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Berlin. 4. Januar 1929. Freitag
Abends bei Ows gegessen mit Kühlmann und Mrs. Harold Nicolson, die ich bei dieser Gelegenheit kennenlernte. Kühlmann erzählte von Brest-Litowsk mit betontem Stolz, er habe mit Trotzki absichtlich nur dialektisch gerungen; er habe Wert darauf gelegt, ihn dialektisch zu überwinden. Ich finde, daß in einem weltgeschichtlichen Moment, wo Deutschlands Schicksal in der Waagschale lag, diese Freude an der Nebensache, am dialektischen Spiel, an einem Triumph persönlicher Eitelkeit sonderbar ist, namentlich aber, daß er sich nach elf Jahren und nach all den aus Brest-Litowsk resultierenden Katastrophen noch damit brüstet. Im übrigen gab er sich nur noch als Sammler und ›Dilettante‹ im altenglischen Sinne des Wortes.
Berlin. 22. Januar 1929. Dienstag
Mrs. Harold Nicolson, Virginia Woolf und ihr Mann, Leonard Woolf, kamen zu mir zum Tee. Virginia Woolf eine nicht mehr junge, etwas vertrocknete, etwas dekadent aussehende, ziemlich große Frau, die die angenehmen Manieren der guten englischen Gesellschaft hat. Leonard Woolf hypernervös, zittert beim Sprechen, klug, geistvoll. Wir sprachen über Mrs. Nicolsons Rilke-Übersetzung und deren Druck vielleicht auf der Cranachpresse. Virginia Woolf sehr typisch ›upper middle-class‹, beste ›upper middle-class‹, englische Professorstochter, Mrs. Nicolson ebenso typisch Aristokratin, große Dame, lang, schlank, große Linie, leichte, freie Haltung bei großem Stil in jeder Bewegung; ein Mensch, der nie irgendeine Verlegenheit oder soziale Schranke gekannt hat.
Berlin. 31. Januar 1929. Donnerstag
Mit Bernhard Stolberg und Frau Simons in ›Katharina Knie‹ von Zuckmayer. Gut inszeniertes schwaches Stück, sogenanntes ›Volksstück‹ nach der ›Gartenlauben‹-Seite tendierend.
Berlin, 2. Februar 1929. Sonnabend
Mittags der Mitarbeiter der ›Literary Supplement‹ der ›Times‹ Gullick mich besucht. Er bereitet eine Sondernummer über deutsche Literatur vor, die im April erscheinen soll. Er sagt, daß nach seiner Ansicht in den letzten fünf Jahren die deutsche Literatur die interessanteste von allen gewesen sei und daß das Interesse des englischen Lesepublikums sich ihr in steigendem Maße zuwende. Allerdings überschätze es Erscheinungen wie Emil Ludwig und Feuchtwanger und beachte nicht genügend Leute wie Thomas Mann und Wassermann. Die Sondernummer der ›Times‹ wolle zu einer richtigen Bewertung beitragen.
Berlin. 23. April 1929. Dienstag
Zum vorletzten Mal in Max' Wohnung Köthener Straße 46 (Telephon Kurfürst 5669, wie oft habe ich diese Nummer angerufen!) gefrühstückt. Zehn Jahre war diese kleine Wohnung für mich in schweren und bewegten Stunden eine Friedensinsel. Die Kisten der Einpacker standen schon im Schlafzimmer. Wir waren beide sehr bekümmert.
Abends im Konzert des kleinen Yehudi Menuhin. Der Junge ist ein wirkliches Wunder; sein Spiel hat die göttliche Beseeltheit des Genies und die Reinheit des Kindes. Eine tolle Virtuosität bleibt ganz sekundär, als ob sie sich von selbst verstünde. Ein wunderbares Stilgefühl, auch nicht die leiseste Spur von Kitsch oder Sentimentalität, sondern ganz reines, tiefes Empfinden. Beethovens Romanze in F-Dur (op. 50) spielte er, wie ich nur von Joseph Joachim Beethoven gehört habe.
Berlin. 27. April 1929. Sonnabend
Bei Flechtheim gegessen mit Tilla Durieux, George Grosz, P.W. usw. Langes Gespräch mit Tilla, die klagte, daß die modernen Dramatiker keine Frauenfiguren mehr schüfen. Und doch sei die moderne Frau trotz Bubikopf, Gymnastik und Berufsleben hinter der glatten, männlichen Fassade ebenso weiblich und romantisch wie die der Vorkriegszeit, nur sei ihre Romantik und Problematik versteckter, weiter nach innen verlegt, sodaß der Mann sie nicht mehr entdecke.
Berlin. 10. Mai 1929. Freitag
Bei Rumbolds in der Englischen Botschaft gefrühstückt ›to meet the Maharaja of Kapurthala‹. Der Maharaja, ein etwas bräunlicher, aber elegant aussehender Mann im Cut, wurde mit fast königlichen Ehren behandelt, Vorstellung im Cercle usw. Ich saß zwischen der Frau des Staatssekretärs Weissmann und der Frau eines spanischen Botschaftsrats. Harold Nicolson die Geschichte vom Sturz seines Vaters beim Lichnowskyschen Königsdiner in London erzählt. Sie war ihm neu. Harold Nicolson ist amüsant, aber mir irgendwie unsympathisch; warum, kann ich nicht ganz fassen.
Abends bei Hugo Simon mit Heydt und Franz Ullstein, um meine Presse-Angelegenheit zu besprechen. Franz Ullstein erzählte endlos alle Einzelheiten von der Annahme und Publikation von Remarque. Bisher seien von dem Buch, das am 1. Februar ausgegeben wurde, etwa sechshundertvierzigtausend deutsche Exemplare verkauft. In Amerika scheine die Übersetzung auch Riesenauflagen entgegenzugehen. Der ›Book of the month‹-Club habe gleich sechzigtausend Exemplare bestellt. Ullstein sagte, in der völkischen Presse habe eine Hetze gegen das Buch begonnen. Er war auch empört über die Annonce in der ›Frankfurter‹: ›Renn oder Remarque?‹ Unlauterer Wettbewerb. Heydt wiederholte immer wieder, der Erfolg von Remarques Buch sei ihm unverständlich, da nach seinen Erfahrungen alle Kriegsteilnehmer vom Krieg nichts wissen oder hören wollten.
London. 13. Mai 1929. Montag
Früh bei Donovan. Abends bei Maurice Brown und Hill im ›Savoy‹ gegessen und nachher in ›Journey's End‹ im Savoy Theatre, das Stück, das hier einen ähnlichen Erfolg hat wie ›Im Westen nichts Neues‹ bei uns. Ein paar starke Szenen, aber etwas zu viel ›komisches‹ Zeug für meinen Geschmack. Am merkwürdigsten fand ich das Publikum, das herzlich und unbefangen lachte, so daß die entsetzliche Tragik der Situationen nur wie dazwischengestreut wirkte.
Paris. 18. Mai 1929. Sonnabend
Vormittags mit Wilma in ihrer neuen Wohnung Avenue Kléber. Van de Veldes Innenarchitektur; einfach und stark. Bei Druet die Ausstellung des katalanischen Malers Mariano Andreú, den kennengelernt. Mit ihm Illustration der ›Cristina‹ besprochen. Wilma, Jacques und sein Freund bei mir im Grand Hotel gefrühstückt. Wilma fuhr nach dem Frühstück nach Etelan fort im Auto. Abends im ›Atelier‹ Ben Jonsons ›Volpone‹ in der Zweig-Romainschen Bearbeitung. Commedia-dell'arte-Stil. Eine sehr amüsante und hübsch inszenierte Aufführung.
Paris. 19. Mai 1929. Pfingstsonntag Vormittags Mariano Andreú in seinem Hause Rue Marbeau besucht. Haus im katalanischen Stil in einer ruhigen Seitenstraße beim Bois mit viel Krimskrams vollgestopft, venezianischen Möbeln, Puppen, Samt usw., etwas Lenbachisch-geschmäcklerisch. Ein wenig färbt dies Geschmäcklerische auch auf seine Kunst ab, die jedoch durch ein strenges, fast hartes Formgefühl purifiziert wird. Das ergibt eine eigenartige, reizvolle, etwas perverse Mischung. Er hat offenbar von Picasso viel gelernt oder kann unheimlich viel. Er ist offenbar reich, unabhängig, was für seine Kunst Vorteile und Nachteile mit sich bringt. Nur die schmale, aber stahlharte Barriere seines Könnens trennt ihn vom Kitsch, zu dem sein Geschmack neigt. Zum Glück ist diese Scheidewand, so dünn sie ist, scheinbar unerschütterlich fest.
Ich besprach mit ihm Illustration einer Novelle von Voltaire: ›Candide‹ oder die ›Princesse de Babylone‹. Obwohl Katalane, kennt er nicht Maillol, den er für ›den größten lebenden Bildhauer‹ erklärte, während er Bourdelle verabscheut. Ich lud ihn ein, mit mir morgen nach Marly zu fahren, um ihn mit Maillol bekannt zu machen.
Abends Pagnols ›Topaze‹ in den Variétés gesehen; ein hartes, bösartig destruktives Stück, das von Mirbeau und Becque herkommt, aber noch bösartiger, antisozialer ist. Allerdings schenkt sich Pagnol die Begründung, wieso aus dem ehrlichen, lammfrommen Schulmeister der zynische Schieber und Haifisch des letzten Aktes wird. Paris. 20. Mai 1929. Pfingstmontag Mit Andreú nach Marly gefahren Maillol besuchen, der aber noch nicht aus Banyuls zurück war. Andreú schlug statt ›Candide‹ die ›Princesse de Babylone‹ vor, weil in ›Candide‹ soviel Schlachten und Kriege vorkommen, die ihm nicht lägen, während die ›Princesse de Babylone‹ aus lauter Reisen, Prozessionen usw. bestünde, die er machen kann.
Berlin. 22. Mai 1929. Mittwoch
Vormittags mit dem Nordexpreß in Berlin an. Abends mit Max in die Premiere des ›Scala‹-Gastspiels unter Toscanini in der Staatsoper. ›Falstaff‹. Glänzendes Haus, glänzende Aufführung. ›Tout Berlin‹ begeistert. Toscanini dirigiert glänzend, mit einem Nerv, einer Feinheit und Sicherheit, die verblüffend und hinreißend sind. Ich empfand aber mehr Glanz als Tiefe; ergreifen tut er einen nicht. Zur Heiterkeit des Abends trug der Bürgermeister von Mailand bei, ein sehr bürgerlich aussehender Herr mit ebensolcher Gattin und Fräulein Tochter, der zwei Riesenlakaien in scharlachroter Livree mit vielem Gold bestickt während der ganzen Vorstellung in seiner Loge hinter seinem Sessel strammstehen ließ.
Berlin. 23. Mai 1929. Donnerstag
Mein Geburtstag; leider! Nachmittags bei Jenny de Margerie zum Tee, um Paul Morand und seine Frau zu treffen. Seine Frau stellte sich als eine alte Bekannte heraus, die ich bei der Gräfin Greffulhe vor dem Kriege als Hofdame der Königin von Rumänien kennengelernt habe, eine geborene Prinzessin Soutzo. Sie knüpfte gleich wieder an unser damaliges Zusammentreffen bei einem drolligen Tee bei der Gräfin Greffulhe mit Edmond Rostand und Oscar Fried an, als Rostand fast kniend der Königin vorschwärmte, sie sei das Urbild seiner ›Princesse Lointaine‹.
Sie erzählte eine charakteristische Geschichte von Proust, den wir beide bei Larue erlebt haben. Eines Nachts während des Krieges, ebenfalls bei Larue, habe Proust Musik verlangt, obwohl das Musizieren in Cafes in Paris während des Krieges verboten war. Proust habe aber darauf bestanden und schließlich gesagt, er werde, wenn keine andre Musik zu haben sei, das Quatuor Poulet holen. Er sei darauf zu diesem Zwecke fortgegangen, und da er nicht wiederkam, sei sie, die Soutzo, um zwei Uhr morgens in ihr Hotel, das ›Ritz‹, zurückgekehrt. Zwischen drei und vier sei sie plötzlich geweckt worden, Proust stand vor ihrer Tür und teilte ihr mit, er habe das Quatuor Poulet aus den Betten geholt, Monsieur Poulet und Madame Poulet stünden unten in der Hotelhalle, aber ihr Kontrabassist sei an einer Lungenentzündung erkrankt und müsse sich entschuldigen lassen, daher könne das Quartett leider für die Prinzessin heute nacht nicht mehr spielen.
Abends mit Max und Guseck in ›Rigoletto‹ unter Toscanini in der Charlottenburger Oper. Ungeheure Begeisterung des Publikums, zu dem auch Stresemanns und Hilferdings gehörten; mich langweilte diese Musik, diese verstaubte, tönende Romantik, die um unmögliche Situationen anschwillt.
Berlin. 8. Juni 1929. Sonnabend
Abends Premiere von Hindemiths ›Neues vom Tage‹ in der Kroll-Oper, von Klemperer dirigiert. Opera buffissima. Amüsant, die Musik für das äußerst groteske leichte Libretto etwas zu schwer und zerebral; aber doch sehr amüsantes Ganze. Stürmischer Erfolg. Die Figur des ›schönen Herrn Hermann‹, des betonten Scheidungsgrundes, von Wirl glänzend gegeben. In der Regie Anlehnung an die Commedia dell'arte. Oswald Nostitz kam anstelle von Helene mit. Lange mit Tilla Durieux gesprochen, die vor mir saß und ein auffallendes, sehr schönes Kollier aus schlangenartigen dunkelblauen Steinen umhatte. Nachher noch mit Max im ›Fürstenhof‹.
Berlin. 9. Juni 1929. Sonntag
In die von Max Reinhardt neu einstudierte ›Fledermaus‹ im Deutschen Theater. Geladene ›Presse-und Festvorstellung‹. ›Tout Berlin‹. Hinter mir im Parkett Kühlmann mit einer mir unbekannten hübschen jungen Frau. In der Proszeniumsloge zwei alte Damen, die Witwen von Hans von Bülow (Nachfolgerin Cosimas) und von Johann Strauß selbst. Glänzende Vorstellung, von Reinhardts Regie beschwingt. Helene, die ich eingeladen hatte, blieb aus; nachher stellte sich heraus, daß sie leider unterwegs erkrankt war.
Berlin. 15. Juli 1929. Montag
In der ›BZ‹ heute mittag Nachricht, daß sich Hofmannsthals ältester Sohn Franz erschossen hat. An Hugo um halb drei telegraphiert. Abends Stroheims Film aus dem Vorkriegs-Wien ›Der Hochzeitsmarsch‹ gesehen. Eine geniale Schöpfung, mit der Bosheit eines George Grosz die Hohlheit des Glanzes Alt-Wiens und des Wiener süßen Kitsches (nebenbei auch des Hollywooder) aufgezeigt: alles dessen, was Hofmannsthal immer geblendet und gefangengehalten hat. Das gerade Gegenstück zu Hofmannsthal.
Berlin. 16. Juli 1929. Dienstag
Hofmannsthal gestorben, beim Begräbnis seines Sohnes, aus Aufregung über seinen Selbstmord. Ich bin wie mit dem Hammer vor den Kopf geschlagen. Tragische Generation, tragischer Freundeskreis! Rathenau, Paul Cassirer, Hofmannsthal; auch Bodenhausens Tod war in seinen letzten Ursachen tragisch. Vielleicht hat jeder Mensch eine bestimmte Summe Leides zu absolvieren; wenn er es sich in kleinen Portionen täglich aufs Brot streicht durch allerlei Hemmungen, Verzichte, Opfer, dann lebt er das bourgeoise Leben; wenn er das aber nicht will, dann kommt es mit einem Male über ihn, und dann lebt er das unbourgeoise, ›romantische‹, ›gefährliche‹, tragische Leben. Jede Ethik und soziale Ordnung wäre ein System der Leidverteilung, der sozialen und individuellen Verteilung einer ein für allemal feststehenden Summe von Opfern und Leiden. Man kann diese Verteilung tausendfach variieren, aber vielleicht kann sie die Gesamtlast durch keine Ethik oder soziale Ordnung wesentlich vermindern. Auch hier gilt vielleicht ›das Gesetz der Erhaltung der Kraft‹ (das Gesetz der Erhaltung des Leids); und es bleibt schließlich eine individuelle Geschmacksfrage, ob man bourgeoise Hemmungen oder tragische Katastrophen vorzieht.
Wien. 18. Juli 1929. Donnerstag
Früh hier an. Beisetzung des armen Hugo. Trauerfeier um drei in der Pfarrkirche in Rodaun. Sarg, Altar und Altarbrüstungen verschwanden unter einem Meer von Rosen. Alle Rosengärten Wiens müssen geplündert worden sein, um eine solche Pracht herzugeben. Die kleine Kirche war brechend voll; ich saß neben der Tervin und hinter dem Sohn Richard Strauß'. Strauß selbst und Max Reinhardt fehlten auffallenderweise. Die Feier selbst war nicht sehr stimmungsvoll trotz eines schönen Violinsolos.
Um die Kirche hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt, Neugierige aus Wien, die Frauen in hellen Sommerkleidern, auch Amerikanerinnen, und viele Bauern und Kleinbürger aus der Umgebung. Es müssen einige tausend Menschen gewesen sein, die sich auch dem Trauerzuge anschlossen und dem Sarg nach dem Friedhof das Geleit gaben, was bei dem Gedränge und der furchtbaren Hitze allmählich die Stimmung ganz auflöste. Ich ging mit Rudi Schröder, der trotz seiner Erschütterung ebenfalls unter den Begleitumständen litt. Am Friedhofseingang entstand dann eine wahrhaft skandalöse Szene. In einem wilden Gedränge versuchten Trauergäste und Neugierige die Schutzleute zu überrennen und in den Friedhof einzudringen; es gab eine regelrechte Schlägerei. Schröder und ich wurden schließlich hineingelassen. Aber von irgendwelcher Trauerstimmung war keine Rede mehr, es war eine Art von Kirmes bei erdrückender Hitze. Einen Augenblick konnte ich in die Gruft blicken, als ich die Erde auf den Sarg streute. Es fiel mir auf, wie schmal und fein der Sarg aussah, unter dem der Sarg des erschossenen Sohnes hervorblickte. Dann war alles vorüber.
Ein Stück meines Lebens ist mit Hugo Hofmannsthal dahingegangen. Noch vorige Woche hatte er an Goertz in einem Brief kurz unser fortbestehendes Verhältnis umrissen. Gesehen habe ich Hugo das letzte Mal bei dem stimmungslosen, unerfreulichen Frühstück im Juni vor einem Jahr, wo Richard Strauß solchen Unsinn redete, daß Hofmannsthal sich nachher bei mir schriftlich entschuldigte.
Wien. 19. Juli 1929. Freitag
Vormittags mich nach Schönbrunn fahren lassen und dort im Park Hofmannsthals ›Der Tor und der Tod‹ gelesen. Nach dem Frühstück hinaus nach Rodaun, wo ich Gerty Hofmannsthal, Christiane, Raimund, Schröder und die Gräfin Ottonie fand. Die Familie wunderbar gefaßt, fast heiter. Gerty Hofmannsthal meint, und das ist für sie ein Trost, daß der Tod des Sohnes nicht am Tode des Vaters schuld sei; Hugo sei schon seit drei Jahren von den Ärzten aufgegeben gewesen wegen schwerer Arterienverkalkung. Hugo sei nach dem Tode des Franz ganz gefaßt gewesen, habe sein gewohntes Leben weitergeführt, viele Briefe geschrieben, viel mit ihr und Raimund über den Tod gesprochen, lange, wunderbare Gespräche, allerdings auch viel und bitterlich geweint.
Am Montag sei er zur gewohnten Zeit aufgestanden, zu den Mahlzeiten wie gewöhnlich erschienen. Als sie um drei Uhr zur Beisetzung gehen wollten und er eben den Hut aufgesetzt habe, habe er plötzlich gesagt, ihm sei schwindlig, und sich auf einen Stuhl gesetzt. Sie habe ihm den Hut abgenommen und ihn ins Arbeitszimmer geführt. Unterwegs habe er noch einen Handschuh, den er fallen gelassen hatte, selbst aufgehoben. Im Arbeitszimmer habe er sich wieder auf einen Stuhl gesetzt. Sie habe ihn gefragt, ob sie ihm nicht seinen Kragen aufmachen solle. Er habe nur undeutlich geantwortet. Ihr sei zu ihrem Entsetzen aufgefallen, daß sein Gesicht ganz schief war. Als sie ihn deshalb etwas scharf ansah, fragte er sie: »Warum siehst du mich so an?«, sei aber nicht zum Spiegel gegangen, wie er es sonst getan hätte, um selber zu sehen, ob etwas nicht in Ordnung sei. Seine Sprache sei schon auffallend schwer gewesen. Sie habe ihn auf die Chaiselongue gebettet, und er habe dann allmählich die Besinnung verloren.
Währenddem ging die Feier für den Sohn in der Kirche weiter. Raimund sagt, als er zur Beisetzung eilte, sei er schon überzeugt gewesen, daß er seinen Vater nicht mehr lebend antreffen werde. Sowohl er wie seine Mutter bezeichnen es als ein Glück, daß er nicht zu einem langen, hoffnungslosen Siechtum wiedererwacht sei. Die Gerty bedauert nur, daß er nicht mehr den Brief von Richard Strauß erhalten hat, in dem er ihm den Empfang des umgearbeiteten ersten Aktes der ›Arabella‹ und seine Freude über die gelungene Umarbeitung aussprach.
Mit Hofmannsthal ist ein ganzes Stück deutscher Kultur ins Grab gesunken. Er war der letzte große Barockdichter, von dem Barockstamm, dessen glänzendste Blüten Shakespeare und Cervantes gewesen sind. Barock: echtes Gefühl an ein bewußt unechtes Objekt gewendet. Das Objekt ist unecht, das Gefühl echt. Zu beachten in diesem Zusammenhang auch das Zeremonielle in Hofmannsthals Schrifttum, wie er an einen Stoff herangeht; er offiziert sozusagen mit einem Stoff wie der Priester mit der Hostie, legt diesem Zeremoniellen eine gewissermaßen magische Bedeutung bei, dieses namentlich in seinen Prosaschriften. Das direkte Zupacken ist ihm widerlich, unmöglich, kommt ihm respektlos und unwirksam vor. Hofmannsthal sucht Objekte, an die er sein Gefühl hängen kann (›Tor und Tod‹), findet sie nicht in der Wirklichkeit. Daher schafft er sich künstliche Objekte, sucht in der Kunst, in der Literatur nach ihnen. Das ist echt Barock.
Weimar. 23. Juli 1929. Dienstag
Julien Green und sein Freund, ein Monsieur de St. Jean, bei mir gegessen. Sie sind schon eine Woche hier und wollen noch länger bleiben, weil ihnen Weimar so gut gefällt. Green ist ein kräftig, fast bäuerlich aussehender Mensch, etwa Ende der Zwanziger, mit einem ruhigen, angenehmen, ausgeglichenen Wesen. So denke ich mir den jungen Flaubert. Er liest Deutsch, spricht es aber schlecht. Auffallend war mir die etwas wegwerfende Manier, in der er von der amerikanischen Literatur im allgemeinen und von Sherwood Anderson im besonderen sprach. Er hat drei Jahre an der von Jefferson erbauten Universität von Virginia studiert. Ist aber offenbar ganz Franzose.
Homburg. 19. August 1929. Montag
In der Zeitung Tod Diaghilews. Tief erschüttert. Ein Stück meiner Welt ist mit ihm gestorben.
Berlin. 30. August 1929. Freitag
Einigung im Haag. – Mittags war Erich Maria Remarque anderthalb Stunden bei mir (von Hutchinson veranlaßt, um seine Verträge zu besprechen). Niedersächsischer junger Bauernkopf, hart geschnitten, zerfurcht, blond mit blauen Augen und blonden Augenbrauen. Fester, manchmal etwas ins Lyrische abschweifender Ausdruck. Er erzählte mir sehr ausführlich und fast in einem Zuge seine Entwicklung. Hat in Osnabrück als Junge unter Kleinbürgern darunter schwer gelitten, daß niemand ihn im Geistigen irgendeinen Rat oder Fingerzeig geben konnte. Hat mit fünfzehn Jahren die ›Kritik der reinen Vernunft‹ gebüffelt, ohne viel davon zu verstehen. Das größte Wunder sei schon immer für ihn gewesen, wie es komme, daß er überhaupt existiere. Schwermütige Jugend, Selbstmordgedanken. Dann der Krieg.
Als er zurückkam, war seine Mutter eben gestorben. Sah sie tot im Krankenhaus, konnte sie aber nicht wiedererkennen. Im Kriege hätten alle immer gedacht: Wenn erst Frieden ist, wird sich alles schon finden. Aber in Wirklichkeit hätten sie sich dem Frieden gegenüber ebenso hilflos gefühlt wie gegenüber dem Krieg. Was anfangen? Eine Zeitlang sei er bei der Continental-Gummifabrik in Hannover gewesen und habe dort für Continental-Gummi kleine Reklamegedichte und Artikelchen verfaßt. Dann zu Scherl in Berlin. Sportredakteur. Er habe sich damals oft gefragt, ob vielleicht das ›Berliner Tageblatt‹ oder die ›Voss‹ etwas von ihm annehmen würde; denn daß Scherl kein literarisches Niveau habe, habe er gewußt. Er habe sich vorgestellt, wie schön es sein würde, wenn etwas von ihm im Feuilleton des ›Berliner Tageblatts‹ abgedruckt würde.
Dann habe er, eigentlich nur als literarische Übung, ›Im Westen nichts Neues‹ geschrieben, in sechs Wochen und ganz leicht, ohne irgendwelche Mühe. Überhaupt sei das Schreiben etwas ganz Leichtes, wenn man erst den Stoff fest gepackt hätte. Wenn man auf der Eisenbahn fahre, sehe man manchmal gegen Abend irgendwo, zwischen Sowieso und Sowieso, einen einsamen Menschen über ein Feld gehen, und gegen den Himmel erscheine er unendlich groß. Das sei es! Man müsse seine Menschen gegen den Himmel stellen, den Hintergrund hinter ihnen aufbauen, dann seien sie ohne jede Ausschmückung und jedes Pathos groß. Das versuche er, seinen Menschen den Hintergrund des Unendlichen zu geben. Wenn man das erst erfaßt habe, dann sei das Schreiben ganz leicht. Vielleicht seien die Sätze dann nicht so gepflegt wie bei einem Berufsliteraten, aber sie gingen mehr zu Herzen. Arnold Zweig (›Grischa‹) habe ihm vorgeworfen, daß er schludere; aber bei Arnold Zweig stelle sich die Kunst zwischen sein Buch und die Leser, und ihm, Remarque, komme es darauf an, ganz nah an seine Leser heranzukommen, das genüge ihm, wenn sein Stil literarisch auch nicht so gepflegt sei wie der Zweigs.
Der Erfolg seines Buches habe ihn mehr deprimiert als erfreut. Vorher habe er geglaubt, daß ein Erfolg befriedigen könne; aber da habe er gesehen, daß der Erfolg nichts sei, daß er den Menschen nicht ausfülle. Nie sei er dem Selbstmord so nah gewesen wie in den ersten Monaten nach dem Erscheinen seines Buches. Was ihn aus der Depression wieder herausgebracht habe, sei der Gedanke gewesen, daß das Buch irgendwie vielleicht genützt habe. Das sei es, die Hilfe, die man dieser oder jener guten Sache, der des Friedens zum Beispiel, leiste oder irgendeinem Menschen, das sei das einzig Wertvolle. Er möchte später irgend etwas für Vereinsamte, in der Welt Ratlose machen, vielleicht ein Heim, wo junge Schriftsteller sorglos leben und arbeiten könnten. Ob ›Im Westen nichts Neues‹ wirklich ein gutes Buch sei, wisse er nicht; für ihn sei es nur eine Fingerübung gewesen.
Abends bei Hugo Simons gegessen mit Schickeles, Arnold Zweig und dem Bildhauer Scharff. Zweig destillierte unter Rosen Gift gegen Remarque. Als ob jemand Remarque angriffe, obwohl alle ihn lobten, meinte er: »Nein, nein, das Buch ist gut (›gut‹ mit herablassender Färbung); Renn und Remarque sind zwei ›gute‹ Dilettanten-Romane. Remarque hätte aus seinem Buch sogar einen großen Roman machen können; aber das ist das Dilettantische daran, daß er den Punkt, von dem aus er ihn hätte komponieren sollen, nicht gesehen hat, obwohl er ihn gefunden hatte. Er ist aber blind darüber hinweggegangen. Da, wo er den Bauernjungen schildert, der es nicht mehr aushält, als er die blühenden Bäume sieht, und deshalb fortläuft. Damit hätte ich den Roman angefangen und das Ganze um diesen Bauernjungen herumgruppiert, dann wäre es ein großes Buch geworden.« Überhaupt gab Zweig sich den ganzen Abend Mühe, boshaft witzig zu sein; da er aber nur über Übelwollen und keinen Witz verfügt, war das Ganze nur ein äußerst fades Literatengeschwätz.
Paris. 17. September 1929. Dienstag
Früh nach dem Père-Lachaise. Mamas Grab. Am Neunzehnten ist ihr zehnter Todestag.
Nachmittags nach Marly, Maillol besucht. Er hatte weder von Hofmannsthals noch von Diaghilews Tod gehört. »Je ne lis pas les journaux.« Von der Bildhauerin Gordine, die mir Gide empfohlen hat und die Maillol schätzen sollte, sprach er ziemlich abfällig. »C'est une roublarde.« Er erzählte von ihr eine drollige Geschichte: Sie habe ihm gesagt, sie werde ihn um sechs Uhr morgens besuchen, und als er ihr sagte, er stehe erst um zehn auf, habe sie die Beleidigte gespielt und sei überhaupt nicht mehr zu ihm gekommen. »Peut-être qu'elle a voulu coucher avec moi!«
London. 28. September 1929. Sonnabend
Zu Edward Johnston nach Ditchling heraus im Auto. Sehr hübsche Gegend zwischen London und Brighton, und von seinem Hause und Garten lieblicher Blick auf die schöne Hügellinie der South Downs. Ich beauftragte ihn, für mich eine griechische Schrift nach einer italienischen Schrift des fünfzehnten Jahrhunderts, die ich in einem Petrarca im British Museum gefunden habe, zu entwerfen (Friend soll sie schneiden) und außerdem eine neue Antiqua auf Grund der Janson-Schrift von 1470 im Eusebius, aber schwerer und schwärzer, damit sie besser mit Holzschnitten zusammengeht. Ich verbrachte den Nachmittag bei Johnston. Die drei Töchter erschienen zum Tee. Mrs. Johnston war auf Reisen.
Paris. 3. Oktober 1929. Donnerstag
Beim Friseur gegen Mittag Gespräche überhört: »Stresemann est mort.« Ich saß wie auf Kohlen. Dann in ›Paris Midi‹ die offizielle Nachricht. Er ist heute früh um fünfeinhalb einem Schlaganfall erlegen. Es ist ein unersetzlicher Verlust, dessen Folgen nicht abzusehen sind. So empfindet man ihn auch hier. Alles spricht davon, die Friseure, die Kellner im Restaurant, die Chauffeure, die Zeitungsfrauen. ›Paris-Midi‹ hat eine große Überschrift: ›Un événement d'une portée mondiale et un deuil pour la cause de la Paix.‹ Auf die Botschaft, wo mich eingeschrieben. Der erste, dessen Unterschrift auf den Blättern steht, ist André Tardieu, Ministre de l'Interieur. Der Botschafter ist auf Urlaub.
So setzt dieses furchtbare Jahr 1929 seine Ernte fort: Hofmannsthal, Diaghilew, Stresemann, ein Stück nach dem andern der Welt, wie sie für mich und meine Generation war, verschwindet. Wahrhaftig eine ›Année terrible‹.
Nachmittags bei Rieth. Er sagt, der Eindruck, den Stresemanns Tod in Paris gemacht habe, sei ungeheuer; die Leute seien geradezu konsterniert. Briand sei schon um zehn heute früh bei ihm gewesen und habe sich mit sehr warmer menschlicher Teilnahme ausgedrückt. Das allgemeine Gefühl sei nicht nur Konsternation, sondern auch Beunruhigung, was jetzt werden solle.
Ich befürchte von Stresemanns Tod in erster Linie sehr ernste innerpolitische Folgen, das Abrücken der Volkspartei nach rechts, einen Bruch der Koalition, Erleichterung der Diktaturbestrebungen.
Paris. 4. Oktober 1929. Freitag
Alle Pariser Morgenzeitungen bringen die Nachricht vom Tode Stresemanns in größter Aufmachung. Es ist fast so, als ob der größte französische Staatsmann gestorben wäre. Die Trauer ist allgemein und echt. Man empfindet, daß es doch schon ein europäisches Vaterland gibt. Die Franzosen empfinden Stresemann wie eine Art von europäischem Bismarck.
Die Legende beginnt; Stresemann ist durch seinen plötzlichen Tod eine fast mythische Figur geworden. Keiner von den großen Staatsmännern des neunzehnten Jahrhunderts, weder Pitt noch Talleyrand, noch Metternich,noch Palmerston, noch Napoleon III., noch Cavour, noch Bismarck, noch Gambetta, noch Disraeli, hat eine so einstimmige Weltgeltung und Apotheose erreicht. Er ist der erste, der als wirklich europäischer Staatsmann in Walhalla eingeht. Die ›Times‹ schreiben in ihrem Leitartikel: ›Stresemann did inestimable service to the German Republic; his work for Europe as a whole was almost as great.‹
Um etwas Ähnliches an allgemeiner Trauer und Weltgeltung zu finden, muß man auf den Tod des von Stresemann so bewunderten Byron zurückgehen. Als ich ihn im Kriege auf meine Kosten auf die ›Times‹ abonnierte, damit er einen europäischen Überblick bekäme, haben weder er noch ich ein solches Ende, eine solche europäische ›gloire‹ vorausgesehen! Es ist sehr bemerkenswert, wie seit dem Kriege fast nur Deutsche Weltgeltung erlangt haben; auf allen Gebieten: Einstein, Eckener, Köhl, Remarque, Stresemann usw., denen an ähnlichen Reihen nur etwa Lindbergh, Lenin, Proust gegenüberstehen. Vieles an diesen Auszeichnungen durch die Masse der Zeitungsleser ist schief und übertrieben, aber das Phänomen als Ganzes ist doch beachtenswert.
Berlin. 6. Oktober 1929. Sonntag
Stresemanns Beisetzung. Strahlend schöner, warmer Tag, aus dem man in den etwas dunklen, mit Flor verhängten Sitzungssaal des Reichstags wie in eine Gruft hineinkam. In der Wandelhalle Molly Bredow getroffen, der die Bismarck zur Frau hat. Ich hatte ihn seit vor dem Kriege nicht mehr gesehen, wir duzten uns aber gleich und waren wie alte Kameraden. Er rechtfertigte sich mir gegenüber dafür, daß er bei Stresemanns verkehrt habe und heute hier sei. Er habe immer gesagt, daß Stresemann ein wirklich nationaler Mann sei usw. Aber seine Rechtfertigung eröffnete in die Ansichten, die in Garde-Kavallerie-Kreisen Kurs haben, einen tiefen Einblick.
Der Sarg war unter einer goldenen, mit dem schwarzen Reichsadler geschmückten Decke aufgebahrt. Da der Adler rote Krallen hatte, war die Decke verschämt Schwarz-Rot-Gold; nicht wie bei Walther Rathenau offen Schwarz-Rot-Gold. Auch unter den Schleifen an den Kränzen waren mehrere Schwarz-Weiß-Rot. Frau Stresemann saß tief verschleiert neben Hindenburg in der früheren Hofloge. Daneben in der Diplomatenloge alle Botschafter in großer Gala mit Orden. Hermann Müller hielt die Trauerrede; gut, aber schwunglos. Er selbst sah wie ein Todeskandidat aus, mager und gelb. Der kleine Bernhard, Stresemanns Privatsekretär, der hinter Hilferding auf der Regierungstribüne stand, wischte sich immerfort die Augen.
Beim Hinausgehen auf den Platz entstand ein furchtbares Gedränge unter den Trauergästen infolge der Absperrung; ich quetschte mich zwischen Langwerth, Bernstorff usw. qualvoll durch. Der Platz war bis ganz hinten dichtgedrängt voll, es müssen Zehntausende gewesen sein. Kardorff sprach von einer schwarz drapierten Estrade, man verstand aber kein Wort, weil immerfort Flugzeuge laut surrend über dem Platz und dem auf dem Leichenwagen stehenden Sarge kreisten.
Nach der Rede setzte sich der endlose Trauerzug in Bewegung. An der Spitze hinter dem Sarge der greise Hindenburg. Ich schloß mich ihm mit Rauscher an, den ich im Gedränge auf der Freitreppe getroffen hatte. Reichsbanner bildete links und rechts an der Trauerstraße vom Reichstag bis zur Wilhelmstraße Spalier. Vor dem A.A. hielt der Zug. Das Fenster von Stresemanns Arbeitszimmer war schwarz drapiert, und auf der Fensterbrüstung stand ein Korb mit weißen Lilien; das war eigentlich das erschütterndste, menschlichste Bild. Hindenburg verließ hier den Trauerzug und ging ins A.A. hinein; die auswärtigen Diplomaten verschwanden in ihre Autos. Ich fuhr zum Reichstag zurück, wo ich Solf traf, der einen Wagen suchte und den ich zu seiner Wohnung in der Alsenstraße hinfuhr. »Ich habe mich mit Stresemann ausgesöhnt,« sagte er, »obwohl wir im Kriege scharfe Gegner waren. Stresemann war ja damals ein Berserker!«
Berlin. 7. Oktober 1929. Montag
Es zeigt sich immer mehr, in welch gewaltigem Ausmaße das Volk an der Trauerfeier für Stresemann teilgenommen hat. Viele Hunderttausende haben sich vor seinem Sarge verneigt. Eine Zeitung sagt mit Recht, es war kein Staatsbegräbnis, sondern ein Volksbegräbnis. Das Kapital an Prestige, das er hinterläßt, ist unermeßlich; um so sicherer müssen um das Erbe erbitterte Kämpfe entbrennen, innerhalb der Volkspartei, innerhalb des Parlaments, im ganzen Volke. Das zeigt schon die sehr eigenartige Trauerfeier der Volkspartei. Es wird jetzt mit allen Mitteln versucht werden, das Bild Stresemanns ins Antirepublikanische, Chauvinistische umzufälschen, um das moralische Kapital, das er hinterlassen hat, für die Rechte zu retten.
Berlin. 29. Oktober 1929. Dienstag
Vormittags zuerst zu Hilferding, der mir sagte, mein beabsichtigter Schritt bei Snowden sei im Kabinett besprochen und gebilligt worden. Hilferding aber nach wie vor pessimistisch.
Nachher zu Curtius, den ich bei dieser Gelegenheit kennenlernte. Wir sprachen zuerst über Stresemann. Curtius erzählte, er sei am letzten Abend noch bis gegen zehn mit Stresemann zusammen gewesen. Stresemann habe zwar einen Bronchialkatarrh gehabt, den er nicht sehr ernst genommen habe, sei aber sonst auffallend frisch und guter Dinge gewesen. Überhaupt sei er in letzter Zeit viel frischer und gesunder gewesen als vor einem Jahr, wo er sichtbar schwer krank war. Im Haag sei er im Laufe der Konferenz trotz der großen Anstrengungen und Aufregungen nicht müder, sondern eher frischer geworden.
Am Abend vor seinem Tode habe er mit Curtius seine Zukunftspläne besprochen. Er wolle, sobald er sich von seinem Bronchialkatarrh erholt habe, einen kurzen Urlaub nehmen, dann die zweite Haager Konferenz mitmachen, nachher, sobald der Young-Plan im Reichstag angenommen sei, wieder länger auf Urlaub gehen, am 30. Juni 1930 die Befreiungsfeier im Rheinlande leiten und nachher zurücktreten. Dann habe er eine Reihe von Jahren vor sich, in denen er noch von seinem Leben etwas haben könne. Ein paar Stunden drauf war er tot!
London. 7. November 1929. Donnerstag
Nachmittags Empfang bei Mrs. Snowden, den ich benutzte, um mir die Unterredung mit Snowden zu verschaffen. Der Empfang fand in der schönen, alten Dienstwohnung des Chancellor of the Exchequer in 11, Downing Street statt. Schöne, weiß paneelierte Räume mit guten alten Bildern, Brokatvorhängen, schönen Marmorkaminen. Die etwas proletarische Gesellschaft nahm sich darin ein wenig eigenartig aus. Mrs. Snowden, elegant, empfing mit großer Herzlichkeit und versprach mir, dafür zu sorgen, daß ich neben ihren Mann zu sitzen käme und ihn allein sprechen könne. Bald nach mir kam Henderson, mit dem ich ein Gespräch anknüpfte. Dann setzte ich mich zu Snowden, der mich mit großer Herzlichkeit begrüßte: »I am really glad to see you again« usw. Ich sagte ihm, ich möchte gern eine Unterredung mit ihm haben; hier, im Salon, wo wir jeden Augenblick gestört werden könnten, sei es mir nicht möglich, ihm das zu sagen, was ich ihm zu sagen hätte. Er fragte, worum es sich handele? Ich sagte es ihm, und er bat mich, am Sonnabend um elf zu ihm zu kommen.
London. 9. November 1929. Sonnabend
Um elf bei Snowden in seiner Dienstwohnung, 11, Downing Street. Er saß in einem kleinen, hübschen Zimmer im Parterre an seinem Schreibtisch bei einem offenen Feuer. Ich setzte mich ihm gegenüber in einen Lehnstuhl, und wir gingen gleich in medias res. Ich entwickelte ihm die Vorschläge für eine neue Verhandlungsbasis, die ich ausgedacht habe, Vorschläge, die der schwierigen Lage beider Regierungen gerecht zu werden versuchen.
Snowden hörte sich meinen Vortrag sehr aufmerksam und freundlich an, machte keine Einwände, wollte sich nach Schluß Notizen machen, ich sagte ihm aber, wenn der Vorschlag ihn interessiere, so wolle ich ihn ihm im Laufe des heutigen Tages schriftlich schicken, was er annahm. Er sagte, ich wisse ja, wie er zu dieser ganzen Frage der Liquidation fremden Privateigentums stehe, und machte eine Geste, die bedeutete, daß er dafür nicht verantwortlich sei!
Abends allein im ›Savoy‹ gegessen und mir zu meinem heutigen Erfolg eine halbe Flasche Champagner geleistet.
London. 13. November 1929. Mittwoch
Abends um sechs wieder bei Snowden, der drei viertel Stunden lang sehr ernst und eingehend an der Hand meines Briefes Punkt für Punkt die Frage des deutschen Eigentums mit mir durchsprach (obwohl er gestern einen im Ton äußerst schroffen Brief an Sthamer gerichtet hat, in dem er jede weitere Diskussion der Frage ablehnt und in ultimativer Form und unter Drohungen verlangt, die deutsche Regierung solle endlich das von den Engländern vorgeschlagene Agreement unterzeichnen). Er sagte zu meinen Vorschlägen weder ja noch nein, sondern verschanzte sich dahinter, er müsse, ehe er eine Entscheidung treffe, den Bericht der Kommission in Paris abwarten, wo seine Leute von der Treasury mit Fuchs usw. verhandeln. Es schienen sich allerlei Schwierigkeiten für die Inkraftsetzung des Young-Plans zu ergeben. Namentlich die Fragen, die mit der internationalen Bank zusammenhängen, machten ihm viel Sorge.
Er zog dann eine Abschrift des groben Briefes hervor, den er gestern an Sthamer gerichtet und den mir Otto Bismarck gestern gegeben hat. Ich tat so, als kennte ich ihn nicht, las ihn aufmerksam durch und sagte nur, auch wir hätten den Wunsch und das größte Interesse, die Kommissionsverhandlungen möglichst bald zum Abschluß zu bringen, damit die zweite Haager Konferenz stattfinden und der Young-Plan in Kraft gesetzt werden könne. Aber ich müsse ihm nochmals sagen, welchen Wert eine Geste der englischen Regierung haben würde, die uns erlaube zu sagen, sie habe sich generös gezeigt. Snowden: dann werde die deutsche Regierung sofort aus dieser Geste die Folgerung ziehen, daß sie die ganzen Liquidationsüberschüsse fordere, indem sie das Entgegenkommen der englischen Regierung als ein Zugeständnis auslege, daß sie im Unrecht sei.
Er schien aber doch stark erschüttert, blieb bis zuletzt ernst, ruhig und wohlwollend und faßte die Unterredung mit den Worten zusammen: »You have touched my heart, but not my purse.« Zum Schluß sagte er mir, er wolle sich Freitag meinen Radiovortrag anhören, und bat mich, wenn ich wieder nach England käme, ihn zu besuchen.
London. 14. November 1929. Donnerstag
Lunch, den mir meine Verleger, Howe und Bernard, in einem neuen, außergewöhnlich hübschen und guten Restaurant Borometti in Soho Square gaben. Mein Übersetzer, der junge Robson-Scott, ein netter Junge (Oxford), auch dabei.
Nachmittags zuerst bei Leonard und Virginia Woolf in Tavistock Square Tee. Leonard Woolf sprach sehr warm von meinem Buch und sagte, er habe es für die morgen erscheinende ›Nation‹ besprochen. Virginia Woolf sagte: »You know, you have been spoiling my sleep this last week, by my husband insisting on reading to me passages of your book.« Wir sprachen dann sehr eingehend über Rathenau und Stresemann.
Nachher zu Bernard Shaw, der jetzt nicht mehr in der Adelphi Terrace, sondern 4, Whitehall Court wohnt. Sehr luxuriös mit herrlichem Blick auf die Themse. Seine Frau, sehr nett und comfortable wie immer, ist etwas stärker geworden, er noch immer schlank und beweglich wie ein Jüngling, obwohl ganz weiß. Er sprach in der lebhaftesten Weise über Vergangenes und Gegenwärtiges. Wir frischten Reminiszenzen auf von unserer gemeinsamen Kampagne für good will zwischen Deutschland und England vor dem Kriege und von dem Frühstück bei Lichnowsky, wo er diesen vergeblich vor Grey warnte. Dann erzählte er von seinem Zusammensein mit Richard Strauß in Brioni diesen Sommer: »The astonishing thing was that as long as Strauss and I were alone in Brioni, nobody seemed to take any notice of us; but when Gene Tunney (der Boxer) came and joined us, we could not get away from the photographers; they were always all around us taking photographs and films and following and watching us.«
Wir sprachen dann von Lawrence (Colonel Lawrence, dem arabischen Lawrence), mit dem Shaws intim befreundet sind; über seine eigenartige Scheu vor der Öffentlichkeit. Als Lawrence sich einmal darüber beklagte, daß jede seiner Bewegungen von der Presse beobachtet werde, hat ihm Shaw gesagt: »Well, of course, they notice you; you always hide just in the middle of the limelight.«
Bevor ich zu Woolfs ging, hatte ich mit Garvin Generalprobe für unser morgiges Rundfunkgespräch im BBC-Gebäude. Alles wurde noch einmal ausführlich durchgesprochen und nach Zeit festgelegt.
London. 15. November 1929. Freitag
Früh in der ›Times‹ die offiziöse Erklärung, die in schroffer und ganz ungewöhnlicher, ultimativer Form unsere Forderungen in bezug auf das deutsche Eigentum zurückweist. Ich hatte gleich das Gefühl, daß ich nicht gerade ausgerechnet am Tage, wo die englische Regierung der deutschen dieses Ultimatum ins Gesicht wirft, über deutsch-englische Beziehungen sprechen könne. Ging auf die Botschaft und besprach die Sache mit Dieckhoff und dem Botschafter, auch mit Bernstorff und Otto Bismarck. Alle billigten meinen Standpunkt, daß ich nicht meinen Rundfunk-Vortrag unter diesen Umständen heute halten könne.
Ich telephonierte daher an den Chef des Rundfunks, Sir John Reith, ich könne heute nicht sprechen, sei sehr erkältet, möchte ihm aber vertraulich einiges hierzu sagen, wenn er zu mir ins Hotel kommen könne. Nach einer Viertelstunde ließ er sich melden, und ich sagte ihm, ich sei zwar in der Tat erkältet, aber der wirkliche Grund, warum ich mich entschlossen hätte, heute nicht zu sprechen, sei das Kommunique in der ›Times‹. Es sei mir unmöglich, wenn ich spräche, stillschweigend darüber hinwegzugehen, und wenn ich es erwähnte, müßte ich sagen, welchen Eindruck es in Deutschland machen werde; und das würde ganz gewiß nicht zur Besserung der deutsch-englischen Beziehungen beitragen.
Berlin. 20. November 1929. Mittwoch
Früh an. Bald nach meiner Ankunft rief mich Ow an und teilte mir mit, die englische Regierung habe durch Harold Nicolson eine offizielle Demarche im A.A. gemacht, um die Erklärung abzugeben, daß weder die Treasury noch das Foreign Office irgend etwas mit der Veröffentlichung des Snowden-Briefes in der ›Times‹ am Fünfzehnten zu tun gehabt hätten; dabei habe Nicolson offiziell die Vermutung geäußert, daß die Veröffentlichung von deutscher Seite erfolgt sei, und den Verdacht ausgesprochen, daß ich(!!) vielleicht deren Urheber sei. Ow sagte mir, Sthamer habe die Anweisung erhalten, eine Gegendemarche bei Henderson zu machen und zu erklären, daß ich mit der Sache nichts zu tun hätte.
Berlin. 29. November 1929. Freitag
Nachmittags bei Harold Nicolson in der Englischen Botschaft. Er war sehr freundschaftlich und boyish; saß mit den Beinen über die Stuhllehne baumelnd und sprach wie ein englischer Undergraduate in einem College zu einem andren Undergraduate. Er sagte, er habe absichtlich bei seiner Mitteilung an Curtius meinen Namen genannt, obwohl er damit seinen Auftrag überschritten habe, um mir die Möglichkeit zu geben, mich zu verteidigen.
Berlin. 3. Dezember 1929. Dienstag
Lampels ›Pennäler‹ in der ›Gruppe junger Schauspieler‹ im Theater am Schiffbauerdamm gesehen. Die Jungen (alle so um Achtzehn, Zwanzig herum) spielen ausgezeichnet. Wolfgang Zilzer spielte die Hauptrolle, einen überarbeiteten, vom verrückten Ehrgeiz eines dummen Vaters vorwärtsgepeitschten Primaner, erschütternd, er verspricht ein ganz großer Schauspieler zu werden. Vor mir saß George Grosz mit seiner Frau, der ebenfalls voller Bewunderung für Zilzer war.
Berlin. 6. Dezember 1929. Freitag
Nachmittags nach Berlin, wo abends großes Diner bei Morgans von der Dawes-Kommission. Da morgens in den Zeitungen eine Denkschrift von Schacht gegen die Reichsregierung und insbesondere Hilferding als Finanzminister abgedruckt stand, die wie ein Pronunziamento wirkt und die Sensation des Tages ist, war ich nicht wenig erstaunt, aus der Tischordnung zu sehen, daß bei Tisch Schacht und Hilferding rechts und links von Mrs. Morgan mir gegenübersitzen sollten. Außer diesen beiden waren noch Schuberts, Kühlmann, Ritter vom A.A., der alte Fürstenberg usw. da. Ich sagte Hilferding, ich mache mich auf einen Stierkampf bei Tisch gefaßt. Aber die beiden drehten sich bloß den Rücken zu und sprachen nicht miteinander. Nach Tisch sang die Gadski Isoldes Erzählung und den Liebestod. Diese Musik ist im Salon mit Klavierbegleitung heute unmöglich geworden. Man empfindet nur: was geht mich das alles an? Das Geschwollene, Unwahre, Verlogene, das im Theater bei Orchesterbegleitung der musikalische Glanz verdeckt, wird unter dem dünnen Klang des Klaviers unerträglich fühlbar.
Mit Schuberts dann auf die Französische Botschaft, wo Quartett-Abend und fünfhundert Menschen; ›Tout Berlin‹. Als ich zufällig mit Harold Nicolson und Helene Nostitz zusammenstand, kam Kerr auf uns zu und apostrophierte uns, indem er eine Rundbewegung mit der gepflegten Hand machte: »Ah, drei Schriftsteller, die keine Schriftsteller sind!« Wir guckten ihn alle drei sprachlos an, aber es sollte offenbar ein hoch geistvolles Kompliment sein. Dann merkte er, daß er offenbar ausgerutscht sei, versuchte noch, etwas hinzuzufügen, das ganz unverständlich war, und entfernte sich, ohne daß einer von uns dreien ein Wort zur Erwiderung oder zum Dank für das schöne Kompliment gefunden hätte.
Berlin. 8. Dezember 1929. Sonntag.
Gegessen bei Baby Goldschmidt-Rothschild am Pariser Platz. Acht bis zehn Personen, kleines Diner, äußerster Luxus, vier unschätzbare Meisterwerke von Manet, Cézanne, van Gogh, Monet an den Wänden. Dreißig Briefe von van Gogh in einem überreichen, häßlichen Einband wurden nach Tisch zu Zigaretten und Kaffee herumgereicht. Armer van Gogh! Man empfindet schließlich pogromhaft: diese Leute müßte man totschlagen. Nicht Neid, sondern Ekel über die Verfälschung und Verflachung geistiger und künstlerischer zu bloß materiellen Werten, zu Gegenständen des ›Luxus‹.
Berlin. 12. Dezember 1929. Donnerstag
Vormittags bei Nicolson in der Botschaft, um mit ihm die weitere Behandlung der Henderson-Angelegenheit zu besprechen. Ich erzählte ihm dann vom alten Weimar der Vorkriegszeit, Hof, Großherzog usw. Wir kamen dann überhaupt auf die Vorkriegszeit. Er meinte: in Deutschland überschätze man allgemein Eduard VII.; sein Vater, der ihn sehr genau gekannt habe, habe ihm immer gesagt, Eduard VII. sei furchtbar faul gewesen und habe eigentlich gar keine Kenntnisse gehabt. Er habe nur eine große Qualität gehabt: he was somebody you could trot out on occasion, um irgend jemanden einzufangen. So habe er 1908(?) Iswolski, der wegen der Meerengen-Frage nach London gekommen war, so eingeseift, daß er die Meerengen ganz vergessen und nicht einmal erwähnt habe. Dem Kaiser schreibe er nicht die Hauptschuld am Krieg zu, sondern Bülow (was ganz meine Ansicht ist). Der Kaiser habe manches ganz richtig und viel richtiger als seine Umgebung gesehen. Katastrophal seien nur seine Marine-Marotte (sein Vertrauen auf Tirpitz) und sein Haß gegen seinen Onkel Eduard gewesen.
Hinzuzufügen, was Nicolson über die Wirkungen des Krieges sagte. Für England seien sie schlimmer als für Deutschland oder Frankreich gewesen. In Deutschland könnten wir auf dem fleißigen, wissenschaftlichen ›spirit of investigation‹ des Volkes wiederaufbauen, England habe aber immer auf seiner Tradition, seinem Sinn für fairness und seinem team spirit geruht; diese seien durch den Krieg tief erschüttert, und man sehe nicht recht, was an ihre Stelle treten solle. Er drückte sich sehr pessimistisch über Englands Zukunft aus. Ähnlich pessimistisch wie in London mir gegenüber Beatrice Webb.
Berlin. 17. Dezember 1929. Dienstag
Frühstück bei Jordans (vom A. A.) zu Ehren von Björn Björnson, außerdem Georg Bernhards, der junge Meyrinck und ein oder zwei Attachés vom Amt. Björnson trotz seiner siebzig Jahre sprudelnd lebhaft. Als nach dem Frühstück Frau v. Siemens kam, begrüßte er sie mit den Worten: »Waren wir nicht schon einmal vor dreißig Jahren fast verlobt?« Seine Frau, neben der ich saß, erzählte von ihrer viermonatigen Tournee in Amerika, wo sie ununterbrochen gefeiert worden seien. Björnson habe auf eine Ansprache, in der ein Amerikaner Amerika als ›God's own Country‹ gepriesen habe, erwidert, ob Gott Amerika geschaffen habe, wisse er nicht, aber wenn dem so sei, so sei Norwegen vom Heiligen Geist geschaffen, und das sei viel feiner.
Berlin. 31. Dezember 1929. Dienstag
Vormittags rief mich F. Wise an, der auf der Durchreise nach Moskau einen Tag hier ist. Ihn zum Frühstück im Autoklub eingeladen. Meine Darstellung der Genua-Konferenz mit ihm besprochen. Er sagte, er habe Lloyd George veranlaßt, sie zu lesen, und mit ihm eingehend darüber gesprochen. Ich fragte: wie sie Lloyd George gefallen habe? Wise: gut, bis auf die Schilderung der Vorgänge beim Abschluß des Rapallo-Vertrages. Er wolle mit Unterstützung von Lloyd George seine andre Auffassung in einem Zeitschriftenartikel formulieren. Der Rapallo-Vertrag sei eine Katastrophe gewesen, deren Bedeutung Lloyd George in den Worten zusammengefaßt habe: ›If there had been no Rapallo there would have been no Ruhr‹.
Um vier nach Oberhof ab. Von Erfurt im Auto hinauf und mit Wilma, Jacques und Géraud bei Georg Bernhards im Golf-Hotel Silvester gefeiert. Ein trauriges Jahr zu Ende, das mir schwere menschliche Verluste gebracht hat.