen Lebenswert bildet, sondern auch alle anderen Werte hebt oder herabmindert. Sie hat neben ihrer ursprünglichen eine neue Bedeutung bekommen: die Flamme des Lebens von Geschlecht zu Geschlecht zu tragen. Niemand nennt jemanden unsittlich, der – in seiner Liebe getäuscht – davon absteht, in einer Ehe die Gattung fortzupflanzen; auch jene Gatten wird man nicht unsittlich nennen, die in ihrer durch die Liebe glücklichen Ehe verbleiben, obgleich dieselbe sich als kinderlos erwiesen hat. Aber in beiden Fällen folgen diese Menschen ihrem subjektiven Gefühl auf Kosten des künftigen Geschlechts und behandeln ihre Liebe als Selbstzweck. Das in diesen Fällen den einzelnen auf Kosten der Gattung schon zuerkannte Recht wird sich immer mehr erweitern, in dem Masse, in dem die Bedeutung der Liebe zunimmt. Hingegen wird die neue Sittlichkeit von der Liebe eine immer grössere freiwillige Rechtseinschränkung in den Zeiten, wo ein neues Leben es erheischt, verlangen, sowie einen freiwilligen oder notgedrungenen Rechtsverzicht, neue Leben unter Bedingungen zu zeugen, die dieselben minderwertig machen würden.

Die Ehelehre des Neuprotestantismus, wie die Tolstois, beruht im letzten Grunde auf dem asketischen Misstrauen gegen das Geschlechtsleben. Keiner von ihnen nimmt an, dass dessen sinnliche Seite anders veredelt werden könnte, als indem man sie ausschliesslich in den Dienst der Arterhaltung stellt. Dieser Gesichtspunkt ist zuletzt der entscheidende für alle christlichen Sittlichkeitsbegriffe. Das Christentum wird von der Gewissheit getragen, dass das Ziel von des Menschen Erdenleben seine Entwicklung als Ewigkeitswesen ist. Darum kann keine seiner Lebensäusserungen Selbstzweck sein, sondern muss einem höheren Ziele dienen als dem irdischen Leben und Glück des einzelnen, ja sogar des Menschengeschlechtes.

Aber indem man die Grundlage der geschlechtlichen Sittlichkeit in ein überirdisches Dasein verlegte, beraubte man sie ihres Zusammenhanges mit der Arterhaltung und geriet so in Widerspruch mit sich selbst. Dies ist die Ursache, warum es dem Christentume – während es mittelbar für die Vergeistigung der Liebe höchst bedeutungsvoll geworden ist – doch niemals gelungen ist, die Forderungen des einzelnen mit denen der Gattung, die Bedürfnisse der Seele mit denen der Sinne zu versöhnen. Allumfassend wird nur die sittliche Norm, die von dem Glauben bestimmt wird, dass der Sinn des Lebens seine Entwicklung durch die einzelnen zu immer höheren Lebensformen für das ganze Menschengeschlecht ist. Diese Norm hält keine Askese für sittlich, die darauf abzielt, die Seele aus den Banden der Sinnlichkeit zu befreien: dieses grosse Ziel der morgenländischen Askese. Sie nennt nur die Selbstzucht berechtigt, die eine immer grössere Einheit zwischen dem Willen der Seele und dem des Körpers herbeiführt. Eine solche Selbstzucht steht ebenfalls von dem näheren und geringeren Guten um des ferneren und grösseren willen ab. Aber sie findet dieses Gute auf dem Gebiete der Liebe wie auf jedem anderen in einer immer seelenvolleren Sinnlichkeit oder einer immer sinnlicheren Beseeltheit, nicht in der von Sinnlichkeit immer mehr befreiten Geistigkeit der Askese. Zu dieser Kapelle der Geistigkeit führt ein Bergpfad, der – wie mühsam jeder Schritt auch sein mag – doch gerade aufs Ziel losgeht. Das seelenvoll-sinnliche Dasein hingegen ist eine Zelle, zu der ein Labyrinth führt. Jeder Schritt ist da weniger mühevoll, aber die ganze Wanderung bringt unvergleichlich grössere Gefahr und Spannung. Dies dürfte der Grund sein, warum sie bis jetzt nur die Stärksten lockt – jene, welche niemals darauf verzichten zu geniessen, denn sie geniessen auch, wenn sie verzichten! Für den, welcher dem letzteren Ziele zustrebt, wird eine einzige Sittlichkeitsnorm einfältig – ganz einfach, weil die Menschen vielfältig sind. Geschlechtliche Enthaltsamkeit in den Jugendjahren kann zum Beispiel neun Jünglinge von zehn stärken. Der zehnte kann dadurch in ein Halbtier verwandelt werden, das, obgleich er vor der Ehe im äusseren Sinne »keusch« gewesen, in dieser eine Roheit oder Verdorbenheit an den Tag legen kann, die die Frau auf seinen Standpunkt herabzieht oder einen Abgrund zwischen ihnen auftut. Ausschliesslich sinnliche Geschlechtsverbindungen können in neun Fällen von zehn die Frau wie den Mann geringer machen. Im zehnten Falle kann sich eine solche Verbindung zu einem lebensentscheidenden Gefühl vertiefen, und die Ehe, zu der es führt, besitzt grössere Glücksmöglichkeiten als die so manches jungen Paars, das die seine in der Ordnung schliesst, die als die einzige glückverheissende angesehen wird. So ist es in einem Fall von zehn möglich, dass die Liebe, für die ein junger Mann sich bis zur Ehe rein bewahrt hat, wirklich die persönliche Liebe ist. In neun Fällen ist sie es nicht, sondern im Gegenteil die unpersönlichste aller Arten von Liebe. So ist es in neun Fällen von zehn denkbar, dass solche Enttäuschungen durch das Pflichtgefühl so getragen werden können, dass die Persönlichkeit dabei wächst. Im zehnten wieder führt das Verharren im Irrtum zum Untergang der Persönlichkeit.

Aber diejenigen, welche die vollkommene Reinheit vor der Ehe und die persönliche Liebe in der Ehe mit vollem Rechte zur Norm der Sittlichkeit machen, sollten sich auf Grund unzähliger solcher und ähnlicher Erfahrungen entschliessen, jeden selbst entscheiden zu lassen, wie diese Reinheit vor wie nach der Ehe am besten erreicht wird, und welchen Inhalt diese persönliche Liebe haben soll. Entweder darf sie nichts weder für noch gegen die Heiligkeit der Ehe bedeuten. Oder wenn sie bei der Schliessung der Ehe ihre Heiligung bedeuten soll, dann muss ihr diese Bedeutung auch während der Fortdauer der Ehe zukommen. Aber nur das Individuum selbst weiss, wie lange seine Ehe durch persönliche Liebe heilig verbleibt, oder wann sie aufgehört hat, es zu sein. Niemandem kann die Pflicht auferlegt werden, in einem unheiligen Verhältnisse zu verharren, und folglich muss der Neuprotestantismus entweder die persönliche Liebe als sittliche Grundlage der Ehe, oder die unbedingte Treue als Ausdruck der sittlichen Persönlichkeit fallen lassen.

Der erotische Monist fragt nicht, ob ein Geschlechtsverhältnis das erste und einzige ist, ehe er ihm Sittlichkeit zuerkennt. Er will nur wissen, ob es derart war, dass es nicht die Persönlichkeiten der Liebenden aus dem Spiele gelassen hat. Ob es ein Zusammenleben gewesen ist, wo »weder die Seele die Sinne, noch die Sinne die Seele betrogen haben«.

Mit diesen Worten hat George Sand den Begriff der neuen Keuschheit gegeben.

 

Die Forderungen der neuen geschlechtlichen Sittlichkeit zeigen eigentümliche Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten mit denen, die die Ritterzeit auf diesem Gebiete aufstellte. Die Liebesgerichte setzten beispielsweise fest, dass Ehe und Liebe einander ausschliessen. Der Persönlichkeitsbegriff hat hingegen einen Willen zur Einheitlichkeit mit sich gebracht, der es undenkbar erscheinen lässt, in einer Ehe zu leben, ohne dass die Sehnsucht der Seele und die der Sinne der Gatten aufeinander gerichtet sind. Die Ritterzeit liess das kommende Geschlecht ausserhalb des Bereichs der Liebe. Die Hoffnung der Gegenwart ist es hinwiederum, durch die Liebe die neue Generation ebenso zu vervollkommnen wie die Liebenden selbst.

Auch die neue Sittlichkeit gesteht den vielen, die noch nicht einmal fähig waren, von persönlicher Liebe zu träumen, das Recht zu, eine Ehe zu schliessen, die ihrem armen Dasein wenigstens den Inhalt der Elternfreude und des Heimatsgefühls geben kann. Aber sie wird streng gegen jene sein, die, obwohl sie die Liebe erfahren oder geahnt haben, ohne sie eine Ehe schliessen, die dann sicherlich noch andere Leben ausser ihrem eigenen verringern, vielleicht zerstören wird. Die Weisheit kann fordern, dass das Urteil in gewissen einzelnen Fällen milde sei, denn die Mehrzahl der Menschen lernt spät oder nie ihr eigenes Herz kennen. Als leitender sittlicher Grundsatz hingegen muss die Einheit der Ehe und der Liebe unerschütterlich festgehalten werden. Durch seine idealbildende Macht, seine dadurch immer gesteigerte Glücksforderung hat der Mensch die Triebe zu geistigen Bedürfnissen vertieft, und dieselbe idealbildende Macht zieht nun rücksichtslos die äusseren Stützen der geschlechtlichen Sittlichheit fort und ersetzt sie durch die des Einheitsbegriffs. Dass dadurch Lahme und Hinkende ihrer Krücken beraubt werden, kann den nicht irre machen, der an den Lahmen und Hinkenden vorbei auf die schöneren und gesunderen Menschen der Zukunft blickt.

Der Einheitsgedanke schliesst allerdings das Recht jedes Menschen ein, sein Geschlechtsleben seinen persönlichen Forderungen gemäss zu gestalten, aber nur wenn er damit nicht bewusst die Einheit und dadurch mittelbar oder unmittelbar das Recht der Wesen verletzt, denen seine Liebe das Leben schenken kann. Die Liebe wird so immer mehr eine Privatsache des Menschen, die Kinder hingegen immer mehr eine Lebensfrage der Gesellschaft, und daraus folgt, dass die beiden niedrigsten und gesellschaftlich sanktionierten Äusserungen der geschlechtlichen Zersplitterung (des Dualismus), die Zwangsehe und die Prostitution, allmählich unmöglich werden, weil sie nach dem Siege des Einheitsgedankens den Bedürfnissen der Menschen nicht mehr entsprechen werden.

Zwangsehe ist das, was nicht nur die Sittlichkeit des Zusammenlebens und das Recht der Kinder von der Form dieses Zusammenlebens abhängig macht, sondern auch die Möglichkeit der Trennung für den einen Teil von dem Willen des anderen. Prostitution ist aller Handel mit seinem Geschlecht, möge der Handel von Frauen oder von Männern betrieben werden, die sich aus Not oder Lust ausserhalb der Ehe und durch sie verkaufen. Beides geschieht in gröberer und in feinerer Form. Es gibt eine Rangskala für die Ehe ohne Liebe wie für die »Liebe« ohne Liebe. Der Abstand zwischen beispielsweise der Kameliendame oder Raskolnikows Sonja auf der einen Seite und einem wilden Tier des Rinnsteins auf der anderen ist gross. So auch zwischen einer Frau, die aus Mütterlichkeitssehnsucht, und einer, die aus Luxusverlangen eine Ehe eingeht; zwischen einem Manne, der eine Arbeitskameradin, und einem, der eine Trösterin für seine Gläubiger sucht. Aber ob man sich nun mit einem Teile seiner Person von Hunger oder Schulden, Einsamkeit oder Verlangen loskauft, welchen an und für sich hohen Wert man auch gewinnen mag, so bleibt doch der Handel für Käufer wie für Verkäufer aus dem Gesichtspunkt der einheitsbestimmten geschlechtlichen Sittlichkeit eine Erniedrigung.

Die Entwicklung des erotischen Persönlichkeitsbewusstseins wird nun in ebenso hohem Grade durch die von der Gesellschaft geregelte »Sittlichkeit« wie durch die von der Gesellschaft reglementierte »Unsittlichkeit« gehindert. Sowohl wenn es gilt, die erstere aufrechtzuerhalten, wie wenn es sich darum handelt, die letztere zu entschuldigen, bekommt man zu hören, dass der Idealismus sich »den Forderungen des wirklichen Lebens« fügen müsse. Dieselben Menschen, die mit Recht die Auflösung der Gesellschaft befürchten würden, wenn man als »die Forderungen des wirklichen Lebens« das Recht aller Hungernden zu stehlen verkündete, halten sich für lebensklug, wenn sie, auf einem unendlich bedeutungsvolleren Gebiete als dem des Eigentums, die Notwendigkeit des Diebstahls – in der Form der Prostitution – verkünden.

Das wirkliche Leben hat allerdings Forderungen. In dem einen Falle die, dass alle nach Nahrung Hungernden Arbeit erhalten müssen, und zwar so entlohnt, dass sie essen können. In dem anderen, dass alle Geschlechtsreifen die Möglichkeit erhalten, zur rechten Zeit eine Ehe zu schliessen. Aber die Umwandlungen, die sich vollziehen müssen, damit das geschehen kann, werden so lange ausbleiben, wie die Gesellschaft – in der Annahme, dass die Prostitution ein notwendiges Übel sei – ihre Folgen überwacht und sich so selbst in den Irrwahn wiegt, dass ihre Gefahren verhütet werden können. Denn damit kauft man sich davon los, nach den Auswegen zu suchen, die besser die beiden Grundbedürfnisse – Liebe und Hunger – befriedigen könnten, zu deren Stillung die Prostitution jetzt für viele Männer und Frauen der einzige Ausweg ist.

Aber diese Umwandlungen werden auch ausbleiben, so lange die Gesellschaft – in der Annahme, dass die Trauung ein notwendiger Segen ist – an ihr als einem Sittlichkeitspostulat des Geschlechtsverhältnisses festhält.

Denn die Trauung verleitet mittelbar wie die Prostitution unmittelbar zu Verbrechen gegen die ungeborene Generation, Verbrechen, mit denen verglichen Raub und Mord an den Lebenden Harmlosigkeiten sind!

An diesem Zustand der Dinge machen sich auch die Sittlichkeitsverkünder mitschuldig, die sich weismachen, dass nur die immer strenger aufrechterhaltene Forderung der Monogamie das Heilmittel des Übels sei. Sie fürchten alle Betonung des Inhaltsreichtums des Lebens, des Glückstraums, der Lebensberauschung. Sie predigen nur Pflichtgefühl und Verantwortung für die eigene Seele und gegen die Gesellschaft. Aber – das ist beständig von den ersten Zeiten des Christentums an gepredigt worden, ohne dass die geschlechtliche Sittlichkeit sich im grossen Ganzen gehoben hat! Das gibt zu denken. Umsomehr, wenn diese Furcht vor der Liebe bis zu Tolstois – oder richtiger des Morgenlandes – Abscheu vor der Sinnlichkeit getrieben wird; wenn man die Ehe nur als ein gefährliches Palliativ gegen eine erbliche Krankheit betrachtet, die am besten so überwunden werden soll, dass das Heilmittel überflüssig wird!

Wenn die Vorgänge der Seele ebenso erforscht sein werden wie die der Erde, wird auch die Liebe ihre Kumatologie erhalten – das ist die Wissenschaft von den Wellen. Man wird den Wellengang des Gefühls durch die Zeiten verfolgen, seine auf- und absteigende Bewegung, die Gegenwirkungen und Seiteneinflüsse, von denen es bestimmt war. Eine solche steigende Welle ist in unserer Zeit der wachsende Abscheu der jungen Männer vor der gesellschaftsgeschützten Unsittlichkeit, ihre einheitliche Liebessehnsucht. Ein entgegenwirkender Einfluss ist hinwiederum die Abneigung einer Anzahl junger Frauen gegen die Liebe. Sie begnügen sich nicht damit wie die neuprotestantischen Geistlichen zu verlangen, dass die Sinnlichkeit geheiligt werden solle: sie wollen sie ertöten. Sie hassen nicht nur – und mit Recht – die von der Liebe losgelöste Begierde: sie setzen die Liebe selbst herab, auch wenn sie sich als Einheit der Seele und der Sinne darstellt. Die Ehe darf nach ihnen nur die höchste Form sympathischer Freundschaft sein und der Ausdruck eines auf die Entstehung und Erziehung der Kinder gerichteten Pflichtgefühls. Wenn die Ehe frei von sinnlichen Lustgefühlen und von persönlichen Glücksforderungen wird, wenn sie die Vereinigung zweier Freunde in der Pflicht und der Freude, ganz für die Kinder zu leben, ist – dann erst ist sie »sittlich« geworden!!

Die Liebe, als die Synthese der geistigen Sympathie und des Geschlechtslebens betrachtet, als die Lebensmacht, durch die das Dasein des Menschen vergrössert und verschönert werden kann, erscheint ihnen wertlos. Und bedeutungslos erscheint ihnen der Gedanke eines Unterschiedes zwischen der Natur des Weibes und der des Mannes. Sie verlangen von beiden vollkommene Enthaltsamkeit ausserhalb der Ehe; und innerhalb derselben gestehen sie nur einige wenige Ausnahmen zu, die die noch unvollkommene Einrichtung der Natur zur Fortpflanzung der Gattung notwendig gemacht hat. Sie hoffen, dass mit dem Fortschreiten der Wissenschaften Chemie und Biologie die Menschen von ihrer Erniedrigung durch die Liebe befreien werden, so wie Verner von Heidenstam von dem »Esspulver« die Befreiung von der Erniedrigung durch den Hunger erhofft. Möglicherweise behalten beide Recht. Aber mit diesen Möglichkeiten haben die Menschen des 20. Jahrhunderts nichts zu schaffen. Was wir jetzt zunächst brauchen, ist mehr Liebe – und mehr Nahrung – nicht weniger!

Es ist darum nicht wahrscheinlich, dass die eben beschriebene Linie die ist, auf der die Entwicklung der geschlechtlichen Sittlichkeit sich weiter bewegen wird. Denn in immer mehr Menschen ist schon jetzt eine gesteigerte erotische Forderung, die das eben erwähnte Reinheitsideal zurückweist. Kein Gedanke an das Ziel kann für sie ein Mittel heiligen, das ihnen ohne Liebe unschön erscheint.

Die aus Pflichtgefühl entstandenen Kinder dürften ausserdem einer Anzahl wesentlicher Lebensbedingungen beraubt sein. Unter anderem der, in ihren Eltern die lebensvollen, glückausstrahlenden Persönlichkeiten zu finden, die die besten geistigen Lebensmittel der Kinder werden – wozu noch der Gesichtspunkt kommt, dass Eltern, »die nur für ihre Kinder leben«, eine schlechte Gesellschaft für diese sind!

Das hier angedeutete Sittlichkeitsprogramm ist erklärlich aus einem berechtigten Hass gegen die gesellschaftsgeschützte Unsittlichkeit und aus einer – teilweise – berechtigten Empörung gegen die das Kind verhütende Liebe. Aber diese Lösung des tiefsten Konflikts der Liebe – zwischen den Forderungen des einzelnen und denen des kommenden Geschlechts – verletzt ebenso sehr den Willen der Natur wie die Grundlagen der Kultur. Unabhängig von beiden glauben diese Eiferer die weisse Welt der Reinheit erreichen zu können, die in den Leiden durch die Unreinheit und Erbärmlichkeit, mit denen das Geschlechtsverhältnis jetzt noch das Dasein erfüllt, ihren Sinn lockt. Sie vergessen, dass oberhalb der Schneegrenze nur die dürftigsten Formen des Lebens gedeihen. Aber die menschliche Entwicklung steuert einer immer reicheren und kräftigeren Formenbildung zu. Und nicht nur im geschlechtlichen Leben, nein, auf jedem Gebiet des Schaffens ist die Sinnlichkeit das nährende und tragende Erdreich, vor allem die erotische Sinnlichkeit. Jeder Versuch, Sittlichkeit von Sinnlichkeit zu scheiden, wird die Entwicklung nicht steigern, sondern sie nur verzögern, da die Umpflanzung des Geschlechtsgefühls in ein anderes Erdreich als das der Sinnlichkeit unter unseren tellurischen Bedingungen bis auf weiteres eine Unmöglichkeit ist!

Die auf Unsinnlichkeit – oder Übersinnlichkeit – abzielende Reinheitsforderung kann vielleicht gegen kleine Gefahren Schutz bieten. Bei grossen wird sie bedeutungslos sein wie ein Zaun gegen einen Waldbrand. Keine Lusthemmung, nur die Ableitung der Lust in andere Bahnen reinigt sie wirklich. Nur durch stärkere Leidenschaften werden Leidenschaften gezügelt. In der Lust und der Leidenschaft, in der die Gefahr liegt, im Liebestrieb selbst, hat man den richtigen Ausgangspunkt zu seiner Veredlung. Derjenige, für den die Ertötung des Triebs zum leidenschaftlichen Verlangen wird, kann durch diese Leidenschaft die Aussicht haben, sein lebensfeindliches Ziel zu erreichen. Wer hingegen den Geschlechtstrieb nicht ertöten, sondern nur beherrschen will, wird in seinem Kampfe gegen die – durch Erblichkeit und gesellschaftliche Sitte noch unmässig aufgestachelte – Begierde nur dann ein starker, stolzer Sieger sein, wenn er von der Einheit der Liebe träumt und sie schliesslich erfährt. Gewiss gibt es auch sekundäre Hilfsmittel. Vor allem das, schon mit dem elterlichen Blute den Instinkt der Keuschheit erhalten zu haben; von Kindheit auf gegen die Gefahren der Härte wie der Weichlichkeit geschützt zu sein; eine feinfühlige und fromme Erklärung des grossen Ziels und der grossen Verlockungen der geschlechtlichen Bestimmung zu empfangen; durch die allgemeine Meinung den Eindruck der Möglichkeit der Selbstbeherrschung und ihrer Bedeutung für das Glück des einzelnen und der kommenden Generation zu erhalten; den Missbrauch aller Art von Genussmitteln zu vermeiden, besonders berauschender Getränke, die unmittelbar wie mittelbar die Widerstandskraft des Willens auf dem geschlechtlichen wie auf jedem anderen Gebiete der Versuchung schwächen. Es ist fraglos, dass edle Leibesübungen, Tanz und Spiel – und edel sind sie nur, wenn man sie schön und würdig mit der Seele sowohl wie mit dem Körper betreibt – ein Mittel sind, den Geschlechtstrieb umzuwandeln und ihn zu beherrschen. Ebenso gewiss ist die körperliche und geistige Arbeit für eigene Rechnung sowie die Teilnahme an irgend einer Form gemeinnütziger Bestrebungen bedeutungsvoll, weil sie die erotischen Kräfte in umgesetzter Form in Anspruch nimmt und verbraucht. Aller echte Kunstgenuss ist im höchsten Grade wichtig für die Veredlung des Geschlechtslebens, nicht zum wenigsten, weil er den Menschen vor das »nackt Echte und unverhüllt Wahre« stellt (Fröding), das die Sitten im Leben noch nicht gestatten, das aber einmal eines der besten Erziehungsmittel zur geschlechtlichen Sittlichkeit werden wird, nur noch übertroffen von den Schilderungen der grossen Dichtung von der Liebe. Aber all diese Selbstzucht, all diese Hilfsmittel aus der Welt der Schönheit und der Arbeit, diese ganze körperliche Ausbildung zur Stärke und Gesundheit sind Linien ohne Zielpunkt, solange sie nicht alle zur Liebe führen – zur Liebe, die gewisse Sittlichkeitsverkünder, als ebenfalls eine Gefahr und eine Versuchung, ganz aus dem Spiele lassen wollen! Niemand wird leugnen, dass gesunde Lebensgewohnheiten und strenge Beherrschung hebend für den einzelnen werden können, auch wenn die Liebe in seinem Leben keine Bedeutung erlangt. Aber das Leben in seiner Gesamtheit gewinnt nichts durch die Hervorbringung gehärteter oder verheerter Asketentypen, die durch körperermattenden Sport, phantasievertrocknende Lektüre und nacktheitverhüllende Kunst es zustande gebracht haben, die Sinnlichkeit einzuschläfern, die dann vielleicht doch eines Tages jäh erwacht. An diesen bärbeissigen Hofwächtern ihrer »höheren« Natur hat das Leben ebensowenig Freude, wie sie selbst am Leben. Wir haben nicht viel gewonnen, wenn wir eine Jugend bekommen, die die geschlechtliche Enthaltsamkeit auf Kosten anderer für das Menschengeschlecht ebenso notwendiger Eigenschaften erreicht. Eine Jugend mit breiten Scheuklappen, die Freude der Sinne, das Spiel der Lebenslust, die Regsamkeit der Phantasie scheuend, eine Jugend ohne allen geistigen Wagemut – eine solche Jugend ist bei all ihrer »Reinheit« ein toter Lebenswert!

Diejenigen hingegen, die die reichen Inspirationen des Geschlechtslebens bewahren, aber beherrschen, werden – auch wenn die Beherrschung nicht immer vollständig gewesen ist – von unendlich grösserem Werte für das Leben sein.

Das vom Christentum genährte Vorurteil, dass die geschlechtliche Reinheit an und für sich ein so grosser Lebenswert ist, dass er das Opfer aller anderen aufwiegt – dieses Vorurteil muss überwunden werden. Ein Mensch ist durch seine geschlechtliche Reinheit nur in dem Masse bedeutungsvoll, als er dadurch mehr geeignet wird, für sich selbst und das kommende Geschlecht den Sinn des Lebens zu erfüllen: nämlich ein immer höheres Leben zu leben! Seine Reinheit wird zu teuer bezahlt, wenn sie ihm selbst und in ihm der Menschheit unersetzliche Verluste an Lebenslust, Lebensmut und Lebenskraft zufügt.

Und bis auf weiteres – bis Ehe und Erziehung durch mehrere Generationen die jetzige Natur der Menschen, besonders der Männer umgewandelt haben – wird die Reinheitsforderung nicht ohne solche Verluste durchgeführt werden können, wenn nämlich diese Forderung die neuprotestantische oder gar die Tolstoische Formulierung enthält.

Anmerkung: Man sehe Tolstoi, besonders »Die Kreutzersonate« und »Die sexuelle Frage«.

 

Die Asketen, die gegen die Übermacht des Geschlechtstriebs nur die Beherrschung anempfehlen – auch wenn diese bloss lebenshemmend wirkt – gleichen dem Arzte, der nur darnach strebte, dass das Fieber von dem Kranken weiche: dass dieser an der Kur starb, war ihm gleichgültig!

Aber diese Asketen können auf zwei verschiedenen Wegen zu ihrem Fanatismus gekommen sein. Die eine Gruppe, – die die meisten weiblichen Asketen umfasst – hassen Eros, weil er ihnen niemals Huld bewiesen hat. Die andere Gruppe – die die meisten männlichen Asketen einschliesst – fluchen ihm, weil er ihnen niemals Ruhe lässt! Die Reinheitstollen und die Genusswütigen begegnen sich jedoch in ihrem Misstrauen gegen die Entwicklungsmöglichkeiten der Liebe. Die Liebe ist für sie Begierde und nur dies; kommt die Seele hinzu, so ist es Freundschaft und nur dies. Sie haben niemals eine Liebe erfahren, die in des Wortes allumfassendem Sinne schaffend war. Die Unfruchtbarkeit – die der Seele oder die des Körpers oder beider – ist das Kennzeichen der einzigen Liebe, welche diese beiden Gruppen kennen. Die Sklaven der Erotik sind vortrefflich durch das Geständnis eines Weltmanns charakterisiert, dass er »mindestens zwanzig Frauen leidenschaftlich begehrt habe, die ihm alle persönlich vollkommen gleichgültig waren«.

Anmerkung: Lord Chesterfield.

Sie wissen nichts von dem Willen der Seele zu einem einzigen, unter unzähligen erwählten Wesen, einem Willen, dem – wenn er tief bestimmt ist – auch der Wille dieses anderen begegnet. Sie wissen nicht, dass die Wahlverwandtschaft der Sympathie den einen aus den Augen des anderen eine alles überwindende, alles befreiende Macht schöpfen lässt. Denn selbst empfinden sie durch die Gewalt der Begierde nur Ohnmacht und Erniedrigung ihres höheren Wesens. Ein im übrigen seelenvoller Mann kann sich durch die Erotik so machtberaubt fühlen, dass er bald allen Frauen den Tod wünscht, um so aus seiner Sklaverei erlöst zu sein; bald wünscht er ihnen, wie Caligula den Römern, einen einzigen Hals – aber nicht, um ihn abzuhauen! Der Hass dieser Männer gegen die Erotik ist der Hass des Wilden gegen die grausamen Götter, von denen er sich abhängig glaubt und die mit seinem Schicksal spielen. Und nichts ist gewisser, als dass die Liebe, so aufgefasst, die Menschen niedrig und lächerlich macht. Auch wer aus seiner innersten Seele die Tragödie liebt und die Farce hasst, wird unter der Attraktion dieser Liebe zwischen beiden stecken bleiben und aus seinem Leben eine – Tragikomödie machen. Denn um zu der wahren tragischen Grösse zu gelangen, muss der Mensch sich rücksichtslos von dem Grössten in seiner Natur, seinem eigensten innersten Ich leiten lassen und daran untergehen. Aber das tragische Schicksal streift auch Menschen gegen deren innersten Willen, und dann entsteht die eben erwähnte unreine Form des Tragischen. Männer und Frauen, die in der Liebelei nur neue Anreize gesucht haben, treffen so schliesslich einen Menschen, der die Liebe nicht in dieser Weise auffasst und dem Spiel für immer ein Ende macht. Oder es widerfährt ihnen, dass sie selbst von einem grossen Gefühle ergriffen werden, aber ihre Vergangenheit vernichtet ihre Hoffnung, in einem heiligen Hain die Gottheit anbeten zu können, der sie bis dahin nur Papierlaternen im Marktgewühl entzündet haben. In den meisten Fällen nimmt die Tragikomödie dieselbe Form wie für den Trinker an, dass nämlich die Befriedigung immer unmöglicher wird; dass der Unmässige sich genötigt sieht, zu immer gröberen Mitteln zu greifen, um nur einigermassen das Begehren zu stillen; die Berauschungen immer häufiger zu machen, während der Festesglanz immer geringer wird. Der diesen Berauschungen Anheimgefallene wird allmählich ebenso willenlos, herzlos, haltlos, gewissenlos wie der Alkoholiker, ebenso unfähig zur Auswahl und Schätzung auf dem Gebiete seines Verlangens. Die herrlichste Frauenliebe wird ihn schliesslich ebenso unempfindlich lassen, wie den Trinker der flüssige Topas des Rheinweins, sein Sonnenduft, seine Taukühle. »Die Freiheit der Liebe« wird für ihn schliesslich nur das Freisein von Verantwortung, von Rücksicht, von Gefahr, von Kosten bedeuten. Im Vergleich mit dieser Art »freier Liebe« ist die Prostitution allerdings gesundheitsgefährlicher, aber viel weniger persönlichkeitzerstörend. Die Prostitution verringert die Persönlichkeit durch eine Zersplitterung, die die Seele aus dem Spiele lässt. Aber sie verbraucht die Persönlichkeit nicht wie die »Liebe«, die das Papiergeld ist, mit dem der Mann nicht feile Frauen kauft. Erwarten sie, dass er die Banknote in Gold einlöst, dann sind sie in grossem Irrtum. Die Liebe kann nach seiner Meinung keinen Goldwert besitzen: sie ist immer ein falsches Wertpapier, durch das die Natur die Mitwirkung des Menschen – besonders der Frau – zu ihrem Ziele erreicht.

Diese Liebe kennt nur die Luft in den Alkoven, wo sie ihre gekaufte oder gestohlene Lust gesucht hat. Die Luft der Weiten hat sie nie geatmet, die Luft, die von Sonne zittert und in Stürmen bebt; die Luft, durch die alle Sehnsucht des Lebens nach Erneuerung braust, die ganze Ewigkeitsahnung des Glückbegehrens, die Generation über Generation hinaushebt, unbekannten Zielen zu. Eine Luft, die die Kräfte ins Unermessliche steigert und sie ins Unendliche aufsaugt; die Luft über den Weiten, wo noch Wildheit und Wahnwitz keuchen, wo Mann und Weib ihre ewigen Kämpfe kämpfen und ihre ewigen Qualen leiden, Qualen, von denen schon Lukrez wusste, dass der Dualismus ihre Quelle ist.

Aber dass nur die Einheit diese Quelle versiegen machen kann – das wusste keine Zeit vor der unseren.

In der Literatur steigt bald aus den Alkoven, bald aus diesen Weiten die Klage über die Gewalt des Geschlechtstriebs auf.

Anmerkung: Tolstoi, Maupassant, Gunnar Heiberg, Strindberg, Heidenstam u. a.

Aber in den Sittlichkeitsschriften findet man selten auch nur eine Ahnung von dem Wildnisgebiete des Menschenlebens. Sie zeigen ihre Unwissenheit durch die Grenzenlosigkeit ihrer Beschränktheit, einer Beschränktheit, die die umfassendste Frage der Menschheit zwischen dem – Gymnastik- und dem Doucheapparat einschliessen will! Für diese kleinliche Auffassung offenbart sich die Unsittlichkeit in der »freien Liebe« ebenso wie in der käuflichen. Sie ahnen nicht, dass die freie Liebe ebenso wie die Ehe viele Grade der Sittlichkeit und Unsittlichkeit einschliesst, über den ethischen Nullpunkt, auf dem die freien Verbindungen und die Ehen der Mehrzahl sich befinden, steigend oder darunter sinkend.

Zwischen der freien oder legitimen Liebe, die grausam, rachsüchtig, mörderisch wird, und der Liebe, die wohl das eigene Leben opfern kann, nie aber das des Geliebten, ist der Abstand gross. Die sogenannten »crimes passionels« erfordern dieselbe Milde, die man den Diebstählen aus Hunger beweist – da beide Arten von Verbrechen den stärksten Lebenstrieben entspringen. Aber aus dem Gesichtspunkt der Lebenssteigerung ist doch ein grosser Unterschied zwischen der freien – oder legitimen – Liebe, die hingebend, mutig, opferwillig, treu ist, und der, die alle die vornehmsten Eigenschaften des Menschen ungebraucht lässt. In gleicher Weise ist der Unterschied gross zwischen den unfruchtbaren erotischen »Erlebnissen« der armseligen Eitelkeit, des elenden Hungers nach »Sensationen«, und der Leidenschaft, durch die ein Mensch zu neuer Schaffenskraft auflebt. Das Verhalten zu dem Sturm der Leidenschaft ist in dem einen Falle das des Wimpels, im anderen das des Segels.

Die Art des Künstlerblutes äussert sich oft als Forderung erotischer Erneuerung. Aber während der eine dadurch seine Stärke und Gesundheit steigert, wird der andere immer ärmer und hässlicher. Goethe war einer der ersteren, George Sand ebenso. Diese Art Naturen besitzen eine unerschöpfliche Wiederherstellungskraft. Sie können mehrere Male lieben, ohne erotisch verringert zu werden. Ihre Seelen können wie die vulkanischen Wiesen des Südens drei Ernten tragen, ohne erschöpft zu werden. Aber das geistige Erdreich und das Klima der Menschen ist im allgemeinen nicht so beschaffen. Und selbst solche olympische Götter und Göttinnen ahnen, dass die Liebe für sie ein verschlossenes Geheimnis birgt. Goethe, der das Schicksal anflehte, in einem anderen Dasein nur einmal lieben zu müssen, dürfte weniger von der Liebe gewusst haben als Dante, dem die wunderbare Vision vergönnt war, die von den wunderbaren Worten gezeichnet wird

Vede il cuor tuo ...

George Sand, die die Götter um die Flamme der grossen Liebe anruft, war nie so von derselben durchglüht wie ihre Schwester in Apoll, die ihr Mitgefühl mit ihr in den vollendeten Strophen aussprach, die so beginnen:

Thou largebrained woman and largehearted man ...

Aber die grosse Liebe wie das grosse Genie kann niemals Pflicht werden: beide sind ein Gnadengeschenk des Lebens für seine Auserkorenen. Für den, der mehr als einmal liebt, kann es keinen anderen sittlichen Massstab geben, als für den, der nur einmal liebt: den Massstab der Lebenssteigerung. Wer durch eine neue Liebe versiegte Quellen singen, den Saft in kahle Zweige steigen, die schaffenden Kräfte des Lebens sich erneuen fühlt, wer dadurch fähiger zu Hochsinn und Wahrhaftigkeit, zu Milde und Edelmut wird, wer in seiner neuen Liebe nicht nur Berauschung, sondern auch Stärke findet, nicht nur Festesfreude, sondern auch Nahrung – der hat das Recht zu diesem Erlebnis. Diejenigen hingegen – und das ist die Mehrzahl – die durch jede neue Liebe ärmer an allgemeinmenschlichen Eigenschaften und persönlichem Machtgefühl werden, schlaffer im Willen, schlechter in Handlungen und Werken, diese haben aus dem Gesichtspunkte des Lebensglaubens nicht das Recht zu einer solchen Selbstverringerung. An ihren Früchten kann man die Liebe erkennen. Nichts ist wahrer, als dass es »keine lokale Demoralisation gibt«. Der Mensch, der in all seinem übrigen Handel und Wandel gesund und wahr ist; der in seinen Werken stark und gross verbleibt, der ist in den meisten Fällen auch geschlechtlich sittlich nach seinem Gewissen – auch wenn das nicht mit dem Monogamieglauben übereinstimmt. Wer hingegen in seinem übrigen Leben, in seinen Werken ein Schwindler und ein jämmerlicher Mensch ist, der ist es wahrscheinlich auch auf dem Gebiete der Erotik, mögen seine Sitten monogam oder polygam sein. Und es ist darum törichter, die übrige Sittlichkeit eines Menschen nach seiner Geschlechtsmoral zu beurteilen, als seine geschlechtliche Sittlichkeit nach seinem ethischen Standpunkt im übrigen. Auch dies gibt keinen unfehlbaren Massstab, denn es gibt Menschen, die die Höhe ihrer Natur in einer grossen Liebe erreichen, aber in ihrem übrigen Wesen dahinter zurückbleiben. Anderen gelingt es hingegen wieder nie, ihren erotischen Wandel auf die Höhe ihrer übrigen Persönlichkeit zu erheben. Aber der letztere Massstab ist doch, was die Feinheit des Ergebnisses betrifft, dem ersteren ebenso überlegen wie eine Medizinalwage einer alten Marktwage. Es dürfte oft vorkommen, dass die anderen Schöpfungen eines Menschen in gewissem Sinne grösser oder geringer sind als der Mensch selbst, aber seine Liebe ist hingegen in tausend Fällen gegen einen mit seinem innersten Selbst eins. So gross oder klein, so reich oder arm, so rein oder unrein er darin ist, wird man ihn auch in den anderen grossen Verhältnissen des Lebens finden. Von allen summarischen Kennzeichen eines Menschen wird darum keines sicherer sein, als dass man sagt, was er ist, wenn man sagt, wie er geliebt hat.

 

Obgleich also ein Bekenner des Lebensglaubens die Tolstoische Geschlechtsmoral als tief unsittlich ansieht, begreift er doch, dass sie einen reineren und einen weniger reinen Ursprung haben kann.

Das erstere ist der Fall bei dem, der so tief unter den Leidenschaften gelitten hat, dass er nun anderen um ihres Friedens willen rät, sie auszurotten. Auch bei denen, die in jenem ersten Frühling stehen, wo das Leben noch schlummert und die Natur scheinbar die Farben des Herbstes trägt.

Das letztere hingegen ist bei jenen der Fall, für die das ganze Leben zum Herbst würde, weil sie welk zur Welt kamen, bei jenen Frauen und Männern, die von Hass gegen die Bedingungen der Zeugung ergriffen wurden, weil sie den Lastern und Leidenschaften zum Opfer gefallen sind, die noch die Erotik zu der divina Commedia des Erdenlebens machen, aber nicht wie in der Dantes mit einer architektonischen Ordnung von Hölle, Fegefeuer und Himmel, die diesen eine bestimmte Folge in Raum und Zeit gibt, sondern zu einem Schauspiel, wo die drei Zustände ineinander stürzen wie brandende Wellen. Aber mögen die Hasser des Geschlechtslebens nun zu den Verlebten oder den Ausgeschlossenen, den Unfruchtbaren oder den Unreifen, den Vertrockneten oder den Vergifteten gehören, so können sie wohl persönlich Anspruch auf grössere oder geringere Milde haben, ihre Sittlichkeitsverkündung muss jedoch aus den angegebenen Gründen als wertlos verworfen werden.

Dasselbe gilt von jenen, welche das Geschlechtsproblem kurz und bündig durch die Forderung lösen, dass dem Individuum ohne Rücksicht auf das künftige Geschlecht unbedingte Freiheit zu gewähren sei.

Diese letzteren pflegen das Recht, die geschlechtliche Sehnsucht zu befriedigen, mit dem Rechte, den Hunger zu stillen, zu vergleichen. Die ersteren hingegen verwerfen diesen Vergleich als unhaltbar, weil ein Mensch ja bei lebenslänglicher geschlechtlicher Enthaltsamkeit gesund leben kann. Sie vergleichen anstatt dessen die erotische Leidenschaft mit anderen Leidenschaften wie Spiel und Trunksucht, bei denen die allgemeine Meinung Beherrschung anempfiehlt und der Wille dazu imstande ist.

Beide sehen die Frage gleich oberflächlich an. Die Grundbedingungen des Naturlebens, die bewegenden Kräfte der Kultur, die Liebe und den Hunger, mit einer anderen Leidenschaft als miteinander zu vergleichen, fälscht die ganze Stellung des Problems. Der Trieb der Liebe wie der des Hungers lässt sich bis zu einem gewissen Grade unterdrücken; in beiden Fällen kann eine erhöhte Stärke in irgend einer bestimmten Richtung gelegentlich errungen werden. Aber beide Bedürfnisse müssen in der richtigen Weise befriedigt werden, wenn der einzelne Mensch und das Menschengeschlecht leben und den Sinn des Lebens durch eine höhere Entwicklung erfüllen sollen. Hungerkünstler auf dem Gebiete der Liebe sind für die Lebenssteigerung ebenso bedeutungslos wie alle anderen derartigen.

Man hat sich durch das Christentum so sehr daran gewöhnt, die geschlechtliche Reinheit individuell zu behandeln, dass man – von seiten der Reinheitseiferer wie von seiten der Freiheitseiferer – nicht einsieht, dass, während man den Hunger stillt, um selbst leben zu können, man sich fortpflanzt, damit die Gattung lebe. Dies macht die asketische Behauptung von der Ungefährlichkeit der Enthaltsamkeit ebenso oberflächlich wie das vorgebliche Recht, die geschlechtliche Sehnsucht mit derselben Freiheit zu stillen wie den Hunger.

Denn wenn das Individuum ohne Nahrung verbleibt, büsst es selbst sein Leben ein. Aber verbleibt es ohne das Recht der Fortpflanzung, büsst das Geschlecht das Leben ein, das es ihm hätte geben können. Wenn das Individuum sich zu Tode isst, leidet nur es selbst darunter; wenn der Geschlechtstrieb durch Unmässigkeit missbraucht wird, leidet die Gattung.

Die jetzige Unsittlichkeit führt eine ununterbrochene Blutvergiftung des Organismus der Menschheit herbei. Die jetzige Gesellschafts- und Sittlichkeitsordnung hungert diesen Organismus aus. Unzählige vortreffliche Männer und Frauen stimmen in die Klage des schwedischen Dichters:

»das Blut von tausend Jahrhunderten löscht seinen Funken in mir«

nicht nur mit Wehmut über ihr eigenes unabänderliches Schicksal ein, sondern auch mit jener Bitterkeit, die nicht notwendige Leiden bereiten.

Es ist ausser aller Frage, dass der Trieb des einzelnen, in der Gattung fortzuleben, beherrscht werden muss, um lebensteigernd, nicht lebenverheerend zu werden. Aber es ist, im buchstäblichen Sinne, die Lebensfrage des einzelnen und des Menschengeschlechts: wie und warum und bis zu welchem Grade diese Beherrschung geübt wird?

So wird sowohl das Leben des einzelnen wie das der Menschheit gesteigert, wenn die Jugend enthaltsam lebt, bis sie die volle Reife erlangt hat. Und die Entwicklung des Menschengeschlechts gewinnt, wenn die minderwertigen Leben nicht durch Nachkommenschaft fortgesetzt werden. Aber das Leben des einzelnen und das der Gattung sinkt, wenn reife, vortreffliche Jugend nicht in der Lage ist, Nachkommen in die Welt zu setzen und zu erziehen.

Auf einem niedrigen Entwicklungsstadium ist der Hunger sowie das Cölibat eine veredelnde Macht gewesen. Der Mensch hat allmählich gelernt, die Menge der Nahrung einzuschränken, aber die Beschaffenheit besser und die Zufuhr regelmässiger zu gestalten. Er weiss nun, dass der Wert der Nahrung zum grossen Teile von dem Genusse abhängt, den sie bereitet, dass das Widerwärtige seine Aufgabe schlecht erfüllt. Er weiss auch, dass der Organismus nicht durch Bestandteile, welche für jedes Alter oder jede Arbeit ausgerechnet sind, ernährt werden kann, sondern dass nur ein gewisser Überfluss wirklich das notwendige Bedürfnis befriedigt. Die Erfahrung hat gezeigt, dass zu grosse Knappheit ebenso schadet wie Unmässigkeit und dass folglich das persönliche Bedürfnis innerhalb gewisser Grenzen zu entscheiden hat, ob eine Nahrung voll ausreichend und lebensteigernd ist. Die Kenntnisse auf diesem Gebiete sind freilich der Möglichkeit der Menschen, allgemein nach diesen Kenntnissen zu leben, weit voraus. In Beziehung auf den Geschlechtstrieb hingegen sind wir noch weit davon entfernt, die Bedingungen des Gleichgewichts zu kennen, und noch viel weiter davon, in Wirklichkeit das Gleichgewicht zwischen dem Hunger und der Unmässigkeit in der Befriedigung dieses Bedürfnisses zu erreichen, wie sie unsere abendländischen Staaten charakterisieren.

Es war natürlich, dass Luther das Fasten und das Cölibat aufhob. Beides war der Ausdruck der Sehnsucht des Morgenlandes, den idealen wunschlosen Zustand zu erreichen; beides waren notwendige Mittel für die Erziehung der Germanen gewesen. Aber es war leider auch unvermeidlich, dass Luthers Befreiungswerk halb blieb; dass er es nicht vermochte, den Glauben der Antike an die Göttlichkeit des Menschlichen, an das Recht des Natürlichen aufzunehmen; dass er immer die Heiligung der Menschennatur ausserhalb derselben suchte. Jemand hat Luthers Mut, sich als Mönch mit einer Nonne zu verheiraten, mehr wert genannt als seine ganze Lehre. Das ist Wahrheit. Filippo Lippi tat allerdings dasselbe. Die Welt bekam dadurch herrliche Madonnen und – Filippino Lippi. Aber weder Fra Filippo noch andere ihr Gelöbnis brechende Mönche gestalteten die Sitte um: das tat nur Luther, der sein göttliches und natürliches Recht auf seine Handlung vertrat!

Die Aufgabe der Gegenwart ist es, diese Rechtserklärung für die Natur weiter zu verfolgen.

Aber die Natur ist ebensowenig unfehlbar wie vollkommen, ebensowenig vernünftig wie unvernünftig, ebensowenig zweckmässig wie zweckwidrig – weil sie dies alles ist. Sie kann durch die Kultur umgewandelt – veredelt oder verdorben – werden, und darum kann eine Rechtserklärung der Natur nur das Recht des Menschen bedeuten, die Natur zielbewusst zu veredeln, so dass sie in irgend einer gewissen Richtung ihren eigenen Zweck immer vollkommener erfüllt. Oder mit anderen Worten: so dass die Bedürfnisse, die die Natur in und mit den Menschen geschaffen hat, von ihnen auf eine immer schönere und gesündere Weise befriedigt werden. Aber diese Kultur der erotischen Natur kann ihre sittliche Norm nicht in irgendwelchen göttlichen Geboten oder transzendentalen Begriffen haben. Sie hat sie nur in der geheimnisreichen Vollkommenheitssehnsucht selbst, die im Laufe der Entwicklung den Trieb zu Leidenschaft, die Leidenschaft zu Liebe gesteigert hat und die nun danach strebt, die Liebe zu einer immer grösseren Liebe zu steigern.

Es gibt Menschen, welche meinen, dass die Liebe dann mit dem Anspruch auf eine Selbstherrlichkeit auftreten werde, die mit ihrer »natürlichen« Aufgabe, der Arterhaltung, unvereinbar ist.

Jeder weiss jedoch, dass Entwicklung einen zusammengesetzteren, verschiedenartigeren Zustand als den ursprünglichen mit sich bringt. Und die Liebe ist in dieser Beziehung der Beweis vor allen anderen. Die Liebe ist – wie schon dargelegt wurde – eine grosse geistige Macht geworden, eine Form des Genies, vergleichbar mit jeder anderen Schaffenskraft auf dem Gebiete der Kultur, und ihre Schöpfungen sind da ebenso bedeutend wie auf dem sogenannten natürlichen Gebiete. Ebenso wie man jetzt dem Künstler das Recht zuerkennt, seine Werke so zu formen, dem Gelehrten, seine Forschungen so auszuführen, wie es ihnen gut dünkt, muss man der Liebe das Recht geben, in ihrer eigenen Weise ihre Schaffenskraft zu gebrauchen, soweit diese nur in der einen oder anderen Richtung schliesslich dem Ganzen zugute kommt.

Aus diesem Gesichtspunkt kann man also den Satz, dass die Liebe Selbstzweck sei, nicht dahin ausdehnen, dass sie unfruchtbar bleiben dürfe. Sie muss Leben geben, wenn nicht neuen Wesen, so doch neuen Werten; sie muss die Liebenden selbst bereichern und durch sie die Menschheit. Hier wie überall ist die lebensgläubige, die sittlichkeitschaffende Wahrheit in der glückschaffenden Erfahrung eingeschlossen. Und die schwerste Anklage gegen gewisse Formen der »Freien Liebe« ist, dass sie – unglückliche Liebe ist! Denn es gibt keine andere unglückliche Liebe als die unfruchtbare.

Die Fähigkeit des Menschen, zu vergessen, ist wunderbarer als seine Fähigkeit, zu lernen. Wäre dem nicht so, so brauchte man nicht wieder und immer wieder daran zu erinnern, dass jede Apostelschar einen Judas birgt, ja dass die Wahrheit nur von Schülern in die Hände ihrer Feinde überantwortet werden kann. Dann würde man daran denken, dass jede Reformation ihre »Schwarmgeister« hat, die die Neuerer einschüchtern, so dass sie mit dem Streiche innehalten, wenn die Axt an die Wurzel gelegt wird; dann würde man sich nicht darüber wundern, dass mit jeder Frühlingsflut nicht nur das Eis, sondern auch die Erde forttreibt!

Aber – die Menschen wollen sich nun einmal nicht erinnern. Sie müssen also wieder erinnert werden, dass die immer fester geschlossene, immer rascher wachsende Kämpferschar der neuen Sittlichkeit sich von ihrer zerstreuten Nachhut und ihrer leichten Vortruppe durch die Gewissheit unterscheidet: dass die Liebe unter demselben Gesetze lebt wie jede andere schaffende Kraft, nämlich nur im Zusammenhange mit dem Ganzen selbst zu ihrem höchsten möglichen Werte gesteigert werden zu können. Ja, die Liebe, deren Ursprung der Geschlechtstrieb ist, muss tiefer als irgend eine Seelenbewegung mit dem Menschengeschlechte verbunden sein. Und die Erfahrung zeigt auch, dass sie ihre Lebenskraft nicht bewahren und fördern kann, wenn ihr jeder Zusammenhang mit diesem fehlt, wenn sie nicht in der einen oder anderen Weise, gebend oder empfangend, in einem Verhältnisse zur Menschheit steht. Es ist darum eine unabweisliche Notwendigkeit, dass jede von der Menschheit ganz losgelöste Liebe aus Mangel an Nahrung stirbt.

Aber das bindende Band kann aus verschiedenen Stoffen gewebt sein; dieses Geben kann sich auf verschiedene Weise äussern. Das eine Mal schafft das grosse Gefühl ein grosses tragisches Schicksal, das der Menschheit die Augen für die purpurnen Tiefen öffnet, die sie in sich trägt. Ein anderes Mal schafft es ein grosses Glück, das einen allen anderen leuchtenden Lichtkreis um die Glücklichen bildet. In vielen Fällen wird die Liebe in geistige Grosstaten, in nutzbringende Gesellschaftswerke umgesetzt; in den meisten entstehen durch die Liebe ein paar vollkommnere Menschen und neue Menschen, vollkommener als diese selbst.

Die Liebespaare hingegen, die nicht durch ihr vereintes Leben oder ihren vereinten Tod einen Stern entzündet haben; die keine Staffel auf der goldenen Treppe zu einer höheren Menschheit bildeten, die an einander nur die Lust des Tieres gefunden haben – ohne dessen Willen, sich für die Nachkommenschaft zu opfern – die waren unsittlich, weil ihre Liebe nicht der aufsteigenden Entwicklung des Lebens diente. Mag diese lebenswidrige Liebe die lockere und leichte oder die lebenslängliche und gesetzgeweihte Form gehabt haben, so hat sie doch in keiner Beziehung das eigene Leben des Paares reicher gemacht, geschweige denn das der Menschheit.

Wenn man die Lebenssteigerung als Sittlichkeitsnorm der Liebe annimmt, wird es, wie schon im Anfange dargelegt wurde unmöglich, im vorhinein zu entscheiden ob eine freie oder legitime Liebe, eine gebrochene oder fortgesetzte Ehe, freiwillige Kinderlosigkeit oder Elternschaft sittlich oder unsittlich ist. Denn der Ausgang hängt in jedem besonderen Falle von dem Willen, der Wahl ab, die dahinter liegt, und nur die Entwicklung der Ereignisse und der Charaktere kann über die Beschaffenheit dieses Willens, dieser Wahl entscheiden.

Freilich sind die Menschen oft schwächer in der Ausführung als im Entschlüsse. Aber mögen sie sich dann begnügen, alte Sittlichkeitsbegriffe zu vertiefen, sie sind nicht dazu berufen, neue Sitten zu schaffen. Und freilich bietet einem das Leben oft unberechenbare Hilfe zum Gutmachen eines Fehlgriffs. Aber in der Regel werden die Folgen so, wie die Ursache war. Eine Frau, die aus ausschliesslich selbstischen Gründen die Mutterschaft scheut, wird sich meistens auch als Geliebte ohne Zärtlichkeit zeigen; eine Gattin, die sich aus einer Ehe losreisst, bevor sie versucht hat, ihr ihre Glücksmöglichkeiten abzugewinnen, wird wahrscheinlich in einer neuen in gleicher Weise diese Möglichkeiten zerstören. Kein Verhältnis kann besser werden, als die Menschen, die es bilden. Dieses Gesetz ist so unerschütterlich, dass das Walten der sittlichen Gerechtigkeit ruhig der Zeit überlassen werden könnte! Dies bedeutet nicht, dass die Liebe mehr als irgend eine andere Lebensäusserung dem Werturteil der Menschen entzogen werden kann. Aber es bedeutet, dass dieses irrig wird, wenn es sich von den Formen der Vereinigung zweier Menschen anstatt von ihren Folgen bestimmen lässt. Hier ist die Wasserscheide zwischen der Richtung der alten und der neuen Sittlichkeit. Die Bahn der ersteren wird durch den Zweifel an den Kraftquellen der menschlichen Natur bestimmt, die letztere durch den Glauben an sie; die Zweifel der ersteren führen zu der Pflicht des einzelnen, sich den Forderungen der Gesellschaft unterzuordnen; der Glaube der letzteren zu der Freiheit des einzelnen, selbst seine Gesellschaftspflicht zu wählen. Auf Grund der Schwäche der menschlichen Natur und folglich aus Sorge um die Stärke der Gesellschaft verlangen die Gesellschafterhalter: dass der einzelne im vorhinein die Gesellschaft von seinem guten Willen überzeuge, erotisch ihren Zwecken zu dienen, indem er auf einen Teil seiner leicht missbrauchten Freiheit verzichtet. Auf Grund des Reichtums der menschlichen Natur und der Forderungen der Entwicklung verlangen die Neuerer für den einzelnen das Recht, nach eigener Wahl mit seiner Liebe dem Ganzen zu dienen und unter eigener Verantwortung die Freiheit seiner Liebe zu gebrauchen.

Wer den Blick nicht von den leichten Spänen fesseln lässt, die mit dem Zeitenstrome segeln und darin vergehen, wird bald gewahr werden, dass die neue Sittlichkeit sich durch immer mehr Zuflüsse vertieft.

 

Die christliche Sittlichkeit geht von der menschlichen Natur als etwas Konstitutivem, wenn auch noch nicht kulturell Fertigem aus, und von einem in Geist und Körper geteilten Menschenwesen. Der Geist ist göttlichen Ursprungs, aber gefallen und muss in einer von der Religion bestimmten Kulturentwicklung, deren Ziel es ist, dass die Menschheit das von der Religion gegebene Ideal Christus erreiche, wieder erhoben werden.

Es gibt eine andere Sittlichkeit, die sich auf die Überzeugung von der angeborenen Güte der Menschennatur und der Gleichheit aller Menschen gründet – oder gründete. Diese Überzeugung führte zu den Bestrebungen der Aufklärungszeit nach gemeinsamer Wohlfahrt und zu dem Glauben an die Verwirklichung der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit schon mit dem jetzt vorhandenen Menschenmaterial.

Die neue Sittlichkeit hingegen nimmt Humanismus wie Evolutionismus in sich auf. Sie ist von dem monistischen Glauben an Seele und Körper als zwei Formen desselben Seins bestimmt; von der Überzeugung des Evolutionismus, dass das psycho-physische Wesen des Menschen weder gefallen noch vollkommen, doch der Vervollkommnung fähig ist: dass es bildbar ist, gerade weil es konstitutiv noch nicht fertig ist. Der utilitarische wie der christliche Humanismus sah die »Kultur«, den »Fortschritt« und die »Entwicklung« in des Menschen Veredlung der materiellen und nicht-materiellen Hilfsquellen ausserhalb und innerhalb seiner selbst. Aber der Evolutionismus weiss, dass all dies nur Vorbereitung zu einer Entwicklung gewesen ist, die das Material des sozusagen erst nur versuchsweise dargestellten Menschen verbessern und veredeln soll.

Unsere jetzige »Natur« bedeutet nur, was in diesem Entwicklungsstadium psychologisch und physiologisch notwendig ist, damit wir als Menschen einer gewissen Zeit, einer gewissen Rasse, einer gewissen Nation da sind. Die Behaartheit war einmal unsere »Natur«, wie es jetzt die Nacktheit ist. Der Frauenraub war einmal »natürlich«, wie jetzt die Werbung. Welche neue Verwandlungen die Menschheit durchmachen wird; welche heute ungeahnten Verluste und Errungenschaften an Organen und Sinnen, Fähigkeiten und Seeleneigenschaften der Menschheit vorbehalten sind – das ist das Geheimnis der Zukunft. Aber je mehr die Menschheit überzeugt ist, selbst in ihre Entwicklung eingreifen zu können, desto notwendiger wird Zielbewusstheit. Man muss wissen, welche Hindernisse man beseitigen, welche Wege man versperren, welchen Opfern man sich unterwerfen will.

Die neue Sittlichkeit steht fragend auf vielen Gebieten, – wie dem der Arbeit, des Verbrechens, der Erziehung, aber vor allem auf dem des Geschlechtslebens. Auch auf diesem Gebiete empfängt sie nicht mehr ihre Gebote vom Berge Sinai oder von Galiläa; hier wie überall kann der Evolutionismus nur fortgesetzte Erfahrung als Offenbarung betrachten. Der Evolutionismus verwirft das Resultat der historischen Erfahrung nicht, nicht die Errungenschaften der christlich-humanen Kultur – als ob es überhaupt möglich wäre, das zu verwerfen, was in der Menschheit Blut und Seele geworden ist! Aber er sieht den hinter uns liegenden, historischen Kulturverlauf als ein Schlachtfeld von miteinander kämpfenden Gedanken und Willen, wo zielbewusster Plan ebensosehr fehlt wie bei der Kriegsführung wilder Stämme. Erst wenn die Menschheit ihre Ziele und ihre Mittel wählt – und als ihr nächstes Ziel ihre eigene Steigerung in allem, was sie schon jetzt als Menschheit kennzeichnet, festsetzt – erst wenn sie beginnt, alle ihre anderen Errungenschaften und Verluste nach dem Grade zu messen, in dem sie diese Steigerung fördern oder hemmen, erst dann nimmt sie die richtige Stellung auch zu dem Ererbten ein. Dann verwirft sie das, was hindert, aber wählt das, was ihren Kampf zur Befestigung ihrer Stellung als Menschheit und ihrer Erhebung zur Über-Menschheit fördert.

Wir stehen am Anbruch eines Kulturabschnitts, welcher der der Tiefe, nicht nur wie bis jetzt der der Fläche werden wird; der Epoche, die nicht nur eine Kultur durch Menschen, sondern Kultur von Menschen sein wird. Bis jetzt haben die sozial Schaffenden vor dem Menschenmaterial gestanden, wie der junge Michel Angelo mit seinen von Zornestränen erfüllten Augen, als ihm befohlen ward, eine Bildsäule aus Schnee für den Garten der Medicäer zu formen. Erst in dieser neuen Epoche werden die grossen Bildformer der Kultur nicht mehr genötigt sein, aus Schnee zu schaffen, sondern sie werden aus Marmor bilden können.

Das richtige Verhältnis zwischen dem Rechte des einzelnen und dem der Gattung ist auf dem erotischen Gebiete ebenso bedeutungsvoll wie das Verhältnis zwischen dem Rechte des Individuums und dem der Gesellschaft auf dem Gebiete der Arbeit. Die Bedingungen der Arbeit heben oder verringern den Wert der schon existierenden sowie der werdenden Menschen. Dasselbe gilt – und in noch höherem Grade – von den Bedingungen der Liebe. Wie die Grenze schliesslich – im einen wie im anderen Falle – gezogen werden wird, können wir jetzt nicht wissen. Wohl flimmert hier und dort ein Licht auf, das schon den Weg andeutet. Aber bevor der Lichter nicht mehr werden, kann sich die Menschheit nur tastend und fallend in der Richtung bewegen, die sie vielleicht einmal bei vollem Tageslichte wandern wird.

Viele, die die geschlechtliche Sittlichkeit aus dem Gesichtspunkt des Evolutionismus betrachten, haben niemals untersucht, ob die Monogamie – und eine immer vollständigere Monogamie – wirklich das beste Mittel zur Entwicklung der Menschheit ist. Diese Evolutionisten vereinen sich mit den Vertretern des christlichen Idealismus in dem vernichtenden Urteil über die »jetzige Unsittlichkeit«, die sich auf dem geschlechtlichen Gebiete in freien Verbindungen ausserhalb der Ehe äussere; in zahlreicheren Scheidungen; in der Unlust zur Elternschaft und in dem Anspruch unverheirateter Frauen auf das Recht auf Mutterschaft. Andere Evolutionisten meinen, dass all dies im innersten den Durchbruch kündet, der der Liebe ihre volle Bedeutung nicht nur für die Fortdauer des Menschengeschlechts, sondern für seinen Fortschritt geben wird. Sie greifen mit dem Willen des wirkenden, werdenden Lebens die geltenden Sittlichkeitsnormen und das Familienrecht an. Der Gegenstand des Kampfes selbst ist ja nicht neu; neu ist nur der von dem Entwicklungsgedanken bewusst oder unbewusst genährte Mut, das Recht der Liebe gegen das der Gesellschaft, die Sitte der Zukunft gegen die der Vergangenheit zu behaupten.

Im Laufe der Jahrhunderte hat die Liebe der Gesellschaft unablässig Terrain abgewonnen. Weniger und weniger gestehen die Menschen einander das Recht der Einmischung in Liebesfragen zu; weniger und weniger lassen sie sich vorspiegeln, dass ihre erotischen Forderungen als Einzelwesen oder als Gesamtheit befriedigt werden, solange nur die Pflicht zur sittlichen Norm auf dem Gebiete gemacht wird, auf dem schon die Natur mit der Befriedigung des Bedürfnisses die Lust verbunden hat, und auf dem die Kultur, je mehr sie sich entwickelte, das Glück der Liebe immer unzertrennlicher von dem Willen, die Geschlechtsbestimmung zu erfüllen, gemacht hat.

Die neue Sittlichkeit weiss, dass die Kultur im grossen gesehen erst dann dauernd Macht über die Natur erhält, wenn sie höhere Glücksgefühle mit den Zielen verbindet, zu deren Erstrebung harte Mittel erforderlich sein können. Der Lebensglaube, der die Gattungsaufgabe mit dem persönlichen Liebesglück verbindet, wird auch von dem letzteren die Opfer verlangen, die die erstere notwendig macht. Aber er wird diese Notwendigkeiten nicht durch asketische Reinheitserfordungen vermehren, die für die Gattungsaufgabe bedeutungslos sind. Die Bekenner dieses Glaubens wollen die geschlechtlichen Gefühle und Handlungen des einzelnen durch die Liebe bestimmen, vor allem weil sie glauben, dass das Glück des einzelnen die wesentlichste Bedingung auch für die Lebenssteigerung der Menschheit ist.

Sie wollen die Erde mit Glückshungernden erfüllen, weil sie wissen, dass nur so das Erdenleben seinen innersten Willen erreicht, nämlich – in einem ganz neuen Sinne – Ewigkeitsmenschen zu bilden.

Das Wort, das durch Eros Fleisch und Blut wurde und in uns lebt, ist das tiefste von allen:

»Freude ist Vollkommenheit.«

Wenn wir in diesem Worte Spinozas die höchste Offenbarung vom Sinn des Lebens empfangen, öffnet sich der Blick auch für den Zusammenhang des Daseins. Wir sehen ein, dass das vollkommenere Geschlecht im vollsten Sinne des Wortes hervorgeliebt werden wird. Aber dies geschieht erst, wenn die Liebe Religion geworden ist, der höchste Ausdruck der Lebensfurcht, nicht der Gottesfurcht; wenn die Lebensfrömmigkeit den Aberglauben und den Unglauben verjagt hat, die die Erotik noch entstellen. Wenn der Älteste der Götter keine anderen Götter neben sich hat, dann werden die Ungeheuer, die die dunklen Tiefen erfüllen, über denen Gottes Geist schwebt, im Lichte des neuen Schöpfungstages sterben.


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