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Ceci n'est que pour ceux qui ont le
sixième sens: l'âme.
Mlle. de Lespinasse.
Des Menschen Leben – und sein Leiden – als Geist begann, sowie er anfing, sich als ein Ich gegenüber dem Dasein zu fühlen oder sein Inneres als ein der Natur fremdes Wesen aufzufassen. Damit trat der Dualismus – oder Pluralismus – ein, der gewisse Lebensanschauungen beherrscht hat und der jener Lebensanschauung gegenüber steht, die man Monismus oder Universalismus nennt. In unserer Zeit ist dieser letztere durch den Evolutionismus in eine neue Aera getreten. Und weit entfernt davon, dass – wie man aus gewissen philosophischen Voraussetzungen behauptet – ein unversöhnlicher Gegensatz zwischen Individualismus und Monismus bestehen sollte, ist im Gegenteil die stets fortfahrende Verarbeitung dieser beiden Ideen einer der kennzeichnenden Züge in der Gedankenarbeit des Jahrhunderts, vor dem Goethe – der Bekenner des Monismus wie des Individualismus – als der einheitlichste Repräsentant steht. Was man schon jetzt, in unserer Zeit, vom Monismus sagen kann, ist, dass er mit mehr wissenschaftlicher Autorität denn je seinen Satz behauptet: dass die Natur in uns wie ausser uns ist, und dass Geist und Materie nur die unsichtbare und die sichtbare Seite derselben Wirklichkeit sind. Was diese an sich sei – darauf glauben die Anhänger des neueren Monismus keine Antwort erhalten zu können. Für sie ist es, wenigstens bis auf weiteres, genug, dass diese Dinge sind und dass sie selbst sich Teile des grossen Seienden wissen. Sie glauben, dass es für alle die Fragen, deren Lösung wir in unserem Erdenleben bedürfen, in unserem eigenen Wesen Antworten giebt, einem Wesen, das viel reicher ist, als wir noch ahnen. Von diesem Reichtum besitzen wir Andeutungen in gewissen psycho-physischen Erscheinungen, deren Gesetze man noch nicht gefunden hat, aber die der Monismus zu finden für möglich hält, Gesetze, welche neue Ausdrucksformen für den Zusammenhang zwischen allen Empfindungen unseres physisch-psychischen Wesens schaffen werden. Obgleich der neue Monismus so einen neuen Begriff in die Ausdrücke Körper und Seele legt, fährt er doch fort, sich dieser unentbehrlichen Bezeichnungen für die Erfahrung, dass das einheitliche Dasein des Menschen sich in zwei Formen darstelle, zu bedienen. Und in diesem Sinne werden diese Ausdrücke auch in dem Folgenden gebraucht werden.
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Der gedankenlos beobachtende Mensch, sagt ein deutscher Denker, R. Steiner: Philosophie der Freiheit, dem der nächstfolgende Gedankengang entnommen ist, jedoch hier in sehr freier Form und in gedrängter Kürze wiedergegeben. fasst das Leben bloss als Sinneswahrnehmungen auf, welche Lust und Unlust hervorrufen. Der Denkende bindet Empfindungen und Begriffe zusammen. Die geistige Thätigkeit, die darin besteht, Beobachtungen und Erfahrungen zu unterscheiden, zu ordnen und unterzuordnen, Schlüsse zu ziehen und Begriffe und Ideen zu bilden, ist Sache der Intelligenz. Der Gegenstand der Intelligenz ist das Beobachtete, nicht die beobachtende Persönlichkeit selbst. Die Seele hingegen – und die Seele ist das Gefühl, der Wille, die Phantasie – bearbeitet die Begriffe, die die Intelligenz bildet, zu einem persönlichen Inhalt, und sie findet selbst, durch Intuition, neue Ideen. Die beobachtende Intelligenz und die intuitive Seele sind die beiden Mittel, durch die wir in die Tiefe des Daseins eindringen. Das Gebiet der Intelligenz ist das Allgemeingiltige, Objective; das der Seele das Individuelle, das Subjective. Durch Gefühl, Wille und Phantasie treten wir in persönliche Verhältnisse zu den Dingen. Je mehr ein Mensch nur Intelligenz ist, desto mehr begnügt er sich mit blossen Wahrnehmungen, Beobachtungen und Begriffen. Je mehr Seele er hat, desto mehr verbindet er alles dieses mit seinem individuellen Ich. Das Gefühl hält uns in den Grenzen unseres Wesens, und der Gedanke wieder macht uns zu einem Teile des Ganzen. Die Begriffe, in dem Masse als sie richtig sind, können Aller Eigentum werden; unsere Art, zu fühlen, ist unser privates Besitztum, unsere Eigenart. Je mehr wir uns in den allgemeinen Weltverlauf vertiefen, desto leichter verlieren wir eine bestimmte Individualität. Darum ist der Philosoph oder der Mann der Wissenschaft mit seinem System oft eine recht dürftige, uninteressante Persönlichkeit. Aber es liegt andererseits eine ebenso grosse Gefahr darin, einseitig in unsere eigene Seele, in unsere eigene Art, zu sein, hinabzutauchen, denn dann verlieren wir leicht den Zusammenhang mit dem Ganzen. Das Problem wird also – wenn wir unsere Persönlichkeit grösser machen wollen – vor allem darin bestehen, dass unsere Gedanken von der Wärme des Gefühls durchdrungen werden, dass unsere Gefühle sich zu der Klarheit des Gedankens aufschwingen.
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Wenn man diese Definitionen des deutschen Denkers auf unsere Zeit anwendet, so findet man, dass wir von einem gefühlsarmen Gedankenleben, einer positiven und analysierenden Epoche nun in deren Widerspiel geraten sind, in ein oft gedankenleeres Gefühlsleben, eine seichte Mystik. Diese beiden Schwingungen folgen einander unfehlbar, und es dürfte lange dauern, bevor man es sowohl in seelischer Tiefe wie in bewusster Klarheit so weit gebracht hat, dass die beiden Richtungen sich begegnen. Erst dann werden die Menschen – jetzt die Sklaven der Extreme – von der Höhe der Harmonie herab auf diese ihre früheren Herren blicken können.
In der jetzigen Welt der Einseitigkeit giebt es kaum einen Kampf, dem man mit tieferer Teilnahme folgte, als dem zwischen den beiden noch gleich starken Ringern, der Reflexion und der Intuition, die sich wechselseitig in die Kniee zwingen.
Jetzt in der Abenddämmerung des Jahrhunderts – die Abenddämmerung stimmt ja am leichtesten zur Mystik – hat die Intuition wieder die Oberhand bekommen. Und dabei hat das Problem, das stets mit dem Durchbruch der Intuition zusammenhängt, aufs neue die Gemüter beschäftigt, nämlich die Frage: ob die Seele vergrössert werden könne? Zu allen Zeiten hat es Menschen gegeben, deren Lebensproblem diese Frage war. Und gewöhnlich sind sie – so wie jetzt – nach einem Zeitalter nach aussen gekehrter Kraft oder grosser Verstandesentwicklung hervorgetreten. Selbst beim Alltagsmenschen empfindet die Seele gewisse unbestimmte Forderungen, die jedoch gewöhnlich durch eine Reaction gestillt werden, die zu schon verbrauchten Mitteln für das Wachstum der Seele greift: zu einem religiösen Glauben, dessen Form die Seele bereits einmal gesprengt hat, oder zu einer Mystik, die sich wieder dem Standpunkt des Wilden nähert. Und so bricht das Wachstum der Seele, das die Unruhe der Zeit verheissen hat, rasch wieder ab.
In tieferen Naturen bleibt jedoch die Frage zurück, die für sie die einzige grosse Frage ist. Für manche ist das Wachstum der eigenen Seele das vor allen wichtige Problem. Anderen wird die Evolution der Menschenseele das in erster Linie Bedeutungsvolle. Beide wissen, dass von der Möglichkeit, die Seele grösser zu machen, es zuletzt abhängt, ob die Neuschöpfung der Verhältnisse auch ein grösseres, schöneres Dasein für die Menschheit mit sich bringen werde.
Und während manche noch nur auf die qualitative Steigerung der Seele hoffen, auf die höchste Veredelung der Möglichkeiten, die die Seele schon besitzt, hoffen andere auch auf ihre quantitative Vergrösserung, durch die Entdeckung und Entwicklung bisher unbekannter seelischer Möglichkeiten.
Es herrscht heute in gewissen Lagern eine ausgesprochene Skepsis in Beziehung auf die Evolution der Seele. Diese Skepsis ist eine von den vielen Ursachen der souveränen Gleichgiltigkeit gegen alle äusseren Umwälzungen. Der Mensch, sagt man, wird von der Erblichkeit bestimmt und kann sich bloss bis zu einer bestimmten Grenze entwickeln. Keine neuen Verhältnisse haben bis jetzt, im grossen betrachtet, die Menschennatur anders gemacht, und darum wird sich auch in Zukunft alles gleich bleiben, wie immer die Formen sich ändern mögen. Des kleinen Menschen Seele ist eben so klein, und des grossen Menschen Seele ist nicht grösser, eher umgekehrt, als in Esaias' oder Sokrates' Tagen.
Man hört nichts häufiger als solche Aeusserungen. Unterdessen forscht die Wissenschaft vorurteilsfrei und unabhängig nach den Gesetzen des Werdens und Wesens der Seele. Sie dringt in das Seelenleben des Tieres, des Kindes und des Verbrechers ein; sie studiert die Psychologie des Individuums und der Masse; beobachtet die Seele im gesunden und im kranken Zustande, wach und träumend, einfach und »verdoppelt«. Man hat schon eine Psychologie des Wetters, eine der Kleider, und es giebt bald keine Seite unseres sinnlichen Lebens mehr, die nicht auch Entdeckungen in unserem geistigen veranlasst, die nicht dazu beigetragen hat, die neue – monistische – Psychologie zu entwickeln.
Vor allem werden die neuen Entdeckungen auf dem grossen Gebiete der psychischen Forschung gemacht, auf dem die Wissenschaft noch mit dem Aberglauben ringen muss, aber wo gewisse, schon wissenschaftlich geprüfte Phänomene, der Hypnose, der Telepathie und anderer Gebiete, wohlgegründete Aussichten auf eine bis jetzt noch ungeahnte Erweiterung des Machtumfanges der Seele eröffnet haben.
Diese ganze psychische Forschungsarbeit steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der monistischen Lebensanschauung und zeigt keinerlei Tendenz, die Wahrheit des Evolutionismus aufzuheben: dass unsere Entwicklung von Erblichkeit, Milieu und Zeitgeist bestimmt erscheint. Aber sie hat das Bewusstsein wachgerufen, dass sich innerhalb dieser Begrenzung unendliche Möglichkeiten zur Entwicklung der Menschenseelen und jeder besonderen Seele finden; dass, obgleich die Notwendigkeit unseren Willen beherrscht, nachdem sie unsere Seele geformt, diese unsere Seele in sich neben anderen notwendigen Trieben auch den, zu wachsen, hat, einen Trieb, den wir unterdrücken oder steigern können.
Keine Natur kann ganz umgeschaffen, aber sie kann modifiziert werden; kein Typus lässt sich mit einem Male ändern, aber er lässt sich unendlich beeinflussen, sei es, um erhöht zu werden, sei es, um auszuarten. Auf dieser Gewissheit ruht die Hoffnung von der Evolution der Seele. Im Buddhismus wie im Christentum, in der Antike wie in der Renaissance, bei Rousseaus Jüngern wie bei den Romantikern unseres Jahrhunderts begegnet man demselben Gedanken. Oft hängt er mit dem Transcendentalismus zusammen, mit dem Glauben, dass die Seele in einer Welt ausser und über dieser ihr Urbild habe und die Kraft ihres Wachstums schöpfe. Grundverschiedene Menschen innerhalb grundverschiedener Lebensanschauungen haben diesen Streitern der Seele angehört.
Man findet unter ihnen in gewissem Sinne Alberti, Leonardo, Michel Angelo. Zu ihnen gehört im England des 18. Jahrhunderts ein feinfühliger, weicher Geist wie Young, ein flammend starker wie Blake. Man begegnet in Deutschland Novalis, einer Natur, tief wie das Meer, neben schlechten Pastichen seines Pathos. Wir sehen in Schweden so verschiedene Naturen wie Swedenborg, Thorild, Almquist von demselben Grundgedanken bestimmt. In der englischen Litteratur dieses Jahrhunderts hat er so sehr von einander abweichende Verfechter gehabt wie Shelley, Emerson, Carlyle, Ruskin und das Ehepaar Browning. Und in Frankreich kann man zu seinen Verkündern solche Antipoden rechnen wie Hugo und Renan.
Aber es sind gewöhnlich die verhältnismässig Unbekannten, unter denen man die bezeichnendsten Typen für eine Zeitrichtung findet. Denn das grosse Genie ist oft universell und lässt sich darum nicht von einem gewissen Standpunkt aus zusammenfassen – ja, diese Standpunkte heben oft einander auf, weil ein solches Genie die ganze Mannigfaltigkeit des Lebens, alle seine Widersprüche umfassen und erklären will. Und darum wird beim Genie, wie in der Hand des Menschen, die Lebenslinie oft von mehren anderen Linien durchkreuzt. Bei jenen Geistern jedoch, welche nicht grosse Genies genannt werden können, bekommt hingegen der leitende Gedanke einen mehr einheitlichen, mehr concentrierten Ausdruck. Und darum habe ich unter einigen bedeutenden, aber nicht weltberühmten Persönlichkeiten meine Typen für die Menschen gewählt, deren Pathos es war, sich in ihre Seele zu vertiefen, um sie grösser zu machen.
Die Natur versucht sich in vielen Entwürfen, bevor sie einen gewaltigen Typus hervortreten lässt. Dieser Teil der Vorgeschichte grosser Geister verdient einen Raum in der neuen Aesthetik, die den Menschen als Kunstwerk behandelt. So machte die Natur mehrere Skizzen, bevor sie den Typus Nietzsche vollendete, der nach der grössten Seite seines Wesens hin vortrefflich charakterisiert wurde, wenn man ihn den himmelstürmenden Idealisten der Weltfreudigkeit nannte. Und zu diesem Grundwesen Nietzsches scheint mir die Natur nie eine genialere Skizze gemacht zu haben als die Vauvenargues'. Dieser ist überdies derjenige der französischen Moralisten, von welchem Nietzsche ganz gewiss am sympathischesten berührt war, obgleich er ihn kaum erwähnt. Beinahe alle Sätze Vauvenargues' kann man mit Seiten Nietzsches vergleichen, in welchen sich die seltene Seelenverwandtschaft zeigt.
Aber nicht nur im Denken, auch im Schicksal finden sich zwischen ihnen viele Gleichheiten. Beide kommen früh in eine Laufbahn, die nicht ihre eigentliche ist, aber der sie sich mit pflichttreuem Eifer widmen. Sie müssen sie infolge von Krankheiten verlassen, gegen die sie jahrelang mit unermüdlicher Energie ankämpfen, und sie brechen zusammen, gerade als das Glück, verstanden zu werden, die Freude des Sieges ihnen entgegenlächeln. Beide sprachen vom Weibe mit jener Bitterkeit, die von einem idealistischen Glauben Zeugnis ablegt, der auf schmerzliche Weise verloren gegangen ist, und beiden ist im Leben gewiss die Liebe irgend einmal nahe gewesen, obgleich sie nie gebeichtet haben, warum sie dann ihren Weg ohne sie weitergegangen sind. Beide waren freundschaftsbedürftige und treue Freunde. Beide kamen in ein lebensentscheidendes Verhältnis zu dem geistig bedeutendsten Manne in ihrem Lande, eine Freundschaft, in der der Aeltere und Berühmtere zu der Persönlichkeit des Jüngeren aufblickte, Wagner zu Nietzsche, wie Voltaire zu Vauvenargues. Aber glücklicher als Nietzsche, starb Vauvenargues, bevor die starke Temperamentsungleichheit und der Unterschied der Gedankentiefe auf das Freundschaftsverhältnis einzuwirken vermochten.
Es hat den Anschein, als hätte Vauvenargues Nietzsche auch in der einzig dastehenden Macht der Persönlichkeit geglichen. Obgleich Vauvenargues im höheren Sinne von seinen militärischen Kameraden unverstanden blieb, brachten ihm diese eine ehrfurchtsvolle Zuneigung entgegen. Seine einfache Herzlichkeit, seine liebenswürdige Natürlichkeit, seine massvolle Würde, seine absolute Selbstbeherrschung beherrschte und bezauberte sie. Sie erkannten mit Freude seine Ueberlegenheit an, und es gelang ihm so, seiner heterogenen Umgebung etwas von seinem Gepräge zu geben; er vermochte es, seine Umgebung durch seine geistige Vornehmheit zu adeln, in derselben Weise wie Nietzsche. So wie dieser war Vauvenargues hinreissend im Gespräch. Einer von Nietzsches Freunden hat mir gesagt, dass, wenn man mit ihm zusammen war, man nicht einmal seine Bücher lesen konnte: sie waren matt und trocken neben der Genialität, mit der er sich im Sprechen gab! Dasselbe soll bei Vauvenargues der Fall gewesen sein. Ein Zeitgenosse schildert den Gedankenaustausch zwischen ihm und Voltaire als das reichste geistige Fest, das man geniessen konnte. Vauvenargues' Genie, das andere überwältigte, machte ihn gleichgestellt mit Voltaire, obgleich dieser zwanzig Jahre älter war. Aber der Altersunterschied wurde ausgelöscht durch Voltaires Ehrfurcht vor der Hoheit in Vauvenargues' Persönlichkeit. Sie disputierten, sagt der erwähnte Gewährsmann, aber nie ist ein Meinungsaustausch mit mehr Esprit, mehr Ehrlichkeit oder Milde geführt worden. Vauvenargues' Beredtsamkeit war ebenso anmutvoll weise, wie die Voltaires sprudelnd reich war. Keiner von beiden schmeichelte dem anderen, keiner gab nach: die vollste Freiheit vereinte sich mit der vollsten Harmonie ... Dieselbe Zärtlichkeit, die Voltaire Vauvenargues im Leben widmete, brachte er seinem Andenken nach dem Tode dar. Hundert Sünden müssten Voltaire vergeben werden um seiner Schilderung Vauvenargues' willen. Vor dieser steht man mit Voltaires eigener Frage: »Durch welches Wunder besassest du schon mit fünfundzwanzig Jahren und ohne andere Studienmittel als ein paar Bücher die echte Philosophie und Beredtsamkeit? Wie konntest du es verstehen, unter der Einfalt eines scheuen Kindes die Tiefe und Stärke deines Genius zu verbergen? Wie stiegest du so hoch in diesem Jahrhundert der Kleinheit?«
Die letzten Worte scheinen uns nicht gerecht – besonders wenn wir bedenken, dass es Voltaire ist, der sie von der Epoche sagt, die er nach seinem Ebenbilde schuf. Aber als Vauvenargues hervortrat, war es noch nicht Voltaire, der die Seelen beherrschte, sondern der Lebensversicherungskünstler Fontenelle, er, dem es gelang, hundert Jahre alt zu werden dadurch, dass er, wie eine geistreiche Dame bemerkte, »kein Herz hatte, nur an Stelle des Herzens ein zweites Hirn!« Er ist es, der mit seiner Anmut die Philosophie der gesunden Vernunft formuliert; er, der in seinen »Dialogues des morts« mit so grossem Esprit und so kalter Skepsis es versteht, kleinliche Motive hinter den grossen Handlungen zu finden, die man bewundert, einen kleinen Zug bei den grossen Männern, die man verherrlicht. Er schafft den Cultus des kühlen, wohlabgezirkelten Lebensgenusses, der Lebensleichtigkeit, den Cultus, aus dem die Leidenschaft gleich einer Krankheit verbannt wurde, und demzufolge Oberflächlichkeit in allen Lebensverhältnissen die Grundbedingung des guten Geschmackes und der Weisheit ward. Vorsichtig seine Genussmöglichkeiten zu hüten, niemals die glatte Galanterie zur Leidenschaft zu vertiefen, niemals die lächelnde Menschenverachtung durch irgend einen Enthusiasmus stören zu lassen – das war die Lebenskunst, der Fontenelle durch seinen feinen Esprit und seine zurückhaltende Liebenswürdigkeit zum Siege verholfen hatte! Und mitten in diesem wohlgepflegten, schönen Rococogarten, mit seinen kühlen Philosophengängen zwischen gestutzten Hecken, seinen wohlfrisierten Venusbildern um Wasserkünste in regelmässigen Abständen, steigt plötzlich ein hoher Strahl gerade zum Himmel, ein herrlicher Ausbruch einer heissen, unterirdischen Quelle!
Man kann sagen, dass Vauvenargues als Denker an dem Abend geboren wurde, als der sechszehnjährige Knabe im Elternheim unten in Aix den Plutarch las und – von einer so starken Begeisterung ergriffen, dass sie wie ein spasmodicher Schmerz wirkte – hinaus ins Freie stürzte, um atmen zu können. Und stundenlang unter den flammenden Sternen des Südens wandernd, fand er doch den Raum eng für seine geweitete Seele, die in dieser Stunde zum Bewusstsein ihrer selbst erwacht war.
Zu gleicher Zeit las ein anderer Jüngling dasselbe Buch und entzündete daran die Flammen, mit denen er dann eine Epoche befeuerte und verbrannte. Dieser Jüngling war Rousseau, der seine erste Schrift zehn Jahre, nachdem Vauvenargues 1747, nicht ganz 32 Jahre alt, gestorben war, herausgab. Aber vorher hatte Vauvenargues die Gedanken gedacht und die Gefühle vom Menschen gefühlt, die Rousseaus Dichtergenie dann zu Fleisch und Blut bei seinen Zeitgenossen machte, während Vauvenargues' Adelsnatur sie nur in sich selbst zum Leben erweckte.
Plutarchs Helden hatten in dem jungen Vauvenargues die Gewissheit hervorgerufen: dass nichts im Leben mehr Wert habe, als: zu leben! Und leben, das heisst – sagt Varvenargues – edle Leidenschaft fühlen, seinen Geist zu grossen Dingen brauchen, seinem Ehrgeiz ein grenzenloses Ziel setzen ... Aber als der Jüngling sich nach diesem Ziel umsah, da gab es für ihn, wie für andere arme junge Edelleute, nur die Kirche und die Armee. Er entschied sich für die letztere. Und so liest er – wenn die Denkerleidenschaft hervorbricht – zwischen Gemetzeln, im Zelte, am Bivouacfeuer, einige Bücher, notiert einige Gesichtspunkte, lässt die Wellen des Gedankens von verschiedenen Winden treiben und sie schliesslich in der Form von Maximen krystallisieren. Als seine immer schwache Gesundheit durch das Lagerleben und sein immer schwaches Gesicht durch die Pocken ganz zerstört war, da erst vollendet er – in einem kalten, dunkeln Zimmer, umgeben von Unbehagen, arm, halbblind, mit offenen Wunden, an der Lungenschwindsucht sterbend – seine Pensees et Maximes, die er das Jahr vor seinem Tode herausgiebt, ein Buch, das sein einziges blieb, aber dennoch hinreichte, um seinem Verfasser jenes Leben nach dem Tode zu geben, von dem er schon über den Blättern seines Plutarch geträumt hatte! Vauvenargues bemerkt, dass die meisten Schriftsteller ihr Leben damit verbrächten, das niederzuschreiben, was sie nicht meinten, weil sie nicht den Mut hätten, sich so sehen zu lassen, wie sie seien. Er selbst hat jedoch in seinem Buch den feinsten Most einer auserlesenen Seele gegeben: ein Buch, reich an concentriertem Gedankenstoff, heiss von wortkarger Glut, schön durch die einer stolzen Natur eigene zurückhaltende Weise, gefallen zu wollen.
Es ist ein wunderlicher, aber schöner Anblick, wie Voltaire, ein anderer Johannes, Vauvenargues grüsst als den, der kommen soll! Noch als Vauvenargues lebte, schrieb Voltaire an ihn: »Unsere Zeit verdient Sie nicht, aber besitzt Sie, und ich bin der Natur dankbar dafür. Sie sind der Mann, auf den ich nicht zu hoffen gewagt, Sie, der Sie unserer Zeit Gedanken geben, hoch über ihrer Höhe ...« Und nachdem Vauvenargues gestorben ist, sagt Voltaire seinen Zeitgenossen gerade ins Gesicht, dass dieser seltene Mensch seiner ganzen Zeit überlegen gewesen sei, dass er einer anderen Rasse angehört habe und ein von allem Parteisinn vollkommen befreiter Geist gewesen sei. Vauvenargues kennzeichnet sich selbst, sagt Voltaire, durch drei seiner eigenen Gedanken. Und mit dem Verständnis der echten Sympathie hat Voltaire gerade das Centrale bei Vauvenargues herausgefunden, wenn er seine Charakteristik in folgenden Aeusserungen giebt: unser Verstand betrügt uns häufiger als unser Gefühl; die grossen Gedanken kommen aus dem Herzen; die Leidenschaft veranlasst allerdings mehr Fehler als die Reflexion, aber aus demselben Grunde, aus dem der Herrscher mehr Fehler begeht, als der Bürger ...
Schon aus diesen Aeusserungen ahnt man, welcher Art die Gedanken sind, die Vauvenargues' Zeit noch nicht fassen konnte. Will man sie mit unseren neuen Worten nennen, so waren sie die Idee der Lebensbejahung und die Idee vom Wachstum der Seele oder der Entstehung des Uebermenschen.
Vauvenargues hat selbst gesagt, dass »alle Demonstrationen nur dazu da sind, den Verstand die Dinge mit derselben Gewissheit einsehen zu lassen, die sie für das Herz schon haben«. Und die rote Welle des Herzens ist es, die noch heute durch Vauvenargues' Demonstrationen eilt und ihnen den starken, heissen Puls giebt, der sie so verschieden von denen der übrigen französischen Moralisten macht, Pascal ausgenommen. Aber wenn Pascals und Vauvenargues' Temperament dieselbe Intensität haben, so ist ein Abgrund zwischen ihrer Gedankenwelt. Des siebzehnten Jahrhunderts pessimistische Auffassung der menschlichen Natur und des Lebens war Varvenargues ebenso verhasst, wie die skeptisch-epikuräische Lebensphilosophie seiner eigenen Zeit – und beide sind ihm so fremd, als hätte er am Ende unseres Jahrhunderts gelebt. Er seufzt nach »Menschen mit Seele, nicht bloss mit Esprit«, die, welche nur letzteren haben, kann er »weder lieben, noch hassen, noch fürchten«.
Im Gegensatze zur Philosophie der vorsichtigen Lebenserhaltung, der Philosophie Fontenelles, sieht Vauvenargues den Wert des Lebens im Wagestück, in der Grossthat. Und an Stelle der leidenschaftslosen Leichtfertigkeit, der skeptischen Kühle, verkündet er die Souveränität der Leidenschaft, der Begeisterung, des Lebensmutes. Der düsteren Lebensanschauung des siebzehnten Jahrhunderts, in welchem die Probleme des Sündenbewusstseins, der Erlösung und der Heiligung tiefe Seelen ausfüllten, setzt er seinen schönen, heidnischen Glauben an die Menschennatur und ihre unendlichen Quellen entgegen. Aber der Enthusiast ist auch ein Philosoph, und wie St. Beuve bemerkt, zeigt sich Vauvenargues als echter Philosoph dadurch, dass er die Grundprinzipien selbst untersucht und dass es sein Bestreben ist, nicht bei der Analyse stehen zu bleiben wie Larochefoucauld oder La Bruyère, sondern zur Synthese vorzudringen, eine Ganzheitsauffassung des Daseins zu finden.
Vauvenargues' Auffassung des Menschen – den er von Natur aus weder für tugendhaft, noch für gefallen ansieht – ist nicht nur tiefer als die seiner Zeit, sondern sie bewegt sich auch nach einer ganz anderen Richtung. Sein Denken ist im vollsten Sinne frei, ohne die Voraussetzungen irgend einer religiösen oder philosophischen Doctrin. Er hatte nie eine Zeile von Spinoza gelesen – er hatte überhaupt so wenig gelesen, als viel gedacht – und doch gelangte er durch ganz dieselbe scharfsinnige Beweisführung, mit der Spinoza die Unfreiheit des Willens aufdeckt, zu derselben Schlussfolgerung. »Wir wähnen uns frei,« sagt er, »weil wir die Motive nicht kennen, die uns zum Handeln treiben. Aber unser Wille ist nur der Zeiger auf dem Zifferblatt, der die Stunden angiebt und das Schlagwerk in Bewegung setzt ... Ueber unsere Handlungen können wir nicht Herr sein, weil wir nicht Herr über unser Wesen sind ... Die moralische Welt kann daher nicht die Welt der Freiheit sein, aber sie ist die des Herzens ...« Hier entwickelt Vauvenargues den deterministischen Individualismus, der auch Nietzsches Standpunkt ist, freilich nicht unangreifbar vom Gesichtspunkte der logischen Consequenz, aber desto fruchtbarer aus dem der Lebensweisheit. Vauvenargues' Gedankengang ist dieser: Gerade weil der Wille von unserem Wesen bestimmt wird, das will sagen, in erster Hand von unseren Instincten und Leidenschaften, gilt es vor allem, dieses Gebiet zu erforschen und zu veredeln. Unsere Handlungen hängen von unseren Impulsen ab, von den Motiven, die am stärksten sind. Es muss also das Ziel unserer Erziehung und Selbsterziehung sein, zu trachten, solche Eingebungen zu suchen, solche Gewohnheiten auszubilden, solche Gefühle zu steigern und mit solchen Gedanken umzugehen, welche dann stark wirkende Motive für unsere Handlungen werden: grosse Motive, die die kleinen besiegen können ... Das grösste Motiv ist das allgemeine Beste, und dieses unserem eigenen vorzuziehen, ist nach Vauvenargues die oberste Tugend. Er, wie Moliere vor ihm und Rabelais mit seinem »Fais ce que tu voudras« vor Molière, war überzeugt, dass der seelisch Edelgeborene sein Sittengesetz in sich trage. »Grosse Seelen«, sagt Vauvenargues, »finden in sich selbst einen grossen Teil der äusseren Dinge. Sie brauchen weder zu lesen, noch zu reisen, noch zu arbeiten, um die höchsten Wahrheiten zu entdecken: sie brauchen sich nur hinabzuneigen in sich selbst! ... Die kleinen Seelen hingegen finden nichts, denn ihre eigenen Seelen sind leer, ihre eigenen Herzen enge.« Vauvenargues begegnet dem gewöhnlichen Einwand gegen den Determinismus – dass er den Unterschied zwischen Tugend und Laster verwische – mit der Frage: »Ist die Gesundheit und die Schönheit weniger gesund und schön, ist die Krankheit und die Hässlichkeit weniger krank und hässlich, weil sie unwillkürlich sind? Gerade das macht erst das Laster wirklich furchtbar und die Tugend wirklich herrlich, dass sie notwendig und naturbestimmt sind.« Der Behauptung La Rochefoucaulds, die Triebfeder aller Handlungen sei die Selbstsucht und nur die ganz selbstlose Handlung könne gut genannt werden, begegnet Vauvenargues mit dem erschöpfenden Argument: »Hat man denn nicht das Recht, sich selbst zu lieben? Wird die Handlung weniger gut, weil wir sie mit Freude ausführen?« Vauvenargues hasst die Lehre, dass man seiner Natur Gewalt anthun müsse, um sittlich zu sein, und dass man den Genuss gleich einer Sünde töten solle. Für ihn ist im Gegenteil »le plaisir le signe mystérieux du bien«. Für ihn ist die Liebe zu unserem Dasein das Grundprinzip des Lebens, aus dem sich alles erklärt. Das Gefühl der Vollkommenheit unseres Daseins – das Lustgefühl – oder seiner Unvollkommenheit – das Unlustgefühl – ist der Ursprung jenes Egoismus, dessen Berechtigung Vauvenargues darlegt und den er als das Lebensprinzip selbst ansieht. Diese gesunde Anschauung ist es, die für seine Zeit völlig neu war, weil man sich mit La Rochefoucauld gewöhnt hatte, diesen Egoismus mit »l'amour propre« zu verwechseln, während der Egoismus in diesem tiefern Sinn ebenso unentbehrlich für unser Dasein ist wie das Blut. Aus diesem seinem grossen Grundprinzip – unserer Liebe zu unserem Dasein – beweist dann Vauvenargues die Unentbehrlichkeit der Leidenschaft für das Leben. Aus der Leidenschaft, sagt er, strömen alle grossen Thaten, alle grossen Gedanken, alles grosse Geniessen. Und je grösser die Seele ist, desto grösser sind ihre Leidenschaften; höchste Freude und höchste Qual finden keinen Raum in mittelmässigen Seelen, und die grösste Seelenstärke tröstet uns weniger als die Schwäche unserer Seelen ... die Leidenschaft lässt sich nicht von unserem Wesen trennen, denn sie ist sein Grund, seine Substanz selbst ... Die Philosophie oder Religion, die die Leidenschaft ausrotten will, gleicht dem Tyrannen, der die besten Mitbürger des Staates ausrottet, den er unterjochen will ... Die Leidenschaftslosigkeit ist die Aehnlichkeit mit dem Tode ... Der erleuchtete Verstand giebt uns keine Kraft zum Handeln; diese kommt nur aus der Leidenschaft oder aus dem Instinct: und ohne Instinct kann man nicht einmal eine so einfache Sache, wie ein Huhn braten, gut ausführen! Mit der Fähigkeit starker Seelen zu starker Leidenschaft geht es Hand in Hand, dass auch ihre Verbrechen grosse Dimensionen erhalten. Aber selbst wenn die Handlung ein Verbrechen wird, ist doch das Handeln das Grösste von allem. Und nicht weil wir bessere Menschen sind, besitzen wir nicht länger das Uebermass der Vorzeit im Bösen, sondern weil wir zu schwach sind, um selbst im Laster anders als mittelmässig zu sein – »und dieses,« sagt Vauvenargues, »ziehe ich sowohl nach meinem Geschmack als nach meinem Gefühl vor.« Das heisst, wenn es bedeutend ist, aber das trifft freilich nicht immer zu, »es giebt im Gegenteil unendlich viele bedeutungslose Laster, ebenso wie bedeutungslose Tugenden ...« Vauvenargues' Vorliebe für das Laster war übrigens nur theoretisch, denn zu seiner wirklichen Lebensregel machte er die Mahnung, die er an sich selbst wie an andere richtete: »Lasst uns vor allem versuchen, menschlich zu sein, gut zu sein; lasst uns unsere Seele beherrschen, sie von ungerechter Bitterkeit befreien und milde sein, »autant que cela est en nous!« Vauvenargues suchte nämlich seine besten Anlagen herauszuarbeiten, aber nicht seine Natur zu übertreffen. Denn er wusste, dass dieses nicht gelingen kann, »weil die Natur im Wesen jedes Menschen ihren Weg vorgezeichnet hat ... Veredle deine Natur, vergrössere deine Seele, aber glaube nicht, dass du dieses Ziel dadurch erreichst, dass du deine Natur Einflüssen überantwortest, die ihr entgegengesetzt sind. Schaffe dir keine Instincte, die deiner Originalität widerstreiten! Lausche deinem ganzen Ich – aber vergiss nicht, dass unsere natürlichen Neigungen immer die stärksten sind, unsere erworbenen hingegen zugleich vollkommener und unvollkommener ... Erinnere dich vor allem, dass der, welcher aus Angst, zu fehlen, nicht zu handeln wagt, den grössten aller Fehler begeht, denn er beraubt sich der Erfahrung. Nur der, welcher zu irren wagt, kann seine Seele für grosse Thaten bilden. Und überdies, wer alles leiden kann, kann auch alles wagen! Die grössten Fehler werden von jenen begangen, die bloss aus Ueberlegung handeln ... Die utilitarische und banale Politik ist die, welche sich immer für den augenblicklichen Nutzen entscheidet und das Sichere für das Unsichere nimmt ... Die Leidenschaft giebt uns kühnere Ziele als die Reflexion, aber auch grössere Stärke, sie zu erreichen ... Ueber seine Natur hinaus kann niemand gehen, und doch denken die Meisten, wenn sie ihre Pläne entwerfen, nur an die Verhältnisse, nicht an ihre eigene Natur, obgleich aus der Tiefe dieser die wirklichen Schwierigkeiten kommen ... Um grosse Dinge zu vollführen, müssen wir so leben, als sollten wir niemals sterben. Es giebt darum keinen Gedanken, der uns mehr um unser Dasein betrügt und unsere Lebensenergie stärker hemmt, als die Lehre der Kirche, man möge so leben, als sollte man jeden Tag sterben ...« Nicht die Selbsterhaltung ist also der Sinn des Lebens, sondern die Liebe zum Dasein. Und diese Liebe entsteht, meint Vauvenargues, »durch Kraft in der Leidenschaft, Energie in den Sitten, grössere Regungen der Seele, mehr Intensität des Charakters ... pflege darum deinen Enthusiasmus, sei überquellend grossmütig; habe Seele! Stärke deine Seele mit allen Mitteln! Zwinge deinen Sinn weg von kleinen Dingen, kleinen Gedanken, kleinen Zielen; verhehle nicht, aus Furcht verlacht zu werden, deine liebsten, nachhaltigsten, besten Gefühle ...«
Wenn Vauvenargues gleich Nietzsche nach Goethe gelebt hätte, würde vielleicht auch seine Lebensregel so wie die Nietzsches sich in die Goethische Mahnung zusammenfassen lassen: Sich des Halben zu entwöhnen und im Ganzen, Grossen, Schönen resolut zu leben! Vauvenargues' ganzes Dasein ist ein einziges, bewusstes, unablässiges Streben nach dieser Richtung. Ganz seine höchsten Möglichkeiten zu erreichen – dieser Cult des echten Individualismus ist der seine. Dieses macht ihn so kühn, so tief, so stark in seinem Denken, seinem Fühlen, seiner Gewissensfreiheit. Er kennt seine Grenzen und übersteigt sie nicht, obgleich er sie erweitert. Man fühlt, dass es eine Natur von Feuer, Wind, aber auch von Eis ist, die sich selbst so schildert: »leidenschaftlich, heftig und rasch, ein Gefühl in seinen Gegensatz zu verkehren; übertrieben, unersättlich; kann nicht in der Indifferenz leben; masslos in Zielen wie in Empfindungen; achtet die Dinge gering, die er nicht anstrebt oder bewundert; ohne Interesse für alles, das ihn nicht leidenschaftlich ergreift; in einem Augenblick sein ganzes Gefühl erschöpfend ...« Gerade weil Vauvenargues weiss, dass er mit dieser Natur hart und rücksichtslos werden kann, »liebt er alle die Leidenschaften, die ihn menschlicher, edelmütiger machen ...« und ganz gewiss spricht er aus Erfahrung das schöne Wort aus: »Der Grossmütige fühlt Anderer Leiden so, als wäre er selbst schuld daran!«
Aus dieser, wie aus anderen Aeusserungen, scheint hervorzugehen, dass Vauvenargues auch das mit Nietzsche gemeinsam hatte, dass bei beiden das Mitleid Instinct war – bei Nietzsche ein in dem Grade starker Instinct, dass er, um ihn in sich selbst zu bekämpfen, in das unsympathischeste seiner Paradoxe umschlug: die Verachtung des Mitleids. Vauvenargues hatte jedoch eine noch ausgesprochenere Aehnlichkeit mit Nietzsche in seiner klaren Einsicht in die Notwendigkeit des Leidens. Vauvenargues' Denken ist zum Beispiel darin mit dem Nietzsches identisch, dass die Natur nichts von Gleichheit wisse; ihr unbestreitbares Gebot ist Ueber- und Unterordnung, und darum hat die Natur den Menschen auch nicht zur Unabhängigkeit geschaffen ... »Der Starke soll über den Schwachen herrschen, das ist das unverrückbar allgemeinste und bedeutungsvollste Gesetz der Natur ... Da alle Teile einer Einheit sind und das Gesetz dieser Einheit die Notwendigkeit, so besteht die Grösse des Menschen darin, sich den Dingen zu unterwerfen, insoweit er nicht die Dinge sich unterwerfen kann. Das Bewusstsein der Notwendigkeit lindert mehr Qualen als die Vernunft ... Das Verzweifeln ist der schlimmste unserer Irrtümer ...« Bei Vauvenargues wie bei Nietzsche war dieser Fatalismus ein Ausdruck der strahlendsten Lebensbejahung. Unter ebenso schweren, ja unter schwereren Prüfungen bewahrte Vauvenargues seinen amor fati, denn während eines jahrelangen langsamen Todeskampfes trug er mit stolzer, verschwiegener Selbständigkeit alle Leiden der Armut und der Krankheit und vor allem die schwerste Bitterkeit des Todesgedankens: das Lebenswerk verlassen zu müssen, das er eben begonnen und das ihm schon jenen Ruhm verheissen, den er »schöner fand, als der Morgenröte ersten Schein«. Seine Freunde wurden nicht Zeugen eines einzigen Augenblickes der Schwäche, und Voltaire konnte mit Fug sagen: »Dieser Tod war der eines Helden!«
Vor mir steht Vauvenargues' seelisches Bild wie die von Klinger geschaffene Jünglingsgestalt, die, nackt draussen auf der Erde unter Unwetterwolken, die jungen, siegesgewohnten Arme, die siegesgewissen Augen zum Himmel erhebt, während er gegen alle gewaltigen, vernichtenden Mächte um sich die ganze innere Macht seines eigenen Wesens stellt, mit dem Ausruf: Und doch! Vauvenargues lebte sein ganzes Leben in dem Kampfesrausch und Siegesjubel dieser Liebe zum Leben. Allem zum Trotz war es ihm gelungen, mit einer solchen Intensität zu leben, dass er in Wahrheit sagen konnte, er »wollte seine Leiden nicht für alle Erfolge eines schwachen Menschen eintauschen ...« Wer seine Seele zu dieser Potenz vergrössert hat, der ist ein ewiges Wesen, mag er nun kurze oder lange Zeit gelebt haben. Und Vauvenargues musste die Hoheit seiner eigenen Seele zu der seines Denkens legen, um schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts sich zu der Idee erheben zu können, die seine Mitwelt damals noch nicht ahnte und die unsere Zeit noch nicht erfasst hat, der Idee von der Selbstherrlichkeit des Menschen. Diese Idee hatte schon bei Vauvenargues die Inbrunst einer Religion erhalten, oder richtiger gesagt: sie war die neue Religion, in die man nur durch Selbstvertiefung eindringt und deren einziger Gottesdienst die Erweiterung der eigenen Seele ist.
Als Nietzsche noch jung war, lebte ein Alternder, der gewisse Seiten von Nietzsches Gedankenleben offenbarte, Seiten, die bei Vauvenargues nicht hervorgetreten waren. Denn Nietzsche ist nicht blos der Genius und Märtyrer der Lebensfreude und Seelenvornehmheit, sondern auch der der Selbstvertiefung. Nach dieser Richtung hin ist der Schweizer Amiel einer seiner Vorläufer.
Amiels Leben hat nur drei Daten. Er wurde 1821 in Genf geboren, wurde – nach sieben Studienjahren im Ausland – im Jahre 1849 Professor an der Universität seiner Geburtsstadt, und starb daselbst im Jahre 1881.
Die reiche Geschichte dieses armen Lebens liegt in einem Tagebuche vor, das er von seinem siebenundzwanzigsten Jahre an bis zu seinem Tode führte. Die Jugendfreunde, die lange etwas Grosses von Amiel gehofft hatten, aber es schliesslich müde geworden waren, vergeblich zu warten, erhielten nach seinem Tode durch das Tagebuch die erschütternde Gewissheit, dass das Problem, welches sie zuletzt »kaum ernsthaft genommen hatten, tragisch gewesen war«. Durch die Veröffentlichung von Amiels »Journal intime« führte sein Freund Scherer ihn in die französische Litteratur ein. Dort oft citiert, ist er bei uns kaum dem Namen nach bekannt. Und doch ist er gerade jetzt in hohem Grade actuell, nicht bloss als einer der vielen Pränietzscheaner, die in dieser oder jener Beziehung ihre Gedanken jene Richtung einschlagen liessen, die dann Nietzsches Königsweg nahm. Amiel ist ausserdem in der Litteratur einer der typischesten Repräsentanten jener verzehrenden Selbstanalyse, die die meisten seelenvollen Individuen der Gegenwart kennzeichnet und die die tragische Gefahr der Evolution der Seele ist.
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Eine demokratische Sturzwelle hatte den jungen Amiel auf die Professorenkanzel erhoben. Aber dadurch wurde er auch von der geistig mehr aristokratischen Sphäre getrennt, für die sein Naturell ihn bestimmt hatte. Er blieb so isoliert in der Gesellschaft, der er angehörte, und litt ausserdem an einem nie gestillten Heimweh nach seinem »gewählten Vaterlande«, dem Reich des Auserlesenen.
Mit derselben Ueberzeugung wie Nietzsche, wenn auch nicht mit derselben überzeugenden Macht des Genies, greift Amiel die Einförmigkeit der Gleichheit an. Er hebt hervor, dass, um dem Schlechten auszuweichen, das Ausserordentliche geopfert würde; dass allerdings alles weniger roh werde, aber auch mehr vulgär ... »Sowie der Thalgrund durch die Denudation des Berges erhöht wird, so werden auf Kosten der Grossen die Mittelmässigkeiten erhöht; alles liegt wie eine platte Hochebene da, die Dinge werden grösser, die Seelen geringer. Eine Politik, wie eine Religion, beweist ihren Gehalt durch den Menschentypus, den sie schafft; die Tendenz der Demokratie ist bis auf weiteres, den Menschentypus zu verkleinern ... Der Egalitarismus hatte Recht, solange er sich gegen die conventionellen Ungleichheiten wandte, gegen die willkürlichen Privilegien ... Nun wendet er sich gegen die Ueberlegenheit im Verdienst, in den Fähigkeiten und wird so eine neue Ungerechtigkeit, denn die Ungleichheit ist ewig ebenso wirklich, ebenso gerecht wie die Gleichheit, und je entwickelter man ist, desto mehr Ungleichheiten sieht man ... Aber die Demokratie sieht die Ungleichheiten nicht, und darum verschwinden unter ihrer Gewalt die ästhetische Freiheit, das Auserwählte, das Nuancierte, die Urbanität, der Atticismus, alles, was eine aristokratische Kultur kennzeichnet ... Schon Montesquieu wusste: je mehr weise Leute man zusammenführt, desto weniger Weisheit erhält man; der Radicalismus nimmt an, dass man, je mehr unkundige, gedankenlose und leidenschaftliche Menschen man zusammenbringe, desto grössere Weisheit erhalten werde ... Darum werden die grössten Fragen von den mindest Fähigen entschieden werden, dank dem abstracten Gleichheitsprincip, das den Unwissenden dispensiert, zu lernen, den Einfältigen, sich selbst zu beurteilen, den Unentwickelten, sich zu entwickeln ... Aber dann wird auch das Gleichheitsprinzip unter der Last seiner eigenen Absurdität zusammenbrechen, der nämlich, die Ungleichheit geistiger Werte, die Bedeutung der individuellen Entwicklung nicht einzusehen ...«
»Die Presse und alle anderen Vulgarisationsmittel verleiten nun die Mehrzahl, nur die Papiermünze der Worte zu gebrauchen, die Minderzahl hat das Gold berührt, das das Papier repräsentiert. Derer, die von allen diesen Zeichen von Zeichen leben, werden immer mehr; der von Realitäten lebenden Individualitäten immer weniger ... Die meisten menschlichen Wesen sind überhaupt noch nicht Menschen, nur Candidaten der Menschheit ... Für den individualisierten Menschen giebt es deshalb tausend Arten zu leiden, in diesem geistigen Milieu, wo alles mit felsenfester Sicherheit festgestellt, bejaht oder verneint wird; wo man dogmatisiert und bekräftigt, ohne Ahnung von Zweifel, Nuancen, Gradationen, von den unendlichen Möglichkeiten, den unlöslichen Widersprüchen ...«
Unvergleichlich weniger genial als Nietzsche, ist Amiel auch viel weniger einseitig. Er sieht ein, dass, so lange die soziale Frage ungelöst ist, so lange das Los der Majorität Arbeitssklaverei bleibt, so lange das Leiden durch Brotnot noch nicht aufgehoben ist, der freie vornehme Mensch nur als Ausnahme vorkommen kann ... Wie wenig die Menschen auch noch Menschen sind, kann Amiel doch »das Menschenideal würdigen, das sich latent bei ihnen findet«, und mit dem Leiden fühlen, das das Los Aller ist ... »Es ist«, sagt er, »nicht schwer, aus seinem eigenen Idealismus Menschenverachtung herauszudestillieren; schöner ist es, aus diesem Idealismus die Güte auszulösen ... Die Prinzipien der Moral und der Gerechtigkeit sind noch bloss angedeutet; denn solange die Menschheit keine Einheit ist, bleiben alle Versuche zu einer neuen Ordnung der Dinge nur locale Krystallisationen, Rudimente zu einer höheren Organisation. Wenn es dem geistigen und dem materiellen Zusammengehen gelungen ist, die Menschheit zu einer grösseren Einheit zusammenzuarbeiten, dann erst besitzt man das Material, aus dem das höhere menschliche Dasein geschaffen werden kann: die Menschheit, die, nachdem der Abschnitt der sozialen Demokratie durchmessen ist, eine Republik der Seelen gründen wird, in der alle grossen Werte einen Cult und eine Freistatt haben werden, die Schönheit und die Heiligkeit, das Unendliche und das Ausserordentliche ...«
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Amiel ist nicht milder gegen die religiöse und die philosophische Beschränktheit, als gegen die demokratische. »Zuerst aus Instinct, jetzt aus Ueberzeugung scheue ich alle festen Ueberzeugungen ...« äussert er. Unter seinen Zeitgenossen und Landsleuten fanden sich verschiedene Repräsentanten jener Christentumsauffassung, die in Schweden Viktor Rydberg zu ihren vornehmsten Verfechtern zählte. Aber bei diesen »Fortschrittsmännern des Protestantismus und Zurückgebliebenen des freien Gedankens« – wie Amiel sie treffend bezeichnet – konnte er nicht stehen bleiben. Im Lichte der Wissenschaft fand er, dass »jedes Dogma höchstens ein praktisch nützliches Vorurteil sei«; und im Laufe des Lebens wurde ihm jedes Credo bedeutungslos. Aber die religiösen Gefühle und Bedürfnisse lebten weiter, und er fragte sich darum, wie man der Menschheit diese retten könne, wie es gelingen könne, die Leidenschaft des Heiligen zu bewahren, le tremblement intérieur, wenn nicht länger eine positive Religion die Menschenseele vertiefe ...? »Durch das Christentum,« sagt er, »wurde der Orientalismus in das Abendland eingeführt, die Betrachtung der ewigen Dinge; so erhielt der Hang zum Endlichen und Wechselnden ein Gegengewicht. Aber durch die jetzige religiöse Décadence wird der moderne Mensch abgeneigt, den Blick in die Tiefe zu wenden; er ist erfüllt von einer Unruhe, die selbst die grossen Geister klein macht, die sie jener Würde entkleidet, welche man noch bei dem Araber in seinem Zelte findet ... Die Entwicklungslehre und der Relativitätsbegriff haben viel gegeben, aber was sie nicht geben konnten, ist gerade: ein Gegengewicht gegen den stets gesteigerten Druck des Gegenwartslebens ... Dieses kann bloss von einem eigenen inneren Leben aufgewogen werden, sowie der Polarfahrer die Kälte dadurch erträgt, dass er seine Temperatur in sich hat ...«
Wir finden, dass das grosse Problem für Amiel – wie für alle tieferen Naturen – war, eine Lebensanschauung zu finden, gross genug, um das Ideal des Morgen- und des Abendlandes zu umfassen, oder, mit anderen Worten, die ganze Menschennatur, und nicht nur gross genug, ihre ganze Unendlichkeit zu fassen, sondern auch im stande, sie unendlich zu vergrössern.
Bis auf weiteres war für Amiel theoretische Skepsis die einzige intelligente Denkweise, praktischer Altruismus die einzige würdige Lebensregel. Aber seine innere Unlust zu jeder Activität macht für ihn das individuelle Glück, von dem er lange träumte, unmöglich. Mehr als einmal scheint der Traum die Form der Möglichkeit angenommen zu haben, aber keine weibliche Verkörperung von Schönheit und Jugend konnte den inneren Widerstand besiegen, den Amiel gegen alle Verwirklichung empfand.
Diese muss – meinte er – das Ideal zerstören. Und sein Ideal der Liebe war das höchste. Die Ursache liegt noch tiefer, und er ahnt sie selbst, wenn er sagt, dass »der Philosoph mehr Interesse an den Phänomenen der Liebe als an ihrem Ziel empfindet ... er betrachtet die Liebe wie ein Schauspiel, und sie bleibt für ihn auch nur ein Schauspiel« ... Amiel weiss, dass nicht Reflexion, sondern Inspiration das Weib gewinnt ... »dass sie ohne Grund, ohne Warum geliebt sein will ... nur weil sie die ist, die sie ist ... Sie empfindet die Analyse als Verringerung ihrer Persönlichkeit ... Und dieser Instinct des Weibes ist richtig. Denn kann man ein ›Warum?‹ beantworten, dann ist der erotische Zauber gebrochen; und ist das Mysterium nicht mehr da, dann ist auch die Macht verschwunden ... Bloss dadurch, dass sie hoch über der Analyse steht, bewahrt die Liebe das Unendliche, Uebernatürliche, Wunderbare ... Der Mann betrügt sich stets in Beziehung auf das Weib, weil er vergisst, dass er und sie nicht dieselbe Sprache reden, dass die Worte nicht den gleichen Wert für sie haben, am wenigstens wenn es sich um Gefühle handelt ... Das Weib erscheint dem Manne als Sphinx, weil sie sich selbst ein Rätsel bleibt, weil sie das Mysterium ist, das Entweichende, Irrationelle, Unbestimmbare, Unlogische, der Widerspruch ... Für sie ist die Liebe die höchste Autorität, ist Synonym der Vernunft und Kriterium der Vortrefflichkeit ... Ihr Ideal ist immer und allein die Vervollkommnung der Liebe ...«
Man braucht nicht Psychologe zu sein, um hier zwischen den Zeilen zu lesen, warum kein Weib je Amiel und Amiel nie ein Weib ganz gewann: weil seine Natur der Grösse und der Stärke der Hingebung nicht fähig war, der warmblütigen Inspiration des Gefühls, die den Mut giebt, selbst den Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit zu wagen, und die Möglichkeit, sie von einem anderen zu gewinnen, die Leben oder Tod schenkt. Unter den vielen prägnanten Worten Amiels lese ich auch dieses: »Der Mann ist, was seine Liebe ist, und er hat dasselbe Schicksal, wie seine Liebe.«
Amiels Schicksal: immer und allenthalben in dem Unabgeschlossenen, dem Unvollendeten stecken zu bleiben – für das Rätsel dieses Schicksals hat er selbst die Lösung gefunden. Er weiss, was seine tiefste psychische Eigentümlichkeit ist, wenn er sie als Proteusnatur bezeichnet, als Vermögen der Umwandlung. Er hat wunderbare Worte, um diese seine Eigenart zu zeichnen: »Meine Seele ist nicht eine Seele, sondern eher die Seele; sie kann jede Daseinsform annehmen; ich kann mich bis zum äussersten vereinfachen, meine Umgebung vergessen, mich in ein anderes Zeitalter versetzen, den Gebrauch meiner Sinne niederlegen; Pflanze, Tier, Kind, Mann, Weib oder im Weltenraum schwebender Planet werden; ich kann mit der Seele des Mönchs, des Mathematikers, des Musikers, kurz mit aller Art von Seelen leben ... Ich vernehme mich in meinen Zellen und Geweben, werde latentes Leben, versinke in die Schatten primitiven Seins, bin Zeuge meiner eigenen Genesis unter unendlichen Metamorphosen ... Ich stehe wie eine Bildsäule am Rande des Flusses der Zeit, ich werde in Mysterien eingeweiht, aus denen ich gealtert und ohne Alter hervorgehe ... Ich empfinde mich als reinen Geist ohne Geschlecht, Körper, Beruf – verwundert, Mensch, Europäer, tellurisches Wesen zu sein; es scheint mir so einfach, irgend etwas Anderes zu sein, in so hohem Grade zufällig kommt mir alles vor, was ich bin ... Heerschar, Wirbel, Kosmos – diese Worte würden besser mein Wesen ausdrücken ... Ich liebe die Daseinsform der Ewigkeit, vernehme die Allmöglichkeit des Seins ... sinke endlich in den Abgrund hinab, in dem Nichts lebt oder stirbt, Nichts Form, Bewegung, Ausdehnung hat – das, was währt, wenn alles Andere vergeht ... Gedanken, Gewohnheiten, Grundsätze werden in meiner Seele ebenso leicht ausgelöscht, wie das Gekräusel der Wellen ...« Dieses ist, mit einem einzigen Worte gesagt, des Morgenlandes Weg zur Vergrösserung der Seele: eine Expansion, so grenzenlos, dass sie am Ende auflöst.
Diesen Nirwanazustand, dieses Hinsinken in die Unendlichkeit, in die Totalität, in das Mysterium, nennt Amiel mit klarer Selbsterkenntnis seinen Rausch; das Handeln nennt er sein Kreuz, seinen unerreichten Traum ... »Um zu handeln,« sagt er, »ist alles erforderlich, das mir fehlt: Charakter, Wille, Individualität.« Zum Handeln muss man auch gewisse Werte als erstrebenswert anerkennen; Amiel aber fühlt, dass nichts Gewisses besser ist, als sein Gegensatz, und dass alles, was einen Gegensatz hat, begrenzt und darum ihm gleichgiltig ist ... »Um zu leben, muss man den Abgrund verhüllen, einen Schein, eine Form anerkennen ... um wissen zu können, muss man unwissend sein, behaupten, bekräftigen können ...« Er sieht ein, dass derselbe Zweifel, der ihn hindert, zu handeln, ihm auch das Schaffen unmöglich macht: ... »Wer zweifelt, findet nicht das abschliessende Wort ... Originalität ist eine starke und bestimmte Reaction gegen die äusseren Eindrücke, durch die man ihnen sein individuelles Gepräge giebt ... jedes künstlerische Ideal ist die endlich gefundene Lösung eines Rätsels ... jeder grosse Künstler ist ein Vereinfacher ...« Und fragt man, warum Amiel, der im höchsten Grade das Vermögen der Metamorphose besitzt, das er als die vornehmste Eigenschaft des Kritikers betrachtet, auch nicht auf dem Gebiet der Kritik bedeutend wurde, so lautet die Antwort: »Ich kann einen Gegenstand nicht brutalisieren ... ich zittere bei dem blossen Gedanken, ihm Unrecht zu thun ...« So kam es, dass Amiel trockene, kalte Vorlesungen über Philosophie hielt, Vorlesungen, von denen kein Jüngling wegging, um Träume zu träumen oder Gesichte zu sehen, dass er als Litérateur steril wurde, nachdem er einige, kleine Gedichtsammlungen und Essays herausgegeben hatte, die seine Freunde sich bemühten zu würdigen.
Das Denken, das all seine Lebensquellen aufsog, scheint ihm sogar manchmal alle anderen Lebenswerte ersetzt zu haben ... Es liegt eine Beichte in Worten wie diese: »Wenn der Denker einmal darein willigt, zu erleben, zu handeln, so geschieht es nur, um besser zu verstehen; wenn er will, so ist es bloss, um das Wesen des Willens zu erkennen; er sucht sich nichts vom Dasein anzueignen, er begehrt vom Leben nichts mehr als Weisheit. Das macht ihn unbegreiflich für jedes geniessende, herrschende, erobernde Wesen ...«
Mit bleichen, feinen Farben malt Amiel hier die glückliche Liebe zum Denken, die Liebe, die Nietzsche dann in Glanz und Glut offenbarte.
Aber Amiels Denken hat – wie ich schon oben hervorhob – nichts von Nietzsches grosser, intensiver, rücksichtsloser Einseitigkeit. Amiels Receptivität, seine Ganzheitsforderung macht ihn allseitig. Aber Allseitigkeit lähmt nicht nur die Energie der Handlung, sondern auch die des Gedankens. Selbst auf diesem Gebiete gilt es, zu wagen, um zu gewinnen, entschlossen zu opfern, um zu behalten, auszuschliessen, um zu wählen. Amiel, der seine geistige Verwandtschaft mit dem Buddhismus und Schopenhauer fühlt – das erstere mit Freude, das letztere mit Unruhe – würde vielleicht Harmonie erlangt haben, wenn er den Orientalen in sich zum Alleinherrscher hätte werden lassen können. Aber das Ideal, dem er nachstrebte, war ein abendländisches, war eine »resignierte Energie«, während er gleichzeitig fühlte, dass er »am intensivsten lebte, wenn er nichts Besonderes that.« Der eine Teil seines Ich war nie mit dem anderen zufrieden.
Seine einzigen innigen Lebenswahrnehmungen der Aussenwelt wurden ihm durch sein vertrautes Zusammenleben mit der Natur. Er findet die glücklichsten Worte, um ihre wechselnde Laune zu schildern – und die Abhängigkeit des Menschen von dieser Laune – Worte, die in der französischen Litteratur Gemeingut geworden sind. Z.B. dieses, das beinahe das Motto der modernen Stimmungsmalerei genannt werden kann: »Eine Landschaft ist ein Seelenzustand« oder »wir sehen nie zweimal dieselbe Landschaft«, oder »jede Seele hat ihr Klima«. Zu den Eigentümlichkeiten in Amiels eigenem geistigen Klima gehörte, dass die Lebensangst bei ihm ihren Höhepunkt in den lichtesten Stunden des Tages erreichte, d.h. den Stunden, die die beste Zeit der thätigen Seelen sind.
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Wenn Scherer Amiels Schicksal als das Märtyrertum des Idealisten bezeichnete, so hatte er Recht; noch mehr Recht hat Bourget, der ihn ein Opfer der Selbstanalyse nennt, eine Illustration zu Turgenjews Einfall: dass Hamlet gewiss »un journal intime« geführt habe. Die Selbstanalyse ist ein Fieber, dass man durch das beständige Messen seiner Temperatur steigert; und je mehr man seine Seele spiegelt, desto weniger spontan werden ihre Bewegungen. Das ist die Gefahr, die Jenen drohen kann, die von der Leidenschaft ergriffen werden, ihre eigene Seele zu begreifen und grösser zu machen.
Amiel sah auch ein, dass er »mit eigener Hand seinen Geier gemästet habe«, dass er selbst die Steine in Bewegung gesetzt, »die das Korn zu seinem Mehle mahlen – das Korn, das dann weder wachsen, noch gähren kann«; er weiss, dass unseres Wesens dunkler Grund uns selbst ein Geheimnis bleiben soll. Er fühlt, dass sein Tagebuch ihm nicht nur »Gefährtin, Kind, Publicum sei, sondern auch Flucht vor der Wirklichkeit.« Aber dennoch findet man ihn, Jahr um Jahr, die Feder in der Hand, seine Entdeckungen in den geheimnisvollen Tiefen seines eigenen Wesens schildernd. So wächst stets die Schwermut der geistigen Weitsichtigkeit, die Schwermut der Hamletnatur – des Idealisten, dessen Wesen ein ewiges Zaudern vor jeder Realität ist, während der Idealismus der Don Quixotenatur eine ewige Triebkraft zum Handeln bedeutet.
Die Tragik in Amiels Leben wird noch intensiver durch die Angst, vielleicht selbst sein Schicksal verpfuscht, seine wirkliche Natur erstickt zu haben; mit der Einsicht, dass sein Leben dahingeopfert wurde, aber nicht für eine grosse Idee oder ein geliebtes Wesen. Stunden kommen, in denen bei Amiel die Lebenssehnsucht zur stummen Raserei wird oder zu einem himmelstürmenden Ruf nach Glück. Aber vor der Wirklichkeit bleibt er noch immer stehen, »ebenso unbeweglich, wie Don Juan vor dem Arm des Komthurs«, denn immer intensiver fühlt er das tragisch Schicksalsschwere jeder Handlung infolge der Abhängigkeit von dem Unvorhergesehenen, die das Handeln mit sich bringt. Gegen diese Abhängigkeit bäumt sich Amiels ganze Seele auf, als gegen das einzige ihm absolut Unerträgliche. »Von den zwei Arten, die das Leben wählt, um uns zu zermalmen: unsere Wünsche zu erfüllen oder sie uns abzuschlagen«, zieht er tief überzeugt die letztere vor.
So wagte es Amiel nie, »sich zur Tafel zu setzen, aus Furcht, dass das Gastmahl enden würde«; so wird sein einziger energischer Willensact ein ne pas vouloir accepter le regret – aber er weiss, dass er damit auch ablehnt d'accepter la vie. Und hierdurch unterscheidet er sich am tiefsten von Nietzsche, dem Verherrlicher des Willens zum Leben.
Das Leben verschwendet niemals seine Gaben, und es hat keine für den, der sich von ihm wendet. Es war darum auch nicht das Leben, sondern der Tod, der den einzigen von Amiels Wünschen bewilligte, welcher erfüllt wurde – der Tod, an den er sich wendete, den er ganz anerkannte – dieser Wunsch war, dass sein Tagebuch, von dem er wusste, dass es »Stoff zu vielen Büchern enthielte«, nicht vom Strome der Zeit weggetrieben werde, wie welke Herbstblätter vom Bache.
Diese äusserste Tragik wurde nicht Amiels Los. Sein nach dem Tode herausgegebenes Journal intime hat viele Leser von jener Art gefunden, die mit erschrockenem Entzücken Zeuge der Kämpfe der Seele sind, des ganz und gar innerlichen Dramas eines Menschenlebens. Ein solches Schauspiel, wie es uns etwa auch Pascal giebt, – und doch war der Kampf da kein so absolut innerer wie bei Amiel. Für Pascal galt es, seinen grossen Geist unter einen von aussen gegebenen Glauben zu beugen, während bei Amiel das Ringen ausschliesslich zwischen der Denker- und der Dichternatur stattfand, zwischen Selbstanalyse und Lebenssehnsucht.
Amiels Tagebuch offenbart keine kranke Seele. Es offenbart, dass die Seele selbst eine Krankheit sein kann, an der man verblutet. Aber das Blut ist hier über die Seiten eines Buches geströmt, das dadurch von Leben vibriert. Wir lernen da einen »Uebermenschen« kennen, der in absoluter Einsamkeit viele von den Qualen litt und nicht so wenige von den Gedanken dachte, die dann durch Nietzsche das Bewusstsein Europas durchdrangen, als die tiefste Qual der Gegenwart und die grösste Forderung der Zukunft.
Aber Amiels Tagebuch zeigt uns nicht nur den Vorläufer und den Zeittypus, sondern auch eine Individualität von besonderer seelischer Feinheit, von grösster Milde, eine Seele, die wunderbar erhoben ward, indess für ihn selbst das Dasein verloren ging.
Ich habe zu zeigen versucht, dass Vauvenargues unter seinen Zeitgenossen eine Sonderstellung einnahm durch die Intensität des Bewusstseins, das er in unseren Tagen mit den meisten denkenden Menschen geteilt haben würde: das Bewusstsein, dass es in uns selbst Mächte giebt, die, unerklärlich und unaussprechlich, die schicksalsschwerste Wirklichkeit in unserem Wesen bilden.
Ich glaube, dass sich dieses Bewusstsein in folgender Weise ausdrücken lässt:
Wir wissen nun, dass unser Ich nicht unser Selbst ist. Die beiden verhalten sich zu einander, wie das Land um den Vulcan zum Inneren des Vulcans. Das Ich ist das Aeussere, das wir und andere sehen und dessen Gebiet uns wohlbekannt ist. Hier liegen die bebauten Felder, dort die Steinhalden. Hier ist ein Weingarten und dort eine Mauer; hier geht ein Weg, und dort zeigt ein Lavabett, welche Richtung ein vulcanischer Ausbruch genommen. Und dort wird der Krater sichtbar, von dem eine neue Eruption unseres Selbst zu erwarten sein kann. Denn unser Selbst, das ist das Innere des Vulcans, das Innere, das geheimnisvoll und unberechenbar und schicksalsschwer ist für unser sich im Lichte ausbreitendes Ich.
Gerade jetzt dürfte Niemand typischer für dieses verfeinerte Bewusstsein der Geheimnisse der Seele sein als Maeterlinck. Niemand ist wenigstens mit tieferer Andacht Zeuge des »Erwachens der Seele« gewesen, ein Erwachen, das der Stoff seines ganzen Dichtens genannt werden kann. Aber nicht bloss als Dichter, sondern auch als Denker hat er sich mit diesem Problem beschäftigt, nämlich in der Sammlung Essays, die er Le Trésor des Humbles nennt.
Maeterlinck zeigt durch viele feine Beobachtungen, wie die Seelen beginnen, sich immer mehr und mehr der Macht bewusst zuwerden, die sie übereinander besitzen, und der Unmöglichkeit, abhängig von einander zu leben und zu handeln. Er legt dar, wie stark man nun, selbst unter alltäglichen Verhältnissen, dieses mystische Eingreifen der Seelen ineinander und ihren wechselseitigen Einfluss spürt; wie die Empfindlichkeit gegen sympathische und antipathische Eindrücke gewachsen ist; wie geheimnisvolle psychische Umwandlungen unsere gegenseitigen Verhältnisse bestimmen, und wie jedes Individuum vor jedem einzelnen Menschen ein anderes Wesen wird. Er zeigt, um wieviel rascher und tiefer wir einander nun durchschauen, wieviel stärker wir ahnen und wieviel mächtiger unsere Ahnungen in unser Handeln eingreifen. Er hebt hervor, um wieviel feinhöriger wir geworden sind, wenn unsere Impulse sprechen; wie wir in unseren Handlungen immer mehr von inneren, psychologischen, nicht von äusseren, sozialen Rücksichten angetrieben oder zurückgehalten werden; wie sich darum neue ethische Begriffe bilden, wie wir immer mehr die Handlung vom Wesen trennen und den Verbrecher nicht länger nach dem Verbrechen, sondern nach dem Seelenzustande beurteilen. Alles dieses sind, sagt Maeterlinck mit Ibsens Worten, Zeichen für den Anbruch des dritten Reiches, des Reiches der Seelen, in dem alle Werte umgewandelt und neue Lebensmöglichkeiten gewonnen werden sollen.
Vielleicht sind die tiefsten Seiten seines Buches die, in denen er die Macht des Schweigens schildert. Er berichtigt den Irrtum, dass wir uns durch Worte einander am vollsten mitteilen. »Nur im Schweigen überliefert eine Seele sich einer anderen«; nur das Schweigen offenbart die Tiefen in unserem eigenen Wesen und in dem der Anderen. Darum ist das Schweigen voll Glück, Gefahr und Ueberraschungen; darum soll man das lebensentscheidende Schweigen zwischen zwei Seelen bis zum Aeussersten aufsparen. Denn das eine Schweigen ist dem andern nicht gleich, und die Art des Schweigens, das zwischen zwei Seelen entsteht, ist die entscheidende Probe, ob sie einander finden sollen oder nicht.
Maeterlinck spricht viele tiefe Worte über die Frauen und über die grosse, schicksalsschwere Mystik der Liebe, die Mystik, von der das Weib um soviel inniger durchdrungen wird, als der Mann, und von der sie dann unendlich mehr zu offenbaren hat. Ihr ist da das stärkere Gefühl des Schicksalbestimmten eigen, und sie unterwirft sich darum dem erotischen Geschick mit grösserer Einfachheit als der Mann. Maeterlinck, der wie die meisten modern denkenden Menschen ein tiefer Fatalist ist, weiss, dass über der Liebe, sowie über den anderen grossen Mächten des Lebens, unser glücklicher oder unglücklicher »Stern« herrscht. Er spricht wunderbare Worte von dem Unausweichlichen in jedem einzelnen Schicksal. Er spricht noch wunderbarere Worte von dem Schicksalsschweren im Dasein selbst; davon, wie wir, welches immer unser persönliches Schicksal wurde, doch alle im Schatten der uns umgebenden Tragik des Lebens leben müssen, einem Schatten, der am tiefsten für den Menschen wird, dessen Seele gross genug ist, nicht bloss seinen eigenen, sondern auch den besonderen Schmerz seiner Zeit zu leiden; denn jede Zeit hat ihre neuen Erfahrungen, aus denen ganz neue Formen des Leidens entstehen müssen. Maeterlinck erwartet nämlich nicht, dass die Evolution der Seele den Schmerz aufheben werde. Er sieht im Gegenteil ein, dass die Möglichkeiten des Leidens, wie die des Glückes sich vertausendfältigen müssen; dass kein grosses Gefühl anders als aus grosser Qual geboren werden kann, und dass es vor allem das Leiden ist, das unsere Lebensempfindung steigert und dadurch unsere Seele grösser macht.
Doch nicht bloss von den grossen Gefühlen, den tragischen Schicksalen erwartet Maeterlinck die Entwicklung der Seele. Er glaubt voll und fest an die Möglichkeit, trotz kleiner, alltäglicher Umstände, die Seele grösser machen zu können, indem man in ihr »die unsichtbare Güte«, »das tiefere Leben« und »die innere Schönheit« entwickelt – einige Capitel seines Buches, die man eine Diätetik des Wachstums der Seele nennen könnte.
Als die erste Bedingung dieses Wachstums fordert Maeterlinck, die Seele abzuhärten, ihre Scheu zu besiegen sich zu zeigen und ihr wahres Wesen zu offenbaren; denn diese Scheu ist es vor allem, die jetzt das Leben seelenlos, farblos und dürftig macht.
Um es zu wagen, Maeterlincks Rat zu folgen, bedarf es unleugbar des festen Wunsches, seine Seele grösser zu machen. Das Anstandsgefühl des Culturmenschen schliesst dasselbe Zurückschrecken vor dem nackten Seelischen wie vor dem nackten Körperlichen in sich. Wer unverhüllt seinen Zorn oder seine Begeisterung zeigt, seinen Hass oder seine Liebe, kann sicher sein – im besten Falle – der Kälte oder dem Lachen zu begegnen, aber in den meisten Fällen noch tiefere Qual, noch schwerere Kränkungen zu erleben. Dies ist gewöhnlich die erste bittere Lebenserfahrung der Jugend, und sie scheucht rasch die Seele hinter das Gitter des Conventionellen zurück; und es wird die letzte Lebenserfahrung für die Wenigen, die es nie lernen konnten, hinter diesem Gitter zu verbleiben.
Aber Maeterlinck hat doch Recht. Wir müssen diesen Preis des Schmerzes entrichten, wenn wir nach einer grösseren Seele verlangen. Und er lehrt uns, wie wir selbst unsere schmerzlichsten Erfahrungen zu einem höheren Grade der Stärke umbilden können, das Siechtum unseres Herzens oder unseres Geistes zu neuer Gesundheit, vor allem dadurch, dass wir intensiv jede geringste Möglichkeit festhalten, zwischen uns und den Anderen Vertrauen und Milde zu entwickeln; dadurch, dass wir nie irgend einer Lebenslage oder einem Verhältnis das Recht einräumen, hässlicher und dürftiger zu werden, als es sein müsste. »Was vor allem notwendig ist,« sagt er, »ist, dass wir nicht neben unserer Seele leben, dass wir ihre Regungen nicht fürchten,« dass wir sie Conventionen und Formen durchbrechen lassen und die Güte stets wirksam sein lassen, die Güte, die mehr als jede andere Kraft unsere eigene Seele und die der Anderen erweitert. Aber die Güte muss, sowie alle anderen grossen Gefühle und Gedanken, gepflegt werden. Stimmungen, die gleich Zugvögelscharen über den Horizont der Seele ziehen, machen den Horizont nicht grösser. Wir müssen in dem steten Bewusstsein leben, dass »kein Tag klein ist«; dass, im Gegenteil, jeder Tag ein Gedenktag der Seele ist, die da entweder vorwärts oder rückwärts gegangen ist, je nach der Art der Gedanken oder der Gefühle, die ihre Triebkraft waren.
Maeterlinck wendet sich auch gegen die Furcht, nicht »ganz selbst zu sein«, und den Vorsatz, »zu sein, wie man ist und nichts Anderes, als was man ist«, die die Individualisten der Gegenwart oft geringer machen, als sie sein müssten. »Wenn wir heute einen Gedanken denken, der grösser ist als unsere Seele, dann streckt sich die Seele nach ihrem Gedanken empor«, und die Handlung, die gestern schöner war als unser Ich, wird morgen der wirkliche Ausdruck unseres Wesens, sagt er mit tiefer Wahrheit. Mit derselben Behutsamkeit, mit der wir entscheiden sollen, was wirklich der souveräne Ausdruck unseres eigenen Ich ist, und mit der wir festzustellen haben, wo unsere eigene, unverrückbare Grenze sich befindet, mit derselben Behutsamkeit müssen wir den Urteilsspruch über die Möglichkeiten eines anderen Menschen fällen. Unser Glaube an diese giebt ihm oft die Kraft, sie zu verwirklichen, während unser Misstrauen dazu beiträgt, eine Seele unter ihre eigentliche Höhe zu beugen.
Neben all diesem wirklich Tiefen findet man leider bei Maeterlinck auch eine oberflächlichere Strömung, die magische, anstatt des monistischen Stroms der Mystik. Erstere will das Gefühl zu dem einzigen Mittel der Einsicht in das Dasein machen. Nach einer treffenden Definition halten sich die Bekenner dieser Mystik für fähig, mit ihrem subjektiven Ich die ganze Welt zu durchdringen und durch die unmittelbare Verbindung mit dem Universum unfehlbare Offenbarungen transcendentaler Dinge zu empfangen. Ein solcher Mystiker meint Wissen und Gedanken entbehren zu können, denn er glaubt, dass er Alles erleben kann, was er wissen will, oder zu wissen vermag; er will das Individuelle zum Universellen machen, das subjectiv Erlebte zum objectiv Wirklichen. Siehe R. Steiner: Philosophie der Freiheit.
Aber dass Maeterlinck von dieser Mystik nicht gänzlich frei ist, kann nicht den grossen Eindruck verwischen, dass man hier gleichzeitig eine ungewöhnlich tiefe Auffassung der echten Mystik findet, die nicht von irgend einem System begrenzt ist oder sein kann, denn sie ist gross, wie das Leben selbst, oder richtiger ausgedrückt: sie ist das Leben selbst.
Und diese mystische Auffassung, diese ächte Frömmigkeit vor dem Dasein ist es, die Maeterlincks Buch zu einem Andachtsbuch der Religion der neuen Zeit und des neuen Menschen macht, der Religion, deren heilige Urkunden die Selbstoffenbarungen der Menschennatur sind.
Maupassant sprach aus der Tiefe seiner Natur den Wunsch aus, sein ganzes Leben lang an einem einzigen Buche geschrieben zu haben, das nach seinem Tode verbrannt werden sollte.
Einer oder der andere Schriftsteller – und selbst wenn er genötigt war, viele andere Bücher zu schreiben – ist doch intensiv genug gewesen, wirklich sein ganzes Leben lang an seinem einzigen Buch zu arbeiten. Und es ist stets ein Glück, wenn ein solches Buch nicht das Schicksal gefunden hat, das Maupassant dem seinen zudachte.
Ein derartiges einziges Buch ist The story of my heart von dem englischen Dichter Richard Jefferies. Es ist eine Selbstbiographie, die kein einziges Ereignis erzählt. Es ist ein Buch des blossen Gedankens, aber kein Buch mit vielen Gedanken. Es enthält eigentlich nur einen einzigen. Aber dieser tritt mit dem grossen, starken, sich stets wiederholenden Rhythmus hervor, der den Wogen des Meeres und der Rede der hebräischen Propheten eigen ist.
Jefferies, 1848 geboren, war der Sohn eines englischen Farmers und brachte den ersten Teil seines Lebens auf dem Lande im südlichen England zu. Später in London kämpfte er dort – bis zu seinem 1887 erfolgten Tode – als Publicist und Romanschriftsteller, als letzterer ohne Bedeutung, einen harten Kampf ums Dasein. Seinen Ruf hat sich Jefferies als Naturdichter in ungebundener Form errungen. Diese Seite seiner schriftstellerischen Thätigkeit lasse ich jedoch hier ganz unberührt, um ihn nur als einen der Zeitgenossen hervorzuheben, die am tiefsten von dem Problem des Seelenwachstums erfüllt waren.
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Jefferies beginnt damit, zu schildern, wie er durch siebzehn Jahre hindurch ausschliesslich von der Leidenschaft beherrscht war, seine Seele grösser zu machen. Diese Leidenschaft wurde in einem immer innigeren Zusammenleben mit der Natur geweckt und genährt. Alle ihre Eindrücke – das Gold der Sonne und der Saat, das duftende Erdreich, das funkelnde Blau des Himmels, die grünen Waldestiefen – setzten sich bei ihm in ein einziges, unablässig saugendes Begehren um: ein immer intensiveres Seelenleben, ein immer grösseres Mass von Seele zu gewinnen.
Dieses Sehnen wuchs sich stark an dem weissen Licht des Mittags und den leuchtenden Sternen der Nacht, an des Morgens rosigem Nebel und des Sonnenuntergangs warmer Glut, dem schwankenden Gras und dem feuerroten Mohn, den moosigen Bäumen und den blühenden Hecken – die Allnatur ward schliesslich für ihn nur ein einziger Erreger dieser einen grossen Sehnsucht.
Als er endlich zum Meere hinabkam und dort den salzigen Wind wahrnahm, das Wogenrauschen und der Sonne Glut, da berührte er die Wellen mit der Hand, hob das Antlitz zur Sonne, öffnete die Lippen dem Winde und fühlte seine Sehnsucht ansteigen, stark wie das Meer. Und mit der ganzen Macht des Meeres bat er: Gieb mir denselben und noch grösseren Reichtum körperlichen und geistigen Lebens; gieb ihn mir mit einem Mehr an Fülle als die Fülle des Meeres und der Sonne, der Erde und der Luft; gieb mir grösseres und vollkommeneres Seelenleben, als Kindern der Erde je eigen war.
Das für Jefferies Naturauffassung Eigentümliche ist, dass er das Wachstum und die Erhebung seiner Seele fast ausschliesslich von dem Versinken in die Natur erwartet. Jedoch brauchten die Natureindrücke nicht unmittelbar zu sein. Er schildert, wie er mitten im Gewühl auf der London Bridge oder in der City von seiner Sehnsucht ergriffen wurde, durch ein plötzliches, intensives Bewusstsein der grossen kosmischen Gesetze, die die ganze rings um ihn wimmelnde Menschenmasse bewegten.
Und sein Naturgefühl war nicht bloss in dem Bewusstsein des gesetzgebundenen Zusammenhangs des Weltalls ganz modern, es war es noch mehr durch die klare Empfindung, dass die Natur dem Menschen gegenüber vollkommen gleichgiltig bleibt, dass sie, wie er es ausdrückt, im höchsten Grade »antihuman« ist, und dass der Mensch von der Natur nur das erhält, was er selbst mitbringt.
Nicht nur die Schönheit der Natur, sondern auch die menschliche Schönheit gab dieser Sehnsucht Nahrung, sei es, dass sie ihm in der Wirklichkeit, in den Gemälden der Renaissance oder in den Sculpturen der Antike entgegentrat. Ein Bruchstück einer Marmorstatue konnte ihn nach einem intensiveren, mächtigeren Seelenleben mit demselben Durst schmachten lassen, mit dem »der Meeressand nach den salzigen Wogen lechzt.«
Aber es war nicht bloss ein stärkeres Seelenleben, das er begehrte, sondern auch eine grössere Fähigkeit, voller zu gemessen und zu leben. Er wollte stärkere physische Organe an sich entwickeln, einen widerstandsfähigeren, vollkommeneren Körper, verfeinertere sinnliche Ausdruckmittel – durch die das Dasein plastischer für seine Impulse werden sollte. Denn er war tief von dem Gedanken des Monismus durchdrungen: dass Seele und Körper Eines sind, und dass sie zusammen wachsen oder abnehmen. Selbst schwach von Natur, zerstörte er sich durch seinen gewaltsamen Eifer, sein physisches und psychisches Dasein zu steigern. Sowie seine Seele »nie einen Gedanken gedacht, der seine Seele befriedigt hatte«, so konnte sein Bedürfnis nach Aussenleben nie gestillt werden, wie lange auch die Wanderungen oder Schwimmtouren waren, von denen er, vor Müdigkeit zusammensinkend, heimkehrte. Er sehnte sich, denselben Rausch der eigenen Stärke zu empfinden, wie der assyrische Löwenjäger, unter dessen Füssen das Waldesdickicht prasselt, oder wie der homerische Krieger, wenn sein Arm Feinde mäht wie die Saat. Ja, er wünschte sich sechzig Stunden lange Tage, um in einem Zuge zu leben, und vierzig Stunden lange Nächte, um in einem Zuge zu schlafen.
Jefferies' Schicksal führt unwillkürlich den Gedanken zu Shelley, der das Glück hatte, von England zur Landflüchtigkeit verurteilt zu werden, und dem es dann gegönnt war, in Italien das volle Zusammenleben mit der Natur zu leben, von dem Jefferies nur träumen konnte; Shelley, der sonnengebadet auf einem Dache dichtete, oder vom mittelländischen Meere gewiegt, oder unter dem Bogen eines Wasserfalls! Jung zu sterben, war das einzige Vorrecht, das Jefferies mit Shelley teilte – an den er vielleicht mit den wunderlichen Gefühlen dachte, die der enterbte, jüngere Bruder gegen den älteren hegt, dem der ganze Reichtum zugefallen ist! Durch seine eigene Persönlichkeit das Freiheitsideal im Strahlenglanz zu offenbaren, den Menschen eine Flamme des prometheischen Feuers zu bringen, das »Herz der Herzen« zu sein: eine Allliebe, die sacramental wird; so im Gedächtnis der Menschen zu leben, nicht bloss mit der ewigen Jugend des Genies, sondern mit der der Allnatur – mit der Jugend der Welt und der Flamme, der Wolke und des Windes – dies ward Shelleys Geschick, das schönste, das Kindern der Menschen beschieden sein kann. Aber Jefferies – in dem ein Funke desselben Feuers glühte, das Shelleys Seele, sein Leben, seinen Tod zu einem lyrischen Gedicht gemacht hat – musste unter dem harten Druck der Verhältnisse diesen Funken mit sich selbst erlöschen sehen.
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Jefferies griff energisch die moderne Richtung an, welche hofft, die Seele durch die Rückkehr zur Askese und zur Mystik des Mittelalters grösser zu machen. Je stärker er eine sinnliche Seligkeit fühlte, um so stärker sehnte er sich nach geistiger Vollheit, und im Weine berauschte er sich nur an Unendlichkeitsgedanken. Das Glück des körperlichen Lebens zu steigern, war in seinen Augen die Bedingung, um die Intensität des seelischen zu erhöhen. Die Askese nennt er darum eine Lästerung gegen die Natur, und die Asketen betrachtet er als »unreine Menschen«. »Die Askese veredelt weder Körper noch Seele; und ängstliche Selbstprüfung, die jede geistige Unbefangenheit zerstört, ist die gefährlichste aller Tugenden.« Der Reingesinnte, sagt er, wird hingegen von der nackten Offenbarung der vollkommenen, physisch-psychisch reinen Menschlichkeit von Andacht ergriffen. Aber diese Anschauung hindert nicht, dass Jefferies den modernen Menschen spartanische Selbstzucht in jenen Fällen anbefiehlt, in denen sie die unumgängliche Bedingung dafür ist, dass die Menschen der Zukunft stärker und schöner werden. »Ich wollte mir gerne,« sagt er, »grosse Opfer auferlegen, könnte ich dadurch die Gewissheit haben, dass in 10 000 Jahren ein einziger Mensch eine einzige Stunde lang die höchste Fülle des Lebens gemessen würde!« »Ich glaube an den Menschen,« fährt er fort, »als Körper und Geist, als Sinne und Seele.«
So wie für seinen grossen Landsmann und Vorgänger Blake, war für Jefferies die Allnatur, ihre Formen und ihre Triebe heilig, und der Mensch selbst – aber nicht seine Werke oder Gebote – am heiligsten. Den ganzen Menschen, die Einheit von Seele und Sinnen, alle Kräfte, alle Anlagen, alle Freuden verehrten sie Beide. Und dadurch, dass der Mensch sich jener Mittel bedient, die ihm eben als einem Doppelwesen gegeben sind, wird er, meinte Jefferies, ein Ideal der Vollkommenheit erreichen, das wir jetzt bloss ahnen können. Die Menschheit wird einen neuen Gedanken finden, grösser als die drei grössten Gedanken, die ihr bis jetzt zu eigen waren – die Gedanken von der Seele, von der Unsterblichkeit und von der Gottheit; einen bis jetzt ganz ungedachten Gedanken, eine ganz neue Art der Seele, zu sein, einen Ocean, den der Menschengeist noch nicht durchschifft hat – an ever widening ocean of idea and life ...
Dann werden in der unendlich erweiterten Seele auch neue Ideen von den Bedingungen des Arbeitslebens emporkeimen. Es wird gelingen, bessere Culturpläne zu finden, welche »jedem einzelnen Dasein Sonne und Blumen geben« und dem Streben von Millionen Ziel und Sinn verleihen können.
Die Wege, die die Menschheit jetzt wandelt, haben kein ideelles Ziel, und keinen anderen Sinn, als den Lebensunterhalt. Aber träte nur ein einziger Mann hervor, wie Julius Cäsar, sagt Jefferies, ein Mann der hohen Gesichtspunkte, der tiefen Gedanken und der grossen Pläne, da würde dieser einzige Mann schon jetzt die Handlungen der Menschen so leiten können, dass sie ein grösseres Mass von Glück hervorbrächten. Wir müssen selber anfangen, die Lenkung der Welt zu handhaben; selber die Ursachen des Leidens fortschaffen; es lernen, selber das Leben zu verlängern und zu verschönern, ja, warum nicht, den Tod zu besiegen. Denn wir müssen unseren Ahnungen von den Entwicklungsmöglichkeiten der Menschheit ebensowenig von den Dogmen der Wissenschaft, wie von denen des Aberglaubens halt gebieten lassen. In unserem eigenen Innern giebt es ein Bewusstsein, das grösser ist als alle unsere Vernunft. Die Vernunft ergründet die weisesten Pläne, aber unsere Impulse zwingen uns, diesen Plänen entgegenzuarbeiten. Und unsere Vernunft erweist sich als Thorheit gegenüber der tiefen Weisheit in unserem vernunftlosen Dasein, gegenüber unserer Psyche, die von Empfindungen bestimmt wird, so fein und zugleich so intensiv, dass sie aller Analyse trotzen und allen bewussten Willen besiegen. Jefferies, sowie später Maeterlinck, sieht das Reich der Seele kommen, in dem die Psyche ganz frei gemacht ist, alle Werte der Menschheit umgeschaffen und alle bis jetzt bestehenden Lebensbedingungen tiefen Veränderungen unterworfen werden.
Dann werden Auswege gefunden werden, sagt Jefferies, um die äusseren Verhältnisse so zu ordnen, dass die Arbeit nicht länger eine Bürde ist und auch nicht als die höchste Pflicht des Menschen betrachtet wird. Der Müssiggang wird ebenso geschätzt werden wie die Arbeit, und Alle werden in Ruhe das Leben geniessen können, essen und trinken, tanzen und singen, sich der Schönheit des Daseins freuen und in der Tiefe der Wälder oder am rauschenden Meere träumen.
Uns nie in dem Ideenkreis, in dem wir uns befinden, zur Ruhe zu setzen, sondern im Gegenteil einen grösseren zu suchen – dieses ist nach Jefferies' tiefem Gedanken die Voraussetzung für jene Evolution der Seele, von der er dann die Evolution des gesellschaftlichen Lebens erwartet.
Der Mensch hat, sagt er, zuerst die Gesetze der Natur entdeckt; nun sind es die Gesetze der Seele, die er kennen lernen muss, und erst nachdem diese ihm klar geworden sind, wird er die Gesetze des gesellschaftlichen Lebens entdecken können. Und unser Wissen auf diesen Gebieten wird einmal unsere jetzigen tastenden Ahnungen ebenso übertreffen, wie der heutigen Astronomen Kenntnis der Himmelskörper über der der Hirten auf den Hochebenen des alten Chaldäa steht.
Diese kurze Zusammenfassung der Gedanken Jefferies' über die Evolution der Seele dürfte genügen, um zu zeigen, mit welcher Intensität er an das Kommen des grossen Menschen – des Uebermenschen – geglaubt hat.
Dass dieser Gedanke Jefferies' unbewusst darwinistischen Einfluss aufweist, ist, wie ein Kritiker betont hat, im hohen Grade wahrscheinlich. Ihm selbst war sein Glaube in gewissem Masse eine Opposition gegen die darwinistische Evolutionslehre, weil er der Ansicht war, dass diese die unendlichen Entwicklungsmöglichkeiten der Seele und des Lebens in die Grenze der »gesetzmässigen Notwendigkeit« presst.
Gewiss ist jedoch, dass es nicht irgend eine äussere Zeitrichtung, sondern sein eigenes inneres Wesen war, das Jefferies diese grenzenlose Hoffnung auf die Evolution der Seele einflösste. Aus seinem individuellen Lebensgefühl zog sein Hoffen Nahrung, einem so energischen Lebensgefühl, dass mancher es gewiss abnorm nennen würde. Das war es auch, mit jenem Mass von Lebensgefühl verglichen, das bis auf weiteres das normale ist. Jefferies kann nur von den Wenigen verstanden werden, welche wissen, dass die Intensität der Leidenschaft das entscheidende Mass ist, nicht für die Grösse der Intelligenz, aber für die der Seele. Wenn Jefferies davon spricht, dass er sich nach der schönen Lebensempfindung sehnte, sein Blut nach einem scharfen Schwertstreich entströmen zu fühlen, so erinnere ich mich an die Aeusserung eines französischen Denkers, der das Lebensgefühl als das Adelszeichen der Seelen betrachtet. Er sagt unter anderem, dass nicht nur im Willen zum Glück, sondern vor allem im Willen zum Leiden die grosse Seele sich offenbare, einem Willen, der sich unter anderem als die Möglichkeit äussere, von neuem anzufangen, das Leben aufs neue zu leben: wenn, sagt er, man solch eine grosse Seele von den Toten auferweckte, würde sie unverzüglich die Qual aufsuchen, die ihr Untergang war, bereit, diese Qual wieder zu leiden, denn das stärkste Lebensgefühl ist von dem grössten Schmerze unzertrennlich.
Jefferies hat diesen typischen Zug des Uebermenschen in höchster Potenz. Er ging an einem unersättlichen Lebensbedürfnis ohne die entsprechenden Lebensmöglichkeiten und die entsprechende Lebenskraft unter, und diese sublime Selbstverbrennung offenbart eine Natur, die ohne Zweifel ebenso bedeutend war, wie sein einziger grosser Gedanke bedeutungsvoll.
Durch die gewaltige Einseitigkeit dieses einzigen Gedankens seines Lebens ist Jefferies original und genial. Durch das sympathischeste Aufnehmen der Allnatur in sein eigenes Wesen suchte er jenes Grösserwerden der Seele, jenes vollere geistige Leben zu erreichen, das sein einziges unauslöschliches Begehren ist. Die Kunst hat für ihn nur denselben Wert wie schöne Natureindrücke, und von Litteratur und Wissenschaft scheint er keine grössere Triebkraft für die Seele erwartet zu haben. Ebensowenig schien er eine solche in innigen Verhältnissen zu anderen Menschen zu finden, oder überhaupt in dem Zusammenleben mit Menschen, während es umgekehrt gerade diese Art sympathische Vertiefung ist, durch die Maeterlinck in erster Linie hofft, dass neue psychische Werte entstehen, neue, feinere Formen für das Zusammenleben der Seelen geschaffen und Gefühle, die noch so unbestimmt sind, dass kein Name für sie da ist, einstmals zu grossen Lebensmächten werden.
Aber für Jefferies wie für Maeterlinck ist das Problem selbst ganz das gleiche: das Machtgebiet der Seele zu erweitern. Bei dem einen wie bei dem anderen findet sich dieselbe nervös-intensive Sensibilität, bei Jefferies für die Vorgänge in der äusseren Natur, bei Maeterlinck für die in der Menschenseele. Beide haben einen fast kindlichen Wunderglauben in Beziehung auf die zukünftige Macht der Psyche über die Natur und andere Seelen. Beide haben, dank ihrer genialen Einseitigkeit, tief in das grosse Problem geblickt, aber keiner hat eine allgemein giltige Lösung desselben gegeben. Jefferies' Einseitigkeit hatte schon zu fieberhafter Ueberspanntheit geführt und würde, wenn er länger gelebt hätte, gewiss in Leere geendigt haben; der früher angeführte deutsche Denker hebt hervor, dass der Vollblutmensch sein Verständnis des Daseins im Zusammenhang mit dem Gefühl des Daseins entwickelt. Aber es scheint mir, dass weder Maeterlinck noch Jefferies den Blick für das Wachstum der ganzen Persönlichkeit besitzen, das Wachstum, dessen Gesetze die Renaissance, Goethe und die grossen Menschen seiner Zeit offenbart haben, und für das auch in unseren Tagen gewisse auserlesene Persönlichkeiten den typischen Ausdruck bilden. Versuche, dich selbst und die Dinge zu verstehen – in diesen Worten Goethes liegt das Correctiv gegen die einseitige Seelenentwicklung, für die sowohl Amiel wie Maeterlinck und Jefferies typisch sind. Ein Mensch, der eine allseitige Entwicklung als seine höchste Pflicht und sein höchstes Glück ansieht, gebraucht alle Mittel dazu; die der Cultur sowohl wie die der Natur, Lebensverhältnisse zu Menschen, wie Lebensverhältnisse zu Kunst, Litteratur und Wissenschaft. Ohne dass er seinen Willen besonders auf das Wachstum der Seele richtet, wird die Seele eines solchen allseitig wachsenden Menschen mit Naturnotwendigkeit grösser, in dem Masse, in dem die ganze Persönlichkeit zu harmonischer Fülle hinanwächst.
Ein junger österreichischer Lyriker, Hugo von Hofmannsthal – selbst Einer von Jenen, die das neue Reich der Seele verkünden – hat diese Cultur der Persönlichkeit vortrefflich charakterisiert als ein lebendiges Bewusstsein des Wertes und der Bedeutung der kleinsten Dinge; als eine ebenso heilige Ehrfurcht vor dem Alltäglichen, wie vor dem Göttlichen ... »Solche Menschen,« sagt er, »geniessen ihre Beziehungen wie Landschaften, ihre Vergangenheiten wie Gärten, ihre Geschicke wie ein Schauspiel ... Sie besitzen ein Gefühl des Anstands, das ihnen gebietet, der Schwere der Welt entgegenzulächeln; sie haben eine neue Anschauung der Kunst, die für sie bloss im Zusammenhang mit dem Leben Bedeutung hat, und des Lebens selbst als des Materials der Kunst: sie lieben gleichzeitig das Leben und schauen ihm zu ... Sie haben – im Gegensatz zu der alten Romantik – die vollste Gewissheit, dass gerade das Leben im Besitz der Poesie ist, dass es reich, dunkel und mannigfaltig ist; dass es im Seienden genug Stoff für die Kunst giebt; dass nicht die Ausnahmeverhältnisse, sondern gerade das natürliche Leben das höchste Leben ist. Diese Menschen betrachten das Dasein wie eine Gartenkunst, und sie treiben diese Kunst mit der anmutigen Vornehmheit eines Kindes. Denn der vollentwickelte Mensch erhält eine neue Kindlichkeit, im Fühlen wie im Handeln ... Nur die ächte Künstlernatur und das Kind sehen das Leben, wie es ist: sie fühlen voll seine Werte und fassen es als Ganzes. Sie geben den Dingen ihre rechten Namen und den Worten ihren wirklichen Inhalt. Das Kind und die Künstlerseele besitzen dem Dasein gegenüber dieselbe complicierte Naivetät; dieselbe nachdenkliche, vornehme Art, dem Fremden entgegenzukommen; dasselbe mit Anmut hochmütige, mit Anmut harte Wesen; dieselbe Zutraulichkeit, dieselbe königliche Art, sich hinzugeben und doch zu bewahren; dieselbe wundervolle Unbestechlichkeit ...«
Diese Zusammenfassung der Gedanken des jungen österreichischen Dichters über den Adelsmenschen zeigt, dass sich dieselben in der gleichen Richtung bewegen, wie Maeterlincks und Jefferies', aber dass er, ebenso wie die grössten Anwälte der Menschencultur – Goethe und Nietzsche – eine umfassendere und im grossen Ganzen tiefere Auffassung vom Wachstum der Seele hat. Dass es eine solche giebt, vermindert jedoch nicht die Bedeutung einer durch Einseitigkeit intensiveren Anschauung des grossen Problems. Als Repräsentanten dieser Einseitigkeit ist sowohl die Lebensauffassung des Engländers wie die des Belgiers vom grössten Interesse. Es sind zwei von einander sehr verschiedene Becher, aber beide bis zum Rande mit der tiefsten Sehnsucht der Gegenwart gefüllt: das seelische Leben immer mehr zu begreifen und zu vergrössern, zu befreien und zu verfeinern.