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Es giebt Worte, die wie Gesang locken. Und eines dieser Worte ist: das Weib der Zukunft.
Der Gesang ertönt für mich in den Rhythmen eines Dichters, eines Dichters und Lehrers zugleich, dessen Name jetzt mit dem Glänze des Morgensternes strahlt, aber der im Leben selbst ihn von Schmähungen befleckt hörte – als den des Atheisten und Gesellschaftzerstörers – weil der lichte Weg seines Gedankens den Vorurteilen der Mitwelt als verderblicher Blitzstrahl erschien. Seine Dichterintuition offenbarte ihm eine neue Zeit, in der die Frauen sind
... frank, beautiful and kind
as the free heaven, which rains fresh light and dew
on the wide earths ...
From customs evit taint exempt and pure;
Speaking the wisdom once they could not think,
Looking emotions, once they feared to feel,
And changed to all, which once they dared not be
Yet being now, made earth like eaven ...
Diese, Shelleys schöne Profilcontur des Weibes der Zukunft schwebte vor mir, als ich hier mit etwas bestimmteren Zügen versuchte, ihr Bild zu zeichnen.
*
Die Sturm- und Drangperiode der Frauen und die damit zusammenhängende soziale und psychologische Neubildung dürfte sich wohl weit in das neue Jahrhundert erstrecken. Diese von Conflicten erfüllte Periode hört erst dann auf, wenn die Frau innerhalb wie ausserhalb der Ehe volle gesetzliche Gleichstellung mit dem Manne erlangt hat, wenn eine solche Umbildung der Gesellschaft eingetreten ist, dass die jetzige Concurrenz zwischen den Geschlechtern in einer für beide glücklichen Weise beendigt erscheint, und wenn sowohl die Erwerbsthätigkeit, wie die häusliche Arbeit solche Formen erhalten haben, dass sie die Frau weniger hart bedrücken als jetzt.
Erst gegen den Schluss des zwanzigsten Jahrhunderts dürfte so der Frauentypus des neunzehnten Jahrhunderts seine Culmination erreicht haben und ein neuer Frauentypus hervorzutreten beginnen.
Mein ideales Bild des Zukunftsweibes – und wenn man Idealbilder malt, braucht man sich ja nichts zu versagen – ist, dass sie ein Wesen tiefer Gegensätze sein werde, welche Harmonie erreicht haben; dass sie sich als eine grosse Mannigfaltigkeit und eine festgeschlossene Einheit darstellen werde; eine reiche Fülle und eine vollkommene Einfachheit; ein durchgebildetes Culturgeschöpf und eine ursprüngliche Natur; eine stark ausgeprägte menschliche Individualität und eine volle Offenbarung des tiefst Weiblichen. Diese Frau wird den Ernst einer wissenschaftlichen Arbeit, eines strengen Wahrheitsuchens, des freien Denkens, des künstlerischen Schaffens verstehen. Sie wird die Notwendigkeit der Gesetze der Natur und des Verlaufs der Entwicklung begreifen; sie wird Solidaritätsgefühl und Gesellschaftsinteressen besitzen. Weil sie mehr weiss und klarer denkt, als die Frau der Gegenwart, ist sie auch gerechter; weil sie stärker ist, ist sie besser; weil weiser, auch milder. Sie kann im grossen sehen und sie kann im Zusammenhang sehen; dabei verliert sie gewisse Vorurteile, die noch Tugenden genannt werden. Sie verbleibt stets diejenige, die die Sitte modelt. Aber sie sucht dabei nicht ihre Stütze in der sozialen Convention, sondern in den Gesetzen ihres eigenen Wesens. Sie hat den, Mut, eigene Gedanken zu denken und die neuen Gedanken ihrer Zeit zu prüfen. Sie wagt, Gefühle zu empfinden und zu bekennen, die sie jetzt unterdrückt und verhehlt. Ihre volle Bewegungsfreiheit und allseitige persönliche Entwicklung ermöglichen kühne Lebensversuche, ein energisches Streben nach einem Dasein, das mit ihrem eigenen Ich auf gleicher Stufe steht; und ein solches Dasein wird sie auch mit sichererem Instinkt als jetzt zu finden wissen. Sie versteht es, intensiver zu arbeiten, intensiver zu ruhen und sich intensiver aller naheliegenden, einfachen Freudequellen zu freuen, als die Frau der Gegenwart es vermag. So wird das Lebensgefühl des neuen Weibes steigen, ihre Erfahrung sich vertiefen, ihr Seelenleben, ihre Schönheitsforderungen, ihre Sinne sich entwickeln und verfeinern. Sie ist sehr sensitiv, sehr rasch vibrierend, und sie wird darum viel mehr geniessen und auch viel mehr leiden können, als die Menschen der Gegenwart, es vermögen.
Durch alles dieses wird die Frau des zwanzigsten Jahrhunderts dem Gesellschaftsleben und der Kunst, der Wissenschaft und der Litteratur neue Werte geben. Aber ihre grösste culturelle Bedeutung bleibt doch die, durch das Rätselvolle und Naturgebundene, das Ahnungsreiche und Impulsive in ihrem eigenen Wesen die Menschheit vor den Gefahren der Uebercultur zu schützen. Gegenüber dem Wissen wird sie das Unwissbare, gegenüber der Logik das Gefühl, gegenüber der Realität die Möglichkeiten und gegenüber der Analyse die Intuition behaupten. Die Frau wird vor allem das Wachstum der Seele fördern, der Mann das der Intelligenz; sie soll das Gebiet der Ahnung erweitern, er das der Vernunft; sie die Liebe verwirklichen, er die Gerechtigkeit; sie siegt durch den Uebermut, er durch den Mut.
Die Frau des zwanzigsten Jahrhunderts wird nicht nur viel gelernt, sie wird auch viel vergessen haben – besonders von den sowohl femininen, wie antifemininen Thorheiten der Gegenwart.
Sie wird mit ihrem ganzen Wesen das Glück der Liebe wollen. Sie ist keusch, nicht aus Kälte, sondern aus Leidenschaft. Sie ist vornehm, nicht weil sie bleichsüchtig, sondern weil sie vollblütig ist. Sie ist sinnlich, weil sie seelenvoll, und wahr, weil sie stolz ist. Sie fordert eine grosse Liebe, weil sie selbst mit noch grösserer zu lieben vermag. Das erotische Problem wird durch ihren verfeinerten Idealismus sehr zusammengesetzt und oft schwer lösbar sein. Dafür ist das Glück, das sie schenken und empfinden wird, reicher, tiefer und dauernder als irgend etwas, das bis nun Glück genannt ward. Viele Züge, die der heutigen Gattin und Mutter eigen sind, werden wahrscheinlich der Frau des zwanzigsten Jahrhunderts fehlen. Diese wird stets Geliebte bleiben, und nur so wird sie Mutter werden. Der schweren und schönen Kunst, Geliebte und Mutter zugleich zu sein, wird sie ihre vornehmsten und stärksten Kräfte widmen: ihr religiöser Cult wird sein, des Lebens Seligkeit zu schaffen. Weil sie die psychischen und die physischen Voraussetzungen der Gesundheit und der Schönheit kennt und würdigt, wird sie mit klarerem Blick und tieferem Verantwortlichkeitsgefühl als jetzt den Vater ihrer Kinder wählen; sie wird gesunde und schöne Menschen gebären und erziehen, und sie selber wird grösseren Reiz und längere Jugend besitzen als die Frauen der Gegenwart. Sie wird ihr ganzes Leben gefallen, weil sie immer das Dasein verschönern wird. Aber sie wird nur dadurch gefallen, dass sie in jedem Alter ganz sie selbst ist; und ihre unvergängliche Jugend, ihre höchste Schönheit offenbart sie einzig und allein dem, den sie liebt. Sie weiss, dass der seelische Zauber der tiefste ist; und aus ihres Wesens Fülle schöpft sie die ewige Erneuerung dieses Zaubers, stets unerwartete und ins unendliche nüancierte Aeusserungen ihrer individuellen Grazie. Durch ihre blosse Gegenwart hebt sie den Zwang der Form und der Gewohnheit auf und schafft wechselnde, durch ihre eigene Vornehmheit geadelte Formen des Zusammenlebens in der Familie, in der Oeffentlichkeit und in der Gesellschaft. Sie wird wahrscheinlich weniger sprechen als die Frau der Gegenwart, aber ihr Schweigen und ihr Lächeln werden beredter sein. Sie teilt sich immer unmittelbar und immer massvoll mit, differenziert und unveränderlich, spontan und auserlesen. Ihr Wesen strömt sprudelnd frei und frisch hervor, wie der Schwall des Giessbaches, aber gleich diesem von einem festen, inneren Rhythmus gebunden. Wie weit sie sich auch gehen lässt – im Taumel der Freude, in der Leidenschaft der Zärtlichkeit, im Rausch des Glückes oder in der Raserei des Schmerzes – sie verliert doch niemals sich selbst. Sie ist eine Vielheit von Frauen und doch immer eine, mag sie spielen und lächeln, oder leiden und auch lächeln; mag sie in Gesundheit strahlen oder aus tötlichen Wunden verbluten; mag Ruhe oder Nervenspannung, Jubel oder Thränen, Sonne oder Nacht, Kühlung oder Glut sie erfüllen und von ihr ausstrahlen.
Das Weib der Zukunft ist schon da, in den Träumen des Mannes vom Weibe, und das Weib formt sich nach den Träumen des Mannes. Das moderne Frauenideal des Mannes ist nicht die mannähnliche Frau, sondern die allseitig entwickelte Offenbarung des Ewig-Weiblichen. Dieser neue Typus der Frau hat schon hie und da hervorgeschimmert, nicht nur in unserer Zeit, sondern in vergangenen Jahrhunderten. Im Mittelalter schrieb sie Héloisens Briefe; in der Renaissance malte Leonardo sie als Mona Lisa; und im 18. Jahrhundert hielt sie als Mlle. Lespinasse Salon. In unserem Jahrhundert hat sie als Elisabeth Browning Liebeslieder gedichtet; sie trat als Eleonora Duse auf die Bühne – und wie in einem Edelstein ist ihr Wesen durch das Dichterwort charakterisiert, mit dem Rahels Persönlichkeit zusammengefasst ward: Still und bewegt.