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Sie haben etwas, worauf sie stolz sind.
Wie nennen sie es doch, was sie stolz macht?
Bildung nennen sie's, es zeichnet sie aus
vor den Ziegenhirten.
Also sprach Zarathustra.
»Culturveredelung – was bedeutet das?« Vor allem einen Vorsatz, der darauf hinzielt, meine Leser zu wählen.
Die gleich über die Tautologie lachen, mögen sich mit der Ueberschrift begnügen. Die jedoch, die für das Wort jenes Lächeln haben, mit dem wir Gedankenfreunden begegnen, werden möglicherweise das Folgende entbehrlich, aber nicht unbegreiflich finden.
Ich wende mich jedoch nicht an jene, mit welchen man nicht zu sprechen braucht, noch weniger an solche, mit denen man nicht sprechen kann. Sondern an die, welche über die Zukunft der Cultur noch nicht nachgedacht haben, aber es lernen können, nachzudenken.
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In verschiedener Weise wirken die Menschen als geistige Culturmächte; in der des Zerstörers, der eine Cultur zermalmt, oder in der des Schöpfers, der eine neue bildet. Von diesen untereinander getrennten Typen – die nur bei den grössten Genies der Menschheit zur Einheit verschmelzen – wissen wir weder wann, noch woher wir sie erwarten können. Keine Cultur, wie hoch sie auch sein mag, reicht an die Höhe, von der sie kommen, diese Ungerufenen und Unausweichlichen, diese Donnerkeile und Sonnen. Mehr als ein Jahrhundert sah sie nicht; mit dem, welches sie sieht, schliesst eine Zeitrechnung und beginnt eine neue.
Besser kennen wir die Bedingungen für das Auftreten jener anderen Culturmacht, die der ersten an Bedeutung zunächst steht, der Macht, die innerhalb der Formen einer schon gegebenen Cultur neue Werte schafft. Aber auch das Hervortreten dieser Machtausübung gehört, wenigstens jetzt noch, zu dem Unberechenbaren, dem von unserem Willen Unabhängigen.
Die dritte Culturmacht ist die des Culturbildners, des Culturzüchters. Und diese kann hervorgerufen, kann erzogen werden, um dann ihrerseits zu erziehen. Die Ausbildung eines Culturzüchters ist jedoch nicht vollkommen, wenn sie in ihm bloss Arbeitsfreude geweckt hat: sie muss sich zur Festesfreude steigern. Nur so wird die Hand leicht genug für Culturverfeinerung. Denn seine Aufgabe ist es nicht, den Boden zu pflügen oder den Samen zu säen; sondern Rosen zu züchten ist seine Sendung. Das Ueberflüssige liebt er hervor. Und nun wer fühlt, dass das Ueberflüssige das vor allem Unentbehrliche ist, weiss etwas von der Wissenschaft des Culturbildners, die fröhlichen Bedürfnisse zu wecken.
Kein Begriff dürfte sich jedoch schwerer feststellen lassen als der der Notwendigkeit und der des Ueberflusses; vor allem im Rahmen einer Cultur, in der Lebensbedürfnisse und Lebenswerte mit verschiedenen Zeiten, Völkern, Individuen und Lebensaltern steigen und fallen. Keine Grenzlinie wird daher beweglicher sein als jene, die das Mass strenger Notwendigkeit, welches in dem Begriff Culturmensch liegt, von dem Masse schönen Ueberflusses trennt, das der Begriff »durch und durch kultivierter Mensch« in sich fasst.
Es sollen hier auch keine Grenzlinien gezogen werden; und um so weniger, als nicht die Rede von der intellectuellen, ethischen und sozialen Erziehung ist, die einen Culturmenschen hervorbringt, sondern von jener Bildung, die aus einem Culturmenschen ein durchgebildetes Wesen macht. Ich erwähne nur als meine sehr persönliche Meinung, dass das Letzere ein Mensch ist, der sich nicht nur einen reichen Bildungsstoff angeeignet, sondern diesen Stoff mit seiner Eigenart durchdrungen hat; ein Mensch, der alle Sinne gebrauchen und mit allen Sinnen geniessen kann; der mit seinem eigenen Denken prüft, wählt und verwirft, mit seinem eigenen Gefühl umfasst und ausschliesst. Ein Mensch, welcher nicht bloss durch unablässige Bildung seine Fertigkeiten vermehrt, seinen Ideenkreis vertieft, seine Sensibilität verfeinert; sondern der dabei auch immer mehr seine Art zu sehen, zu hören, zu schweigen, zu sprechen, zu lesen und zu schreiben individualisiert. Ein Mensch, der sich selbst als die hohe Einheit in der culturellen Mannigfaltigkeit auffasst, – einer Mannigfaltigkeit, die er als Material für sein eigenes »aus-einem-Gusse-sein« braucht, ein künstlerisches aus-einem-Gusse-sein. Das schliesst in sich, dass die Lebensäusserungen der Persönlichkeit das Gepräge der ganzen Bildungsarbeit tragen, und dass jedes Moment der Bildungsarbeit die Feinheit und Vornehmheit der Lebensäusserungen steigert. Der durch und durch cultivierte Mensch schliesslich ist der, dessen Glücksgefühl wächst, je reicher seine und der Anderen culturelle Lebensmöglichkeiten sind. Er gehört derselben Vollblutrace an, wie die antik geschmückten, schönen Männer und Frauen, die auf Puvis de Chavannes' idealen Bildern unter hohen Lorbeerbäumen und über blühende Fluren mit würdiger Grazie ihre Lyren und Pergamentrollen tragen, eine erhabene und sonnentrunkene Entzücktheit über ihre eigene Harmonie ausstrahlend.
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Ein russischer Schriftsteller behauptete – nachdem er die zerfetzten, uneingebundenen Bücher in den meisten russischen Häusern geschildert hatte – dass die Anzahl der gebundenen Bücher in einem Lande den besten Beweis für das Culturniveau des Volkes liefere. Ein schwedischer Dichter wieder, der vor einer Waschschüssel von minimalen Dimensionen stand – über die ein unbewusster Ironiker den Spruch befestigt hatte: Herr, säubere mich, auf dass ich rein werde – schwur auf die Grösse der Waschschüssel als den unfehlbaren Culturmesser! Der eine wie der andere Einfall erhält eine gewisse Beweisstärke, wenn man von östlicher in westlicher Richtung die Entwicklung der psychischen und physischen Bedürfnisse der europäischen Völker betrachtet.
Weil Bedürfnisse der Ausgangspunkt und ihre volle und schöne Befriedigung der Zweck der Cultur ist, war die Askese – trotz ihrer grossen erzieherischen Bedeutung in gewissen Culturabschnitten – im tiefsten Innern culturfeindlich. Sie ist es noch in ihren banalen Anpassungsformen an die Verhältnisse der Gegenwart, ist es nicht zum wenigsten deshalb, weil Enthaltsamkeit die Persönlichkeit schwächt und verringert, während massvolle Freiheit sie stärkt und verfeinert. Ueberall, wo asketische Begriffe herrschen, wird es darum bedeutungslos, von Culturverfeinerung zu sprechen; denn diese ist der antipodische Gegensatz zur Askese. Das Streben der Culturverfeinerung ist, unablässig neue physische und psychische Culturbedürfnisse zu wecken und die Art, die schon geweckten zu befriedigen, immer mehr zu verfeinern.
Was wir gemeinhin unter Cultur verstehen – den ganzen materiellen Apparat, die gesellschaftlichen Einrichtungen, die Summe des Wissens, der Schöpfungen auf allen Gebieten – alles dieses umfasst noch gar nicht das eigentliche Feld der Culturveredelung. Ja, eine Cultur kann in des Wortes gewöhnlicher Bedeutung hoch erscheinen und sich doch dem feineren Masse des Culturbildners als complizierte Roheit darstellen.
Die Roheit – die Empfindungslosigkeit sein kann, aber auch ein noch latentes Gefühl für das Echte und Schöne – wird nämlich nicht schon dadurch überwunden, dass eine Minderzahl geistige Culturwerte hervorbringt, sondern erst dadurch, dass eine Mehrzahl mit feiner Auslese diese Werte geniesst; nicht dadurch, dass ein Land die Aeusserungen der Schaffenskraft der Minderzahl fördert, sondern dadurch, dass diese Aeusserungen in einen so innigen Zusammenhang mit den Culturbedürfnissen des ganzen Volkes treten, dass sie das Lebensgefühl aller erhöhen und vermannigfaltigen.
Die rastlose Culturarbeit der Gegenwart geht unter einem relativ geringen Grad von Culturverfeinerung vor sich. Quantitativ sind die Resultate der Cultur grösser denn je, und ein Feld nach dem anderen wird nach immer vollkommeneren Methoden neu bestellt. Aber in der Cultur, wie in der Agricultur, ist die Ernte weniger durch die Grösse der Gebiete bestimmt, die »unter Cultur« sind, als durch die Intensität dieser Cultur. Mangel an Intensität trägt die Schuld daran, dass die Culturernten unserer Zeit oft nicht den zehnten Teil Korn geben: die fehlende Sonne ist der Grund, warum sie so selten die goldene Schwere der Vollreife erreichen. Und für das Ueberflüssige, das eigentlichste Gebiet des Culturbildners, fehlt der Zeit Auge und Sinn.
Grosse Ziele, das ist die sonnige Triebkraft der Cultur. Und wenn auch jede frühere reiche Cultur auf Grund materiellen Wohlstandes erwachsen ist, so war doch nicht der Reichtum selbst, sondern die höheren Lebenswerte der letzte Zweck der Cultur. Aber unsere Zeit – des Industrialismus – hat den Sieg im ökonomischen Wettbewerb als höchsten Lebenswert hingestellt – das nacktest Geistesarme, das Menschen seit dem vorhistorischen Kampfe ums Dasein erstrebt haben! Die Armut der Zeit an Culturidealismus, schon auf den höheren Gebieten merkbar, wo die neuen, geistigen Werte geschaffen werden, ist in die Augen springend in den niederen Sphären, wo man sich die Culturwerke bloss aneignet. Und derselbe schlimme Einfluss, sowohl auf die productiven, wie auf die receptiven Gesellschaftsschichten, wird durch den oben angedeuteten Mangel an Intensität der Cultur ausgeübt.
Diese geringe Intensität hat viele Ursachen; von denen die entscheidendste die ist, dass man, während die Menge des ererbten Kenntnisstoffes stets vermehrt wird, die alten Bildungsideale und Methoden beibehält. Die Folge davon ist, dass die Bildung immer weniger auf das Sein, und immer mehr auf das Wissen hinzielt. Aber Bildung ist nicht, was wir wissen: »Bildung ist, was wir übrig haben, wenn wir alles vergassen, was wir lernten« – was wir übrig haben an Gedanken, Ideenverbindungen, Gefühlen und Phantasiebildern, die unseren Lebensinhalt steigern und verfeinern.
In einer modernen Eisenbahnrestauration, wo überall um die überfüllten Tische ein unschöner Streit gekämpft wird, um in möglichst geringer Zeit möglichst grosse Ausbeute zu erringen, wird ein nicht heisshungeriger Mensch von der Sehnsucht nach den Esskorb-Mittagmählern der Postkutschenreisen ergriffen, die fröhlich an einem friedlichen Waldesabhang genossen wurden. Was man sieht und an was man sich erinnert, gestaltet sich zu ungesuchten Symbolen für der Gegenwart hastiges, unterschiedloses Verschlingen eines grossen geistigen Nahrungsstoffes und älterer Zeiten langsame, stille Verwertung eines kleinen.
Die Unempfindlichkeit für die Auswahl und für die tiefe, persönliche Aneignung, als die Grundbedingungen echter Bildung, das ist die grosse Roheit der Gegenwart. Sie verursacht eine Vergewaltigung der Natur, die man im Lichte der Zukunftspsychologie so beurteilen wird, wie wir im Lichte der gegenwärtigen Physiologie die kunstmässige Züchtung von Zwergen im Mittelalter beurteilen.
Diese erwähnte Roheit wird durch die heutige Tendenz vermehrt, alles in Geld zu bewerten, Geld für fähig zu halten, alle Werte zu kaufen. In Proportion zu den Summen, welche für Untereicht und Wissenschaft, Kunst und Litteratur verausgabt werden, betrachtet sich eine Nation als »Culturvolk«. Aber die Frage, ob diese Summen wirklich die Cultur erhöhen, diese Frage wird zum mindesten zu den überflüssigen gezählt, wenn sie nicht geradezu als unbegreiflich angesehen wird.
Als Beweis der culturellen Ueberlegenheit der Gegenwart anderen Zeiten gegenüber zählt man oft alle die materiellen Mittel auf, durch die sich nicht nur die Lebensweise angenehmer gestaltet hat, sondern auch die geistigen Werte leichter zugänglich und rascher umgesetzt worden sind. Besonders werden mit Recht die billigen Reisen und die billigen Druckschriften hervorgehoben, durch die die Schöpfungen der Wissenschaften, der Kunst und der Litteratur mehr oder weniger Gemeingut werden können. Niemand leugnet ja die Ueberlegenheit der Gegenwart, insoweit es sich darum handelt, Cultur über grosse Flächen zu verbreiten. Aber was man leugnet, das ist, dass diese Cultur Feinheit oder Tiefe besitzt; was man behauptet, das ist, dass die Mannigfaltigkeit unserer Bildungsmöglichkeiten den Gehalt unserer Bildung vermindert hat.
Um dieses gleich durch ein nächstliegendes Beispiel zu beweisen, so nimmt die Lesefähigkeit im gleichen Verhältnis mit der Zunahme der Lesekundigkeit ab. Alle Lesenden gehorchen in unseren Tagen Bacons Rat: einige Bücher zu kosten und andere zu verschlingen; aber wenige befolgen seine Mahnung, gewisse Bücher langsam zu verzehren und diese gut zu verdauen. Einen guten Leser, einen solchen, der jahrelang mit einem Schriftsteller, von einem Buche lebt, findet man heutzutage selten, selbst in entlegenen Landstädtchen. Ein grosser Prozentsatz der Gebildeten hat »nie Zeit zu lesen«, und die sich Zeit schaffen, haben schon in der Schule die Macht verloren, mit ihrer Phantasie die Bilder hervorzurufen, die der Dichter gemalt, mit ihren Gedanken die Ideen zu durchdringen, die der Denker mitteilt. Ein halbwaches Viellesen schon von der Kinderzeit an hat die Qualität unserer Eindrücke geschwächt, während es gleichzeitig die Quantität vermehrt hat. Gewiss muss es in der Bildungsgeschichte eines jeden Menschen, sowie in seiner Lebensgeschichte, eine Zeit geben, in der er sich rückhaltlos in das Meer der Bücher, wie in das des Menschenlebens, wirft und allen Gefahren sich unterzieht, um alle Freuden zu gewinnen. Aber so wie eine Persönlichkeit nach und nach ihre natürliche Auswahl unter den Menschen trifft, einem oder einigen ihre grosse Liebe schenkt, einige weitere zu Freunden macht, Umgang mit anderen pflegt und aus diesem Umgang die Mehrzahl ausschliesst, so muss eine Persönlichkeit auch nach und nach ihre Wahl unter den Büchern treffen. Man sollte immer eine kleine Gruppe von Schriftstellern haben – und sie behutsam wachsen lassen – die man nie »gelesen hat«, sondern immer liest. Denn in allen Verhältnissen und nicht zum wenigsten in dem Verhältnis zu Büchern ist es die Innigkeit, die die grossen Lebenswerte schenkt.
Die fahrlässige Cultur, die schlechtes Lesen mit sich führt, ist in unserer hastigen Zeit ein internationaler Zug. Aber die Art, in der man sich die Cultur durch Bücherkauf aneignet, dürfte in germanischen Landen einzig dastehen oder höchstens noch mit derjenigen auf der Balkanhalbinsel zu vergleichen sein. Bei uns wird es nämlich als empörend unmoralisch angesehen, ein Buch zu kaufen, das man sich ausleihen kann. Mit der hohen Ruhe, die ethische Ueberlegenheit giebt, wartet die Mehrzahl sogar, die »Broschüre des Tages« zu lesen, bis die unsittliche Minderzahl das Dreissigpfennigheft ausleiht!
Unter dieser sittlichen Mehrzahl findet man nicht selten Personen, die Diners geben, wo die Wirtin stolz auf das kostbare Service ist, welches eigens für ihren Tisch bestellt wurde; während ihr Stolz nicht darunter leidet, in abgegriffenen Leihbibliotheksbüchern die hervorragendsten litterarischen Werke ihres Volkes oder anderer Länder kennen zu lernen; wo sie eifrigst bestrebt ist, im Speisesaal ihren Gästen »primeurs« zu bieten, aber wo diese Gäste auf den Salontischen vergebens die neuen Früchte der einheimischen Buchernte suchen werden. Ja, man trifft in der erwähnten Mehrzahl Leute, die lieber von einer Theaterpremière ausbleiben, als sich dort nicht in den vordersten Reihen zeigen, aber die sich mit eiserner Stirne ein gedrucktes Drama – vom Verfasser selbst ausborgen wollen.
Diese eigentümliche germanische Askese drückt den geistigen und materiellen standard of life unserer Schriftsteller und vermindert so ihre Möglichkeit frischer, spontaner Production. Das ist der unmittelbare Culturverlust. Aber zugleich damit beraubt sich die lesende Allgemeinheit selbst der feineren Cultur, die dadurch gewonnen wird, dass man sich aus erster Hand ein eigenes Urteil bildet, sich in Ruhe eine Arbeit aneignet und – wenn man sich dazu versucht fühlt – sich aufs neue in dieselbe vertiefen kann.
Den Luxus einer solchen feineren Bildung gestatten sich gewöhnlich nur die, welche nicht die Mittel zu einer anderen haben. Wenn diese dennoch in vielen Fällen genötigt sind, zu borgen, um mit dem geistigen Leben der Zeit Schritt zu halten, so empfinden sie ihr vorübergehendes Verhältnis zu dem Buche – falls sie es schätzen – als einen grossen Raub am Genusse desselben.
Die Rücksichtslosigkeit in der Behandlung geliehener Bücher zeigt auch, wie niedrig das Buch bei uns im Culturwert steht. Personen, die keinen Pfennig stehlen können, zerstören sorglos ein Buch; und derer, die geliehene Bücher ungemahnt zurückgeben, giebt es weniger an der Zahl, als derer, welche neue schreiben.
Wenn man von der Art, Bücher zu lesen, zu kaufen und zu behandeln, zu der Art übergeht, sie zu beurteilen, so findet man – als Ausdruck sowohl des Selbstgefühls, als des Altruismus der Gegenwart – selten soviel Achtung vor der eigenen Persönlichkeit oder vor der des Verfassers, dass man mit dem Urteil über ein Buch zögert, bis man es gelesen hat. Und von den wenigen, die die Bücher, die sie beurteilen wirklich lesen, wie viele haben sich die Mühe genommen, auch nur fünf Minuten ihr Urteil durchzudenken, so dass sie ihr Gefallen oder ihr Missfallen sich selbst und anderen einigermassen motivieren können!
Die Allgemeinheit, welche mit der Kunst des Zeitunglesens glaubt auch die der Kritik erworben zu haben, steht übrigens nicht weit hinter jener Sorte von Berufskritikern zurück, die in einer Spalte mindestens fünf der zehn Gebote übertreten, und die überdies, besonders in unserem Lande, eine solche Sinnesverwirrung angestiftet haben, dass, nicht diese Art der Kritik über Litteratur und Kunst – nein, die Litteratur und die Kunst selbst nach Heidenstams treffendem Ausdruck »als nicht strafbare Verbrechen betrachtet werden.«
Dennoch giebt es noch Kritiker, welche ihre Aufgabe als eine culturelle auffassen. Wie aber behandelt man sie? Die Antwort ist kurz: die meisten schreiben oder haben für Zeitungen geschrieben. Das will unter anderem sagen, dass, wenn schon der Kritiker die echte Liebe zu Litteratur, Kunst, Musik, Theater hegt, so dass er ehrlich die Schwäche nennen, frei über die Stärke jubeln und in beiden Fällen gründlich sein Urteil motivieren will – sich nicht selten Kulissengeheimnisse finden, die verlangen, dass die eine Erscheinung in den Himmel gehoben, die andere vernichtet werde, oder dass die Temperatur der Strenge und des Entzückens sich nach gewissen Graden hebe und senke. Und findet sich keine temperierende Macht hinter den Kulissen, so ist doch immer – das Publicum auf dem Schauplatze vorhanden. Die Rücksicht auf dieses verbietet alles Inhaltreiche auf culturellem Gebiete und verlangt Reichtum an Thatsachen nur in der Localberichtabteilung. Wenn ein Kritiker in dieser Presse und für dieses Publicum seinen jungen Enthusiasmus verbraucht hat, ermüdet er, wendet Schablonen an, falls er noch immer gezwungen ist, Zeitungsspalten zu schwärzen, und wäscht seine Hände rein, indem er sich mit Litteratur- und Kunstgeschichte oder irgend einer anderen wissenschaftlichen oder schöngeistigen Production beschäftigt. Aber als unmittelbaren Culturbildner hat man ihn damit verloren.
Nun ist jedoch der Kritiker – wie der geistreiche und suggestive Essayist, diese feine Erscheinung, die bis jetzt bloss in englischer und in französischer Luft erblüht ist – der wichtigste Culturbildner. Und darum sinkt das Culturniveau eines Landes unfehlbar, wenn seine Kritiker ihrer Aufgabe müde werden oder sie missbrauchen.
Schriftsteller, welche die geniale Kritik üben, die Diderot schuf, von der Schiller träumte und die Flaubert noch vermisste, eine Kritik, die Kunst braucht, um sowohl die Genesis des Kunstwerkes klarzumachen, als das, worin dessen Kunstwert besteht; Kritiker, die dem Anfänger eine warme und behutsame Hand zur Führung reichen und auch den berühmten Namen die grosse Huldigung der Aufrichtigkeit darbringen; Kritiker, die nicht urteilen, bevor sie mit der ganzen Energie ihres Verstehens in das eigenste Wesen des Werkes einzudringen suchten, und die sich selbst nicht in den Vordergrund stellen, sondern ein paar Schritte hinter den Vorgang zurücktreten, den sie mit dem elektrischen Glühlicht ihrer Sympathie beleuchten; Kritiker, die hohe Gesichtspunkte geben, weite Ausblicke in das geistige Leben der Gegenwart eröffnen, den Weg zu neuen Bildungsschätzen zeigen – solche Kritiker sind es, die die Cultur jetzt vor allem braucht, die sie aber, von wenigen Ausnahmen abgesehen, noch entbehrt, nicht zum wenigsten in den grossen Culturländern. Was ein einziger solcher Kritiker im grossen Stil als culturelle Macht wirken kann, das wissen, im Norden wenigstens, alle die, auf welche Georg Brandes seinen bedeutungsvollen Einfluss geübt hat.
Je länger die Presse sich damit begnügt, die Lust des ungebildeten Haufens an Banalitäten und Bagatellen zu befriedigen, um so tiefer sinkt ihr culturveredelnder Wert. Darum werden die Culturbewussten von der Hoffnung auf eine Presse beseelt, die aufs neue für die gebildete Minderzahl redigiert ist, eine Hoffnung, die kein Vernachlässigen der »Masse« und ihrer Forderungen in sich schliesst, sondern im Gegenteil die Ueberzeugung, dass die Presse nur so ein tiefeingreifender Erzieher gerade der Massen werden könne. Ist der Gedanke unsinnig, dass die Zeitungen es endlich müde werden sollen, sich auf allen Vieren in der gleichen Höhe mit dem Publicum zu halten, und dass sie eine Erhebung wagen könnten? Oder dass bloss eine einzige Zeitung damit aufhörte, Notizen »auszuschneiden«, sondern sie anstatt dessen rücksichtslos fortschnitte; dass sie es wagte, an Stelle der Festdiner-Menus Studien cultureller Lebensfragen zu bieten; dass sie anstatt dem Lauf der Hasen während der Herbstjagden zu folgen, es versuchte, den Weg der Ideen durch die grossen Culturländer aufzuspüren; dass sie anstatt die Allgemeinheit durch Unglücksfälle zu »amüsieren«, sie durch regelmässige Berichte über wissenschaftliche, litterarische und künstlerische Ereignisse im In- und Auslande »langweilte«? Die Zeitung, die z.B. gegen Ende des Jahres kühn dem Publikum solche »Fastenwochen« bieten möchte, würde – in und mit ihrer Neujahrsabonnentenziffer – die unschätzbarste aller statistischen Zahlen für die Feststellung des Culturniveaus bieten.
Was diese Ziffer bezeugen würde, ist höchst ungewiss, besonders in unserem Lande, wo die wenigen Zeitungen, welche in irgend einem Masse versuchen, culturbildend zu wirken, nie nach ihrer Form, sondern nur nach ihrer »Farbe« beurteilt werden und wo, trotz Mäcenatentum, jede culturelle Zeitschrift vor derselben Indifferenz, die den Büchermarkt niederdrückt, untertauchen muss.
Bei uns herrscht noch ein für die Cultur unglücklicher Grundsatz, nämlich die Verschwiegenheit in Beziehung auf neue Ideen. Mit der durch den wachsenden Stoff in den Wissenschaften immer unvermeidlicher gewordenen Notwendigkeit zu spezialisieren geht es Hand in Hand, dass sich die Männer der Wissenschaft leicht von allen Culturgebieten ausser ihren eigenen isolieren; dass sie einer synthetischen Anschauungsweise fremd werden; dass ihre eigene Culturveredelung versäumt wird, so dass ihre Bildung oft Fülle und Harmonie vermissen lässt und ihr Gesichtswinkel von dem Felde begrenzt erscheint, das sie selbst bestellen.
Das Bildungsmittel, das vor anderen unsere nationalen und individuellen Grenzen erweitern kann und dessen leichte Zugänglichkeit die Neuzeit charakterisiert, ist Reisen. Aber der Grossvater machte oft während einer dreitägigen Fahrt im Heimatlande mehr Beobachtungen und empfing tiefere Eindrücke, als der Enkel auf einer modernen europäischen Rundreise. Wie wenig versteht man es jetzt, durch Reisen seinem geistigem Reiche neue Länder zu erobern. Nicht nur die, die das Möglichste aus einer Reise machen wollen, von der sie wissen, dass es ihre einzige bleibt, nein, auch fleissige und reiche Reisende zeigen sich selten als Kenner auf dem Gebiete des Reisens. Welche geistigen Feste könnten sie sich sonst bereiten!
Zum Beispiel das, den Dichter in der Natur zu studieren, die den Hintergrund seines Schaffens gebildet hat; so Dante in Italien zu lesen, oder Goethe, während man in Thüringen umherstreift, oder Sophokles, indes man sich an Hellas berauscht! Oder sich in die Gothik oder in die Renaissance an jenen Orten einzuleben, wo sie am schönsten geblüht haben, oder sich in irgend eine alte Stadt zu vergraben, in einen einsamen Flecken, um bis zum Rande vom Geiste einer entschwundenen Zeit erfüllt zu werden, oder von dem eigentümlichen Duft des Temperaments eines Landes oder eines Volkes. Oder eine culturelle Sphäre aufzusuchen, in der man in der Nähe grosser Geister und Gedanken seine eigenen Kräfte wachsen fühlt, wie in einem Sonnenbad.
Aber für solche Genüsse schwärmen selten andere als die, die reich genug sind, ihre Reisen in der Phantasie machen zu können, oder vornehm genug, sie zu Fuss zu unternehmen. Das allgemeine Ideal der Zeit hingegen ist auch auf dem Gebiete des Reisens ein Vielerlei, nicht ein Viel. »Alles gesehen zu haben,« ohne sich innig in irgend eine tiefe Stimmung eingelebt zu haben, das ist das Ziel, um dessentwillen man des echten culturellen Gewinnes der Reise verlustig geht: eines persönlich gelebten, neuen Lebens, durch das man geistig in eine höhere Organisationsform emporgehoben wird.
Keine culturveredelnde Macht besitzt eine Sphäre, die sich mit der bildenden Kunst vergleichen liesse, denn ihr Einfluss kann, wie kein anderer, alle Stunden und alle Gebiete des Alltagslebens durchdringen. Das Buch kann ungelesen beiseite gelegt werden, das Bauwerk muss man sehen. Jeden Einfluss, durch den ein Volk kunstbedürftiger und schönheitssehnender wird, muss der Culturbildner zu stärken und zu vertiefen versuchen. In dem Grade, in dem die Schönheit als bewusster Lebenswert, auch in den einfachsten Alltagsdingen, für ein Volk Bedeutung gewinnt, im selbem Grade ist dieses Volk verfeinert: sein Culturbudget ist als Beweis seiner Bildung bedeutungslos im Vergleiche mit seinen Hausgeräten. Und darum wird der, dem es in unserer Zeit gelingt, eine schöne Form für den Bierkrug zu finden, mehr für die Culturveredelung gewirkt haben, als derjenige, der die Kosten einer Nordpolexpedition trägt.
Die Gegenwart hat daher, vom Gesichtspunkte der Culturveredelung, kein freudigeres Ereignis aufzuweisen als das von Seiten der Künstler immer eifrigere Streben, den Producten der Industrie und des Handwerkes ästhetischen Wert zu geben. In England ist es lange das bewusste Ziel gewesen, die Schönheit wirklich zu »popularisieren«, den stilvollen Möbelbezug, die schöne Tapete ebenso wohlfeil zu machen wie die geschmacklosen wohlfeilen Waren. In Frankreich, in Deutschland und im Norden hat die Kunst begonnen, auf demselben Gebiete zu arbeiten, aber noch beinahe ausschliesslich für die Reichen. Und solange das Schöne dem Auge nur als objet d'art im Salon schmeichelt, aber nicht als Geschirr auf dem Tische des Armen, solange hat es ein Volk in seiner ästhetischen Bildung nicht weit gebracht. Die fabrikmässig hervorgebrachte Schunddecoration ist das grosse moderne Hindernis für das Wachstum des Schönheitsgefühls.
Wenn man von dem Grenzgebiet der Kunst den Gedanken auf ihr grosses Feld lenkt, so zeigt es sich, dass das ganze zeitgenössische Europa in ästhetischer Bildung so weit zurücksteht, dass die Kunst, die nicht bloss die am tiefsten in das tägliche Leben eingreifende ist, sondern auch die, welche während jeder starken Kunstblüte die natürliche Grundfeste der Sculptur und der Malerei war und im Ansehen ihnen ebenbürtig – nämlich die Architektur – jetzt die am wenigsten geschätzte ist. Sie ist sogar derart vernachlässigt als Kunst, dass es Hauptstädte giebt, wie z.B. Stockholm, welche glauben, den Rat eines künstlerischen Architekten bei ihren Gebäudeanordnungen entbehren zu können, und in denen man, rücksichtslos gegen die Meinung der hervorragendsten Fachmänner, einzig dastehende Möglichkeiten zu schönen architektonischen Anordnungen zerstört; in denen man ein originelles Terrain zur Plattheit ebnet, und wo dann ungebildete Baumeister den Raum mit einer »gefrorenen Musik« füllen, die Drehorgelmusik ist. Ueberall müssen die alten, stilvoll einfachen Landhäuser weichen, nicht dem edleren Geschmack einer neuen Zeit, nein, um einen Tummelplatz für das alles eher als dionysische Bacchanale der Stillosigkeit zu eröffnen, dessen Zug von den Städten hinaus in die Fluren führt. Auf keinem Gebiete entbehrt die Zeit so sehr eines eigentümlichen Ausdrucks ihres Lebens, als auf dem der Architektur; auf keinem Gebiete wird die Bedeutung der schaffenden Phantasie mehr unterschätzt. Ein schöner Neubau wirkt in seiner jetzigen Umgebung auf uns ebenso fremd, wie eine Apfelsine in einem Kartoffelland, während die Schöpfungen der Architektur in den vornehmen Zeiten der Kunst organisch aus den Lebensbedürfnissen der Gesellschaft hervorwuchsen. Wenn man die Kenntnissumme zum Bildungsexponenten macht, dann ist ein Zeitungsjunge unserer Tage »gebildet« im Verhältnis zu einem Bürger des Mittelalters oder der Antike. Aber auf welchem anderen culturellen Niveau als die führenden Männer der Gegenwart befanden sich zum Beispiel die Athener, die willig die Ausgaben für die Bauwerke ihrer Stadt auf sich nahmen, als ihnen von Perikles die Wahl gestellt wurde, von den Kosten befreit zu werden, aber dann auch der Ehre des Werkes verlustig zu gehen; oder die Männer, die sich freuten, den gotischen Dom und das Rathaus in reizvollem Zauber sich über ihre eigenen Wohnstätten erheben zu sehen? Die Seele des antiken, des mittelalterlichen Bürgers erhob sich mit jedem Pfeiler, mit jeder Spitze der öffentlichen Gebäude der Stadt, die so zu tief wirkenden Bildungsmitteln wurden. Die Gegenwart führt die geistesärmsten Gebäude auf; ja selbst die Kirche, von der es doch heisst, sie repräsentiere die heiligsten Zwecke, wird gewöhnlich durch den wohlfeilsten Unternehmer erbaut, der die Bestellungen nach dem Preiscourant annimmt und sie im Dutzend ausführt! Und wenn ausnahmsweise wirkliche Künstler den Auftrag erhalten, eine öffentliche Arbeit auszuführen, so wird die Kunst noch so wenig geschätzt, dass, während man für Gegenwart und Nachwelt die Namen der Donatoren des Werkes eingräbt, die Künstler kaum genannt werden! »Sie sind ja bezahlt«, wie bei einem solchen Anlass bezeichnend geäussert wurde. Dass der Teil seiner Seele, den der Künstler in sein Werk gelegt hat, das Unschätzbare ist, das ist kein Gesichtspunkt für den Geldmann der Gegenwart. Der Börsenfürst hebt nicht – wie einer der gekrönten Männer der Renaissance – den Pinsel des Malers vom Boden auf, sondern er klopft ihm auf die Schulter und bietet ihm Cigaretten an. Er giebt selten dem Künstler Gelegenheit, sein Haus zu bauen oder zu decorieren, aber er decoriert seine Soiréen mit dem Künstler. Und in diesem für die Künstler zeittötenden Umgang lernt er selten etwas von der künstlerischen Lebensanschauung, aber er lernt gewisse Kunstausdrücke, die sich auf Ausstellungen gut machen.
Um noch geringeren Preis – nämlich den seiner Morgenzeitung und seiner Entréekarte – erkauft das grosse Publicum seine Sicherheit, die Mittel und Ziele der Kunst zu beurteilen; zu entscheiden, wie der Künstler jene gebraucht und diese erreicht hat. Das Publicum weiss – »historisch« – dass es nur die Kunst im weitesten Sinne ist, die eine solche Ueberfülle an menschlicher Lebensenergie, eine solche Steigerung des menschlichen Daseins in sich schliesst, dass ihr Leben durch Jahrtausende pulsieren kann, über die Vergänglichkeit von Staaten und Geschlechtern siegend, und dass folglich die Kunst etwas Vornehmes ist. Aber wenn sie vor einem in ihrer eigenen Zeit schaffenden Geist stehen, da ahnen sie nicht, dass ein solcher Geist – auf welchem Gebiete er auch schaffen mag – eine Welt für sich ist, mit anderer Sonne und anderen Schatten als die Welt der gewöhnlichen Menschen, und dass man nur, indem man selbst den Breitegrad erreicht, in dem diese warme Zone gelegen ist, indem man selbst eine reiche Vollblutpersönlichkeit wird, etwas von den Werken weiss, durch die die reichsten Vollblutmenschen der Zeit ihr Wesen ausdrücken.
Die Stellung der Allgemeinheit zur Kunst hat sowohl zur Ursache, als zur Folge, dass die Künstler selbst selten hoch genug stehen, um zu überwältigen. Der Schaffende muss, wie Goethe von sich selbst sagt, nicht bloss »frech«, sondern auch »fromm« sein, fromm in der Religion, die in unserer Zeit die des echten Künstlers ist, eine andachtsvolle Verehrung der Natur, der Kunst und der Cultur seines eigenen Geistes. Diese Selbstcultur kann gewiss nicht die angeborene Frechheit von Gottes Gnaden ersetzen, die man auch Genie nennt, aber ohne Selbstcultur wird sogar diese Frechheit minder schön. Die schöpferischen Geister unserer Zeit sind sehr häufig göttlich frech, aber die Frommen werden immer seltener.
Die Allgemeinheit hat noch eine andere Entschuldigung, nämlich die, dass die Kunst selbst nicht länger ihr Publicum dadurch erzieht, dass sie im täglichen Leben wirkt; jemehr sich die Kunst von diesem isoliert hat, desto kälter ist auch die Mitwelt der Kunst gegenüber geworden. Die privaten, meist durch Lotterien mit Bildern gefüllten Salons der Gegenwart und die öffentlichen Salons auf Ausstellungen und in Museen offenbaren am besten, bis zu welchem Grade die Kunst jetzt verkünstelt, von ihrer Wurzel, dem Lebensbedürfnis, losgerissen ist.
Wenn ein Patrizier der Renaissance auferstünde, da würden ihm die Gebäude der Gegenwart, ihre leeren Wandflächen, die unschönen Decorationen und Hausgeräte wohl Anlass geben, mit dem feinen Lächeln, das der Pinsel verewigt hat, zu fragen: ob jetzt keine Künstler arbeiten? Und wenn man dann antwortete, indem man ihn zu einem »Salon« führte, wo der Dilettantismus – d. h. äusserliche Arbeit, unsichere Technik, seichtes Seelenleben – neben wirklicher Kunst Platz gefunden hat; wo die Concurrenz zuweilen auch den echten Künstler dazu getrieben, dem Aufsehenerweckenden nachzujagen, und ihn beinahe immer zur Ueberproduction genötigt hat; wo – wie ein ungesuchtes Symbol des eigenen Kampfes der Künstler ums Dasein – ihre Werke sich offen totschlagen oder sich meuchelmorden, weil nicht einmal soviel Einheitsgefühl vorhanden ist, dass die Arbeiten desselben Künstlers und desselben Landes an einem Platz zusammengebracht werden, sondern man Schulen, Nationalitäten und Individualitäten wie ein Spiel Karten mischt – da würde der Mann der Renaissance mit tiefer Unlust den klaren, klugen Blick von dieser zusammenhanglosen Kunst wenden. Und suchte man ihn durch die Mitteilung umzustimmen, dass die Kunst noch manchmal in das tägliche Leben tritt, obgleich das allerdings heftigen Streit verursacht, wie z. B. die Bacchanten auf einem Fries oder eine nackte Statue in einem Park, da würde wohl seine erste Frage sein: ob es dem Maler nicht gelungen sei, ein lebenberauschtes, farbenfrohes Bacchanale zu schaffen, oder ob die Statue einen ungünstigen Platz bekommen habe? Bei der Antwort, dass die Streitigkeiten ausschliesslich vom Standpunkte der Sittlichkeit geführt würden, dürfte der Patrizier wohl mit seiner Wertschätzung der Gegenwart, verglichen mit den Zeiten, die er beredt schildern könnte, fertig sein. Er würde warm werden, wenn er von diesen Zeiten spräche, in denen die bildenden Künste organisch mit einander und mit dem Handwerk verbunden waren; da der Künstler mit derselben Sorgfalt und derselben Freude ein Bild des Gastmahls malte und die Becher formte; da das kleine, wie das grosse Werk, für die Mehrzahl ein hoher Lebenswert wurde, eine Steigerung der Lebensfreude; da die Kunst des Lebens schöner Ernst war, und da selbst der Instinct des Kleinbürgers diesem sagte: dass je freier die Kunst ihre eigenen Ziele verfolgte, desto edler sie das ganze menschliche Dasein gestaltete.
Von diesem Blick auf die gegenwärtige Kunst wird man ungesucht zu der Frage nach der Entwicklung des Menschenkörpers und der Verfeinerung des Naturgefühls geführt, weil beide die Bedingungen einer starken Kunst und einer gesunden Cultur sind.
Wir finden da, dass die Entwicklung, die der menschliche Körper im heutigen Europa findet, nicht die allseitige, massvolle ist, die die Gesundheit und Harmonie der ganzen Persönlichkeit fördert Und neue Mittel für ein freies, innigeres Zusammenleben mit der Natur an die Hand giebt. Der moderne öffentliche Wett- und Fachsport macht umgekehrt seine fanatischen Anhänger blind vor der Natur, ja er brutalisiert den Fanatiker, anstatt ihn physisch und psychisch zu harmonisieren; und auch hier verfehlt so ein vortreffliches Culturmittel dadurch, dass es zum Zweck erhoben wird, seine Wirkung.
Der Sport, der den Menschen auf ein paar Arme oder Beine reduziert, kann nicht wie der hellenische oder wie unsere nordischen Heldenstücke – die nicht einseitige Fertigkeit, sondern allseitige Ausbildung begünstigten – der Kunst Motive geben; ebenso wenig kann sie erfolgreich der körperlichen Ausartung des modernen Menschen zu »einem Gestell, das einen Kopf hoch trägt«, entgegenarbeiten. Trotz allem Sport des Culturmenschen findet man jetzt nur auf den Inseln Polynesiens die feine physische Cultur, die in dem beweglichen Sinnreichtum des ganzen Körpers liegt, darin, dass alle Gefühle durch schöne, massvolle, genau nüancierte Gebärden ausgedrückt werden. Diese Cultur sind die Missionäre jetzt im begriff zu zerstören, indem sie – im Namen der Moral – Europas hässliche Kleider diesen Menschen aufzwingen, die in der Gegenwart für das Auge des Künstlers die keusche Nacktheit und körperliche Ausdrucksfähigkeit der Antike verlebendigen, ihre spontanen, durch Cultur noch verfeinerten Schönheitsbedürfnisse.
Will man eine Ahnung haben, bis zu welchem Grade alle Sinne verfeinert werden können, und wie eine solche Veredelung die ästhetische Empfänglichkeit und das Glück bei allen Schönheitsgenüssen steigert – der Natur, sowie der Litteratur und der Kunst – so ist es Japan, das man sich beeilen muss, zu studieren, bevor es europäisiert wird. Dort lernt man erst entdecken, welche Reize das Dasein durch eine das ganze Volk durchdringende Cultur der Reinlichkeit und anderer ästhetischer Bedürfnisse erhalten kann, der Rücksicht, des Wohlwollens, des Masses. Das Resultat der japanischen Culturveredelung offenbart sich in den Alltagsgewohnheiten ebensosehr wie in der Kunst und im Kunstgewerbe. Möge man – um bloss ein einziges Beispiel zu nehmen – sich erinnern, wie die Japaner während der Blüte der Kirschbäume in die Wälder ziehen, um nicht einen Tag des schönen Schauspiels zu verlieren, das sie mit jener tiefen, sinnlichen Andacht geniessen, die, wie jemand mit Recht hervorgehoben hat, der Europäer erst jetzt zu ahnen anfängt, während sie in Japan durch Jahrhunderte verinnerlicht ist.
Kommt auch für uns einmal eine Zeit solcher Cultur, so muss ihr eine langwierige, gründliche Erziehung des Schönheitssinnes und des Natursinnes schon von Kindheit an vorausgegangen sein. Dann wird die Jugend nicht länger den fünften Teil ihres Lebens in öden, aller Schönheitseindrücke baren Schulsälen zugebracht haben; dann wird man die Zeit nicht damit vergeuden, den Kindern Moralgebote einzuschärfen, wie, dass sie ihres Nächsten Diener oder Dienerin nicht begehren sollen – eine für normal angelegte Kinder nicht gerade naheliegende Versuchung. Aber man wird ihnen anstatt dessen einschärfen, dass sie nicht den Bäumen schaden oder den Boden im Walde des Nächsten mit Esswarenpapieren bestreuen sollen, nicht Wände bekritzeln oder Flaschen an Statuen werfen oder sich unzählige andere mit körperlicher und geistiger Reinlichkeit unvereinbare Dinge gestatten. Das Gesetz der schönen Sitte und Haltung zu predigen, das Evangelium der Schönheit und Verfeinerung, das ist der rechte Weg, Kinder – die intensivsten aller Sensualisten – zu edleren Gefühlen und Handlungen auf allen Gebieten zu erziehen. Die elementare Culturveredelung muss mit dem äusseren Leben beginnen, um dann das innere zu durchdringen und umzuformen.
Cultur wird nicht genügend durch das Einprägen von Geboten gepflegt, denn Gebote haben viele rohe Menschen befolgt; noch weniger durch das Einpauken von Regierungszeiten, denn diese Kenntnis haben viele brutale Menschen besessen.
Die rasche Empfänglichkeit des Volkes für Culturverfeinerung zeigt sich bei jedem auf richtige Art angepackten Versuch in dieser Richtung, bei geeigneten Vorträgen, Musikabenden und Aehnlichem. Und folgte irgend ein Künstler dem Muster, das der grosse englische Maler Watts gegeben hat, im Proletarier planmässig das Gefühl für das Schöne in der Natur und in der Kunst zu erwecken, so würde er ganz gewiss bei unserem Volke dieselbe Gewecktheit in cultureller Hinsicht finden, die es ja auch nach anderen Richtungen hin bethätigt.
Wenn man für eine Secunde den Gedanken von diesen Gebieten auf Theater und Musik lenkt und die Blüte dieser Kunstformen – rings in Europa – mit der der Cafés und Variétés vergleicht, erhält man einen so überwältigenden Eindruck sinkender Cultur, dass man entsetzt sich in andere Sphären rettet, zum Beispiel in die des Gesellschaftslebens.
Aber auch in Beziehung auf dieses klagt man allgemein – und nicht zum mindesten in Frankreich, wo die Geselligkeit zuerst im modernen Europa Culturmacht wurde – über einen hereinbrechenden Verfall. Die im Gesellschaftsleben einst Tonangebenden, die Frauen, entbehren der homogenen, feinen, persönlichen Bildung, die sie im vorigen Jahrhundert und im Anfange dieses so fesselnd gemacht hat, während der lebhaften Unterhaltungen bei den chinesischen Theetassen, aus denen man seinen Nachmittagsthee trank, oder bei den Zusammenkünften, wo man rings um den Kamin die Trinklieder der Skalden sang. In ganz Europa, nicht zum wenigsten auf den schwedischen Landgütern und Adelshöfen, gab es damals Frauen mit so wachen Culturbedürfnissen, dass das Ausserordentlichste in Musik und Litteratur den Weg zu ihrem Klavier und zu ihrem Lesetisch fand; Frauen, die in grossen Kreisen culturveredelnd wirkten durch die Begeisterung, die sie den Genies und ihren Werken darbrachten. Und nahm dieser Enthusiasmus auch zuweilen einen sentimentalen, blumenpressenden, haarlockenbewahrenden Ausdruck an – um wieviel mehr bedeutete er doch für die Bildung als der kritische Jargon und das familiäre Gleichheitsgefühl der Gegenwart! Damals besass man auch Talent und Zeit zur Correspondenz und sandte einander diese langen, auserlesenen Briefe, die nicht bloss zu den feinsten Genüssen der Cultur gehörten, sondern gleichzeitig eines der reichsten Mittel zu ihrer Veredelung waren. Dahin ist nun dieser zarte Flaum der Früchte der Cultur.
Dahin ist auch, in unserer nivellierenden Zeit, die feine Behutsamkeit in der Wahl des Umganges, die festen Grenzen um das häusliche Leben, innerhalb deren es seinen Stil entwickelte. Gewiss enthielten viele dieser Sitten, die einstmals dem gesellschaftlichen Leben ein vornehmes und festliches Gepräge gaben, viel sinnlosen Conventionalismus, viele verbrauchten Formen, die fallen mussten. Aber innerhalb dieser Formen barg sich gleichwohl ein Schatz von ererbter Cultur. Es lag etwas Vornehmes in der Selbstbeherrschung und dem Mass, in der feinen Rücksicht, der anmutigen Würde, und dieses Vornehme hätten wir bewahren sollen, als wir uns von dem Abgezirkelten und Formellen befreiten. Viel haben wir schon – ob auch unwiderruflich? – verloren. Das liebenswürdige Zuhören, die fein zugespitzte Replik, die gut erzählte Anekdote, das epigrammatische Urteil, das elegante Wortgefecht, die leidenschaftslose Discussion ernster Themen – alles dieses geht mehr und mehr in dem ohrenbetäubenden Lärm unter, der aus dichten Tabakswolken dringt. Um nicht allein zu bleiben, sind die Frauen den Männern in die Wolke gefolgt; aber obgleich die weiblichen Stimmen immer lauter werden, glückt es ihnen doch selten, Gehör zu finden: oft sind sie es auch nicht wert, dass man auf sie horcht. Immer mehr verliert die Frau, nämlich als Gesellschaftsmensch, die présence d'esprit und présence de coeur, durch die sie einst die grosse culturveredelnde Macht gewesen ist. Weder in sich selbst noch in den Männern entwickelt sie nunmehr den Geist der umfassenden Duldsamkeit, der weiten Vorurteilslosigkeit, des feinen Verständnisses, das vor allem anderen ein Resultat unserer Cultur sein sollte. Aber trotz ihrer freieren Formen steht die Gegenwart in dieser Beziehung weit hinter der vorigen Jahrhundertwende zurück.
Dadurch dass der culturelle Einfluss des gesellschaftlichen Lebens sich vermindert, verlieren auch die schaffenden Intelligenzen der Zeit die reiche Facettierung, das Feuer, das das Abschleifen aneinander unter in gewissem Masse gebundenen Formen verleiht.
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Ich habe an dieser Stelle einen Gegenstand von grosser Bedeutung recht flüchtig behandeln müssen. Aber selbst diese kurzen Andeutungen können vielleicht bei dem einen oder dem anderen das Bewusstsein wecken, dass wir in demselben Masse, in dem wir die Veredelung der Cultur versäumen, auch grosse Möglichkeiten verlieren, unsere Lebenswerte zu steigern, unsere Lebensfreude zu erhöhen.
All das viele, durch das unsere Zeit in Beziehung auf Cultur und Culturveredelung über anderen Zeiten steht – all dieses habe ich nicht erwähnt, denn davon wird täglich in allen europäischen Zungen gesprochen.
Es ist übrigens in diesen Zeilen, wie schon früher bemerkt, nicht von den Produzierenden die Rede gewesen, sondern von der Allgemeinheit, die sich deren Werke aneignet. Und dass diese Allgemeinheit, während sie immer grösser wird, oft auf einem niedrigen Culturniveau stehen bleibt, das ist eine, so sehr in die Augen springende Thatsache, dass sie in allen Ländern die Denkenden immer mehr und mehr beschäftigt. Den innersten Grund dieser Erscheinung haben die tiefsten Geister der Zeit in der Demokratisierung der Gesellschaft gefunden, im Gleichheitsstreben, in der allgemeinen Bildung, wobei alles Ueberkommene geringgeschätzt, alle Bildungsgrenzen verwischt, alles Hohe nivelliert wird und alle sich so in »Pöbel«, in »Herde« verwandeln. Grosse Denker meinen, dass die Bildung, wenn sie auserlesen werden soll, wieder das Eigentum einer Minderzahl werden muss, einer Minderzahl, die mit Wollust ihren vornehmen Abstand vom Haufen gemessen kann. Und in der That, die Demokratie der Gegenwart, mit ihrer anspruchsvollen verletzenden Halbbildung, muss bei feinen aristokratischen Naturen Unlust und Hang zur Einsamkeit hervorrufen. Wunderlich ist nur, dass nicht alle als das einzige wahrhaft wirkende Heilmittel erkennen, dass der Masse ein Mehr, nicht ein weniger an Cultur werde, und dass die Cultur selber neue Formen erhalte! Auf diesem Punkte vor allem muss die Gegenwart veredelt weiden, damit sie bewusst neue Culturpläne begehre, Staatsmänner und Denker verlange, die sich mit der feinsten und grössten Staatskunst, der höchsten und jüngsten Wissenschaft befassen, nämlich der Politik und der Wissenschaft, die die Lebenswerte der Menschen zum Gegenstande haben und die die Möglichkeit erörtern, diese Werte zu erhöhen. Nicht nur Geldhunger und Tagespolitik, Eisenbahn und Halbbildung lassen in unserer Zeit das Interesse an grossen culturellen Fragen erschlaffen. Eine viel tiefere Ursache ist vorhanden, die bei tieferen Naturen immer wachsende Unzufriedenheit mit den jetzigen Formen und Lebensäusserungen der Cultur, eine bei ihnen immer höher gesteigerte Forderung an Religion und Staatsleben, Litteratur und Poesie, Kritik und Philosophie, Theater und Kunst, – über deren Berechtigung in ihren augenblicklichen Formen man zuweilen starke Zweifel aussprechen hört. Für feine Ohren künden diese Zweifel nicht den Untergang der Kunst oder der Litteratur, vielmehr den der Gegenwartscultur. Denn die Skepsis der Minderzahl ist ein Ausdruck dafür, dass die Aeusserungen unserer. Cultur nicht länger das Mass der Höchststehenden erfüllen, nicht länger ihre Ziele anstreben. Die menschliche Natur durchlebt eine Umwälzung, und der individuell bewusste moderne Mensch will in der Kunst einem neuen Ausdrucke seiner neuen Qual und seiner neuen Freuden begegnen, seines feineren Empfindens, seiner reicheren Mannigfaltigkeit. Die Gesellschaft durchlebt eine Umwälzung: der sozial bewusste moderne Mensch will starke Bejahungen seiner starken Forderungen finden. Ein neuer Culturidealismus – das ist es, was die Kritik der Einsamen verheisst.
Sowohl durch die hochstehende Minderheit, wie durch die tiefstehende Mehrheit wird die Cultur der Gegenwart in die Auflösung versetzt, während derer ihre Formen an Festigkeit und Schönheit verlieren, und in die Unruhe, die sich in einem rastlosen Suchen und Versuchen nach allen Richtungen, auf allen Gebieten äussert.
Könnten wir uns die Auflösung fortgesetzt denken ohne entsprechende Neuschöpfung – ja, dann wäre gewiss an der nächsten Jahrhundertwende das »Culturideal« des Pöbels das herrschende.
Undenkbar ist es jedoch, dass diese Neuschöpfung nicht kommen sollte, die Neuschöpfung, die – falls sie glücken soll – eine solche Einheit von Naturgefühl und Kunstgefühl, von individueller Freiheit und brüderlichem Zusammenhalten werden muss, wie die Welt sie noch nie gesehen hat. »Das Recht auf Müsse« wird dann ebenso anerkannt werden, wie das Recht auf Arbeit; die Schönheit eine ebenso notwendige Bedingung für physisches und psychisches Wohlbefinden sein, wie das Brot; und die Kunst zu leben wird man als die höchste aller freien und bildenden Künste schätzen.
Glückt diese Neuschöpfung, dann wird kein Gelddruck und kein Arbeitsjoch jemanden hindern – im Ausmasse seiner natürlichen Möglichkeiten – eine Cultur zu erringen, die er als persönlichen Lebenswert umfassen kann; das Höchste, was selbst die Höchststehenden für sich erstreben. Andererseits wird das Bewusstsein, für die geistigen Bedürfnisse des ganzen Volkes zu wirken, die Schaffensfreude derer steigern, die neue Culturwerte bilden. Da wird es vielleicht Wirklichkeit werden, was ein Idealist unter meinen Freunden hofft: dass sich überall schöne Bildungshallen erheben, in denen die rings verstreuten – jetzt hart ums Leben kämpfenden – Bildungstriebe Nahrung erhalten. Das Volk würde da während der langen, jetzt vor allem brutalisierenden Winterabende durch Bücher und Schönheitseindrücke Culturveredelung empfangen, und da würde zuweilen auch der Mann der Wissenschaft und der Dichter, der Musiker und der Künstler der Freude teilhaftig werden, unmittelbare Freude durch sein Werk zu schenken.
Die höchste Aufgabe des Culturbildners in unserer Zeit ist, die Sinne für die grosse Neuschöpfung vorzubereiten. Welches die grossen Gefühle sind, die zu diesem Ziele gepflegt werden müssen, das hat uns ein Künstler mit der Ausdrucksfähigkeit geoffenbart, die das Bild hat, wenn eine Meisterhand es schuf. Max Klinger lässt auf dem ersten Blatt seines schönen Prometheuscyklus aus dem tiefschwarzen Dunkel unzählige sehnende Arme sich zu dem Feuer emporstrecken, mit dem Prometheus vom Himmel herabstürzt, dem Feuer, dessen weisser Schein schon unzählige verschmachtende Gesichter beleuchtet. Das zweite Blatt zeigt holde Jünglinge und Jungfrauen in linienschönem, feierlichen Tanze um den Altar, an dem die heilige Flamme brennt.
Das Symbol des Künstlers sagt der Gegenwart, dass der Feuerträger mit seiner Flamme zu dem Geschlechte kommt, das ihr mit himmelstürmender Sehnsucht entgegenzieht und sie mit andachtsvoller Freude empfängt.