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Rom. 22. Januar 1922. Sonntag
Der Papst ist heute früh um sechs gestorben. Er war keine große, aber eine hervorragend für seine Stellung passende Persönlichkeit: das genau richtige Rad in der gewaltigen Maschine der Kirche und der noch gewaltigeren der Welt. Eiskalt, klug, aber mit der nötigen Borniertheit begabt, ziemlich temperamentvoll und unter der Eiskruste des Weltmanns und Diplomaten sogar gütig. Ich sehe ihn noch als kleinen, weißen, hinkenden Landpfarrer hereinkommen, eine Spur Veitstanz im Gesicht, dann kurz und scharf sprechend, ein Männchen ohne jeden souveränen Glorienschein. Man bekam den Eindruck, daß er viel Ärger im Leben gehabt habe und daß etwas von diesem Ärger, wie Pulverdampf noch lange nach einer Schießerei, immer in seiner geistigen Atmosphäre mitschwebte.
Gegen elf vormittags nach Sankt Peter. Ein großes, gleichgültiges Sonntagspublikum ging in der Kirche hin und her. An dem einen oder andren Altar wurden Messen gelesen. Von innerer Bewegung keine Spur. Man hatte den Eindruck eines riesigen Palastvorzimmers, in dem teilnahmslose, aber neugierige Menschen auf irgendein Ereignis warten.
Nachmittags in Sant' Onofrio Tassograb, Tassozimmer. Säulenvorhalle mit einer kleinen immergrünen Terrasse, von da Blick auf Rom. Stimmung, in die der Tassotod hineinpaßt. Er war nur fünfundzwanzig Tage im Kloster, sterbend. Eine kleine Bleitruhe, kaum so groß wie ein Handköfferchen, steht im Sterbezimmer; in dieser noch sechs Jahre nach seinem Tode seine Gebeine, das, was von ihm übrigblieb, gesammelt.
Zum Tee bei Frau von Hindenburg, die mit dem Papst noch vor zehn Tagen gesprochen hat. Sie sagt, er sei wegen der Lage Deutschlands sehr besorgt gewesen. In der Tat ist er ein Verlust für uns. Man erwartet als Nachfolger nach Frau von Hindenburg entweder Gasparri oder Merry del Val (ein ›Borgia‹, wie sie sagt).
Rom. 23. Januar 1922. Montag
Öffentliche Aufbahrung und Ausstellung des Papstes in der Peterskirche. Man wurde in einer ungeheuren, nicht abbrechenden Menschenmenge zwischen Holzschranken und einem Spalier von italienischen Soldaten vorbeigepreßt. Der Papst lag vor dem Altar in einer Seitenkapelle auf einem etwa mannshohen, purpurbeschlagenen Gerüst zwischen Kerzen und unbeweglich stramm präsentierenden Nobelgarden im päpstlichen Ornat, roten Schuhen, roten Handschuhen schräg aufgerichtet da, das Gesicht im Tode von großer Schönheit und Hoheit, etwas angeschwollen und dadurch fast kindlich rein und faltenlos. Das Kindliche überwog und wirkte in dem umgebenden Pomp ergreifend hoheitsvoll. Um so unsäglich roher und empörender diese gaffende Menschenmenge, die völlig teilnahmslos, lachend, Witze machend sich vorbeischob. Ich sah nicht ein ergriffenes Gesicht. Der eisige Regentag, der die Kirche ganz mit einem trüben, ausdruckslosen Grau erfüllte, erhöhte den Eindruck der Gleichgültigkeit, der völligen Teilnahmslosigkeit der Welt an diesem Toten.
Rom. 31. Januar 1922. Dienstag
Im Hotel von einem Hoteldieb bestohlen. Livius wiederaufgenommen, aber weniger wegen der geschichtlichen Vorgänge, die er erzählt, als um von einem Zeitgenossen des Augustus zu hören, wie er sich ›den Römer‹ vorstellt, den Schöpfer von Roms Weltmacht. Überhaupt: Wie sah ›der Römer› (der ideale ›civis Romanus‹) aus im Geiste und in der Vorstellung des Polybius, des Diodor, des Cicero, des Vergil, des Horaz, des Seneca, des Plutarch, des Marc Aurel? Wie in dem des Augustinus? Wie in Wirklichkeit? Wahrscheinlich war der ›civis Romanus‹ überhaupt nicht das, worauf ursprünglich und instinktiv die Institutionen Roms eingestellt waren, sondern die familia (wie in der griechischen Welt ursprünglich die polis). Rom fand dann aber nicht, wie die Griechen von der polis, von der ›familia‹ den Übergang zum Individuum, zum Menschen, das heißt zum Menschen seiner Prägung, der politischer Zweck werden konnte. Der ›Römer‹: ein taktisches Genie, das immer einen über sich selbst hinausliegenden Zweck voraussetzt; ein Wesen, dessen Geist sich ganz natürlich zu wirksamen Formeln und Rezepten des Angriffs und der Verteidigung (Befestigung) verdichtet: der ›procédure‹ im Frieden und im Kriege; des wirksamsten Vorgehens gegen Gegner oder Positionen, des instinktmäßigen Wissens um das, was zu einem praktischen Erfolg notwendig, was überflüssig ist. Daher auch Architekt. Architektur seine einzige große Kunst. Architektur setzt auch immer einen Zweck voraus, der über den Architekten und über das Architekturwerk hinausliegt.
Diese Ideen sind an den gesamten antiken Schriftstellern nachzuprüfen.
Absolut aristokratische Grundauffassung Roms: der Staat und das Individuum (der Mensch), beide letzten Endes um der großen Familien willen da, ihr Wozu? diese großen Geschlechter. Das würde das Fehlen eines Wozu später erklären: als die Auffassung und die großen Familien selbst fortgefallen waren. ›Poly-dynastische‹ Weltanschauung.
Rom. 3. Februar 1922. Freitag
Mommsens Kapitel I zu Ende. Was liegt nach ihm (wenn ich ihn zusammenfasse) der primitiven römischen Gesellschaft und civitas zugrunde? Die Anschauung, daß einem überpersönlichen Gebilde (Familie, Zweckverband) durch einen bestellten Vertreter (Hausvater, König, Konsul, Magistrat) das unbeschränkte Recht über Leben und Tun seiner Mitglieder zusteht, ja über jede einzelne von ihren Lebensäußerungen, insofern Interessen dieses sie einspannenden Gebildes in Frage kommen; insofern solche Interessen nicht berührt werden, aber vollkommene Gleichgültigkeit am Platze ist, also insoweit ›Freiheit‹. Daß also das Individuum nur in diesem Zusammenhange und dieser Unterordnung Wert, ja überhaupt Existenzberechtigung hat, daß es im übrigen nicht in Betracht kommt, nicht einmal Beachtung verdient (daher diese sehr eigentümliche ›Freiheit‹). Dieses scheint mir die Grundanschauung des römischen Lebens.
Daneben eine scheue Religiosität, die hinter jedem Vorgang eine Art von Gespenst ahnt, einen besonderen, diesem Vorgang eigenen Geist, der ihn leitet, und die sich deshalb darin erschöpft und zersplittert, diesen zahllosen, flüchtigen, zwar persönlichen, aber umrißlosen Gespenstern beizukommen, um sie praktischen Zielen nutzbar zu machen.
Das ist das Schema des römischen Lebens.
Frage: warum und wie innerhalb dieses engen und flachen Schemas so wirksame und innerlich geschlossene und starke Persönlichkeiten entstanden wie kaum sonst in der Weltgeschichte?
Schema der römischen starken Persönlichkeit: der römische Hausvater, der pater familias. Er ist der typische Römer: der einzige Typus, den Rom entwickelt hat. Es hat ihn nicht einmal über das rein Praktische hinaus vertieft zum ›Weisen‹ wie die Griechen und Inder, zum ›Patriarchen‹ wie die Juden.
Die (mißglückte) Idee der Stoiker war die, diesen römischen Hausvater sittlich und metaphysisch zu vertiefen zu einem römischen Typus des Weisen. Marc Aurel liegt in dieser Linie.
Der echte Hausvater kann sich aber nur in der echten patriarchalischen Familie bilden; als es keine echten römischen Familien mehr gab, gab es daher nur noch Ersatz-Römer. Die echte römische Familie mußte aber aufhören, als ihre wirtschaftlichen, politischen und sittlichen Voraussetzungen aufhörten. Gegen diese Notwendigkeit, dieses Schicksal kämpfen Zensoren, ›heilige‹ Dichter, Philosophen, Stoiker umsonst.
Der echte Hausvater weiß auch, wozu er lebt: für den Schutz, die Machterweiterung, Bereicherung usw. seiner Familie. Ihm ist der Zweck des Lebens kein Rätsel.
Rom. 4. Februar 1922. Sonnabend
Petersplatz. Vormittags. Schönes, warmes Sonnenwetter. Große Menschenmenge, die die Verkündung des neuen Papstes erwartet. Alles sieht gespannt auf das dünne, lange Ofenrohr, das sich von dem Giebel der Sixtinischen Kapelle krumm und mühsam hochschlängelt. Der helle, dünne weiße Rauch verkündet, wenn er erscheint, daß der Papst gewählt ist, der dicke schwarze eine ergebnislose Abstimmung. Hinter dem Ofenrohr geht das Wunder der Papstdesignation durch den Heiligen Geist vor sich. Wir sind weit von Parsifal, dritter Akt, entfernt. Die Gralstaube und das Ofenrohr: Wirklichkeit und Phantasie.
In der Menge herrscht die Stimmung eines großen Rennens. Zeitungshändler, Postkartenverkäufer, Engländerinnen, die sich einen Klappsitz mitgebracht haben, kinderreiche Familien, sogar mit Säuglingen, dazwischen viel Geistlichkeit, auch Mönche, Nonnen, und rings um die Kirche und an den Kolonnaden entlang feldgraues Militär. Auch eine Wagenburg: Droschken, Luxusautomobile, Taxis. Auf dem Dach der Kolonnade rechts die römische Aristokratie und das diplomatische Korps. Der Parsifalstimmung ist das Ofenrohr noch näher als das Publikum.
Eine Nonnenschar: aus den uniformartigen Kleidern treten die einzelnen Gesichter sehr verschieden hervor. Eine Uniform, ein Typus sind dem scharfen Hervortreten persönlicher Eigentümlichkeiten eher günstig als das Gegenteil. Aber diese Individualisierung kann sich doch nur innerhalb der durch die Uniform oder den Typus gezogenen Grenzen vollziehen. Vor allem aber, auf das alte Rom und seinen einzigen Typus des ›Familienvaters‹ angewendet: dieser Typus war keiner, der über sich hinaus wies oder über die nächsten Zwecke, denen er seine Entstehung verdankte.
Nach der ergebnislosen ›schwarzen‹ Rauchwolke (die aber auffallend weiß war, wenn auch wollig und dick) in die Basilika. Die Peterskirche das einzige Meisterwerk, dessen Sphärengesang mit den einfallenden Sonnenstrahlen in ihrer astralen Gradheit eine Harmonie bildet. Die einfallenden Sonnenstrahlen sind der schönste, ja einzig würdige Schmuck dieser schwebenden, wie Planetenbahnen erhabenen Marmorkreise; sie gehen mit ihnen eine Verbindung ein. Hier ist Michelangelo. Wie ganz anders die Wirkung der Sonne durch die bunten, wunderwirkenden Glasfenster gotischer Dome. Und doch ist Michelangelos Wirkung nicht weniger geheimnisvoll, ja mystisch: nur ist es eine andre, ganz neue Mystik, die die Zahl und die Natur und die Wirklichkeit hinnimmt. Sind wir schon überhaupt so weit?
Rom. 5. Februar 1922. Sonntag
Wieder auf dem Petersplatz. Heute ist die Menge ungeheuer. Um elfeinhalb segnet eine Frau, auf dem Postament der rechten Ecksäule der Fassade stehend, die Menge mit großen, grotesk wirkenden Bewegungen; sie spricht dazu, wie verzückt gegen den Himmel blickend, unverständliche Worte. Die Menge lacht, klatscht und schreit. Macht die Frau Ernst oder Scherz? Ist es ein weiblicher Antichrist? Man weiß nicht.
Um elfdreiviertel ist der Platz, das gewaltige Rund zwischen den Berninischen Kolonnaden, ganz voll. Wenn irgendein starkes Gefühl oder gar das christliche der Liebe diese Menge erfüllte, wäre sie unüberwindlich. Sie sieht aber nur auf das Ofenrohr; lauter Atome. Wenn eine Panik entstünde oder wenn ein Gedanke hier zündete: was dann?
Rom. 6. Februar 1922. Montag
Heute früh ist endlich der Papst gewählt worden: Ratti, Pius XI. Es regnete. Die Menschenmenge war deshalb kleiner als gestern; nur etwa bis zum Obelisk: und lauter Regenschirme. Um elfdreiviertel sah man undeutlich gegen den Regenhimmel etwas schwachen Rauch aus dem Ofenrohr aufsteigen, dicht werden, dann aber gleich aufhören. »È nero!« »È bianco! è bianco! È fatto il Papa! È fatto il Papa!« Sofort ein lebensgefährliches Zuklappen von Regenschirmen und Laufen, Stürzen nach den Kircheneingängen, die aber plötzlich geschlossen werden; vor ihnen steht aufmarschiert italienisches Militär. Da von unten alles heraufdrängt, wird das Gedränge unter den wieder aufgeklappten Regenschirmen fast unerträglich. Die Aufregung ist auf ihrer Höhe angelangt. Alle versuchen, zwischen den Regenschirmen hindurch auf die Loggia hoch oben in der Fassade der Peterskirche zu sehen, von der aus der Name des Erwählten verkündet werden soll.
Es dauert fast drei viertel Stunden, dann plötzlich: »Ombrelli, ombrelli!«; in atemloser Spannung werden die Regenschirme (mehrere tausend Regenschirme) zugeklappt. Die Glastür der Loggia ist geöffnet worden, Diener treten heraus und entfalten über der Brüstung einen großen, wappengeschmückten Samtteppich, dann sieht man ein großes, goldenes Kruzifix und darunter über dem Rand der Brüstung den Kopf und die gestikulierenden Hände eines Kardinals. Totenstille. Der Kardinal verkündet: Seine Eminenz – nach Eminenz macht er eine Pause, dann fährt er fort: der Allerehrwürdigste Erzbischof von Mailand Kardinal Ratti sei zum Papst gewählt und habe den Namen Pius XI. angenommen. Ungeheurer Jubel, Hüte- und Tücherschwenken, Evviva-Rufen.
Aber der Kardinal und die Monsignores machen Zeichen, die Menge soll bleiben, es steht noch etwas bevor. Und nach etwa zehn Minuten tritt das große ›Unerwartete‹ ein: Der Papst kommt selbst, tritt zum ersten Male seit 1870 vor die auf freiem Platz versammelte Menge Roms. Man sieht dicht über dem Geländer der Loggia einen weißen, segnenden Arm, ein etwas volles, nicht außergewöhnliches Gelehrtengesicht und hört eine tiefe, melodische, etwas salbungsvolle Stimme sehr klar und deutlich den Segen sprechen über die Menge. Diese antwortet jedesmal, wenn die Stimme eine Pause macht, mit einem tiefen ›Amen‹.
Vor der Peterskirche aufmarschiert salutiert das feldgraue italienische Militär, auf dem Altan der Berninischen Kolonnade zeigen sich die Nobelgarden des Papstes in ihren scharlachroten Galauniformen und entfalten das päpstliche Banner; und trotz dieses kriegerischen, zu den Worten des Papstes nicht recht passenden Aufputzes ist der Augenblick groß: die Geste die eines großen Papstes oder mindestens die einer großen, wiederaufgenommenen Tradition. Ein Hauch aus dem Evangelium, etwas wie ein Widerhall von der Weihnachtsbotschaft schwebt hernieder.
Und dann muß ich an eine ähnlich salbungsvolle tiefe Stimme denken, die ich ebenfalls von einem hohen Balkon aus zu einer großen Menschenmenge sprechen hörte an einem dunklen Winterabend in Berlin: Karl Liebknecht, als er, in der Dunkelheit ganz unsichtbar, nur Stimme, im Januar 1919 vom Rathaus zu der rotgeschmückten Menge auf dem Alexanderplatz sprach! Wer war der echtere, war der wirksamere Friedensfreund? Liebknecht oder heute der Papst?
Drolligerweise drängte sich im Augenblick, wo der Kardinal Bisleti von der Loggia aus den neuen Papst verkündete, eine Schar von Zeitungsverkäufern in die Menge, die Extra-Ausgaben des ›Messagero‹ verkauften, in denen, sensationell aufgemacht, mit einem großen Porträt auf der ersten Seite der Kardinal Tacci als neuer Papst gemeldet wurde! Das Blatt ging als Kuriosität reißend ab.
Rom. 7. Februar 1922. Dienstag
Der Papst hat Gasparri als Staatssekretär bestätigt; was also mit Nachdruck sein Festhalten an der Politik seines Vorgängers anzeigt.
Rom. 13. Februar 1922. Montag
Krönung des Papstes. Ich war, obwohl die Einladung erst auf halb neun lautete, schon um sechseinhalb in der Peterskirche, die bereits um diese Zeit zu drei Vierteln voll war. In der Mitte war ein Weg durch Absperrung frei gehalten, um den Hauptaltar im Kreise waren die Tribünen, der Rest der Kirche war den bloß mit Karten Bedachten (Jordan hatte mir keinen Tribünenplatz mehr verschaffen können) frei gegeben. Hier entwickelte sich mit den fortgesetzt neu Ankommenden allmählich ein lebensgefährliches Gedränge. Diese ungeheure Menge von Kartenbesitzern – es müssen wohl zehn- bis zwanzigtausend Menschen gewesen sein, zum großen Teil Geistliche, Mönche, Schwestern, Zöglinge der kirchlichen Kollegien und Fremde, aber auch viel römisches ›Volk‹ stieß und drängte unausgesetzt, so daß es ein Wunder ist, wenn kein Unglück geschehen ist.
Die Kirche war in der Morgendämmerung erleuchtet, sah äußerst prächtig mit ihren spiegelnden und blitzenden Marmorwänden aus, aber mehr wie ein gewaltiger, überreicher Palast. Nur Bernini kam zu Worte, nicht Michelangelo. Und zwischen diesen sehr weltlichen Wänden diese Menge, die die Sitten eines Preisboxkampfes hereinbrachte, trug auch nicht zur Andacht oder Erhabenheit bei.
Gegen halb zehn kam endlich der Festzug des Papstes, der Papst selbst hoch über den Köpfen der Menge auf der Sedia gestatoria getragen wie ein weißgoldenes Gespenst zwischen weißen Straußenfederwedeln, mechanisch und offenbar geistesabwesend fortwährend segnend, ein rundes, faltiges, graubleiches, ganz ausdrucksloses Gesicht unter dem riesigen goldenen Zuckerhut. Die Menge schwenkte die Hüte und Taschentücher, schrie, so daß man die silbernen Posaunenstöße nur immer wie durch Wolken erfaßte. Der Zug schritt sehr langsam hindurch; hielt von Zeit zu Zeit.
Die Erscheinung des Papstes, dieses Weiß und Gold zwischen weißen Federfächern hoch oben wie in der Luft schwebend, war malerisch und geschichtlich erhaben, das Ganze aber, die Schweizergarden in mittelalterlichen Silberrüstungen, die Kammerherren, zum Teil im Frack, zum Teil in Trachten aus dem Cinquecento, der Klerus und die Kardinäle in ihrem pompösen Purpur eine merkwürdige Mischung von spätantiker Pracht, mittelalterlichem Kriegswesen, Renaissancehof, Historie, Theater, ja Zirkus, die in ihrem Durcheinander und namentlich in der Umrahmung einer modernen Totalisator- und Rennbahnmenge nicht eine Spur von wahrer Andacht oder Sammlung aufkommen ließ. Man hatte nur das Gefühl einer Vorführung, eines sehr alten und ehrwürdigen und glanzvollen, aber innerlich ganz toten Schauspiels. Eine Messe in einer Dorfkirche ist seelisch tausendmal prächtiger.
Abends in der Villa Bonaparte bei Bergens gegessen mit den Erzbischöfen von München und Breslau, dem Kardinal Faulhaber und dem Kardinal Bertram, und mit dem Nuntius in Ungarn, Schioppa. Faulhaber macht einen guten Eindruck, männlich und klug, allerdings reaktionär; Bertram alt, weich und vielleicht hinterhältig.
Rom. 25. Februar 1922. Sonnabend
In letzter Zeit vormittags im Museum der Villa Giulia; phantastischer Hochrenaissancebau, sehr schön. Museum römischer und latinischer Altertümer aus der Zeit von etwa 700-100 v. Chr. Man sieht, wie durchtränkt mit griechischer, frühgriechischer, archaischer, ionischer, hellenischer Kunst und Kultur der Boden war, auf dem Rom wuchs.
Nachmittags meistens Polybius, ein wirklich großer Historiker, nur wenig hinter Thukydides zurückstehend, sehr viel tiefer, klarer, weitsichtiger, staatsmännischer, wissenschaftlicher als Livius, von dem ich kürzlich die ersten zehn Bücher gelesen habe.
Rom. 26. Februar 1922. Sonntag
Abends bei Bergens im Grand-Hotel gegessen mit Neurath und seiner Frau, die gestern eingetroffen ist. Bergen sagte, er sei nicht ohne Besorgnis wegen der weiteren Entwicklung der Politik des Papstes. Er sei ganz und gar Bücherwurm und als solcher Theoretiker und eigensinnig. Neurath klagte über zu wenig Fonds. Man habe ihm nur dreihunderttausend Lire mitgegeben. Damit könne er nichts machen.
Reise. Brenner-Innsbruck. 11. März 1922. Sonnabend
Bei Ankunft auf Brenner und Zollrevision fehlte mein Koffer. Da ich ihn nicht den Zufällen von zwei Grenzen überlassen wollte, bei scheußlichem Schneematsch in dem scheußlichen Brennergasthof (Goetheschen Angedenkens), der voll von lauten Italienern war, geblieben. Die Italiener, Bahnbeamte, tranken mehr, als sie vertragen konnten, und gerieten schließlich in eine Schlägerei mit dem Wirt, den sie mit Stühlen niederschlugen: Geschrei, Karabinieri, der Wirt wurde blutüberströmt aufgehoben. Ich fragte ihn nachher, was los war. Er antwortete: »Es sind halt Italiener, und wir sind Deutsche. Das haben wir jeden zweiten, dritten Tag so.« Die Kellnerin behauptete allerdings, es käme das erste Mal vor. Jedenfalls vergiftet die Herrschaft einer fremden, nicht gewollten Oberschicht alle Vorfälle und Beziehungen. Das wissen wir schon aus dem Kriege; es ist im Frieden nicht anders.
Abends in Innsbruck, wo mein Bummelzug endgültig haltmachte. Der Gepäckträger bekam, um mein Gepäck in den ›Tiroler Hof‹ gegenüber vom Bahnhof zu bringen, dreihundert Kronen. Im Hotel kostet ein Kalbskotelett tausend Kronen; mein sehr frugales Abendessen kam auf über dreitausend Kronen. Allerdings bekam ich für hundert italienische Lire siebenunddreißigtausend Kronen. Das Publikum (scheinbar fast nur Amerikaner und Engländer) äußerlich elegant, die Männer im Smoking, die Frauen halbnackt. Nach Tisch wurde getanzt, Shimmy und Foxtrott. ›Wintersport‹-Publikum wie in Caux.
Als ich nachts um drei weiterfuhr, herrlicher Mondschein; die Berge beschneit und gewaltig über den Häusern der Stadt.
Reise. München-Berlin. 12. März 1922. Sonntag
Früh in München. Mir ging das Herz auf nach so vielen Monaten wieder in der deutschen Umgebung. Grauer, halbbewölkter Vorfrühling. Das schlafende Land herb und geheimnisvoll in seiner feuchten Trächtigkeit. Eine gewisse Gelassenheit zeichnet diese Landschaft, ihre langsam keimende Frucht, den blassen, nur zögernd in den hellen Tag übergehenden Himmel aus. Sie scheint den Herbst mit seinen braunen, toten Gräsern und Blättern, den Winter mit seinem Schnee und Reif nur ungern abzustreifen. Wie anders als der flammende, rasche Süden, das widerstandslos strahlende Himmelslicht und ungeduldige Hervorbrechen der Blüten schon im Winter an Baum und Strauch. Der Süden ist wie ein stürmisch befruchtender Jüngling: Apollo; der Norden wie eine unter Schmerzen langsam ihre Frucht tragende Frau: eine auf das Dulden und Schaffen eingestellte Natur.
Berlin. 20. März 1922. Montag
Um eins bei Rathenau im A. A. Er leitete das Gespräch ein mit ausführlichen Klagen über die Arbeitslast, die er tragen müsse, und die Schwierigkeiten, denen er begegne. Nach seiner Ansicht könne keiner diese Stellung länger als sechs Monate aushalten. Es handle sich darum, der ganzen Maschine des Amts eine Drehung zu geben. Und das sei eine übermenschliche Arbeit. Nachdem acht Jahre lang die deutsche auswärtige Politik ganz passiv gewesen sei, gehe es darum, sie langsam wieder aktiv zu machen, jeden Tag ein Eisen ins Feuer zu schieben, überall im Amt nachzuhelfen. Dazu müßte er sich eigentlich alles vorlegen lassen. Denn wenn er etwas auslasse, so entgleite das Gebiet seiner Einwirkung. Natürlich könne er nicht alles sehen; vielleicht werde er es so machen müssen, daß er einen Schnitt mache, gewisse Gebiete den Dezernenten mehr oder weniger überlasse und nur alle paar Wochen diese weniger wichtigen Gebiete kontrolliere. Aber selbst dann bleibe eine kaum zu bewältigende Last übrig.
Dazu komme der Gegensatz, in dem sich jede vernünftige Außenpolitik in Deutschland heute mit der Volksstimmung bewegen müsse, kämen die couleuvres, die er fortwährend stillschweigend zu schlucken habe, die Ententenoten, die zu beantworten seien, die Besuche, die er empfangen und abstatten müsse, die Kabinettssitzungen, der Reichstag. Das alles könne einer auf die Dauer physisch nicht aushalten. Aber das Schlimmste sei doch die bösartige Gegnerschaft in Deutschland selbst. Jeden Tag bekomme er nicht bloß Drohbriefe, sondern auch ernst zu nehmende Polizeianzeigen. Es sei so weit, daß er nur noch mit diesem kleinen Instrument ausgehen könne. Dabei zog er einen Browning aus der Tasche. Am besten stehe er mit den Engländern, dann mit den Franzosen, Italienern, Japanern usw.; am schlechtesten leider mit den Deutschen.
Wir sprachen dann von meiner Reise nach Paris. Ich erzählte ihm. Er meinte, das Wort ›désarmement moral‹ sei jetzt das gefährlichste für uns, weil die Franzosen jetzt, nachdem die materielle Entwaffnung so gut wie durchgeführt sei, dieses ›désarmement moral‹ zum Vorwand für die Aufrechterhaltung der Militärkontrolle nähmen.
Schließlich kamen wir auf Genua. Ich teilte ihm mit, daß ich die Absicht hätte, hinzugehen, und fügte hinzu: ich mache ihm diese Mitteilung, weil ich nicht ohne oder gegen seinen Willen hingehen wolle. Er antwortete: Ja, es sei ihm sehr recht, ich solle nur hingehen; aber das sei eine Privatsache zwischen uns, ich möge niemandem mitteilen, daß er mich ermuntert habe, da sonst zu viele andre kommen und auch seinen Segen erbitten würden. Ich sagte dann, ja, ich ginge aber hin, weil ich glaubte, daß ich ihm und den uns gemeinsamen Zielen und Interessen dort nützlich sein könne. Er sagte: Gewiß, er glaube, ich könnte dort sehr nützlich sein durch meine zahllosen Beziehungen in Frankreich, England, Italien. Er würde auch gern bei Gelegenheit meine Dienste in Anspruch nehmen. Er freue sich sehr, daß ich hinkäme.
Mein Eindruck war, daß er sich nicht gerade besonders freute. Vielleicht fürchtet er, daß ich dort zu pazifistisch wirken und ihm dadurch seine Kreise stören könnte. Zweifellos ist ein Einfluß der Militärs auf seine Denkweise zu spüren. Er fügte noch hinzu: Wir könnten den Franzosen nicht das ›désarmement moral‹ versprechen, wo unsere ganze Jugend sich in der gerade entgegengesetzten Richtung zur übelsten, verstocktesten Reaktion hin bewege. Wenn wir solches désarmement in Aussicht stellten, dann könnten sie nachher mit Recht kommen und uns nachweisen, daß wir unehrlich seien.
Abends gegessen bei Albert Einsteins. Ruhige, hübsche Wohnung im Berliner Westen (Haberlandstraße 5), etwas zu großes und großindustrielles Diner, dem dieses wirklich liebe, fast noch kindlich wirkende Ehepaar eine gewisse Naivität verlieh. Der steinreiche Koppel, Mendelssohns, der Präsident Warburg, Bernhard Dernburg, schäbig wie immer angezogen, usw. Irgendeine Ausstrahlung von Güte und Einfachheit entrückte selbst diese typisch Berliner Gesellschaft dem Gewöhnlichen und verklärte sie durch etwas fast Patriarchalisches und Märchenhaftes.
Einstein und seine Frau, die ich seit ihrer großen Auslandsreise nicht gesehen hatte, antworteten auf meine Fragen über den Empfang in Amerika und England ganz unbefangen, es seien in der Tat große Triumphe gewesen, wobei Einstein die Sache etwas ironisch und skeptisch drehte und meinte, er wisse nicht, warum eigentlich die Leute sich so für seine Theorien interessierten, und die Frau mir erzählte, ihr Mann habe immer gesagt: er komme sich vor wie ein Schwindler, wie ein Hochstapler, der den Leuten gar nicht das bringe, was sie von ihm erwarteten. Er ließ sich dann von mir mehrmals und sehr genau wiederholen, was mir Painlevé für ihn aufgetragen und über seine Reise nach Paris gesagt hat. Er tritt diese Reise in den nächsten Tagen an und bleibt acht Tage in Paris. Hier werde sie ihm in Universitätskreisen wohl verdacht werden. Aber diese Kreise seien wahrhaft fürchterlich. Ihn überkomme ein Ekel, wenn er daran denke. Und er hoffe, in Paris etwas für die Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen deutschen und französischen Gelehrten erreichen zu können. Seine Differenzen mit Painlevé behandelte er ganz als Nebensache; er schien ihnen kein Gewicht beizumessen. Dann erzählte er noch, daß er im Herbst Einladungen nach China und Japan folgen werde; er solle in Tokio und Peking Vorlesungen halten. Er habe zu seiner Frau gesagt: Ostasien müsse er noch sehen, solange der Rummel anhalte; das müsse er wenigstens davon haben.
Als alle Gäste fort waren, behielten er und seine Frau mich noch zurück, und wir plauderten in der Sofaecke, wobei das Gespräch auf seine Theorien überglitt, indem ich sagte, ich fühlte mehr ihre Bedeutung, als daß ich sie wirklich begriffe. Einstein lächelte und sagte, sie seien aber doch sehr einfach, er wolle sie mir in wenigen Worten so auseinandersetzen, daß ich sie sofort begreifen werde. Ich solle mir eine Glaskugel denken, die auf dem Tisch ruhte und auf deren Spitze ein Licht angebracht sei. Auf der Oberfläche der Kugel flache (zweidimensionale) Kreise oder ›Käfer‹, die sich darauf bewegten. Also eine ganz einfache Vorstellung. Die Oberfläche der Kugel sei, wenn man sie zweidimensional betrachte, eine unbegrenzte, aber endliche Fläche. Die Käfer bewegten sich also (zweidimensional) auf einer unbegrenzten, aber endlichen Fläche. Wenn man nun die Schatten betrachte, die die Käfer dank dem Licht in der Kugel auf den Tisch würfen, so sei die Fläche, die diese Schatten auf der Tischplatte und deren Verlängerung nach allen Seiten bedeckten, ebenfalls, genau wie die Fläche auf der Kugel, unbegrenzt, aber doch endlich, das heißt, die Zahl der Schattenkegel oder Kegelschnitte durch die ideal vergrößerte Tischplatte entspreche immer nur der Zahl der Käfer auf der Kugel; und da diese Zahl endlich sei, so sei notwendig auch die Zahl der Schatten endlich. Hier hätten wir also die Vorstellung einer zwar unbegrenzten, aber doch endlichen Fläche.
Wenn man sich nun statt der zweidimensionalen Käferschatten dreidimensionale konzentrische Kugeln denke, so könne man auf diese genau dieselbe Vorstellung übertragen und habe dann das Bild eines zwar unbegrenzten, aber doch endlichen Raumes (dreidimensional). Er fügte hinzu: In diesen Gedankengängen und Vorstellungen beruhe aber gar nicht die Bedeutung seiner Theorie, sondern in der Verknüpfung von Materie, Raum und Zeit, im Nachweis, daß keines von diesen dreien für sich allein bestünde, sondern jedes immer von den beiden andren bedingt sei.
Diese unauflösliche Verkettung von Materie, Raum und Zeit sei das Neue an der Relativitätstheorie. Aber er begriffe nicht, warum sich die Leute so darüber aufregten. Als Kopernikus die Erde aus ihrer Rolle als Mittelpunkt der Schöpfung stürzte, sei wohl das Aufsehen begreiflich gewesen, weil in der Tat eine Revolution aller menschlichen Anschauungen dadurch vollzogen wurde. Aber was ändere seine Theorie an der Vorstellungswelt der Allgemeinheit? Diese Theorie vertrage sich mit jeder vernünftigen Weltanschauung oder Philosophie; man könne mit ihr Idealist oder Materialist, Pragmatist oder sonst was sein!
Berlin. 25. März 1922. Sonnabend
Stresemann bei mir gefrühstückt. Er blieb bis vier und erzählte allerlei. So, daß Poincaré kurz vor Briands Sturz durch Sir Thomas Barclay Fühlung mit ihm und Stinnes gesucht habe; ja, es sei schon eine Zusammenkunft irgendwo zwischen Stresemann, Stinnes und zwei andren deutschen Wirtschaftsleuten einerseits und Poincaré und drei Franzosen verabredet gewesen; da kam Briands Sturz und vereitelte das Zusammentreffen.
Stresemann erzählte dann von den Zuständen in Bayern. Er ist kürzlich zu einer Hochzeit in München gewesen. Er sagte: Der Kronprinz Rupprecht lasse sich nicht mehr halten, obwohl er, Stresemann, ihm auf das eindringlichste abgeraten hätte und obgleich alle acht Tage jemand zu ihm führe, um ihm gut zuzusprechen. Es bestünden drei Pläne: entweder ein Staatsstreich (Proklamierung zum König) oder Volksabstimmung in ganz Bayern, wobei die Monarchisten hofften, die Königswahl durchzudrücken, oder aber (und das wäre der klügste und gefährlichste Weg) Einsetzung eines Staatspräsidenten, der dann natürlich Rupprecht sein würde. Stresemann meinte: Nordbayern (Franken, Nürnberg) werde sich dann von Südbayern lostrennen, ebenso Augsburg: der Graf Fugger in Augsburg habe ihm gesagt, er werde nicht mitmachen und Augsburg auch nicht. Dagegen hofften die Monarchisten, Tirol und Steiermark anzugliedern. Sie seien überdies rabiat antifranzösisch, auch Rupprecht. Ein Übergreifen der monarchistischen Bewegung nach Norddeutschland scheint Stresemann nicht zu erwarten. Er glaube, daß in absehbarer Zeit die Monarchie in Norddeutschland nicht wiederkommen werde.
Berlin. 28. März 1922. Dienstag
Abends am Kurfürstendamm im reaktionären russischen Kabarett ›Stehaufmännchen‹. Extrem moderne Ausstattung und Vorführung: eine ins Kabaretthafte sublimierte Klage über Altrußlands Untergang kontrastierend mit dem unbesieglichen Glauben an Rußlands Zukunft. Die Süße und Leichtigkeit hebt alles Nationalistische ins Menschliche!
Mitten hinein platzte schreckenerregend die Nachricht, daß Milzalow und Nabokow während eines Vortrages von Milzalow in der Philharmonie ermordet worden seien. Das Gerücht trug wie eine große Meereswelle den größten Teil des fast nur russischen Publikums aus dem Kabarett hinaus.
Wir saßen im bisher überfüllten Theaterraum nach wenigen Minuten fast allein. Nur am Nebentisch blieben drei junge elegante Russen (ein russischer Großfürst wirkt hier im Chor mit). Als ich den einen fragte, was am Gerücht wahr sei, antwortete er: Na ja, Milzalow ist ermordet worden! Schade, daß der Schuft nicht schon früher um die Ecke gebracht worden ist. Um Nabokow ist es schade! Aber Milzalow, der Verräter, der mit Kerenski und andren den Zaren verraten hat, den hätte man schon früher umbringen sollen. Gemein, daß die fünfzehntausend russischen Offiziere sich wie die Hammel von der Revolution haben abschlachten lassen, ohne sich zu wehren! Warum haben sie es nicht gemacht wie die Deutschen, die Rosa Luxemburg so umgebracht haben, daß nicht einmal der Duft von ihr übrigblieb? Dabei lächelte er so selbstzufrieden, daß man empfand: er selbst würde zu einem Morde unfähig sein. Der Schrecken mischte sich in ihm nur mit der Musik des Kabaretts und dem Ressentiment zu einem Gift für andere. Motive!
Andrerseits ist die produktive Kraft der russischen Kultur und Kunst ungeschwächt. Vielleicht könnte man amoralisch formulieren: Morden darf nur, wer zeugen kann; wer so überzeugt von der Einzigkeit einer Frau oder einer Idee ist, daß er nur in ihr eine Zukunft sieht. Morden und Zeugen Komplementäre: nur der darf zeugen, der auch für seine sinnliche oder geistige Überzeugung morden kann. Bei meinem reaktionären Russen fehlte die Evidenz von beidem. Aber die Mittelmäßigkeit der modernen Welt stammt zweifellos daher, daß wir nicht mehr weder die Sicherheit zum Zeugen noch die zum Morden haben! Alles wird daher mit einer Art von Schimmel, mit dem Moder von allerlei Kompromissen und Zwischenstufen überwuchert.
Ich sollte morgen abend mit Milzalow bei Georg Bernhards sein! Ein triviales Abendessen; und heute die Ermordung des einen Gastes.
Vielleicht ist die Hemmungslosigkeit mehr als die Stärke des revolutionären Willens das Charakteristische der meisten revolutionären Epochen und Taten.
Wir stehen in einer Epoche wie die des Hellenismus oder der römischen Bürgerkriege, wo der politische Mord nichts mehr bedeutet. Damit der politische Mord signalartig wirke, politische Leuchtkraft habe, muß er vor einem ethischen, streng moralischen Hintergrunde sich abheben. In einer amoralischen Epoche ist er politisch ebenso bedeutungslos wie irgendeine natürliche Todesform.
Zum Kapitel politische Morde fällt mir ein, was mir Stresemann neulich (25. März) erzählt hat: daß Helfferich zum Teil infolge der Drohbriefe, die er seit der Ermordung Erzbergers bekommt, so nervös geworden sei, daß er einen direkt anomalen Eindruck mache. Er war ja immer schon feige, wie sich in Moskau gezeigt hat. Stresemann ließ sich dann über die Feigheit der Männer des alten Preußens am 9. November aus und erzählte (was mir neu war), daß Linsingen, der Oberkommandierende in den Marken (!), am 9. November sich bei Paul Schwabach versteckt habe! Das wäre allerdings der Höhepunkt und ganz ebenbürtig der feigen Flucht von Beseler aus Warschau bei Nacht und Nebel und in Zivil-Verkleidung. Stresemann kommentierte: vor dem 9. November habe er erwartet, daß die Revolution in Berlin erst siegen könnte, nachdem der letzte Gardeleutnant in Stücke gehackt sei! Es sei aber anders gekommen!
Und diese Leute (so sage ich) sprechen von einem ›Dolchstoß‹; doch höchstens dem, den sie am 9. November in ihrer krankhaft feigen Phantasie fürchteten und vor dem sich diese Stützen des Thrones und des Altars bei jüdischen Bankiers und in Kellerlöchern verkrochen! ›Altpreußen‹, vertreten durch Wilhelm II., Ludendorff, Lindström, Linsingen, Beseler – nur die fliegenden Rockschöße hat die Revolution zu sehen bekommen; sie waren schon im Davonlaufen, ehe die Revolution ausbrach (siehe auch meinen Freund, den Kommandierenden in Magdeburg, Werder). Und heute schreien sie sich heiser vor Mannesmut im Kino vor dem jüdischen Geschäftsfilm ›Fridericus Rex‹; edle Rasse! Je näher dem Throne, um so mehr wie von Feigheit verpestet.
Gera. 1. April 1922. Sonnabend
Vormittags mit Max Goertz nach Gera, wo wir vom Erbprinzen zur Aufführung von Johsts ›König‹ eingeladen waren. Nachmittags den Erbprinzen im Schloß besucht. Abends mit ihm, Johst und seinem Freund Balthasar in der Loge. Gute, wirksame Regie, zerhackt, eckig, symbolisierend wie das Stück. Dieses ist ein gut funktionierendes Linienspiel, aber ohne viel menschlichen Inhalt. Der König eine gerade Linie, ein wild gewordenes Lineal, das durch die Kurven von allerlei ziemlich flachen Existenzen hindurchgetrieben wird und schließlich an diesen zerbricht. Ein guter Einfall, der die ganze Idee erschöpft, aber von Johst nicht recht in seinem Wert begriffen oder herausgebracht wird. Der weltverbessernde König befiehlt einem Kammerherrn, eine Dirne durch die Stadt zu führen, und der Kammerherr rächt sich, indem er die Dirne unter einer Verkleidung dem König wieder zuführt und als Mätresse anhängt. Damit ist schon alles gesagt; der König hat die Welt auf den Kopf stülpen wollen, und statt dessen stülpt ihn die Welt auf den Kopf. Aber das ist schon in der dritten oder vierten von den zehn Szenen vollbracht, und alles übrige erscheint nachher wie ein schwerfälliger Nachtrag. Wie geistvoll hätte Voltaire diesen Einfall zum Symbol erhoben! Johsts Figuren bestehen nur aus Situationen, Operettenfiguren; sie haben kein Inneres, keine Seele: statt dessen allenfalls Sentenzen. Und wenn man über das Künstlerische hinausgeht oder das Stück als eine Kritik von Ideen nimmt (also: symbolisch), dann erscheint es verfehlt in seiner Formulierung des behandelten Problems. Trotzdem ist das Stück ein die Aufmerksamkeit fesselnder, technisch nicht gleichgültiger Versuch, der zweifelloses Bühnentalent verrät.
Johsts zerknittertes Gesicht, an Schickele erinnernd, gefiel mir sehr, obwohl er offenbar aus ziemlich flachem politischem Wissen reaktionär orientiert ist, für Ludendorff schwärmt und mit diesem nach seiner eigenen Darstellung sogar persönlich fast befreundet ist. Er ist frisch, ehrlich, gar nicht verrannt, gibt die Beschränktheit seiner politischen Kenntnisse und Ausblicke zu, erzählt sehr farbig und amüsant.
Der Fürst führt hier offenbar genauso Hof wie vor der Revolution; wohnt in seinem angestammten Schloß, regiert die Kultur und die Ideen des Bürgertums und bildet allmählich (recht klug) einen kleinen Kulturmittelpunkt für gerade die allermodernsten Dichter wie Johst, Bötticher usw. Dieses nachrevolutionäre Mäzenatentum eines deutschen Fürsten muß mit der Zeit auch, wenigstens in seinem Umkreise, politisch, das heißt gegenrevolutionär wirken.
Berlin. 4. April 1922. Dienstag
Abends in Unruhs ›Prinz Louis Ferdinand‹. Die Tragödie der falschen Größe; und auch des Preußentums: außen hart, innen weich, so daß es bei jedem starken Druck zusammenknickt. 1918 wie 1806. Dieses 1913 geschriebene Stück war prophetisch. Alle Menschen in ihm sind unecht (wie 1914), der Prinz ein Talmiheld und Talmikünstler, der König ein Talmikönig; eine Komödie größten Stils leuchtet auf, wo dieser Talmiheld und Talmikönig miteinander in Konflikt geraten. Unruh und die Historie wendeten die Sache aber ins Tragische. Die ästhetische eigene und sonderbare Atmosphäre destilliert Unruh aus dem Kontrast zwischen militärischem Drill und Musik, der typisch und symbolisch ist für das alte Preußen. Ein starkes Stück, das einen fast musikalischen Eindruck hinterläßt wie der ›Prinz von Homburg‹.
Berlin. 5. April 1922. Mittwoch
Gefrühstückt bei d'Abernons. Langes Gespräch unter vier Augen mit d'Abernon. Er meinte: An der Markentwertung sei ganz allein die deutsche Regierung schuld durch die Notenpresse. Am Tage, wo die Notenpresse zu funktionieren aufhöre, werde die Mark stabilisiert sein. Ein- und Ausfuhr hätten nur einen ganz geringen Einfluß, kräuselten bloß die Oberfläche: der große Fluß der Abwärtsbewegung komme nur aus der Notenpresse. Deutschlands wirtschaftliche Situation sei heute allerdings schlechter als vor einem Jahr; auch werde Deutschland, wenn einmal die Mark stabilisiert werde, durch eine schwere Krisis hindurchgehen müssen. Aber politisch sei Deutschlands Stellung heute viel günstiger als vor Jahresfrist. Darauf sollten wir sehen.
Von Genua schien er nicht sehr viel zu erwarten; wurde aber fast böse, als ich auf Boulogne und das Nachgeben von Lloyd George anspielte. Von diesem steten Nachgeben Englands spreche man hier; aber das sei eine ganz falsche und ungerechte Anschauung. Immerhin störte sie seinen Gleichmut, so daß er ganz rot wurde. Offenbar saß der Vorwurf. Er meinte dann: Am meisten verspreche er sich in Genua von Tschitscherins Anerbieten, die Rote Armee abzurüsten, weil damit die ganze Abrüstungsfrage ins Rollen kommen müsse, ob die Franzosen es wollten oder nicht.
Eine fast komödienhafte Situation: der englische Botschafter, der als Haupttrumpf auf eine bolschewistische Hilfsaktion rechnet! Und kein sehr überzeugendes Zeugnis für Lloyd Georges Handlungsfreiheit oder Mut. Jetzt erklärte ich mir auch seinen Ärger über meine Anspielung auf Boulogne.
Auf die wirtschaftliche Lage Deutschlands zurückkommend, wies er auf den neuen Mittelstand hin, den er überall hier in den Theatern treffe. Keine Schieber, nicht überwiegend jüdisch, sondern offenbar ›respectable‹ Leute, die in großer Anzahl hundertfünfzig Mark für einen Orchestersitz zahlen könnten. Woher kämen diese Leute? Das sei die Frage, die er sich immer wieder vorlege; ein sehr anziehendes soziologisches Problem!
Berlin. 6. April 1922. Donnerstag
Mit Robert T. Dell und Garrison Villard (Herausgeber der New Yorker ›Nation‹) gefrühstückt im ›Adlon‹. Villard über Stimmung in Amerika: sie wende sich seit Washington scharf gegen Frankreich; aber die teuflische Kriegspropaganda gegen Deutschland wirke noch nach. Von der Intensität und Raffiniertheit dieser Propaganda, die Villard wiederholt als diabolisch bezeichnete, machten wir uns hier keine Vorstellung (dasselbe sagte mir neulich Crosby). Daher sei die Stimmung drüben noch immer auch stark antideutsch.
Ich fragte Villard, was geschehen würde, wenn die Franzosen das Ruhrgebiet besetzten. Villard antwortete: Die Stimmung gegen Frankreich werde sich sehr verschärfen, aber tun würde Amerika nichts; dazu reiche es nicht. Er meinte als Erklärung und sozusagen Rechtfertigung für die Kriegspropaganda gegen Deutschland: Als Wilson den Krieg erklärte, sei die Majorität der Amerikaner dagegen gewesen; bei einer Volksabstimmung hätten siebzig Prozent gegen den Krieg gestimmt. Daher sei die amerikanische Regierung genötigt gewesen, eine tolle Propaganda gegen Deutschland zu entfesseln, um ihre Kriegserklärung nachträglich zu rechtfertigen.
Lugano. 8. April 1922. Sonnabend
Früh in Basel auf dem Bahnsteig Jäckh getroffen, der nach Genua reist. Der ganze Zug ist gespickt mit Holländern, Belgiern, Deutschen auf der Genuafahrt. Es ist wie die Pilgerzüge zu einem mittelalterlichen Konzil. Im Zuge zwischen Basel und Luzern interviewte mich der Korrespondent der Basler National-Zeitung (ein Herr Arnstein, wie aus seiner Karte hervorging), den mir der mitreisende Maler Pellegrini aufhalste. Mit Jäckh im Speisewagen gefrühstückt, wo noch Presseabteilung des Amtes (Joachim Kühn usw.) und Diener (!) des Amtes saßen. Ein alter Diener des Auswärtigen Amtes begrüßte mich so herzlich auf dem Bahnsteig in Basel, daß ich mir minutenlang den Kopf zerbrach, wer dieser liebenswürdige alte Herr sei, bis mir Jäckh das Rätsel löste.
Lugano-Genua. Nervi (Strandhotel). 9. April 1922. Sonntag
Nachmittags fort aus Lugano nach Genua. In Chiasso, an der Grenze, überschlugen sich die für die Konferenzteilnehmer angestellten besonderen italienischen Kommissare in Höflichkeiten, liefen überall mit, sahen nach Platz im direkten Wagen und nach dem Gepäck. Ein besonderer Kommissar wurde mir vorgestellt, dem ich bis Genua anvertraut bin; und mein Gepäck wird im Gepäckwagen bis Genua ›guardato a vista‹ durch besondere Guardien. Mehr kann man wirklich nicht verlangen.
Wie sich herausstellte, hatte mein Kommissar, den ich zu mir ins Kupee einlud, noch zwei Unterkommissare mit, die dauernd im Seitengang patrouillierten. Außerdem stellten sich mir mit meinem Gepäck in Genua zwei Guardien vor, die eine Empfangsbescheinigung verlangten. Der Bahnhof in Genua ist festlich mit Topfpflanzen und ausschließlich italienischen Flaggen geschmückt. Auch stark mit Guardien besetzt.
Nach Nervi werden wieder neue Guardien mit meinem Gepäck mitgeschickt.
Um zehn nach Nervi. Ich wohne sozusagen im Meer. Das Hotel steht auf den Strandklippen. Das Meer rauscht und donnert unmittelbar unter meinem Fenster. Der fast volle Mond scheint heute in der warmen Nacht etwas wässerig, aber hell auf den Wellenschaum und die weit hinaus tanzende See.
Genua. 10. April 1922. Montag
Früh im Eden-Hotel Prittwitz und Oberstleutnant Simon gesehen, die mir nacheinander den Wunsch aussprachen, eine private Zusammenkunft zwischen Rathenau und Seydoux herbeizuführen. Gleich nachher im ›Savoy‹, wo die Franzosen hausen, Hesnard, Poncet und Philippe Milliet gesprochen. Bei Hesnard sondiert wegen der Zusammenkunft Rathenau-Seydoux. Er will mir morgen oder übermorgen Antwort geben. Milliet wünschte Interview mit Rathenau, aussitôt que possible. War gegen Rathenau verstimmt, weil er ihn in Berlin kühl behandelt habe. Simon die Antworten und Wünsche der Franzosen mitgeteilt. Aber alles funktioniert im Büro der Entente noch miserabel.
Dann Neurath und Maltzan gesprochen und mit Kreuter (Wirths ›rechter Hand‹) und Georg Bernhard gefrühstückt. Mit diesem zur Eröffnung der Konferenz im Palazzo San Giorgio. Imposante Absperrungen, Militärketten in Feldgrau, patrouillierende Kavallerie; im Umkreis des Palazzo weißbehandschuhte, rotbebuschte königliche Guardien, die zu den Topfpflanzen und roten Treppenläufern des in höfischem Pomp herausgeputzten alten Bankpalastes überleiten. Alle Häuser ringsherum am Hafen beflaggt und bis oben hin ihre Fenster mit gaffendem Alltag gefüllt. Dieser mit den Masten und Schiffsschornsteinen des Hafens zusammen passende Rahmen für die erste Arbeitskonferenz mit Kommunisten.
Das Bild der Konferenz selbst: feierlicher, etwas kalter Renaissancesaal mit großen, konventionellen Standbildern in Nischen: vergessene berühmte Männer wie Grabfiguren. Die lebenden Berühmtheiten unten an grünen Tischen im doppelten geschlossenen Hufeisen unter einem am hellichten Tage brennenden Kronleuchter, weil der Saal etwas gruftartig dunkel ist. Ringsherum als unscheinbares Gedränge die Diplomaten, Sachverständigen, Nobili und Honoratioren von Genua. Dicht hinter Tschitscherin in einem Sessel ein Kardinal. Einige Matrosen als Saaldiener.
Die ersten Reden (Facta, Lloyd George, Wirth – Barthou hörte ich zufällig nicht, da ich während seiner Rede abwesend war –) wurden verlesen und gleichzeitig im Umdruck verteilt; sie wirken etwas akademisch: am akademischsten die von Wirth, die ein dünner Aufguß (steril und unschädlich gemacht) von meinen Reden vor zwei Jahren ist (›Wiedergutmachung und Arbeiterschaft‹). Wirth bekommt peinlich starken Applaus. Sein Auftreten ist die kleine, erwartete Sensation. Aber bis dahin gleicht die Versammlung irgendeinem wissenschaftlichen Kongreß: den Verhandlungen des Naturforschertages.
Leben kommt erst in die Bude, als Tschitscherin aufsteht. Allgemeines Rauschen der Erwartung. Jetzt kommt die große Nummer. Doch der erste Eindruck enttäuscht. Er liest seine Rede auf französisch und spricht das Französische so bizarr aus, daß ich zuerst meinte, er spräche russisch. Allmählich versteht man einzelne Worte und dann Sätze. Er verkündet die Bereitwilligkeit der Russen, am Wiederaufbau der Welt mitzuarbeiten, also kapitalistische und kommunistische Wirtschaftsgebilde nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren zu lassen. Dann drückt er die Hoffnung aus, daß Genua nur die erste einer Reihe europäischer Wirtschaftskonferenzen sein möge und daß ferner ein universeller, nicht bloß Europa umfassender Kongreß, an dem alle Völker der Erde teilnehmen würden, den Wiederaufbau der Welt unternehme. Und verkündet dann, daß die russische Regierung bereit sei abzurüsten, falls alle andren Länder dasselbe täten (der von d'Abernon angezeigte coup de théâtre, auf den d'Abernon seine Hoffnungen für die Konferenz setzte; cf. mein Gespräch mit d'Abernon am vorigen Mittwoch).
Diese Worte über die Abrüstung schien Tschitscherin mit betonter Absicht feierlich und deutlich zu sprechen. Nach seiner französischen Rede, die ohne Beifall aufgenommen wurde (die wenigsten schienen zu merken, daß sie zu Ende sei), verliest er selbst die englische Übersetzung, noch undeutlicher. Dann setzt er sich unter schwachem Beifall.
Kaum sitzt er, springt Barthou auf und hält in einem aufgeregten Advokatenton eine Protestrede, die auf ein französisches Publikum wahrscheinlich Eindruck gemacht hätte, hier aber provozierend und peinlich wirkte; der Schluß, wo er immer aufgeregter wurde und mit allerlei kategorisch sein sollenden Beteuerungen und rhetorischen Formeln die Erörterung der Abrüstung in Genua in seinem Namen, im Namen der französischen Delegation und im Namen Frankreichs ablehnte, klang aus wie ein greisenhaftes Keifen. Ein kleiner Teil der Zuschauer und Gäste applaudierte, der größere schwieg eisig.
Nun erwidert Tschitscherin sehr geschickt und sogar boshaft: Daß Genua nur ein erster Schritt, ein Erstling von einer Serie von Konferenzen sein solle, habe Lloyd George gesagt; er, Tschitscherin, habe ihn bloß zitieren wollen. Die Abrüstungsfrage stehe allerdings nicht auf der Tagesordnung, die in Cannes verabredet sei. Aber Herr Poincaré selbst habe diese Tagesordnung unklar und unvollständig genannt. Und viele andre Fragen, die in Genua erörtert werden müßten, seien in Cannes ebensowenig aufgeführt worden, zum Beispiel die der Wechselkurse. Aber ganz besonders sei die russische Regierung zu ihrem Abrüstungsvorschlag durch die Rede des Herrn Briand in Washington angeregt worden, in der er als Haupthindernis einer französischen Abrüstung die russische Rote Armee genannt habe. Die russische Regierung habe deshalb gehofft, daß sie Frankreich und der Welt einen Dienst leisten würde, wenn sie dieses Hindernis durch eine bindende Erklärung hier in Genua beseitige. Im übrigen werde sich die russische Delegation der Entscheidung der Konferenz beugen, falls diese die Frage der Abrüstung ausschließen wolle. Man schmunzelt im Zuschauerraum. Tschitscherin hat Barthou mit Geist abgefertigt.
Jetzt meldet sich Lloyd George zum Worte und hält die Rede, die der Clou der Vorstellung wird. Obwohl er zweifellos die Russen zu ihrem Abrüstungsvorschlag ermuntert hat (siehe d'Abernon), läßt er sie sanft fallen, nachdem sie ihm den Dienst geleistet haben, Barthou zu provozieren und Frankreich wieder vor der Welt als Neupreußen sich gerieren zu lassen. Mit Witz und Bonhomie gießt er Öl auf die bewegten Wogen, belächelt den universellen Weltkongreß, dessen Ende er als alter Mann nicht erleben würde, wenn man einen solchen einberiefe, und erklärt dann mit Nachdruck, daß Genua ein Mißerfolg sein werde, wenn es nicht zur Abrüstung führe. Aber allerdings die Vorbedingung jeder allgemeinen Abrüstung sei die Entgiftung der Welt, die Wiederherstellung des Vertrauens zwischen den Völkern, die wirtschaftliche Verständigung, wie sie eben Genua bringen solle. Im übrigen sei der Völkerbund mit der Frage der Abrüstung befaßt, und diesem wolle Herr Barthou gewiß kein Hindernis bei seiner Tätigkeit in den Weg legen. Er beschwöre daher Herrn Tschitscherin, zunächst die Abrüstungsfrage aus dem Spiel zu lassen, um nicht das schwerbelastete Schiff der Genueser Konferenz zum Sinken zu bringen. Denn wenn dieses Schiff untergehe, könne Herr Tschitscherin selbst unter den Ertrunkenen sein. Wenn das Schiff aber glücklich in den Hafen einlaufe, dann könne es hoffentlich nach beendeter Reise wieder neue Fahrten machen; und man werde dann Herrn Tschitscherin, nachdem man gelernt habe, was für ein Passagier er sei, auch gern wieder mitnehmen und vielleicht sogar ans Steuer lassen.
Also in der Form eine Abschüttelung der Russen (die durch die Ironie besonders fühlbar wurde), in der Sache eine nicht leicht greifbare Polemik gegen die Franzosen. Der Erfolg dieser in einem leichten Plauderton vorgetragenen, sehr ernsten Staatshandlung war durchschlagend. Die ganze Konferenz mitsamt den Zuschauern und Journalisten applaudierte stürmisch und minutenlang. Lloyd George war wieder einmal der Zauberer. Alle hatte er entzückt!
Kaum war der Beifall verrauscht, meldet sich Tschitscherin zu Worte. Facta bittet ihn, darauf zu verzichten, da diese Debatte hier nicht zu Ende geführt werden könne und keinen Zweck habe. Da springt Barthou wütend auf. Er wolle nur wenige Worte sagen. Er müsse erklären ... Facta, hochrot, erhebt sich und schneidet ihm das Wort ab. Was er als Präsident der Konferenz gesagt habe, gelte für alle, für die eine Partei ebenso wie für die andere. Er müsse Herrn Barthou ebenso wie Herrn Tschitscherin bitten, auf das Wort zu verzichten. Aber Barthou setzt sich nicht, sondern redet weiter, stellt in einem höchst gereizten Ton die Frage, ob alle Teilnehmer der Konferenz die Abmachungen von Cannes anerkennten oder nicht: sonst müsse die französische Delegation die Konsequenzen ziehen.
Dieses Mal werden die sehr spärlichen Applausversuche in einem diskreten Zischen erstickt. Der Mißerfolg Barthous, die peinliche Situation, in die Frankreich durch Tschitscherins Vorstoß gedrängt worden ist, ist geradezu wie ein atmosphärischer Druck fühlbar. Facta stellt nur trocken fest, daß die Frage Barthous schon zu Anfang der Konferenz beantwortet worden sei, als er, Facta, die Bedingungen von Cannes verlesen und keiner von den Konferenzteilnehmern Widerspruch erhoben habe; damit sei die Sache schon erledigt gewesen.
Die kleinstädtische Ungewandtheit Barthous, die propagandistische Schlauheit Tschitscherins, die überlegene weltmännische Diplomatie und Debattierkunst Lloyd Georges und das Professorale der deutschen Delegation bleiben als Eindrücke dieser ersten Sitzung übrig. Diese Eröffnungssitzung der Genueser Konferenz war eine der größten politischen Komödien, etwas wie von Aristophanes oder einem noch überlegeneren Weltdichter.
Zwei Provinzschauspieler, Barthou und Wirth, und zwei ganz große Komödianten, Lloyd George und Tschitscherin, von denen der eine, Lloyd George, noch dazu der geheime Regisseur des Ganzen war. Diese Premiere war das Reisegeld wert. Aber geradezu unbezahlbar, sie mit den Gefühlen des großen Regisseurs selbst, Lloyd George, genießen zu können. Er saß während Barthous zweiter und dritter Rede (sein Werk), den Kopf in die Fäuste gestützt, und muß sich innerlich geschüttelt haben vor Selbstbefriedigung.
Genua, 11. April 1922. Dienstag
Rathenau bestritt mir heute morgen, daß die Russen die Abrüstungsfrage im Einverständnis mit den Engländern aufgerollt hätten; Sir Robert Horne habe ihn gefragt, ob er wisse, was die Russen tun würden? Er folgerte daraus, daß die Engländer über die Absichten der Russen nicht informiert gewesen seien. Nachmittags bestätigt mir Neurath, daß auch er in Rom am Freitag erfahren habe, daß die Russen im Einverständnis mit den Engländern die Abrüstungsfrage aufzurollen beabsichtigten.
Nachher Spaziergang mit Prittwitz oben auf der Höhenpromenade. Über die bayerisch-französische Gefahr, die er ähnlich ernst einschätzt wie ich. Wirths Rede findet er wie ich unverantwortlich schwach und leer. Ludwig Stein meinte, Oscar Müller, der sie gemacht hat, werde vielleicht darüber stürzen. Die Gefahr besteht nach dieser nichtssagenden Rede, daß Deutschlands Zurückhaltung als Impotenz und geistige Mittelmäßigkeit ausgelegt wird und man uns sozusagen vergißt. Insofern war sie auch ein schwerer diplomatischer Fehler, weil sie uns die absichtliche und an sich richtige Zurückhaltung erschwert. Nicht ein Geistes- oder Herzensblitz, wenn man nach acht furchtbaren Jahren zum ersten Mal gleichberechtigt an den Konferenztisch tritt! Die Bürokratie in allen Ehren, aber das geht doch über das erwartete Maß von Beamtenverknöcherung hinaus. Damit hat Wirth als europäischer Staatsmann verspielt; er ist höchstens noch eine europäische Bequemlichkeit, eine verwendbare und gewandte Mittelmäßigkeit. Kein Format, dem irgend jemand im Auslande oder Inlande noch zutrauen kann, Deutschland wieder auf den Wegen der Zukunft emporzuführen. Wem so gar nichts bei einer solchen Gelegenheit einfällt und noch dazu eine so öde, fremde Rede zum Verlesen oktroyiert werden kann, steht auf der Stufe der ganz mittelmäßigen Souveräne des alten Regimes.
Genua (Nervi). 12. April 1922. Mittwoch
Großes Aufsehen macht der Vorschlag der Londoner Experten zur Sanierung Rußlands. Bei uns (Maltzan) wird er als Versuch der Turkifikation Rußlands und für die Russen unannehmbar bezeichnet. Tschitscherin hat gestern zwei Tage Bedenkzeit gefordert und will morgen einen neuen Aufschub verlangen. Wie wir uns stellen werden, steht noch nicht fest. Hilferding sagt mir, er, Bernhard, Maltzan und ›alle anständigen Mitglieder‹ unserer politischen Kommission wollten, wir sollten erklären: wir könnten die Londoner Forderungen nicht unterstützen, weil sie moralisch unannehmbar seien und dem Selbstbestimmungsrecht und der Souveränität des russischen Volkes widersprächen. Rathenau dagegen habe Angst, daß wir dann aus dem Wiederaufbaukonsortium ausgeschlossen würden, und wolle unsere Zustimmung gegen wirtschaftliche Zusicherungen der Entente verschachern. Hilferding (und auch Bernhard) sind maßlos wütend auf Rathenau, dem sie eine unbändige Eitelkeit vorwerfen, die es nicht ertrüge, von Stinnes nicht für voll genommen zu werden. Er denke nur noch an das Urteil der Deutschen Volkspartei. Hier in Genua sei er für jede europäische und moralisch wirksame Haltung Deutschlands das große Hindernis.
Abends gegessen in Genua mit Ludwig Bauer (von der National-Zeitung in Basel), den Terwins und Emil Ludwig. Dieser machte auf mich einen unerfreulichen Eindruck. Äußerst affektiert, immer auf den Fußspitzen gehend, um größer zu erscheinen, als er ist, keinen Augenblick unbefangen und natürlich. Der typische kleine Literat, von Neid und Impotenz verbogen. Später kamen Hilferding, Georg Bernhard und Geheimrat Kreuter (der Adlatus von Wirth) hinzu, mit denen nach Nervi zurück.
Entscheidend für die Zukunft, eine wirklich radikale Änderung der europäischen Lage, scheint mir, daß in die alliierten Unterkommissionen Deutschland und Rußland gleichberechtigt neben die fünf Entente-Staaten hineingesetzt worden sind, während daneben alle andren Staaten nur durch vier Repräsentativ-Staaten (die in den verschiedenen Kommissionen verschieden sind) vertreten sind. Damit ist ein neuer siebenköpfiger Areopag (zu dem noch Amerika hinzukommen müßte) an die Stelle des fünfköpfigen Entente-Areopags und Obersten Rats de facto konstituiert worden. Das ist schon ein sehr wesentliches Ergebnis von Genua; um so mehr, als es gegen die heftige Opposition von Frankreich, aber mit Zustimmung aller Neutralen und selbst der kleinen Entente (Polen!) erreicht worden ist. Der verzweifelte Vorstoß von Picard gestern in der Finanzkommission dagegen (er war dabei so aufgeregt, daß er beim Gestikulieren seine Röllchen verlor!) hat es nur um so eklatanter und unabänderlicher gemacht.
Genua. 13. April 1922. Gründonnerstag
Mit Rathenau und Wirth gegessen. Der Professor Bonn und der Staatssekretär Hemmer aßen mit. Wirth, den ich bei dieser Gelegenheit kennenlernte, enttäuschte mich stark. Ein typischer ›Boche‹; blond, fett, schlagflüssig, ein weichlicher Fleischkoloß ohne innere Haltung: launisch, formlos, Trinker, ja, sichtbar alkoholgetränkt (Gastwirtssohn). Hinter Nebeln von Selbstberäucherung und Wein hält er sich scheints für einen Olympier. Rathenau bemuttert ihn wie ein alter Kammerherr seinen Serenissimus und war heute sehr besorgt, ob er nicht zum Frühstück zu viel für sein Wohlbefinden getrunken hätte. Ich mußte an Schluck und Jau denken. Mein erster Eindruck jedenfalls der von jemandem sehr Subalternem, der gleichzeitig verschwommen und flach ist, was nicht Blitze eines naturburschenhaften gesunden Menschenverstandes ausschließt. Aber lange wird sich diese luftige Größe nicht halten lassen; und es ist Zeit, einen Ersatz für den baldigen Zeitpunkt seines dégonflements zu suchen. Ich verstehe jetzt erst, warum Rheinbaben sagte, über Wirths Politik lasse sich diskutieren, aber Wirth selbst sei ›unmöglich‹, und warum das A. A. ihn seine Genua-Rede nicht selbst machen ließ. Resümierend: der Hausknecht als Reichskanzler.
Wenn ich an Fehrenbach (den Männergesangverein-Vorstand), Hermann Müller, Bauer, Scheidemann denke, so kann die Deutsche Republik mit ihren Reichskanzlern wirklich keinen Staat machen. Vielleicht ist die heutige Form der Demokratie nicht geeignet, andre Männer an die Spitze zu bringen.
Hilferding, der als Mittelsmann zwischen der deutschen und der russischen Delegation dient, war heute wieder in Rapallo bei den Russen und setzte mir die Situation auseinander. Die Russen wollen (mit auf unseren Rat, wie Hilferding ausdrücklich betonte) erklären: sie seien bereit, das Londoner Memorandum als Verhandlungsbasis anzunehmen, müßten aber jeden Eingriff in die Souveränität des russischen Staates, insbesondere die vorgeschlagene Konsulargerichtsbarkeit, ablehnen. Ebenso die effektive Zahlung der Schulden oder Schuldzinsen, da sie völlig außerstande seien, auch nur die Zinsen ihrer Schulden zu bezahlen, und die Übernahme einer Verpflichtung, sie zu bezahlen, Rußland jeden Kredit und damit jede Wiederaufbaumöglichkeit verschließen würde. Dieses wäre aber nicht bloß für Rußland, sondern für ganz Europa und insbesondere für England und Amerika ein viel größerer Schaden als die Nichtbezahlung der Zinsen, an denen im wesentlichen nur eine Anzahl von französischen Rentnern interessiert sei. Sie würden also ihre Schulden zwar nötigenfalls pro forma platonisch anerkennen, aber verlangen, daß man ihnen wie jedem überschuldeten Unternehmen deren Zahlung erlasse oder stunde und auch selbstverständlich keine ›dette publique‹ zu ihrer Verwaltung einsetze, wo nichts zu verwalten sei.
Hilferding hat heute in der Kommissionssitzung Rathenau vorgeworfen: seine Ideen seien ›geistreich und bestechend, aber ...‹ Rathenau hat schnell geantwortet: das sei ihm seit dreißig Jahren immer vorgeworfen worden; aber ›damit habe er seine Karriere gemacht‹. Hilferding fügte hinzu, als er mir das battibecco erzählte: er habe fragen wollen, ob seine Karriere bei der AEG oder die als deutscher Auswärtiger Minister.
Genua. 14. April 1922. Karfreitag
Bernhard, dem ich meinen Eindruck von Wirth sage, insbesondere, daß ich ihn wie einen Hausknecht empfunden hätte, sagt: das sei ganz richtig, Hausknecht, aber gerade dieses Volkstümliche sei seine Stärke. Auch besitze er in sich einen ›Kontrapunkt‹, der alles zusammenfasse und nach einer Richtung leite, und dann einen merkwürdig feinen politischen Instinkt. Daß er alkoholisiert sei, gibt er zu. Da Rußland zu Wirths Freunden und Gönnern gehört, so haben diese Bestätigungen meines Eindrucks für mich Wert. Vielleicht ist er von der Art der Figuren des Hauptmannschen ›Florian Geyer‹: ein wenig volksliedhaft, ein wenig Trinker, geistig verschwommen und flach mit einzelnen Instinktblitzen im Handeln und ganz und gar ohne innere oder äußere Form. Also eine von den Naturen, die der Durchschnittsdeutsche für ›tief‹ hält, während sie in Wirklichkeit nur embryonal, selbst in ihrer Gutmütigkeit, sind. Damit paart sich meist die praktische Schlauheit des irgendwie schlecht Weggekommenen. So ein Mann endet im Spießerfett oder ausnahmsweise auch tragisch, wenn ihn seine Schlauheit an eine für ihn unhaltbare Stelle trägt: so Erzberger, der zur selben Art gehörte. Oder noch schlimmer: er erfindet ein philosophisches System oder eine neue Ethik und stürzt damit andre ins Groteske. Man hält vielfach solche Naturen für musikalisch; aber ihnen fehlt zur Musik der unerbittliche Rhythmus.
Genua. 15. April 1922. Sonnabend
Abends mit del Vayo und dem Pariser Korrespondenten des ›Sol‹ (Buenos Aires) gesprochen.
Die Gesamtsituation ist jetzt so: Das Zentralproblem ist und bleibt das deutsch-französische, das beherrscht wird durch die Reparationen. Daher ist die Konferenz hier mitsamt dem russischen Problem nur eine sekundäre Hilfsaktion, die scheitern muß, wenn nicht gleichzeitig und parallel mit ihr die Reparationsfrage einer befriedigenden Lösung entgegengeführt wird. Auf der Konferenz kann (tatsächlich) das Reparationsproblem nicht besprochen werden, weil es im Wesen eines ist, das bloß zwischen der Entente und Deutschland schwebt. Aber außerhalb und neben der Konferenz darf und muß es besprochen werden. Und der Erfolg von Genua hängt vom Erfolg dieser Verhandlungen über die Reparationen ab.
Zum Problem Wirth: Letzten Endes laufen alle meine Einwände gegen ihn auf den einen hinaus, daß ihm jede Feinheit des Herzens fehlt; was durchaus keine Sache der Abstammung oder des Standes ist, sondern höchstpersönlich. Man vergleiche Wirth etwa mit Lincoln. ›He's a cad‹, auf englisch gesagt. Und er hat nichts dazugelernt (keine ›Kinderstube‹), infolgedessen diese angeborene innere Roheit nackt zutage liegt. Er wirkt, im tieferen Sinne des Wortes, ›gemein‹.
Nervi. 16. April 1922. Ostersonntag
Verregneter Ostersonntag in Nervi. Die beiden Unzertrennlichen, Hilferding und Raumer, besuchten mich morgens und nahmen mich zu einem Spaziergang im Regen mit.
Abends bei Hilferding und Raumer in der deutschen Sachverständigendelegation in der ›Pagode‹ gegessen. Osteressen mit einem Meer von Blumen und Lichtern auf großen Eisblöcken. Nach Tisch musizierten Franz v. Mendelssohn und Heinz Simon Beethoven und Schumann.
Genua. 17. April 1922. Ostermontag
Nachmittags gleich nach vier bei Rathenau, der mit Giannini im Garten ging. Ich gratulierte ihm zum Abschluß des Vertrages mit den Russen, der eben bekanntgeworden ist. Er schien etwas den Eindruck dieses Abschlusses auf die Konferenz hier und die Entente zu befürchten. Fragte etwas ängstlich, ob ich schon gehört hätte, wie die Nachricht gewirkt habe? In der Tat muß der Entente dieser Abschluß in diesem Augenblick sehr ungelegen kommen, da er mitten in ihre Verhandlungen mit Rußland hineinplatzt und sie vor die Alternative stellt, entweder auch mit den Russen einig zu werden oder uns das Feld in Rußland allein zu überlassen. Ihre Position bei den Verhandlungen wird also dadurch wesentlich geschwächt, die der Russen sehr gestärkt.
Abends größte Aufregung in der Casa della Stampa und sonst unter den fremden Delegationen und Journalisten wegen des deutsch-russischen Vertrages, der gestern ganz unerwartet in Rapallo von Rathenau und Tschitscherin abgeschlossen worden ist: Aufrechnung der Kriegsschulden (also Abschaffung des Artikels 216 des Versailler Vertrages), Meistbegünstigung, Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen. Der Vertrag war schon in Berlin bei der Durchreise der Russen entworfen worden, aber von Rathenau damals trotz Drängens von Maltzan nicht unterzeichnet. Gestern hat ihn Rathenau unterzeichnet, weil er fürchtete, daß er sich sonst zwischen zwei Stühle setzen könnte, wenn die Russen mit der Entente (die sie in Lloyd Georges Villa seit zwei Tagen ohne Hinzuziehung von Deutschland bearbeitet) abschlössen. Dieses hat Maltzan den nötigen Druck gegeben, so daß sich Rathenau gestern morgen ganz unerwartet entschloß, nach Rapallo zu fahren (Sonntagsausflug) und zu unterzeichnen.
Mit Prittwitz und seiner Frau gegessen und im Theater. Prittwitz erzählt, daß Hesnard heute um halb sechs beim Kanzler war, um die Nachricht in einer für die Franzosen möglichst annehmbaren Form in den ›Matin‹ zu bringen.
Bei der Rückfahrt auf dem Bahnhof von Brignole traf ich Georg Bernhard, der gerade vom Kanzler kam, wo er, wie er sagte, ›ein paar Glas Wein getrunken hatte‹; er war offenbar etwas beschwipst und jedenfalls in höchster Stimmung wegen des Vertrages. Hat, wie er sagt, dem Kanzler Mut zugesprochen: er müsse in den nächsten drei Tagen ›gute Nerven‹ haben.
Zu uns setzte sich dann Dr. Zifferer von der österreichischen Delegation, der die fassungslose Aufregung der Franzosen und Lloyd Georges schilderte, die über Illoyalität der Deutschen toben. Lloyd George selbst ist heute abend unerwartet im hellgrauen Straßenanzug auf dem Gewerkschaftsdiner bei Albert Thomas im ›Hotel de Gênes‹ aufgetaucht und hat dem Staatssekretär Hirsch heftige Vorwürfe gemacht. Bernhard behauptet, das sei alles von Lloyd George eine Komödie, da er Phase für Phase vom Gang unserer Verhandlungen mit den Russen genau unterrichtet gewesen sei. Allerdings, den Abschluß gestern habe man ihm nicht vorher mitgeteilt, aber auch Rathenau habe sich erst ganz plötzlich zur Unterschrift entschlossen.
Zifferer meinte, die Entente werde entweder den Vertrag für ungültig erklären nach dem Versailler Vertrag oder die Konferenz auffliegen lassen oder von uns verlangen, daß wir unsere Unterschrift zurücknähmen. Poincaré käme in eine unmögliche Situation, wenn der Vertrag bestehen bleibe. Bernhard sagt, die französischen Delegierten täten so, als ob sie abreisen wollten; sie packten schon ihre Koffer. Trotzdem ist das französische Kommuniqué, das Zifferer uns zeigte, verhältnismäßig gemäßigt im Ton und sogar im Sinne der Mäßigung korrigiert worden (er zeigte das korrigierte Exemplar mit den Korrekturen). Die französische Delegation versucht also, ihre Presse zu beruhigen. Das englische ist viel heftiger.
Der springende Punkt für uns war, daß wir nicht länger warten konnten, ohne zu riskieren, daß sich die Entente über unsere Köpfe weg und ohne uns hinzuzuziehen (Verhandlungen nur zwischen Entente und Russen in Villa de Albertis) mit den Russen verständigte. Auch daß die Russen verlangten, daß wir jetzt abschließen sollten (natürlich, da dieser Vertrag für sie ein Trumpf ist in ihren gegenwärtigen Verhandlungen in der Villa de Albertis). Besser wäre es aber sicher gewesen (weil den Schein der Illoyalität vermeidend), wenn der Vertrag schon in Berlin unterzeichnet worden wäre.
Morgen wird wohl der aufregendste Tag der Konferenz.
Genua. 18. April 1922. Dienstag
Alle Kommissionssitzungen sind heute abgesagt. Die Entente berät, was sie machen soll. Mein Eindruck ist, daß sie gern einen Ausweg finden möchte, aber vorläufig keinen sieht, da das russische Problem durch den deutsch-russischen Vertrag für sie sich völlig verschoben hat.
Nachmittags Maltzan und ein paar Minuten den Kanzler gesprochen. Dieser meinte, wir hätten einmal wieder aktiv werden müssen. Jetzt müsse man abwarten, wie die Sache verliefe. Aber man müsse auch mal was riskieren.
Abends Sacchi vom »Corriere della Sera« höchst aufgeregt. Ludwig Bauer, mit dem ich aß, sehr absprechend über die »Dummheit«, die wir gemacht hätten. Sie zerstöre den Geist des Vertrauens, der nötiger als alles andre sei. Mir scheint, daß die Art zweifellos mangelhaft war, wie wir die Sache gemacht haben. Wir hätten jedenfalls vorher gegen die Verhandlungen in der Villa Albertis protestieren müssen, wenn wir uns jetzt darauf berufen wollten.
Abends Note der politischen Unterkommission an Deutschland, in der wir aus dieser Unterkommission, soweit sie russische Angelegenheiten behandelt, herausgesetzt werden. Man wartet ab, ob Deutschland daraufhin die Konferenz verlassen wird. Aber vernünftigerweise können wir das nicht. Wir werden den Fußtritt einstecken müssen, ebenso wie die Entente unseren Vertrag. Sehr würdevoll ist weder das eine noch das andre und in der Tat der Wiederherstellung des Vertrauens wenig förderlich.
Für mich ist das Wesentliche die Frage: Lag die Gefahr vor, daß die Entente einen Vertrag mit den Russen hinter unserem Rücken abschloß oder so weit förderte, daß wir de facto vor einem fait accompli gestanden hätten? Oder lag diese Gefahr (1 oder 2) nicht vor? Lag sie vor (1 oder 2), so war Rathenaus Vorgehen gerechtfertigt; lag sie nicht vor, so war es ungerechtfertigt. Hier fragt es sich weiter, was Giannini gesagt hat und wieweit Rathenau ihm allein trauen durfte, ohne sich weiter zu informieren oder zuerst zu protestieren.
Inzwischen tobt die bürgerliche Presse, auch die italienische, gegen Deutschlands Hinterlist und Unzuverlässigkeit. Nur der »Avanti« hat einen sehr zustimmenden, günstigen Artikel, auf den mich Maltzan sehr erfreut aufmerksam machte. Wir erleben eine Neuauflage der Kriegspropaganda.
Genua. 19. April 1922. Mittwoch
Die Unsicherheit und Erregung dauert weiter. Das große Diner gestern abend der Italiener für die fremden Delegationen soll sehr steif gewesen sein.
Prittwitz bestätigt, daß Rathenau in den Tagen vor dem Abschluß dreimal versucht hätte, Lloyd George zu sprechen, aber nicht empfangen worden sei; dieses habe ihn in dem Gefühl bestärkt, daß die Entente uns vor ein fait accompli stellen wolle. Tragischerweise habe Lloyd George Rathenau zu sich gebeten, als dieser schon nach Rapallo abgefahren war. Maltzan behaupte auch, er habe vor der Abfahrt nach Rapallo mit den Engländern zu telephonieren versucht, aber keinen Anschluß bekommen.
Sacchi vom ›Corriere della Sera‹ hatte mich zum Frühstück eingeladen. Er war wesentlich ruhiger als gestern und erwartete, daß die Sache einen guten Ausgang nehme.
Wirth und Rathenau waren heute zwei Stunden bei Lloyd George, der sehr kategorisch war und verlangte, daß der russisch-deutsche Vertrag annulliert werde. Die Verhandlung gelangte zu keinem Abschluß, und unsere Delegation berät noch darüber. Es wird sicher ein Kompromiß herauskommen. Aber Maltzan soll sagen, wir reisten ab.
Ich habe jetzt den Eindruck, daß die beiden Haupturheber und Verantwortlichen des russisch-deutschen Vertrages, Maltzan und Hilferding, aus verschiedenen Ursachen heraus taktisch versagt haben. Beide haben nur die Sache selbst gesehen, aber darüber das Wie, die Ausführung, aus dem Auge gelassen: Maltzan, weil er aus politischer Leidenschaft, vielleicht aus Ehrgeiz, sie unter allen Umständen perfekt machen wollte; Hilferding, weil er sie, losgelöst von den Umständen, rein theoretisch betrachtete und darüber die Wirklichkeit, den Moment vergaß. Maltzan war dabei (nach Prittwitzens Formulierung) ›Monomane‹, Hilferding zu sehr Professor. Rathenaus Psychologie war die des leicht deprimierten Juden (Nervenmensch). Wirth hat ›aktiv werden‹ wollen (›Wir wollen es ihnen einmal zeigen‹), auch innerpolitisch. Auf der andren Seite hat sich Lloyd George wieder einmal als ›Boß‹ des Obersten Rates gefühlt und ist als solcher der Suggestion von Barthou-Poincaré unterlegen, die Sonderverhandlungen ohne Deutschland wünschten (Mitteilung von Raumer). Diese fünf, sechs Personen haben die kostbare und mühsam wieder zusammengeleimte Vase des europäischen Vertrauens fallen lassen und von neuem zerschmissen, wobei die Russen nach beiden Seiten aufhetzend und provozierend gewirkt haben.
Moral von der Geschichte: Mit den alten Methoden und Gewohnheiten läßt sich ein neues Europa nicht schaffen (neuer Wein in alten Schläuchen), namentlich aber, wenn man sie technisch höchst unvollkommen und plump handhabt. Wir können das überhaupt nicht mehr; die Kunst ist verlorengegangen und nicht wieder zu erwecken, selbst wenn wir sie brauchten.
Genua. 20. April 1922. Donnerstag
Weiterer sehr kritischer Tag.
Früh Rathenau, der zu Schanzer fuhr, auf Wunsch von Hilferding und Raumer meine Kombination zwischen Barthous Schritt bei Lloyd George und der Ausschaltung der politischen Unterkommission (Verhandlungen bloß der Alliierten mit den Russen) mitgeteilt. Hilferding und Raumer drängen, ich soll die Sache in Form eines Interviews in die italienische Presse bringen. Sie scheinen sich irgendeine Wirkung davon zu versprechen.
Hilferding berichtete mir über die Situation. Wirth und Rathenau waren gestern zwei Stunden bei Lloyd George, der sie vor die Wahl stellte, entweder den Vertrag rückgängig zu machen oder auf die Teilnahme an den Beratungen mit Rußland in der Unterkommission zu verzichten. Hierüber hat gestern abend ein Kabinettsrat bis spät nachts stattgefunden. Die Delegation scheint gespalten. Der eine Teil, Auswärtiges Amt, Simson, Maltzan, ist für Nichtnachgeben, Durchhalten, erklärt die Drohungen der Alliierten für Bluff; der andre Teil, Hermes, Schmidt, sucht einen Ausweg. Hilferding meint, unsere Antwort werde etwa darauf hinauslaufen, daß wir uns bereit erklärten, unseren Vertrag als Teil eines gesamteuropäischen Vertrages mit Rußland absorbieren zu lassen, ihn bloß als Vorstufe und Material zu einem solchen Vertrag zu betrachten. Dagegen zurücknehmen könnten wir unsere Unterschrift nicht, da auch die Russen hierfür nicht zu haben wären. Tschitscherin, der gestern bei Wirth und Rathenau gegessen hat, hat dieses ausdrücklich erklärt, daß er unter keinen Umständen in eine Aufhebung des Vertrags willigen werde. Visconti Venosta hat gestern Rathenau besucht und durchblicken lassen, daß die Italiener große Angst haben, daß wir abreisen und dadurch die Konferenz sprengen. Soweit Hilferding.
Ich traf dann beim »Eden«, auf dem Weg dorthin, Sir George Paish und Hesnard. Hesnard ist äußerst pessimistisch, meint, daß, wenn wir den Vertrag nicht kurz und bündig aufhöben, die Konferenz gesprengt werden würde. Sie (die Franzosen) könnten ihre Presse und öffentliche Meinung nicht mehr meistern. Nach dem, was er von den Dispositionen von Barthou wisse, werde unsere Weigerung, den Vertrag aufzuheben, das Ende der Konferenz sein.
Mittags gaben Ludwig Stein, Oscar Müller und ich gemeinsam den ausländischen Journalisten ein Frühstück im Restaurant Carlo Felice. Ich saß zwischen dem englischen Pressechef McClure und dem Franzosen de Gobard; mir gegenüber der Professor Ernest Cassel und Vissering. Etwa fünfundvierzig Personen. Im letzten Augenblick sagten die Journalisten, die zur französischen Delegation gehören, Hesnard, Poncet und Massigli, ab. Angeblich soll ihnen Barthou verboten haben zu kommen.
De Gobard (vom »Matin«) war sehr vernünftig, gab zu, daß Lloyd George einen groben Fehler gemacht habe, als er die Sonderbesprechungen in der Villa de Albertis abhielt. Führte ihn auf den »esprit de guerre« zurück. McClure gab bekannt, daß Lloyd George alle Journalisten um vier Uhr im Palazzo San Giorgio zu sprechen wünsche. Die Italiener meinten, das sei ein schlechtes Zeichen. Er werde irgend etwas Unangenehmes, vielleicht nicht Wiedergutzumachendes sagen. Die Stimmung war gedrückt, weil allgemein ein Scheitern der Konferenz als großes Unglück angesehen wurde.
Um halb vier im Palazzo San Giorgio, wo die Versammlung an den grünen Tischen im selben großen Saal war, in dem die Konferenz eröffnet wurde. Schon kurz vor vier erschien Lloyd George, setzte sich auf den Präsidentenplatz unter der feierlichen Statue irgendeines Dogen, in seiner Nähe der italienische Ministerpräsident Facta und der italienische Minister des Auswärtigen Schanzer, und stand gleich auf zum Sprechen. Er redete nur ziemlich kurz und bat dann die Journalisten, an ihn Fragen zu stellen. Die Spannung, als er anfing, war ungeheuer, da man fühlte, daß von seinen Worten das Scheitern oder Fortbestehen der Konferenz abhängen werde.
Es war eine tiefe Erleichterung, als er erklärte, nach seiner Meinung sei der durch den deutsch-russischen Vertrag geschaffene Zwischenfall geschlossen, da die Deutschen einverstanden seien, nicht mehr an den Beratungen der Unterkommission, soweit sie sich mit den russischen Angelegenheiten befaßten, teilzunehmen. Damit ließ er die Forderung fallen, daß wir vom Vertrag zurückträten, und war in der Tat der Ausweg aus der unmöglichen Situation gesichert (obwohl wir unsere Antwortnote nicht überreicht haben). Er wiederholte dann allerdings mehrmals den Vorwurf der Illoyalität, betonte aber ebenso kräftig und ebenfalls wiederholt, daß wir durch unsere Sonderabmachung nicht die Absicht verfolgt hätten, die Konferenz zum Scheitern zu bringen. Er sagte sogar, daß der Zwischenfall vielleicht schließlich zum Erfolg der Konferenz beitragen werde, und sprach mehrmals seine Meinung aus, die Konferenz werde zu einem erfolgreichen Ende geführt werden. Er schloß dann die Versammlung mit einem nochmaligen Bekenntnis zum festen Glauben an den Erfolg der Genua-Konferenz.
Die Grazie und Bonhomie, mit denen er das alles sagte, wirkten wieder bezaubernd wie bei einem großen Schauspieler, trotzdem man weiß, daß die Gefühle und Worte zum großen Teil Komödie sind. Er hat eben ein ganz andres und unvergleichlich größeres Format als die andren Konferenzteilnehmer. Die Befriedigung, daß wir über diese sehr ernste Situation hinaus sind, war allgemein, auch und namentlich bei den Deutschen – Bernhard, Hilferding, Kreuter usw. –, die aus der in einem andren Raum des Palastes tagenden Finanzkommission herüberkamen.
Nachmittags in Nervi zeigte mir Hilferding den Entwurf unserer Antwortnote, den er durchkorrigiert hat und dem Rathenau heute abend die letzte Fassung gibt.
Der erste Teil, die Verteidigung unseres Verhaltens, wirkte auf mich dünn und wenig überzeugend. Der zweite Teil, die Zustimmung zum Fernbleiben aus der Unterkommission der elf, soweit russische Angelegenheiten dort beraten werden, und die Hoffnung, daß unser Vertrag Teil eines gesamteuropäischen werden möge, entspricht der Haltung, die ich von Anfang an verfochten habe, und ist in würdiger und konzilianter Form ausgedrückt. Damit dürften unsere materiellen Interessen unter Dach gebracht und der moralische Schaden, den wir und die europäische Gesinnung erlitten haben, auf das kleinste mögliche Maß reduziert sein.
Abends in der »Pagode« mit Georg Bernhard, Hilferding und Raumer gegessen. Die Erleichterung über den Ausgang des Konflikts war allgemein. Bernhard spendete eine Flasche Moscato. Nach Tisch im Garten erzählte mir Bernhard die Vorgänge gestern abend bei der Sitzung über unsere Antwortnote. Wirth sei »großartig« gewesen, würdig und entschlossen. Rathenau ebenfalls »sehr gut«.
Genua. 22. April 1922. Sonnabend
Die Russen haben heute eine sehr konziliante Antwortnote überreicht, in der sie Entschädigung für Sozialisierungsschäden versprechen und die Vorkriegsschulden unter gewissen Bedingungen anerkennen. Mittags waren sie mit den andren Delegierten zum Frühstück beim König!
Wie aufgeregt die Franzosen sind, exemplifizierte Hesnard daran, daß selbst Albert Thomas von der allgemeinen Psychose angesteckt gewesen sei. Er habe ihm (Hesnard) in höchst erregter Weise gegen Rathenau gesprochen. Auch bestätigte er meine Vermutung, daß Poncet von der französischen Delegation sich absichtlich von uns fernhält.
Diese Franzosen des »Bloc National« sind wirklich zu dumm, untermenschlicher Statur. Sie haben nichts andres verdient, als daß ihre Politik sie der Vernichtung ausliefert, und ihre Mitläufer wie Poncet erst recht: wegen ihrer Feigheit, die noch übler ist als die Borniertheit der andren.
Genua. 24. April 1922. Montag
Gefrühstückt mit Dell, G. Hamilton, dem »Daily Chronicle«-Korrespondenten, und dem Amerikaner Steffens. Hamilton stark Boheme mit zweifelhafter Wäsche und einem verlebten Gesicht. Er vertritt hier Lloyd Georges offiziöses Organ, muß also wohl wissen, was dieser will. Er definierte nur überraschenderweise Lloyd Georges Absichten dahin: Die Genua-Konferenz sei für ihn in erster Linie ein Mittel gewesen, um die Allianz mit Frankreich zu lösen. Er habe hier Frankreich moralisch isolieren und dann über Bord werfen wollen. Die Isolierung Frankreichs in Washington habe einen starken Eindruck auf seine Phantasie gemacht, »and he wanted to repeat the Performance in Genua«. Er sollte wie der schwarze Teufel unter lauter weißen Engeln hier hervorstechen, und nun hätten wir und Rußland Lloyd George das Konzept verdorben, indem auch wir uns nicht als makellos weiß erwiesen. Dadurch sei sein Plan, in Genua die Verbindung mit Frankreich in einer feierlichen Weise »to slow music« zu lösen, stark gefährdet, ja vielleicht unmöglich geworden.
Abends gegessen mit Dell und dem Kommunisten Rappoport: einer Persönlichkeit, grob, Boheme, abschreckend häßlich, aber eine Kraft (man fühlt es), temperamentvoll, energisch, witzig; ein in Frankreich naturalisierter litauischer Jude, der in Wilna mit Pilsudski und Lenins Bruder zusammen ein Komplott gegen Alexander III. vorbereitete, dessentwegen der Bruder Lenins gehängt, Pilsudski nach Sibirien verbannt, er selbst unbehelligt gelassen wurde. Er schloß die Erzählung dieses Zwischenfalls mit der drollig-zynischen Bemerkung: »Moi j'ai fait mon devoir; mais la police n'a pas fait le sien.« Daher sei er noch am Leben. Von den Nationalisten pflege er in seinen Agitationen zu sagen: »Ils aiment les peuples comme les beefsteaks: saignants.«
Bei der Rückfahrt auf dem Bahnhof Joffe getroffen, der mich Tschitscherin vorstellte, und nachher Krassin, durch den ich mit Litwinow bekannt gemacht wurde. Krassin und Litwinow äußerten Zweifel, ob sie zu einem Abkommen mit der Entente gelangen würden. Es seien heute große Schwierigkeiten in der Kommission gewesen. Tschitscherin spricht Deutsch ohne jeden Akzent und sieht aus wie ein deutscher Professor; er könnte in Berlin Oberlehrer sein.
Zifferer,der auch mitfuhr, sagte, Poincarés Rede heute in Bar le Duc sei ›schrecklich‹ gewesen. Er habe seine Entschlossenheit ausgesprochen, militärische Maßnahmen gegen Deutschland zu ergreifen mit oder ohne die Alliierten, wenn Deutschland seine Verpflichtungen nicht erfülle. Durch diese Rede, wenn sie so ist, wie Zifferer sie wiedergab, wird zweifellos die Lage wieder sehr verschärft. Man darf neugierig sein, was Lloyd George darauf tun oder sagen wird.
Genua. 25. April 1922. Dienstag
In den Morgenzeitungen Poincarés gestrige Rede. Der ›Lavoro‹ (Genua) und die ›Stampa‹ (Turin) weisen die Rede energisch in Leitartikeln zurück und kommentieren drohend die Worte Lloyd Georges, daß er seine Haltung zu der Entente revidieren müsse, wenn er zwischen der Entente und dem europäischen Frieden zu wählen hätte. Ebenso die gestrige Rede des englischen Lordkanzlers Birkenhead hier in Genua, die diese Worte Lloyd Georges unterstrich. Der Kontrast zwischen der Haltung Englands und Frankreichs wird immer unverhüllter. Der Bruch wird von beiden Seiten schon als Möglichkeit erörtert. Hesnard, den ich wie täglich nach Verabredung um elf sprach, versuchte zu beschwichtigen. Er meint, Poincare mache bloß Worte. Er sei gar nicht imstande, seine Drohungen wahr zu machen, weil er den Bruch mit England vor der öffentlichen Meinung Frankreichs nicht tragen könnte.
Genua-Nervi. 26. April 1922. Mittwoch
Früh in Nervi geblieben. Nachmittags nach Genua. In der ›Casa della Stampa‹ Hesnard, mit dem in den Straßen von Genua spazieren. Er sagt, daß hier die meisten französischen Journalisten die Politik von Poincaré verurteilen, weil sie die Isolierung Frankreichs sehen, daß aber aus Frankreich kaum glaubliche Briefe von sonst sehr vernünftigen Leuten eintreffen, zum Beispiel habe er einen Brief gesehen von einem sonst eher pazifistischen Universitätsprofessor, der schreibe, man hätte Rathenau nach dem russischen Vertrag gleich verhaften sollen! Und so wie ein Irrsinniger weiter. Abends geht in der »Casa della Stampa« das Gerücht, daß Lloyd George den Obersten Rat der Alliierten nach Genua einberufen habe, um Poincarés Rede »Punkt für Punkt« zu untersuchen. Also Disziplinarverfahren gegen Poincaré! Ludwig Bauer, mit dem ich aß, sagte, ein Havas-Telegramm und gleichzeitig ein Reuter-Telegramm desselben Inhalts seien in der »Casa« von Hand zu Hand gereicht worden und hätten eine unglaubliche Aufregung gegen halb sieben dort verursacht. Lasswitz, den ich in der Bahn auf der Rückfahrt traf, hatte auch von dem Gerücht gehört in der extremen Form, Lloyd George wolle durch den Obersten Rat untersuchen lassen, ob nicht alle Alliierten verpflichtet seien, gegen einen Alliierten, der selbständig in Deutschland einrücke, aktiv Maßnahmen zu ergreifen? Tatsache scheint, da Frankreich durch das Abkommen mit England nach dem Frankfurter Zwischenfall sich verpflichtet hat, nicht selbständig vorzugehen, daß Poincaré durch seine Rede eine Vertragsverletzung begangen hat, wenigstens in Gedanken. Andrerseits kämpft Lloyd George um seine politische Existenz, die mit dem Scheitern von Genua zu Ende wäre; und in solchen Augenblicken ist er bisher immer (zum Beispiel gegen Asquith 1916) rücksichtslos brutal gewesen.
Der »Temps«, der heute eingetroffen ist, hat drei Leitartikel hintereinander, die das französische Volk auf einen neuen Krieg vorbereiten!
Genua. 27. April 1922. Donnerstag
Sturm und Regen. Das Meer schäumt grün und schmutzig unter meinem Fenster. Trübe Regenwolken ziehen ganz niedrig über die Wellen. Dieses Wetter ist das richtige Sinnbild der politischen Lage, die stürmisch und trübe ist.
Genua. 28. April 1922. Freitag
Die französische Regierung hat die Anregung Lloyd Georges, die Signatarmächte des Versailler Vertrages in Genua zusammenzuberufen, um die Sanktionen zu besprechen, zurückgewiesen. Barthou reist nach Paris »ad audiendum verbum!«
Genua, 1. Mai 1922. Montag
Maifeier. – Villard, mit dem ich frühstückte, erzählte mir vertraulich, der amerikanische Botschafter Child habe ihm heute auf seine Frage zugegeben, daß Amerika (Hughes) ›is beginning to move‹, das heißt anfängt, einen Druck auf Frankreich auszuüben, um es zur Vernunft zu bringen. Im übrigen habe ihm Child gesagt, er hoffe, daß die Konferenz bald zu Ende gehe, ›before it has done more mischief‹. Neurath, mit dem ich nach Nervi zurückfuhr, bestätigte aus seinem Gespräch mit Child den beginnenden Druck Amerikas auf Frankreich.
Nachmittags Marc Sangnier im ›Excelsior‹ seinen Besuch erwidert. Er erzählte, in Paris hätten sich beim Bekanntwerden des russischen Vertrags die jungen Leute schon zum Abmarsch an die Front vorbereitet. Hysterie! Er glaubt nicht, daß Poincaré in die Ruhr einmarschieren wird. Bergmanns Anleiheplan ihm entwickelt. Er fand ihn vernünftig und einen guten Ausweg. Die große Masse des französischen Volkes wolle Geld, nicht neue Lorbeeren. Er geht morgen wieder zum Kanzler.
Genua. 2. Mai 1922. Dienstag
Abends mit Hilferding, Kreuter und Dell in ›Aida‹. Ganz gute Aufführung im schönen Empire-Opernhaus Carlo Felice. Nach dem Theater große Aufregung wegen des neusten Theatercoups der Franzosen. Nach Barthous Abreise hat Barrère sich auf Weisung von Paris geweigert, den gemeinsam von den Alliierten ausgearbeiteten Vorschlag an die Russen zu unterzeichnen. Nach einer höchst pathetischen Szene zwischen Lloyd George und Barrère hat Lloyd George ein französisches Amendement zu dem Privateigentumsparagraphen angenommen, wobei er darauf hinwies, daß dieses Amendement ›very serious difficulties‹ zur Folge haben könne; und darauf haben die Franzosen unter Vorbehalt der Zustimmung ihrer Regierung unterschrieben. In dieser Form ist dann der Vorschlag noch heute abend an die Russen gegangen.
Im ›Observer‹ vom Sonnabend ein unerhört scharfer Angriff von Garvin auf Poincaré und die französische Politik mit Überschriften wie ›M. Poincaré as wrecker‹, ›The Kaiser of the Peace‹ (nämlich Poincaré), »France versus Europe«, »Failure at Genua means War«. Garvin ist ein Vertrauter von Lloyd George und steht hier in dauernder Verbindung mit ihm.
Genua. 4. Mai 1922. Donnerstag
Wirth und Rathenau waren heute vormittag zwei Stunden bei Lloyd George. Wie Rathenau mir sagte, haben sie im Laufe des Gesprächs alle aktuellen Fragen berührt, aber keine bestimmten Abmachungen in irgendeiner Frage getroffen. Lloyd George hat unter andrem auch auf die Abwesenheit von Barthou hingewiesen. Das Gespräch soll fortgesetzt werden. Jedenfalls ist der Kontakt hergestellt, die Stimmung, die nach dem Abschluß des deutsch-russischen Vertrages zwischen Deutschen und englischer Delegation herrschte, überwunden.
Ich frühstückte beim Reichskanzler mit Theodor Wolff, Moissi (der gestern angekommen ist), der Terwin, Simson. Ich saß zwischen dem Reichswirtschaftsminister Schmidt und dem Staatssekretär Hemmer. Schmidt, der auf der andren Seite die Frau Wolff hatte und mit großem Ernst aß, gab bei Tisch nur ein Wort von sich: »Formaggio«, in einem drohenden Befehlston zum Kellner gesprochen. Viel mehr hörte man auch nicht vom Kanzler.
Nervi. 7. Mai 1922. Sonntag
Hilferding erzählt, daß Lloyd George Wirth seinen Dank habe aussprechen lassen für die von der deutschen Delegation in der Vermittlung zwischen Rußland und der Entente geleisteten Dienste.
Mit Hilferding und Dell nach Rapallo in einem überfüllten Zuge, wo wir im Kupee mit Tschitscherin zusammensaßen. Wir saßen wegen einer Reparatur eine Stunde in einem wie eine Sardinenbüchse vollgepackten Wagen auf dem Bahnhof von Nervi, Tschitscherin, bei glühender Hitze in einem Winterüberzieher, aus seinem roten Ziegenbart spitze Bemerkungen meckernd. Er ist drollig, etwas satanisch und sehr kosmopolitisch, kaum russisch. Deutsch spricht er wie ein deutscher Professor.
Genua: 8. Mai 1922. Montag
Früh Maltzan gesprochen. Er erzählte: Lloyd George hat gestern mit Wirth gesprochen und ihn gebeten, auf die Russen einzuwirken, damit sie vor ihrer Antwort noch mit Lloyd George Rücksprache nähmen. Darauf ist Maltzan gestern abend spät nach Santa Margherita gefahren und hat die Russen (Tschitscherin) eingeladen, heute früh um zehn Wirth und Rathenau zu besuchen und nachher zu Lloyd George zu fahren. Maltzan sagt: Was die Russen vor allem wollen, ist Geld; dann würden sie in der Frage des Privateigentums entgegenkommen. Sie forderten fünfzig Millionen Pfund, würden sich aber mit dreißig Millionen zufriedengeben. Als ich fragte, inwiefern sie dann konziliant sein würden, antwortete Maltzan: dann würden sie sich auf Artikel 5 des Villamemorandums zurückziehen, nie aber würden sie Artikel 7 des neuen Memorandums annehmen.
Während wir sprachen, fuhr Tschitscherin mit Litwinow vor; Rathenau und Wirth gingen zu ihnen in den Garten. Nach der Unterredung wiederholte Maltzan: Was die Russen wollten, sei Geld, Geld, Geld. Es solle sich ein Konsortium bilden, das ihnen Geld für bestimmte, nachzuprüfende Zwecke vorstrecke (Produktivkredite).
Tschitscherin und Litwinow sind jetzt (elf Uhr) nach der Villa de Albertis zu Lloyd George gefahren (der wie ein ungekrönter König alle empfängt, ohne selbst sich zu bemühen).
Krassin im ›Excelsior‹ besucht. Längeres Gespräch über die Verhandlungen mit der Entente. Er begann mit ziemlichem Affekt: »Wir können nicht mit leeren Händen zurückkommen!« Private Kredite genügten nicht, weil es gewisse generelle Wiederherstellungsarbeiten gebe, die keine Privatgesellschaft übernehmen würde. Er exemplifizierte auf eine Eisenbahn, bei der hier zwei Brücken, dort ein Stück Bahndamm, anderwärts wieder ein Bahnhof zerstört seien, und wo die Anwohner keine Schuhe und nichts zu essen hätten. Welche Privatkonzessionärin würde sich auf die ganz unrentablen Kapitalausgaben einlassen, die diese vielfachen kleinen oder großen Wiederherstellungsarbeiten erforderten? Für diese generellen Wiederherstellungsarbeiten, die erst das Land wieder für die rentable Anlage von Privatkapitalien geeignet machten, seien Regierungskredite, allerdings zurückzahlbare, nötig. Der Staatssekretär Hirsch, mit dem ich im Garten ging, sagte, er befürchte eine sehr große Arbeitslosigkeit bei uns im Herbst, sobald die Mark zu fallen aufhöre. Er bereite schon Maßregeln vor, um dieser Arbeitslosigkeit zu steuern. Sie sei das ernsteste Problem der Zukunft.
Ich fragte ihn, ob nach seiner Ansicht die Franzosen von der Besetzung der Ruhr Vorteile für ihre Reparationen haben könnten. Er meinte: Ja. Denn das erste, was die Ruhrbesetzung herbeiführen werde, werde ein weiteres starkes Fallen der Mark sein. Die Franzosen würden an uns aber die Kohle nicht für Mark, sondern etwa für Schilling verkaufen und allein aus dem Valutagewinn bei einem Valutastand von fünfhundert Mark für den Dollar etwa siebenhundert bis achthundert Millionen Goldmark für die Reparationen herausziehen.
Dell, mit dem ich nach Nervi zurückfuhr, erzählte, Lloyd George sei heute um sechs ganz unerwartet bei den englischen Journalisten erschienen und habe dort Fragen beantwortet, namentlich sehr scharfe Ausfälle gegen die ›Times‹ gemacht und das dort von Shed publizierte Interview dementiert. Dell meint, unter den englischen Journalisten herrsche allgemein die Ansicht, daß Lloyd George die Entente lösen wolle. Bei neun Zehntel der englischen öffentlichen Meinung werde der Bruch mit Frankreich freudig begrüßt werden.
Jedenfalls sieht es so aus, als ob sich hier in Genua in diesen Tagen eine ganz neue Mächtekonstellation vorbereitete gegen Frankreich gerichtet sein würde. Allerdings nicht, was von Genua erwartet werde, sondern die wahrscheinliche Vorbereitung auf einen neuen Kontinentalkrieg! Der Rapallovertrag ist schon ganz vergessen. Das Verhältnis zwischen Lloyd George und der deutschen Delegation ein Vertrauensverhältnis.
Genua. 10. Mai 1922. Mittwoch
Krassin bei mir im Privatzimmer des ›Carlo Felice‹ gefrühstückt mit Maltzan, Hilferding, Professor Ernst Cassel, Georg Bernhard und Heinz Simon. Ein Tisch mit Goldgeschirr und Früchten wie in meiner Josephslegende. Tschitscherin und Litwinow, die auch kommen sollten, waren noch bei der Ausarbeitung der Antwort auf das Memorandum und entschuldigten sich.
Das Gespräch berührte verschiedene Fragen des staatlichen und wirtschaftlichen Aufbaus Sowjetrußlands. Die Bauern haben nach Krassin durch die Revolution den Gewinn, daß der Grundherr nie wiederkommt und daß sie, abgesehen von einer Abgabe von etwa zwanzig Prozent, ganz frei über die Produkte ihres Bodens und ihrer Arbeit schalten. Sie bilden den breiten Unterbau, über den sich die Diktatur des Proletariats erhebt. Ich fragte, worin diese ›Diktatur des Proletariats‹ bestünde. Krassin: In der Teilnahme der Gewerkschaften an den staatlichen und wirtschaftlichen Zentralbehörden, zum Beispiel auch in den einzelnen Produktionszweigen. In den einzelnen Unternehmungen sei aber die Kontrolle der Arbeiter ›Gott sei Dank‹ abgeschafft.
In der Tat muß man sich immer wieder klarmachen, daß, worum es sich bei diesen äußerlich so kleinlichen Verhandlungen, Fühlungnahmen und Gesprächen handelt, die Zukunft Europas ist: Leben oder Tod der europäischen Kultur. Wenn alle diese Bemühungen scheitern, die Brücke zu schaffen, dann stehen zwei Welten gegeneinander, die gemeinsam im größten Kampf der Weltgeschichte untergehen werden. Es ist schwer, die Größe der Entscheidung, die hier in Genua fällt, dauernd im Auge zu behalten.
Genua, 11. Mai 1922. Donnerstag
Bei Philippe Milliet gefrühstückt mit Hilferding, Georg Bernhard und Hesnard im kleinen Restaurant San Giorgio am Hafen. Milliet begann gleich damit, daß die Konferenz von Genua für alle nützlichen Zwecke ein untaugliches Instrument geworden sei; und zwar wegen des unerträglichen Übergewichts, das eine Persönlichkeit hier gewonnen habe: nämlich Lloyd George. Er erdrücke die ganze Konferenz durch seine Person und seine autokratischen Methoden. Er habe hier eine Stellung wie Napoleon auf der Höhe seiner Macht. Das sei für Frankreich unerträglich. Ich fragte, ob Frankreich die Konferenz deshalb verlassen wolle. Er antwortete: Ja, es könne hier nichts Nützliches mehr tun. Ich: Das sei dann also wohl der Bruch der Entente. Milliet: Ja; die Entente werde auseinandergehen. Aber das sei jetzt sowieso unvermeidlich. Allerdings nur für eine gewisse Zeit. Frankreich und England würden wieder zusammenkommen. Aber Lloyd George wolle aus der Entente eine Maschine lediglich zur Befriedigung der Wünsche und Interessen Englands machen. Und hier in Genua könne Frankreich ihn daran nicht hindern. Deshalb sei es besser, daß man sich zeitweilig trenne. Eine vernünftige Politik sei erst wieder möglich, ›quand l'Europe aura vomi Lloyd George‹ (Lloyd George ausgekotzt haben wird). Deutsch-französische Besprechungen in Genua seien unter diesen Umständen unmöglich, ›parce que Lloyd George y fourrerait son nez‹. Deutschland und Frankreich müßten sich nach dem 31. Mai an einem andren Ort treffen und verständigen. Er sei der Ansicht, daß man jetzt eine direkte deutsch-französische Verständigung um so dringlicher erstreben müsse, weil die Entente auseinandergehe. Allerdings nicht in Genua, aus dem angegebenen Grunde. Ich fragte: Und die Ruhrbesetzung? Milliet: Er glaube nicht, daß Poincaré eine so unsinnige Politik treiben werde. Ich fragte nochmals, ob er denn bestimmt glaube, daß die französische Delegation abreisen werde? Milliet: Ja, er halte das für sicher.
Die Stimmung, aus der Milliet sprach, schien mir eine Mischung von Galgenhumor, Verärgerung, Sorge um die Zukunft, Bestreben, eine Maske der Furchtlosigkeit (›Mir kann keiner!‹) oder Wurschtigkeit aufzusetzen. Alles in allem die deutsche Stimmung 1913/14. Er tat so, als glaube er nicht an einen neuen Krieg: die Massen seien überall zu kriegsmüde. Die Politiker sollten nur reden und intrigieren: sie würden in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren die Massen nicht wieder dazu bewegen, in den Krieg zu ziehen. Es sei denn, daß eine wirkliche Gefahr... usw., usw. Diese Einschränkung öffnet wieder der Propaganda und dem Krieg weit die Türen.
Kurz vor dem Frühstück kam die russische Antwort, sechzehn Schreibmaschinenseiten (!), bei uns in der Delegation an. Sie haben sie mittags Facta überreicht. Uns haben sie sie vorher nicht gezeigt. Hauptsache ist, sie fordern bestimmte Zusagen an finanzieller Unterstützung und beantragen, eine Kommission von Sachverständigen einzusetzen, die die einzelnen strittigen Punkte prüfen soll.
Ganz realistisch (unsentimental, unpolitisch) betrachtet, sind nur zwei große Finanzoperationen oder Geldsummen nötig, um die Welt zu befriedigen und wieder auf die Beine zu stellen: vier Milliarden Goldmark = zweihundert Millionen Pfund für die Reparationen und eine halbe bis eine Milliarde Goldrubel = fünfzig bis einhundert Millionen Pfund, um Rußland wiederaufzubauen. Alles in allem rund zweihundertfünfzig bis dreihundert Millionen Pfund. Und über dieses Geld, das reichlich da ist, verfügen die kleinen und großen anonymen, unfaßbaren »investors« in England, Deutschland, Amerika, Frankreich, Neutralien. Die Summe ist kleiner, als was in einem Jahr für Militärbudgets ausgegeben wird. Aber es besteht kein Mittel (anscheinend), den kleinen oder großen Kapitalisten sie abzulocken. Ungeheure, unangreifbare Macht des Kapitals! Nochmals: Das Schicksal und die Zukunft der Welt liegen in der Hand von verantwortungslosen, anonymen, in allen Staaten verstreuten, nur nach der City und nach Wallstreet zu sich dichter konzentrierenden zahllosen einzelnen großen und kleinen Geldmachthabern. Dasselbe wiederholt sich natürlich bei allen Unternehmungen und Fortschritten (Geschichte der Erfindungen), nur erscheint es in diesem Falle bei dem kolossalen Ausmaß der Verhältnisse und Schicksalsfragen, die hier im Spiele sind, besonders deutlich und verhängnisvoll.
Genua. 12. Mai 1922. Freitag
Mit Moissi gesprochen über Konferenz. Mir kam dabei zum Bewußtsein der Druck, den die Atmosphäre der Konferenz, als eine Atmosphäre des absoluten Dilettantismus, auf mich seit fünf Wochen in steigendem Maße ausübt. Dilettantismus und kleinlicher partikular-politischer Egoismus sind die beiden Klippen, an denen die Konferenz gescheitert ist. Bei uns gratuliert man einander auch innerhalb der Delegation nur, weil »wir mit einem Gewinn für uns nach Hause kommen«. Damit gibt man sich zufrieden! » Wir haben gut abgeschnitten!« Daß damit nichts für den Wiederaufbau oder Neubau Europas erreicht ist, kommt gemäß der alten Einstellung auch Leuten wie Wirth oder Rathenau oder Hirsch nicht zum Bewußtsein. Verdrängter Nationalismus, der kaum weniger tödlich ist als der offene.
Genua. 13. Mai 1922. Sonnabend
Bei Dr. Dillon gefrühstückt im Eden-Hotel in Nervi. Ein Veteran des internationalen großen Journalismus; jetzt sehr deutschfreundlich. Er meinte, Poincaré könne am 31. nicht in die Ruhr einmarschieren, der moralische Widerstand und finanzielle Druck der angelsächsischen Welt würde zu stark sein. Ich sagte ihm, die Friedensfrage sei, von allem politischen und sentimentalen Theater entkleidet, die, ob zwei Summen gefunden werden könnten, um Frankreich und Rußland zufriedenzustellen. Alles in allem dreihundert Millionen Pfund Sterling. Der Friede sei heute nichts als eine Geldfrage. Aber keine Regierung habe heute dieses Geld zur Verfügung. Machthaber darüber seien ungezählte, verstreute Kapitalisten und deren Meinung. So sei das Problem, und es sei bedauerlich, daß niemand von den verantwortlichen Staatsmännern wage, es so brutal der Welt zu sagen.
Genua. 14. Mai 1922. Sonntag
Hier entwickeln sich allmählich um Lloyd George die Sitten eines großen Hofes (Louis XIV., Napoleon). Dafür ist die Art, wie Benesch in Ungnade gefallen ist, charakteristisch. Lloyd George, der sich von Benesch hintergangen glaubt, hat ein Diner gegeben und in die Zeitung setzen lassen, daß zu diesem Diner Vertreter aller Staaten der kleinen Entente eingeladen gewesen seien, aber »non era invitato il signor Benesch«. Mit diesen sechs Worten ist Benesch abgesägt worden. Gestern kam schon die Quittung: die Nachricht aus Prag, daß Benesch als Ministerpräsident und Minister des Auswärtigen zurückzutreten beabsichtige.
Mittags kamen Hilferding und Heinz Simon aus Genua und frühstückten mit mir in Nervi. Nachher segelten wir mit Moissi, wobei die alten Bootsleute uns beim Abfahren so ungeschickt ins Wasser stießen, daß wir unter eine Welle kamen und alle vier bis auf die Haut naß wurden. Draußen war das Meer unter einer Sciroccoschwüle türkisblau und leise atmend, und Tausende von kleinen, durchsichtigen dunkelblauen Muscheln mit winzigen weißen Segeln wogten in Prozessionen an uns vorüber.
Wir aßen zusammen abends am Meer beim Lido d'Altare in dem großen, kasinoartigen neuen Restaurant, das fast leer war. Moissi im Schillerkragen ohne Hut, trotz seiner vierzig Jahre gymnasiastenhaft lebhaft, betrachtete, sehr unterhaltend, die ganze Literatur und Dichtung von sich aus. Gegen Goethe. Dann Erzählungen von Herman Bang, Peter Nansen, Georg Brandes. Schließlich schilderte er, wie die Deutschnationalen ihn in Hamburg mit Stuhlbeinen bombardierten, weil er als Bolschewik galt.
Genua. 15. Mai 1922. Montag
Beim Reichskanzler gefrühstückt. Der 58. Geburtstag des Ministers Schmidt wurde gefeiert mit kleinen Ansprachen und italienischem Weißwein. Sechzehn Personen. Ich saß neben Rathenau, mit dem ich ein sehr eingehendes Gespräch hatte. Der Sinn seiner Ausführungen war, daß der beherrschende Faktor in der internationalen Politik heute die große Armee Frankreichs sei. Es sei kaum zu ermessen, wie große Vorteile Frankreich von seiner Armee habe. Daher seien alle Bestrebungen auf Abrüstung heute ganz und gar aussichtslos, weil es ausgeschlossen sei, daß Frankreich diese Vorteile freiwillig aufgebe. Die Demokratie habe in der Welt überall an Geltung verloren.
Maltzan, der bei dem Frühstück war, erzählte eine sehr bezeichnende und drollige Geschichte von Monsignore Pizzardo, den der Papst zu Verhandlungen mit den Bolschewiki hergeschickt hat. Nachdem Pizzardo mehrere Tage mit Tschitscherin verhandelt und wiederholt seine große Befriedigung über den Gang der Verhandlungen und die kluge und entgegenkommende Haltung Tschitscherins ausgedrückt hatte, fragte er am letzten Tage ganz nebenbei Maltzan, ob Tschitscherin nicht der sei, der eigenhändig den Zaren niedergeschossen habe. Den hohen geistlichen Herrn störte das nicht, er wollte es nur aus historischem Interesse wissen! Renaissancemensch!
Die Konferenz liegt in den letzten Zügen. Die Alliierten haben sich auf die Einsetzung einer Kommission zum Studium der russischen Frage geeinigt, wobei Frankreich systematisch alles zu erschweren gesucht hat. Diese Kommission, die im Juni im Haag zusammentritt, soll aus zwei Halbkommissionen bestehen, die nur von Fall zu Fall zusammen beraten sollen und von denen die eine aus Russen, die andre aus allen andren hier vertretenen Staaten mit Ausnahme von Deutschland bestehen soll. Die Russen sollen also nur ›gehört‹ werden; und selbst dieses hat Frankreich zu verhindern versucht. Ob sie annehmen, steht noch nicht fest.
Vom ›Pakt‹ (›Gottesfrieden‹), den Lloyd George als die Krönung der Konferenzarbeiten erstrebt hatte, ist nur ein gegenseitiges Versprechen Rußlands und der Randstaaten übriggeblieben, sich während der Haager Verhandlungen nicht anzugreifen!
Das Gefühl herrscht vor, daß die Konferenz ein Fehlschlag gewesen ist. Sacchi vom ›Corriere della Sera‹ sagte mir heute bitter, es handele sich nur noch darum, ihr ein anständiges Begräbnis, ein ›Begräbnis erster Klasse‹ zu sichern. Greifbare Vorteile hat eigentlich nur Deutschland von der Konferenz gehabt. Frankreich ist durch sie schwer moralisch und politisch geschädigt. Lloyd George hat eine sehr bedauerliche Schlappe erlitten. Rußland steht nach wie vor außerhalb der zivilisierten Welt. Europa ist nicht wiederaufgebaut. Aber: Es gibt wieder ein Europa! Es gibt wieder ein Europa, obwohl Frankreich sich verzweifelt gegen diese Tatsache wehrt und obwohl dieses Europa, wie man es in Genua sah, kein schöner Anblick war. Mag es häßlich und zerrissen sein: es existiert wieder. Zweite Tatsache: Dieses neue Europa bildet sich als Notgemeinschaft gegen den Versailler Vertrag, gegen Versailles und dessen Folgen. Daher logisch die Stellung Frankreichs dazu. Frankreich ist heute der Feind Europas, weil Europa der Feind Versailles' ist.
Genua. 16. Mai 1922. Dienstag
Sehr ruhiger Tag. Vormittags meine Papiere geordnet. Nach dem Frühstück nach Genua. Mit Hilferding und Kreuter in den Dom, San Sebastiano (romanische Kirche, in der Kolumbus getauft worden sein soll) und Santa Maria di Cairgnano, einer verkleinerten Ausführung von Michelangelos Plan für Sankt Peter: eiskalt und ein Beweis dafür, daß die Dimension und der Raum in der Architektur entscheidend sind (man vergleiche die Pyramide des Cestius mit denen von Gizeh).
Nachmittags in der Stampa; sie ist jetzt fast leer. Die meisten ausländischen Journalisten scheinen schon abgereist zu sein. Die Konferenz liegt im Sterben: ein Kurort im Spätherbst, ein Ballsaal um sechs Uhr morgens.
Genua. 17. Mai 1922. Mittwoch
Vormittags gepackt in Nervi. Gefrühstückt bei Maltzan im ›Eden‹ in Genua mit Dr. Dillon und Frau, Simson und Dufour. Dillon meint, Lloyd George werde infolge des Mißerfolges hier in Genua entweder zurücktreten oder Neuwahlen ausschreiben. Seine Stellung ist aber sehr viel weniger günstig, als sie gewesen wäre, wenn die Franzosen auch äußerlich die Konferenz zum Scheitern gebracht hätten. Jetzt sieht es so aus, als ob die Russen schuld wären, was ihm keine Wahlplattform bietet. Trotzdem wird nach Dillons Ansicht George die Wahlparole ›Reconstruction of Europe‹ ausgeben. Daß die Konferenz ein Mißerfolg gewesen ist, wurde allgemein als feststehend angenommen.
Wir gingen nachher zum Kaffee zum Kanzler, wo auch Rathenau war. Rathenau war wegen der innerpolitischen Situation etwas besorgt. In München haben Demonstranten die Reichsflagge von dem Bahnhof niedergeholt und verbrannt! Ebert hat deshalb seinen Besuch dort zur Gewerbeschau abgesagt und will Wirth veranlassen, bei der Rückreise in München nicht Halt zu machen.
Mein letztes Zusammensein mit Rathenau. Ich sah ihn erst ermordet wieder.
Die Konferenz schließt als Mißerfolg. Sie war ein kleiner Schritt statt des großen, den Lloyd George erwartet hatte. Aber ein Fortschritt war sie doch.
Ein Winkeladvokat an der Spitze einer ›Großen Armee‹, auf der andren Seite die ruhebedürftigen Völker Europas, die ihre gemeinsamen Interessen und ihren gemeinsamen Feind zu erkennen und sich gegen ihn zu organisieren beginnen, das ist die Situation, die Genua hinterläßt.
Rom. 24. Mai 1922. Mittwoch
Mit Hilferding und Lucidi Modigliani im Parlament besucht. Modigliani hielt uns einen anderthalbstündigen, aber sehr interessanten Vortrag über die Lage des italienischen Sozialismus, die er für fast hoffnungslos ansieht, wenigstens im Augenblick, nachdem er vor zwei Jahren die Gelegenheit verpaßt hat, die Macht zu ergreifen und wenigstens eine politische Revolution in Italien durchzuführen. Er schilderte, wie die Faschisten systematisch die bäuerlichen Genossenschaften auf dem Lande kaputtmachen, ferner, wie sie von der Regierung in Gestalt der sechzigtausend Karabinieri bei ihren Gewaltstreichen geschützt werden. Während wir sprachen, versuchten gerade Faschistenbanden ins Parlament einzudringen. Draußen gab es Geschrei und Kommandos, Soldaten marschierten vor und besetzten die Ausgänge. Modigliani meinte, Italien habe die Gegenrevolution vor der Revolution durchgemacht.
Berlin. 10. Juni 1922. Sonntag
Vormittags zehneinhalb Versammlung mit den Franzosen im Reichstag, den Lobe zur Verfügung gestellt hatte. Gerlach präsidierte mit Einstein, Buisson, Basch und mir. Lobe begrüßte die Franzosen. Ich war vom Friedenskartell als deutscher Hauptredner designiert. Buisson, Basch und Renaudel sprachen für die Franzosen. Die Kundgebung war sehr eindrucksvoll. Basch, Einstein und ich ernteten stürmischen, minutenlangen Beifall. Ich betonte, daß wir den Wiederaufbau Nordfrankreichs und das Mittragen der durch den Krieg verschuldeten Finanznot Frankreichs durch Deutschland als Teile des europäischen Wiederaufbaus und Gebote der europäischen Solidarität betrachteten, daher nicht bloß als juristische, sondern auch als moralische Pflicht; aber gerade weil wir sie als moralische Pflicht auffaßten, gerade deshalb hätte unser guter Wille hierzu eine Grenze: nämlich die, daß wir darauf sehen müßten, daß unsere Zahlungen und Leistungen auch wirklich dem von uns anerkannten und gewollten moralischen Zwecke, nämlich dem europäischen Wiederaufbau und der europäischen Solidarität dienten, nicht aber etwa direkt oder indirekt dem französischen Militarismus.
Gut, daß die Franzosen, weil ich sie mit meiner moralischen Pflicht zu den Reparationen sogar überbiete, diesen neuen Boden annehmen. Der diplomatische Vorteil hierbei ist ganz für uns. Während Buisson seine Rede mit einem Hymnus auf die ›Religion der Gerechtigkeit‹ schloß, schloß ich die meine mit einer Aufforderung an beide Völker zu einer gemeinsamen ›Religion der Tat‹, was den Gegensatz zwischen mir und den Franzosen fast ironisch pointierte.
Berlin. 11. Juni 1922. Montag
Frühstück bei Riezler, bei dem ich neben Tschitscherin saß.
Tschitscherin, mit dem ich das Thema seines Vortrages in der Mittwochsgesellschaft zu besprechen hatte, lehnte ab, über die ›Konzessionen‹ in Rußland zu sprechen, da das nicht sein Fach sei. Er sagte, er möchte über ›Die Sowjetregierung und der Pazifismus‹ sprechen. Die Sowjetregierung müsse jetzt eine pazifistische Politik großen Stils einleiten, und hierüber möchte er sprechen. Er habe auch mit d'Annunzio in Gardone schon in diesem Sinne gesprochen. Auch d'Annunzio wolle jetzt eine arbeiterfreundliche, pazifistische Politik in Anlehnung an Deutschland und Rußland machen.
Natürlich sind diese Äußerungen von Tschitscherin, die eine völlig neue Außenpolitik der russischen Sowjetregierung ankündigen, von größtem Interesse. Ich entwickelte Tschitscherin meine Völkerbundideen und schickte ihm nachher auf seine Bitte meine ›Richtlinien‹ nebst andrem Material zu diesen Ideen ins ›Esplanade‹.
Abends aß ich wieder mit Tschitscherin bei Hilferding mit Raumer, Kreuter, Hugo Simon, dem Staatssekretär Hirsch. Leider betäubten Hugo Simon und Raumer die ganze Gesellschaft mit einer Disputation über landwirtschaftliche Fragen, so daß Tschitscherin ganz schweigsam und müde, in seinen spitzen roten Bart seine spitze Nase versenkend, gelangweilt dabeisaß.
Berlin. 20. Juni 1922. Dienstag
Vormittags Unterredung mit Tschitscherin im ›Esplanade‹. Ich wollte seine Haltung zum Pazifismus und Völkerbund genauer erforschen. Er fing damit an, daß die russische Regierung in bezug auf diese Fragen kein Programm habe, sondern ihre Haltung zu ihnen als Fragen der praktischen Politik je nach Umständen von Fall zu Fall regeln werde. In den Genfer Völkerbund würden sie nicht eintreten, ohne daß er vorher (vor ihrem Eintritt) reformiert werde.
Ich fragte dann, wie er sich zu meiner Forderung stelle, daß die international organisierten Wirtschaftskräfte selbständige Vertretungen im Völkerbund haben sollten als Gegengewicht gegen die lokal begrenzten Staaten. Tschitscherin lehnte dieses ab. Es sei zu kompliziert, und außerdem werde es die Macht des international organisierten Kapitals (der goldenen Internationale) stärken; wir hätten aber gar kein Interesse daran, diese Macht zu vergrößern. Auch müsse er sich gegen meinen Vorschlag wenden, geistige und religiöse Organisationen heranzuziehen: zum Beispiel die katholische Kirche. Dadurch werde die Macht der Religion gestärkt, und das sei nicht wünschenswert. Ich sagte, die Macht der Kirche sei eine Tatsache, ebenso wie die Macht der Bankwelt. Auch in diesem Fall stünde ich auf dem Standpunkt, daß man Tatsachen anerkennen müsse und die Gefahren solcher Machtpositionen verringere, nicht vergrößere, wenn man sie in den Bau des Völkerbundes mit einbeziehe.
Im ganzen hatte ich den Eindruck, daß Tschitscherin nicht viel weiß von allen diesen Fragen, auch kein großes Interesse hat, die jetzige kapitalistische Welt wirklich wirksam organisiert zu sehen.
Berlin. 24. Juni 1922. Sonnabend
Um halb zwölf kommt Guseck in mein Schreibzimmer und sagt, Ossietzky hat eben telephoniert, Rathenau ist ermordet. Ich war wie vom Schlag gerührt. Dann kam die Besinnung. Jetzt muß der Reichstag aufgelöst und endlich mit den Mördern von der Rechten wie Helfferich usw. abgerechnet werden. Helfferich ist der Mörder, der wirkliche, verantwortliche.
Zu Georg Bernhard, ihm gesagt, nach meiner Ansicht müsse jetzt der Reichstag sofort aufgelöst werden. Er stimmte zu. Telephonierte an Hemmer in diesem Sinne.
Um drei in den Reichstag. Als ich in die Tribüne trat, war unten ein großer, verworrener Lärm und Aufruhr. Die Linke war auf die Rechte eingedrungen, und auf der rechten Seite des Hauses unter der Regierungsbank sah man einen dichten Knäuel von Abgeordneten, die gegeneinander schrien und gestikulierten. Erst nach etwa zwanzig Minuten und nach wiederholten Ermahnungen von Löbe wurde eine gewisse, sehr unruhige Ruhe hergestellt; und Löbe selbst hielt seinen Nachruf auf Rathenau. Dann stand Wirth am Regierungstisch auf, neben dem leeren, umflorten Stuhl von Rathenau, vor dem auf dem Tisch ein Strauß weißer Rosen lag.
Wirths Rede, die energisch, aber maßvoll war und scharfe Maßregeln gegen die Mörderbanden und ihre Helfershelfer ankündigte, wurde wiederholt von tosendem Beifall auf der Linken und bei Demokraten und Zentrum unterbrochen. Auch die Tribünen klatschten mit. Einmal erhob sich das halbe Haus und rief donnernd dreimal: »Es lebe die Republik!« Die Rechte hörte wie das übrige Haus Wirths Rede stehend an. Selbst Heim, der zuerst sitzen blieb, erhob sich schließlich. Nach Schluß der Rede war der Beifall auch auf den Tribünen ungeheuer. Hermann Müller schlug vor, Wirths Rede in ganz Deutschland auf Reichskosten anschlagen zu lassen.
Um sieben war eine neue Sitzung des Reichstags angesagt ›zur Entgegennahme einer Erklärung der Reichsregierung‹. Die Sitzung fing erst gegen acht an. Wirth verlas nur ganz trocken die Verordnungen des Reichspräsidenten. Die Sitzung verlief ohne Erregung, ganz geschäftsmäßig.
Auch ist es unsicher, was heute nacht geschieht, obwohl ich nicht glaube, daß die Hirnlosigkeit der Reaktionäre bis zu einem durch einen Mord eingeleiteten und von vornherein diskreditierten Staatsstreich gehen kann.
Das allgemeine Gefühl ist, daß die Ermordung Rathenaus tiefer wirken und schwerere Folgen haben wird als die Ermordung Erzbergers, weil Rathenau eine reinere und sympathischere Persönlichkeit und eine höhere, unersetzlichere geistige Kraft war. Das Rachegefühl erhebt sich wieder so stark oder noch stärker wie nach der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand. Ein neuer Abschnitt der deutschen Geschichte beginnt mit dieser Mordtat oder sollte doch mit ihr beginnen.
Berlin. 25. Juni 1922. Sonntag
Vormittags Massendemonstration im Lustgarten. Über zweihunderttausend Menschen; ein Meer von Menschen, über dem zahllose rote und schwarzrotgoldene Fahnen wehten. Ich sollte sprechen, verzichtete aber, da ich noch immer heiser bin. Die Redner standen auf der Schloßbalustrade, dem Kaiser-Wilhelm-Denkmal, dem Denkmal Friedrich Wilhelms III. Auf dem Kopf Friedrich Wilhelms saß ein kleiner Junge mit einer schwarzrotgoldenen Fahne. Die Erbitterung gegen die Mörder Rathenaus ist tief und echt, ebenso der feste Wille zur Republik, der viel tiefer sitzt als der vorkriegsmonarchische ›Patriotismus‹.
Mit Kreuter in den Reichstag, wo um zwölf Sitzung war. Ich ging mit Wirth (den ich kurz sprach) hinein und stand am Regierungstisch. Verhandelt wurde über die gestrigen Ausnahmeverordnungen. Wels hielt eine sehr scharfe Rede gegen Rechts; der Zentrumsführer Marx verlangte jetzt ein klares Bekenntnis für oder gegen die Republik. Der Deutschnationale Hergt hatte dann eine Rede hervorgezappelt, der Unabhängige Crispien vor fast leerem Hause ziemlich mäßig zu donnern versucht.
Da stand Wirth auf. Wie es schien, nur zu einer kurzen Bemerkung. Obwohl das Haus leer sei oder gerade deshalb, wolle er den Augenblick benutzen, um etwas nachzuholen, was er gestern nicht in gebührender Weise habe ausführen können. Und dann begann er, während sich das Haus füllte, mit warmen Worten des Nachrufs und der Trauer über Rathenau und stieg dann auf zu einer Rede, die um so gewaltiger wirkte, je ungezwungener und unvorbereiteter sie schien. Schließlich hatte er drei Fünftel des dichtgefüllten Hauses auf den Beinen und gegen die Rechte gewendet, die blaß und schweigend dasaß wie auf einer Angeklagtenbank. Ich mußte an Erzbergers große Anklagerede in Weimar denken. Aber Wirth wirkt überzeugender und wärmer, weniger gerissen und demagogisch. Man fühlt, es kommt eben wirklich aus der Tiefe seiner Überzeugung. Ich habe dem Mann unrecht getan; er ist doch jemand.
Um vier mit Kreuter nach dem Grunewald hinaus, um vom armen Rathenau Abschied zu nehmen. Er liegt im offenen Sarge in seinem Studierzimmer, in dem ich so oft mit ihm gesessen habe, den Kopf etwas nach rechts zurückgebogen, einen sehr friedlichen Ausdruck im tief gefurchten Gesicht, über dessen unterem, zerschmettertem Teil ein feines Taschentuch gebreitet ist; nur der graue, kurz gestutzte, zerzauste Schnurrbart sieht darüber hinaus. Einige Blumen lagen auf Brust und Händen; Kreuter und ich fügten rote und weiße Rosen hinzu. Wir waren ganz allein im Zimmer; es herrschte große Stille, und doch in dem zerfurchten, toten, wunden Gesicht eine unausmeßbare Tragödie. Ich empfand sie ähnlich wie am Sarge Nietzsches.
Eine Linie jäh gebrochen, die irgendwohin ins nicht Berechenbare führte und nun nie Wirklichkeit werden wird. Rathenau hatte wie die meisten großen Juden etwas Messianisches, aber er war kein Messias, eher ein Johannes der Täufer, der auf einen Messias wartete, ein Moses, der das Gelobte Land sah, aber nicht betreten durfte. Und auch sein Tod entspricht diesem Schicksalszug: er hinterläßt als Staatsmann kein Werk, aber ein Vermächtnis, das in die Zukunft weist, eine Hoffnung, deren Verwirklichung von andren abhängt.
Der Diener stand, als wir hinausgingen, vor der Tür, und ein Mädchen wollte hinein mit einem großen Strauß frischer Feldblumen: »Ich wollte«, sagte sie bittend zum Diener, »diese Blumen Herrn Doktor hineinbringen.« Da um fünf die alte Mutter kommen sollte, blieben wir nur kurz und fuhren zusammen weg, ich nach Wilhelmshagen zu Nostitzens, wo der Pastor Siegmund-Schultze eine kleine Trauerfeier für Rathenau vor den Kindern eines Sommerfestes abhielt, sehr einfache Worte, die mich aber sehr ergriffen. Ich fuhr nachher fort.
Berlin. 27. Juni 1922. Dienstag
Beisetzung Rathenaus. Von zwölf Uhr mittags an beginnt eine völlige Arbeitsruhe als Trauerkundgebung und Protest gegen die Mordhetze.
Die Beisetzungsfeier fand im Sitzungssaal des Reichstages statt. Ich hatte einen Platz auf der rechten Tribüne. Der Sarg stand erhöht aufgebahrt hinter dem Rednerpult unter einem mächtigen schwarzen Baldachin, der von der Decke hing. Der Saal war schwarz ausgeschlagen und mit einem wahren Meer von Blumen und Blattpflanzen geschmückt. Neben dem Sarge an der Rückwand, rechts und links vom schwarzen Baldachin, standen vier mächtige Palmen; vor dem Sarge war die Rednertribüne mit einem großen, schrägen schwarzen Schleier bedeckt, auf dem gewaltige, herrliche Blumenkränze lagen, an den erhöhten Regierungstischen hingen ebenfalls große, verschiedenfarbige Blumenkränze, der eine immer dicht neben dem andren, mit langen Schleifen in den Farben der Republik, Schwarz-Rot-Gold. An den Tribünen liefen vor dem schwarzen Flor, mit dem sie bespannt waren, dichte Büsche von blauen und rosa Hortensien entlang; von den Bogenlampen an der Decke, die brannten, hingen lange Kreppschleier schwarz hinunter. Die Tribünen selbst, ebenso wie der Saal, waren dicht gefüllt. Kein Sitz war leer, auch nicht bei den Deutschnationalen. Mittelpunkt, und alles durch seine Größe und seinen Ernst beherrschend, war unter einer mächtigen Reichsflagge mit dem Reichsadler der Sarg, neben dem links ein mächtiger roter und rechts ein mächtiger roter Kranz lagen.
Um zwölf führte der Reichskanzler die alte Mutter herein in die Kaiserloge, auf den noch mit einem gekrönten W gezierten Platz. Die alte Frau war wachsbleich und steinern, wie gemeißelt unter ihren Schleiern, offenbar ganz Selbstbeherrschung. Ihr weißes, verschleiertes, schmerzgebleichtes Gesicht war das, was mich am meisten ergriff. Sie blickte immer ganz unbeweglich hinunter auf den Sarg. Kreuter, der gestern bei ihr war, sagt, sie sei ganz Rache. Sie wolle nur noch an Helfferich einen Brief schreiben, daß er der Mörder ihres Sohnes sei, und dann sterben.
Nachdem Wirth sie auf ihren Sessel gesetzt hatte, ging er hinunter und erschien gleich darauf unten wieder im Zuge, an dessen Spitze Ebert und dann Löbe hereinkamen. Die Musik, die hinter dem Sarge in der Vorhalle unsichtbar aufgestellt war, spielte die Egmont-Ouvertüre, den wildbewegten Volksaufstand und die süße, heimliche Liebesweise, und dann sprach Ebert, vor den Sarg hintretend, sehr leise, vor Bewegung kaum hörbar, aber schön. Nach ihm sehr klar und packend Bell für den Reichstag, schließlich mittelmäßig für die Demokratische Partei ein Pastor Korell. Dann spielte die unsichtbare Musik den Trauermarsch aus der ›Götterdämmerung‹ auf den erschlagenen Siegfried, und dieses war gewiß gefühlsmäßig der Höhepunkt der Feier im Saal. Die Wirkung war aus den Umständen heraus ungeheuer. Man hörte Schluchzen, viele um mich herum weinten, das Weltgeschichtliche dieses schicksalsschweren Todes schwebte in der Musik durch die Seelen.
Dann wurde der Sarg hinausgetragen durch die Wandelhalle auf die Freitreppe. Unten stand grau und im Stahlhelm eine Kompanie Reichswehr, eisern ausgerichtet, die Trommeln wirbelten, ein gewaltiger, sonderbar wie ein fernes Gewitter tönender Trauermarsch schwoll gedämpft an, der Sarg, eingehüllt von den Reichsfarben, wurde in den mit roten Rosen umwundenen Leichenwagen gestellt. Langsam setzte sich unter Trommelschlägen der Zug in Bewegung. Trotz des Regens, oder vielleicht wegen dieser grauen Regenschleier, die zum dumpfen Ton der Trommelwirbel paßten, war der Eindruck fast noch mächtiger als im Saal. Was Lassalle sich erträumte, den Einzug durch das Brandenburger Tor als Präsident einer Deutschen Republik mit der im Goldschmuck ihres Haares strahlenden Göttin, ist vom Juden Rathenau durch seinen Märtyrertod im Dienst des deutschen Volkes verwirklicht worden.
Berlin. 28. Juni 1922. Mittwoch
Sitzung des Friedenskartells und nachher der Friedensgesellschaft. Abends Trauerkundgebung für Rathenau in der Mittwochsgesellschaft. Stresemann hielt die Gedächtnisrede, sehr warm, trotz aller klar ausgesprochenen Kritik im einzelnen. Auffallend war der Nachdruck, mit dem Stresemann die Pflicht eines jeden betonte, dem gegenwärtigen Staat (also der Republik) seine Dienste zu leihen, nicht in einer ›bequemen Opposition‹ zu verharren.
Berlin. 30. Juni 1922. Freitag
An Nernst im Namen des Friedenskartells einen Brief geschrieben, in dem ich unser ›schmerzliches Befremden‹ über sein Verbot der Trauerkundgebung für Rathenau in der Universität ausspreche, disziplinarische Maßregeln gegen die aufrührerischen Studenten verlange, die gedroht haben, die Trauerversammlung zu sprengen, und anrege, daß die Universität der ›nach diesem Vorkommnis elementaren Anstandspflicht‹ nachkomme, selber von sich aus eine Trauerkundgebung für Rathenau zu veranstalten.
Berlin. 2. Juli 1922. Sonntag
Da wegen eines Buchdruckerstreiks seit gestern keine Zeitungen erscheinen, weiß man nicht recht, was vorgeht. Aber es scheint, daß bereits über achtzig Personen verhaftet sind als Teilnehmer und Mitwisser bei der Ermordung von Rathenau. Es handelt sich um eine über ganz Deutschland verbreitete Verschwörung, deren Teilnehmer fast alle der ›Organisation E‹ (Ehrhardt) angehört haben und von denen jedenfalls einige mit Ludendorff, Helfferich usw. in persönlicher Verbindung standen.
Nernst telephonierte früh und bat mich um eine persönliche Unterredung, die ich auf morgen halb drei festsetzte. Er sagte, er wolle mir die ganzen Akten über das Versammlungsverbot vorlegen und hoffe mich zu überzeugen, daß er nicht anders habe handeln können. Es sei unter anderem ›ein schwerer Wortbruch‹ auf Seiten der Veranstalter vorgekommen.
Abends aß Becher bei mir. Brachte mir Bruchstück aus einer Hymne mit. Er bezeichnet seine politische Poesie als überwunden und schlecht. Ebenso seine Liebespoesie (Gedichte für Lotte Pritzel). Er verlangt Objektivierung, Loslösung des Gedichts von den persönlichen Zufälligkeiten des Dichters.
Berlin. 4. Juli 1922. Dienstag
Gestern abend ist ein Mordanschlag auf Harden verübt worden. Harden ist schwer verletzt.
Berlin. 6. Juli 1922. Donnerstag
Das Gerücht geht, daß Gerlach ermordet ist. ›Volkszeitung‹ und Friedensgesellschaft läuten bei mir an. Gerlach ist gestern abgereist, nichts festzustellen. Wahrscheinlich ist das Gerücht nur eine Ausgeburt der äußersten Nervosität, die herrscht. Eine Mordatmosphäre, etwas Unheimliches, Ungreifbares drückt auf alle wie die heutige Gewitterschwüle.
Ich frühstückte bei Hesnard mit Haguenin, Hilferding, Georg Bernhard. Der katastrophale Fall der Mark seit Rathenaus Ermordung (von etwa dreihundert auf heute vierhundertvierzig) macht auch den Franzosen schwere Sorgen. Sie sehen ein, daß ein weiteres Fallen die Reparationszahlungen unmöglich machen würde und daß die bisherige französische Politik an diesem Sturz einen Teil der Schuld trägt. Poincaré selbst, der eine schwache, unentschlossene Natur sei, die sich in Blut hüllt, um stark zu scheinen, scheint nicht mehr so ganz sicher zu sein, daß sein Weg der richtige ist. Trotzdem protestiert er gerade jetzt wieder gegen die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund!
Abends Tollers ›Maschinenstürmer‹ im Großen Schauspielhaus. Talentloser Kitsch, der die Tendenz, die er vertritt, nur kompromittieren kann, ebenso wie die talentlose, kitschige Münchener Räterepublik den republikanischen Gedanken in Bayern kompromittiert hat.
Berlin. 7. Juli 1922. Freitag
Nachmittags bei George Grosz (dem Zeichner). Seine ganze Kunst ist in ihrem ausschließlichen Kult der Häßlichkeit deutschen Spießertums sozusagen nur das Gegenbild irgendeines geheimen Schönheitsideals, das Grosz in sich verbirgt, sozusagen schamhaft verhüllt. Er zeichnet und zeigt und verfolgt mit fanatischem Haß das Gegenteil dessen, was er in seinem Inneren trägt und wie ein Heiligtum vor allen Blicken schützt. Seine ganze Kunst ist ein Vernichtungskampf gegen dieses Gegenteil seines stets verhüllten Ideals, seiner geheimen ›Liebesdame‹; statt sie wie ein Minnesänger zu besingen, kämpft er alle Tage wie ein besessener Ritter gegen ihre Widersacher mit schonungsloser Wut. Ein ganz merkwürdiger und einziger Fall: der Idealist mit umgekehrtem Vorzeichen. Nur in der Farbe leuchtet etwas von seinem geheimen Ideal durch. Eine mimosenhaft empfindliche Natur, die aus Empfindsamkeit unerhört brutal wird und die Gestaltungsgabe zu dieser Brutalität besitzt.
Abends aßen Becher und Dr. Gumbel (›Drei Jahre Mord‹) bei mir im Zoo. Ich warnte Gumbel, der, wie ich zu wissen glaube, auch auf der Liste der zu Ermordenden steht.
Berlin. 12. Juli 1922. Mittwoch
Besuch bei Harden in der Klinik. Vermummelt. Erzählt von der unglaublichen Roheit des Mörders, der ihn am Boden liegend immer wieder mit der Eisenstange schlug. »Ich kann doch in diesem Lande nicht mehr leben!?«
Weimar. 18. Juli 1922. Dienstag
Die Rathenaumörder haben sich gestern abend in Burg Saaleck bei Kösen, als sie umstellt waren, erschossen.
Weimar. 20. Juli 1922. Donnerstag
Nachmittags bei Frau Förster-Nietzsche. Sehr unerquickliches politisches Gespräch, das sie herbeiführte, indem sie sagte, sie fürchte für mein Leben von Seiten der Bolschewiki, ›die ja auch Rathenau hätten ermorden lassen‹. Dieser absurde Unsinn, den Ludendorff in einem Interview im ›Daily Express‹ vor einigen Tagen zuerst in die Welt gesetzt hat, ist für sie eine nicht anzuzweifelnde Tatsache, denn ›der Meuchelmord sei keine deutsche Sache‹.
Also wird diese abgeschmackte Lüge jetzt bei alten deutschnationalen Damen propagandistisch verbreitet, um die Mordschuld abzuwälzen! Ich sagte ihr meine Meinung, was zu einer ziemlich erregten Auseinandersetzung führte, ohne sie im geringsten in ihrem Glauben an die Reinheit der deutschnationalen Seele und die kommunistische Urheberschaft des Rathenaumordes zu erschüttern.
Ich führte dagegen unter anderem an: Erstens, daß die Rechtsradikalen bisher fünfhundert Morde an Linksstehenden seit der Revolution vollführt hätten. Seien diese alle kommunistisch oder bolschewistisch inspiriert? Zweitens, daß noch kein einziger bolschewistischer Provokateur zu Rechtsmorden festgestellt, ja, auch nur benannt worden sei. Drittens, daß dann auch die zahlreichen Waffenlager des ›Deutschen Schutz- und Trutzbundes‹, der ›Organisation E‹ usw. auf bolschewistische Anregungen zurückzuführen sein müßten, da sie ja auch auf die Absicht zu Gewalttaten und Morden schließen ließen.
Man schämt sich, solche Absurditäten widerlegen zu müssen. Die gute alte Dame spricht von den Rechtsradikalen nur als ›Wir‹! Zum Schluß bat sie mich aber doch, Harden (den ich vorigen Mittwoch in der Klinik besucht habe) zu grüßen; es kam allerdings ziemlich kühl und gezwungen heraus.
Berlin. 26. Juli 1922. Mittwoch
Abendgesellschaft bei Tschitscherin in der Russischen Botschaft, Unter den Linden, zu deren Wiedereinweihung. Die von Nikolaus I. bestellten Säle strahlten für das Bolschewistenfest im hellsten Glanze. Tschitscherin empfing nach der traditionellen Art seine Gäste am Eingang des ersten Saales und wechselte mit jedem ein paar Worte. Mit mir sprach er über den Pazifismus, was nach unserem Renkontre in der Mittwochsgesellschaft und nachher nicht eines gewissen ironischen Humors ermangelte.
Florinski als junger kommunistischer Attaché, im tadellosen Frack mit dem Sowjetstern im Knopfloch, bemühte sich in der besten diplomatischen Manier um die Gäste. Diese waren ganz einseitig männlich, vielleicht wegen der Jahreszeit; nur wenige Frauen, einige in Wollkleidern, waren dazwischengesprenkelt. Auch der Anzug der Männer war sehr verschieden. Unser Auswärtiges Amt, Haniel, Maltzan, Schubert, Arends usw., strahlend mit der weißen Männerbrust im Frack; die Mehrzahl der Gäste in weniger festlichen Kostümen, vom Smoking bis zum Straßenanzug. Das Ganze machte trotz des Glanzes der kaiserlich dekorierten Säle mehr den Eindruck eines politischen Klubs mit leichtem Verschworeneneinschlag.
Dieser etwas ungewöhnliche Eindruck wurde dadurch verstärkt, daß sich Tschitscherin die Pagenjungen aus dem ›Esplanade‹ in ihren grünen Pagenuniformen zur Aushilfe mitgenommen hatte. Dazwischen irrte Rantzau, dessen Ernennung zum Botschafter in Moskau heute abend in der Zeitung steht, mit seinem aristokratisch blasierten, wie ein benutztes Taschentuch zerknitterten Gesicht herum, gespensterhaft an Gruppen herantretend und plötzlich mit einzelnen in Zwiegespräche sich vertiefend. Löbe, sein absolutes Gegenstück, im Cutaway mit weißer Abendkrawatte, das Urbild des gemütlichen, sonntagsmäßig herausgeputzten Arbeiters. Hoetzsch, ebenfalls im Cutaway mit schwarzer Professorenkrawatte, Vertreter des aufgeklärten Nationalismus, wie immer lächelnd, ja strahlend wie ein reifer, rotwangiger Apfel im Sonnenschein. Breitscheid, die wandelnde Bohnenstange, sarkastisch Getränk und Speise ablehnend mit dem Kehrreim: »Denken Sie daran, in Rußland verhungert man!« Wirth zeigte sich nur einen Augenblick und verschwand gleich wieder. Löbe meinte, die Spannung mit Bayern werde ohne Tragödie gelöst werden.
Berlin. 29. Juli 1922. Sonnabend
Nachmittags Harden besucht, zum zweiten Mal seit seiner Verwundung. Bei ihm saß Steinböhmer (früherer Generalstabsmajor, Freund des Kronprinzen und Rathenaus, jetzt Student der Kunstgeschichte). Harden ging es viel besser, er lag zwar noch im Bett, war aber sehr munter und witzig. Schilderte, wie er Frau Förster-Nietzsche im Christlichen Hospiz in der Behrenstraße besuchte und kennenlernte, und machte sehr drollig nach, wie sie mit christlicher Innigkeit inmitten der frommen Schwestern und Pastorentöchter Christus restlos vernichtet hätte. Dann entwickelte er erstaunliche Kenntnisse auf dem Gebiet der Pariser Theatergeschichte: Hortense Schneider (meine erste Liebe, als sechs- oder siebenjähriger Junge), Jeanne Granier, Réjane, Sarah Bernhardt usw. Schließlich sprachen wir lange über die Verhältnisse an unseren Universitäten. Ich erzählte ihm von der geplanten Tagung republikanischer Studenten in Jena. Steinböhmer leugnete, daß jemals ein Professor in Kolberg in seiner Gegenwart irgend etwas direkt oder indirekt gegen die Republik gesagt hätte. Harden erwähnte auch einmal Rathenau, wobei er sich der mit offenbarer Überwindung hervorgepreßten Worte: »Sagen wir, unser Freund Rathenau« bediente. Im übrigen war er in seiner weißen Vermummung abwechselnd drollig, witzig, milde, weltweise, kurz, das ganze Register, wobei er auch fallen ließ, daß er zwanzigmal die Hauptrolle in ›Fedora‹ gespielt habe.
Berlin. 30. Juli 1922. Sonntag
Mittags ›Nie wieder Krieg‹-Demonstrationen im Lustgarten. Etwa hunderttausend Menschen mit roten und schwarzrotgoldenen Fahnen, darunter viel Wanderjugend. Dreißig Redner. Ich sprach auf der Schloßbalustrade an der Ecke bei der Brücke.
Berlin. 2. August 1922. Mittwoch
Abends Premiere der ›Moskauer Versuchsbühne‹ im Apollotheater. Mit Max Goertz und Guseck hin. Dramatisierung von Dickens' ›Heimchen am Herd‹. Fabelhaft lebendiges und wahr wirkendes Spiel, obwohl es stark stilisiert ist. Aber das Puppenhafte, das bei unseren Expressionisten so störend ist, ist hier ganz überwunden. Man bekommt den Eindruck voller Natürlichkeit. Erstaunlich sind auch die Masken, die Gesichter wahre Kunstwerke der Malerei und Modellierung, obwohl das Mienenspiel nicht verdeckt wird. Schauspieler Tscheschow als ›Kaleb‹, eine unvergeßliche Figur.
Berlin. 3. August 1922. Donnerstag
Hauptmannglosse diktiert. Abends bei den Russen ›Erik XIV.‹ von Strindberg. Tscheschow spielte die Titelrolle. Wieder hinreißend: einen vollen Menschen, eine Art von jungen Nero hinstellend. Wunderbar war die Vergiftungsszene, wie er die ersten Todeskrämpfe bekam, so diskret und wahr. Prachtvolle Kostüme und Dekorationen, stark kubistisch, auch die Gesichter kubistisch geschminkt, aber ohne daß sie puppenhaft oder unwahr wirkten. Die Königinmutter wie ein Raubvogel, grandiosgroteske und furchtbare Figur. Das Publikum ebenso wie gestern, fast ausschließlich russisch.
Nachmittags bei Ströbel, der fast eine Stunde auf mich einredete, ich solle Außenminister werden. Ich winkte entschieden ab.
Paris. 6. August 1922. Sonntag
Heute zum ersten Mal seit dem Kriege, zum ersten Mal seit acht Jahren, in den Louvre. Ich war von der Fülle, trotz Rom und Florenz, überwältigt und verwirrt, mehr verwirrt als ergriffen. Nur die beiden Leonardos und die Rembrandts, die mir so intim bekannten, machten wieder den alten Eindruck: namentlich der ›Barmherzige Samariter‹ und die ›Emmaus-Pilger‹. Etwas weniger stark, aber doch stark und aus der Sintflut von Bildern hervorragend Grecos ›König Ferdinand‹ und einige alte Franzosen des fünfzehnten Jahrhunderts.
Paris. 7. August 1922. Montag
Wenn man den absolut bourgeoisen und reaktionären Charakter der Mehrheit des französischen Volkes und selbst der wirtschaftlichen Struktur des Landes betrachtet, so scheint es hoffnungslos, daß hier jemals ein sozial und international fortschrittlicher Geist an die Herrschaft gelangen könnte. Aber ähnlich ist es immer in der französischen Kunst und Literatur gewesen, wo die Akademie und die überwältigende Mehrheit des ›gebildeten‹ Publikums durch das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch völlig bourgeois und reaktionär gewesen sind und jede Neuerung und alle Neuerer immer abgelehnt und verhöhnt haben, von Ingres und Delacroix und Baudelaire bis Verlaine und Manet und Rodin. Und doch ist Frankreich im neunzehnten Jahrhundert das Land gewesen, das in der Kunst an der Spitze marschiert ist; und wenn man heute in den Louvre geht, so sind die alten Akademiker des neunzehnten Jahrhunderts verschwunden, und offiziell anerkannt werden als die Meister dieser Epoche die damals nur von einer winzigen Minorität nicht verworfenen Revolutionäre. Man kann hieraus auch etwas für den Gang der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in Frankreich vielleicht lernen: vielleicht! Frankreich das Land, wo am leichtesten eine Minorität sich durch Talent und Willenskraft durchsetzt. Siehe auch die Französische Revolution. Allerdings hat in dieser Beziehung gleich große Chancen hier auch eine reaktionäre Minorität, die Leute um Leon Daudet, wenn sie die nötigen Qualitäten aufbringen.
Abends in der ›Cigale‹ im Montmartre eine Revue. Ein ganz erstklassiger junger Tänzer, offenbar russischer Schulung, Zoiga, der für den ›Joseph‹ in Frage käme. Und natürlich eine Karikatur von Tschitscherin, der hier sehr Mode ist. In der Revue von Marigny gestern abend auch ein ausgezeichnet in der Maske karikierter Tschitscherin, der russisch tanzte und Purzelbäume schlug.
Paris. 8. August 1922. Dienstag
Vormittags auf dem Militärkirchhof von Ivry das Grab des armen Louis Caillon gesucht. Ich fand es in einer Reihe eng gepreßt zwischen andren Gräbern, aber etwas stattlicher als die meisten andren, ein kleiner Steinaufbau mit einem Blumenbeet in der Mitte und den Worten ›Louis Caillon 1892-1918‹ in einem Kranz. Armer Junge! So viel Herz und Talent unter diesem kleinen Stein vorzeitig begraben. Und für die Welt nichts davon übriggeblieben.
Paris. 11. August 1922. Freitag
Der tiefste Gegensatz zwischen Paris und Berlin, zwischen Norddeutschland und Frankreich, ist die Ausgeglichenheit, das durch lange Tradition Ineinander-Eingearbeitetsein aller sozialen Funktionen in Frankreich; nicht der einzelnen Menschen, aber ihrer Funktionen. Der kleine Rentner, die Kokotte, der Notar, der Beamte, der Arbeiter usw. sind gegeneinander als soziale Funktion so eingespielt, so typisch geworden, daß der ganze soziale Organismus wie ein Naturprodukt dasteht, ›natürlich‹ geworden ist.
Bei uns ist noch alles Funktionieren im Werden, muß künstliche Organisation nachhelfen, scheint das meiste noch zufällig, willkürlich, veränderlich: namentlich in der deutschen Großstadt, die Paris gegenüber wie ein Haufen individueller Einzelfälle wirkt. Schon bei Molière empfindet man dieses zur Natur gewordene Funktionieren der französischen Gesellschaft, so daß Typen, das heißt die Abbilder der in ihr immer wiederkehrenden Funktionen, sie fast vollständig ausdrücken, während zur Darstellung einer noch nicht so zusammengewachsenen, noch halb chaotischen Gesellschaft Individuen, stark gezeichnete Einzelfälle nötig sind. Wie jeder hier in Frankreich auf seinen Platz findet, ob Kokotte oder Bankier, während bei uns jeder sich erst seine Haltung zur Umwelt selber konstruieren muß. Hier legt sich jeder nur in das längst gemachte Bett und die längst feststehende Position seiner Funktion.
Paris. 13. August 1922. Sonntag
Vormittags mit Wilma nach Marly, Maillol besuchen. Ich hatte ihn seit 1914 nicht gesehen. Er empfing mich mit hocherhobenen Armen und hatte Tränen in den Augen. Auch ich war, als ich ihn stark gealtert, grau und sozusagen eingeschrumpft sah, wie damals innerlich bewegt. Er hat in den acht Jahren wenig geschaffen, allerdings zwei vollendet schöne Werke: einen Torso einer jungen, schreitenden Frau und den Entwurf zu einem Gefallenendenkmal, einen nackten, zusammengebrochenen Krieger mit Stahlhelm. Sonst nur noch drei Kriegsdenkmäler für kleine Städte in seinem Heimatdepartement, die er umsonst geliefert und zu denen er früher geschaffene Frauenfiguren verwendet und nur drapiert hat, so meine große ›Hockende‹ und die ›Pomona‹. Er klagt, daß, seitdem ich ihm keine Aufträge mehr gebe, er überhaupt keine mehr bekommt. Der Staat hat ihm bisher keinen einzigen Denkmalsauftrag gegeben.
Er führte uns in sein Haus, das seitdem fertig geworden ist und dort steht, wo er früher sein Atelier hatte. Hier zeigte er uns eine Anzahl großer und kleiner Bilder seines Sohnes Lucien, die von sehr großem Talent und Können zeugen: Landschaften, Blumenstücke, große Figurenbilder. Er lehnt sich allerdings stark an Degas und Cézanne an, aber alle haben einen ihm offenbar eigenen Zug ins Große, ins Erfassen und Hinstellen von mächtigen Massen, und sind in einer reichen, pastosen und zart nuancierten Farbe gemalt, die an die von Courbet oder Cezanne erinnert. Man kann fast mit Sicherheit auf einen bedeutenden Maler hoffen. Er selbst war nicht anwesend, da er eine Ferienreise in die Alpen macht und gerade heute den Mont Blanc besteigt. Scheint überhaupt ganz im Gegensatz zu seinem Vater ein etwas abenteuerlicher Geist, war im Krieg Flieger, treibt Sport, was alles dem Alten in seiner Beschaulichkeit ganz fern liegt. Trotzdem ist dieser offenbar äußerst stolz auf seinen Sohn. Während wir da waren, kam der Dichter Marc Laforgue zum Frühstück, der für mich Vergils Eklogen übersetzt hat.
Nachher mit Wilma Mamas Grab im Père Lachaise. Blumenfülle. Blick auf Paris, Pantheon, Notre-Dame. Wir verweilten lange.
München. 16. August 1922. Mittwoch
Früh in der Pinakothek. Nachher bei Curt Unruh; seine Louis-Ferdinand-Illustrationen besehen und ihn zum Frühstück mitgenommen. Er war erfüllt vom Problem des Gegensatzes Danton– Robespierre, des Gegensatzes zwischen dem Revolutionär aus Feigheit (um sich zu schützen) und dem aus Kühnheit (unbezwingbarer Schaffensdrang). Sein Bruder habe ihn im ›Feigen‹ und seiner Gegenfigur in der Trilogie verkörpert.
München. 17. August 1922. Donnerstag
Früh mit Max in der Glyptothek und der Neuen Pinakothek. Van Gogh. Brutalität, fast irrsinniger Haß gegen die Natur in jedem Pinselstrich; das Ganze aber immer zart, süß und liebenswert. Die Brutalität des Pinselstrichs löst sich auf in eine helle und sanfte Harmonie des Ganzen. So ist die Natur; und van Gogh ist vielleicht der einzige, bei dem sie so dasteht.
Nachmittags nachStarnberg Bernstorffs besuchen. Im Auto hinausgefahren mit Max. Wolkenloser, sonnenvergoldeter Tag. Im See badeten und sonnten sich junge Leute; über der Landschaft lag ein Glücksschimmer.
Zürich. 20. August 1922. Sonntag
Mittags aus München nach Zürich. Unterwegs ›Tolstoi, Denkwürdigkeiten‹ von Umanskij gesammelt. Sie vergoldeten mir den Tag, obwohl die Urteile über Kunst und Literatur, die von Tolstoi überliefert werden, meistens aufreizend unsachlich und verständnislos sind. Aber die Erinnerungen des Bauern Wassilij Monsow an den jungen Tolstoi als Lehrer der Bauernkinder in Jasnaja Poljana stabilisieren die liebenswerte Größe und Genialität von Tolstois Persönlichkeit so, daß seine unsinnigsten Kunsturteile sie nicht mehr zu erschüttern vermögen; man kann nur noch über sie wie über die Seitensprünge eines großen genialen und heftigen Kindes lächeln.
Lugano. 22. August 1922. Dienstag
Nachmittags nach Lugano zum Kongreß der ›Weltfrauenliga‹, bei dem ich einen Vortrag über den Völkerbund halten soll. Mme. Jouve, Miß Balch getroffen. Diese brachte mich mit einer Deutsch-Amerikanerin, einer Frau Hoesch, zusammen, die auch sonst taktlos war (Fragen wie: Warum ich soviel reise? Was ich politisch tue? usw.), aber allem die Krone aufsetzte, indem sie mir auf dem prinzipiell pazifistischen Hintergrunde dieses Kongresses ihre persönliche Meinung, daß man Ludendorff ermorden sollte, entwickelte. Trotz meiner energischen Abwehr blieb sie aber dabei. Ein hübscher Auftakt zu einem Kongreß ›pazifistischer‹ Frauen und ein peinlicher Beweis, wie flach und töricht Menschen ihre eigenen Gedanken denken. Die Frau Hoesch, die um des lieben Friedens willen Ludendorff ermorden will, ist ein würdiges Seitenstück zu Bernstorff, der, um Krieg zu führen, in den Völkerbund hinein will.
Ich bedauere jetzt, daß ich hergekommen bin.
Lugano. 26. August 1922. Sonnabend
Meinen Vortrag über einen ›wahren Völkerbund‹ im Municipio vor dem Kongreß gehalten. Sehr großer, ja stürmischer Erfolg. Der deutsche Konsul Francke und andre sagten mir gleich nachher, es sei der durchschlagendste Vortrag des Kongresses gewesen.
Capri. 2. September 1922. Sonnabend
Den ganzen Tag auf dem Wasser; geschwommen. Abends im Hotel auf der Terrasse im Freien Konzert eines verkrachten Marchese Imperiali, der neapolitanische und französische Mayolliedchen sang; diese mit einem Zusatz neapolitanischen Himmels zur Pariser Grisettensentimentalität. Doppelschmalz. All die römischen und neapolitanischen Principes, Ducas, Marcheses, die zur Stazione in Capri sind, bildeten einen Riesentisch, zu dem aus der Dunkelheit des Gartens bei den ersten Tönen der Musik der General Diaz trat, der italienische Foch und Sieger von Vittorio Veneto, im Smoking und Marinemütze, aussehend wie ein älterer Prokurist, klein, tüchtig, unbedeutend bis auf zwei energische Mundfalten. Zwei Adjutanten, auch im Smoking, begleiteten ihn, und die ganze Gesellschaft, die Principessen und Duchessen, Marchesas, lauter große, magere, mannsartige Frauen, behandelten ihn mit einer sehr sorgfältigen und bewußten Mischung von äußerlicher Unbefangenheit und aus dem Innern zum Durchschimmern gebrachten Anbetung: beides gleichermaßen Theater und absichtlich. Der Vortragende, ein Schüler von Mayol, hatte einen bildhübschen, englisch aussehenden Jungen von etwa sechzehn Jahren als Impresario mit und setzte sich in den Pausen an den großen Diaz-Tisch heran, der ihn verwandtschaftlich begrüßte. Das Ganze hatte mit seiner feinen Komik und sicheren ›Große-Welt‹-Haltung etwas von einer großen Romanszene, von den Moskauer Szenen in ›Krieg und Frieden‹.
Capri. 11. September 1922. Montag
Früh nach Neapel. Abends zurück. Unterwegs Tacitus (Annalen). Claudius. Sehr bemerkenswert die resolut pazifistische Außenpolitik von Tiberius, die dieser von Augustus übernommen hatte und die dann selbst von einem so unfähigen (oder angeblich unfähigen) Regenten wie Claudius grundsätzlich festgehalten wurde; sehr zum Mißfallen übrigens von Tacitus, der vielleicht dem Soldatenkaiser Trajan gefallen wollte. Im Gegensatz zu Trajan nahm Hadrian dann wieder die pazifistische Politik der ersten Julischen und Claudischen Kaiser auf.
Capri. 12. September 1922. Dienstag
Sturm und Regen. Tacitus (Annalen XIII). Bemerkenswert, was Tacitus berichtet, daß die Ermordung des Britannicus durch seinen Bruder Nero diesem von den meisten verziehen wurde (›cui plerique tamen hominum ignoscebant‹, Kapitel siebzehn), weil man sie sozusagen als eine Staatsnotwendigkeit hinnahm. Auffallend ist in der Tat die Schwäche der kaiserlichen Stellung, die stets jedem Zugriff offenlag (›rerum potiri‹), so daß die geringste Bedrohung dem regierenden Kaiser gleich als sehr ernste Lebensgefahr erscheinen mußte.
Capri. 14. September 1922. Donnerstag
Raffaele erzählt, daß seine Mutter (achtundfünfzig Jahre alt) nie Capri verlassen habe, noch keine Eisenbahn, keine Straßenbahn, keine Stadt, nicht einmal Sorrent kenne. Ebensowenig seien die meisten andren Frauen und Mädchen aus Capri herausgekommen. Ja, die Mütter der Marina Grande erlaubten ihren Töchtern kaum, nach Capri selbst hinaufzugehen. So sei es nun einmal Sitte bei den Fischerfamilien der Marina Grande. Im ganzen seien es dreihundert Fischer, einschließlich der Knaben; davon zweihundert Erwachsene. Die Familien bestehen meist aus zehn bis zwölf Personen; zahlreiche Kinder.
Capri. 17. September 1922. Sonntag
Früh um sechseinhalb aus Capri fort; zuerst nach Neapel, dann nach Pompeji, wo leider, weil Sonntag, nur das Vettierhaus offen war, aber doch der Eindruck des Ganzen erneuert wurde.
Vatikan. Die grandiose Augustusstatue im Braccio Nuovo steht in der Mitte zwischen der Wölfin im Konservatorenpalast und dem Marc Aurel auf dem Kapitol. In ihr steckt noch die vor nichts zurückschreckende Energie und Spannung der Wölfin, aber auch schon die Milde und Sicherheit und weltenweite Größe des ›Marc Aurel‹. Diese drei Bildwerke bezeichnen mit unvergleichlicher Knappheit und Gewalt des Ausdrucks die großen Etappen der römischen Geschichte. Augustusstatue: das sichtbar gemachte ›Tu regere imperio populus, tu ...‹
Nachmittags zum Abschied auf die Via Appia hinaus bis zum Castel Rotondo. Zuerst grauer Nachmittag, nach Sonnenuntergang unerhörte Pracht des Himmels, der über und über mit leichten Wolken und Wölkchen übersät in allen Tönen von Rot und Rosa glühte.
Abends fort aus Rom, nicht leichten Herzens. Wann werde ich dieses Licht wiedersehen?
Rapallo. 21. September 1922. Donnerstag
Früh hier an, um Gordon Craig zu besuchen, den ich seit 1914 nicht gesehen hatte. Er kam mir nur wenig gealtert mit seinem inzwischen fast erwachsenen Sohn auf der Landstraße entgegen, die nach Zoagli führt; wir musterten uns gegenseitig und gingen dann zurück in sein Häuschen, das steil über dem Meere, nur durch die Landstraße und Ölbäume davon getrennt, liegt, sehr einfach ist, aber ganz in Blumen drinsteckt. Im Inneren, in das man über eine ganz in Blumen gebettete kleine Freitreppe gelangt, hat er die Wände zeltartig mit grauem Segeltuch behängt und überall Bücherschränke aus blankem Kiefernholz, die fast ausschließlich Werke über das Theater, Marionetten, Ballett, eine wohl einzige Fachbibliothek, die Trümmer seiner Theaterschule in Florenz, enthalten. In ihrer hellen Kahlheit und fast religiösen Konzentration auf einen einzigen Lebensinhalt wirken diese Zimmer wie Klosterzellen. Allerdings werde ich doch den Eindruck nicht los, daß dieser Zweck in dieser Zeit etwas fast Kindliches hat. Es blieb für mich wie in der Puppenstube bei Kindern. Namentlich, als plötzlich die Mrs. Craig und der Sohn Teddy ganz blutrünstige Faschistenansichten äußerten.
Aber, wie dem auch sei, die ganze Familie, Craig, seine Frau und die beiden Kinder, leben hier seit fünf Jahren, seit dem Zusammenbruch der Theaterschule in Florenz, ganz auf ein nicht existierendes Theater, ein ideales Theaterunternehmen, für das sich einmal ein Mäzen finden soll, mit allen Gedanken und Hoffnungen eingestellt. Ich sagte, ich würde, wenn ich hier leben und wirken müßte, das Gefühl haben, daß mir auf meinem Instrument, das ich spielte, einige Saiten fehlten. Craig lachte und antwortete: Nein, es sei umgekehrt, man versuche hier auf zwei oder drei Saiten zu spielen, ›with the rest of the piano left out‹ (während das eigentliche Instrument fehle).
Er äußerte sein Bedauern, daß es nie zwischen ihm und Reinhardt zu einer Zusammenarbeit gekommen sei; Reinhardt sei doch, gerade weil er so anders sei wie Craig selbst, weil er ihn ergänze, der einzige, mit dem er hätte arbeiten können. Stanislawskij, überhaupt die Russen und ebenso die Amerikaner seien unmöglich. ›I don't want to have anything to do with Russians or Americans; I cannot abide them (ich kann sie nicht ausstehen).‹ Reinhardt habe den praktischen, harten Sinn, der ihm fehle. Im übrigen vertraue er noch immer darauf, daß ihm einmal ein Theaterunternehmen anvertraut werde; aber bis dahin müsse er gestrandet hier leben, da er hier mit den zweihundertfünfzig Pfund jährlich, die er habe, mit Frau und Kindern auskomme, in London dagegen mit der gleichen Summe keine sechs Wochen reichen würde. Sie hätten sogar eine Reise durch sieben italienische Städte im vorigen Jahr zu vieren gemacht, wobei das Problem gewesen sei, die achttausend Lire zusammenzusparen, die sie dazu brauchten, ohne hier in Schwierigkeiten zu geraten. Die Kinder wachsen wild, ohne Schule, auf.
Wir besprachen dann den ›Hamlet‹, den ich auf der Cranachpresse drucken will. Die Type muß noch fertiggestellt werden durch Walker; im übrigen einigten wir uns darauf, daß er voraussichtlich im nächsten Herbst nach Weimar kommen soll, um selbst den Druck seiner Holzstöcke zu beaufsichtigen (all expenses paid).
Abends aß die Familie bei mir im ›New Casino Hotel‹. Er äußerte dabei über seine Arbeitsweise: wenn ihn etwas packe, dann laufe die Arbeit mit ihm fort, bis plötzlich das Feuer erlösche und er dann überhaupt nichts mehr machen könne. Daher habe er immer Angst, ehe er eine Arbeit unternehme, zögere, mache sich und anderen Schwierigkeiten, weil er nie voraussehen könne, wie lange das Feuer reichen werde.
Es ist fast tragisch, diesen zweifellos genialen Mann, von dessen Visionen und Ideen seit zwanzig Jahren das Theater aller Länder, von Rußland über Deutschland und Frankreich bis Amerika, lebt, ohne praktische Tätigkeit wie einen Verbannten auf einer Insel zu sehen, während Festspielhäuser, internationale Theaterausstellungen, Umwälzungen des dramatischen Schaffens aus seinem Kapital heraus unternommen werden. Er äußerte zum Schluß: er glaube überhaupt nicht an die nordischen Länder in der Kunst. Wenn irgendwo etwas kommen werde, so werde es in Italien sein. Hier sei im Volk noch das Material für Kunst (Theaterkunst): der Schauspieler und das Publikum, vorhanden, das unmittelbare, naive Können und Genießen. Im Norden sei alles Künstelei und Kritik. Selbst die Russen seien auf der Bühne nur ›geschickte Affen‹ (clever monkeys). Hinter dem Blendwerk, das sie uns vormachten, stehe nichts Echtes, während bei den Italienern trotz ihrer Geschmacklosigkeit gerade das Echte, der Stoff großer Kunst, vorhanden sei.
Berlin. 29. Oktober 1922. Sonntag
Die Faschisten haben durch einen Staatsstreich die Gewalt an sich gerissen in Italien. Wenn sie sie behalten, so ist das ein geschichtliches Ereignis, das nicht bloß für Italien, sondern auch für ganz Europa unabsehbare Folgen haben kann. Der erste Zug im siegreichen Vormarsch der Gegenrevolution. Bisher haben die gegenrevolutionären Regierungen, zum Beispiel in Frankreich, wenigstens noch so getan, als ob sie demokratisch und friedlich seien. Hier kommt ganz offen eine antidemokratische, imperialistische Regierungsform wieder zur Macht. In einem gewissen Sinne kann man Mussolinis Staatsstreich mit dem Lenins im Oktober 1917 vergleichen, natürlich als Gegenbild. Vielleicht leitet er eine Periode neuer europäischer Wirren und Kriege ein. Was soll zum Beispiel Mussolinis Italien im Völkerbunde, dessen Grundsätze (Selbstbestimmungsrecht, Frieden usw.) er verwirft?
Berlin. 30. Oktober 1922. Montag
Mussolini ist vom König von Italien zum Ministerpräsidenten ernannt worden. Das kann noch ein schwarzer Tag für Italien und Europa werden.
Berlin. 4. November 1922. Sonnabend
Bei Haguenin gefrühstückt mit Barthou und Manchère, Karl Melchior, Hoetzsch, Felix Deutsch, Schacht, Andrić. Mit Barthou knüpfte ich gleich über Rimbaud an, was zwischen uns eine Brücke schlug. Er war offenbar angenehm überrascht und lud mich ein, ihn in Paris Ende des Monats zu besuchen und ihm mein Exemplar von ›Sagesse‹ zu zeigen, das Verlaine für mich mit eigenhändigen Anmerkungen versehen hat. Beim Frühstück gab sich Barthou offensichtlich Mühe, gegen jeden liebenswürdig zu sein. Dazwischen richtete er kleine Ansprachen ›an alle‹, indem er mit heller Stimme laut sprach, so daß alles aufhorchte. Bei einer von diesen kleinen oratorischen Leistungen rühmte er die ›parfaite loyauté et bonne volonté indiscutable‹ von Wirth und Hermes, fügte aber hinzu, die Reparationskommission sei etwas besorgt, weil es so aussehe, als hätte die deutsche Regierung sich noch keine festen Vorschläge ausgedacht.
Berlin. 7. November 1922. Dienstag
Dollar neuntausend. Wie die Fiebertemperatur eines Schwerkranken zeigt der Dollarstand täglich den Fortschritt unseres Verfalls an.
Abends gab ich im ›Esplanade‹ ein Diner zum Zwecke, eine neue Vereinigung von führenden Männern der republikanischen Parteien zu gründen, wenn möglich im Rahmen unseres seit der Revolution bestehenden ›Sozialwissenschaftlichen Vereins‹ in der Bellevuestraße. Eingeladen waren Köster, Hugo Preuß, Georg Bernhard, Hilferding, Breitscheid, Hugo Simon und Gerlach. Gerlach war verreist; die andren kamen, und die Besprechung führte dazu, daß wir statt der Erweiterung des ›Sozialwissenschaftlichen Vereins‹ ein ganz kleines, wöchentliches Zusammensein von zehn oder zwölf beschlossen, die nach Preuß' Ausdruck eine Art von republikanischer ›Kamarilla‹ sein sollen, die die verantwortlichen Leiter der deutschen Politik beeinflussen, auch und insbesondere in Personalfragen (!?).
Die Hauptfrage, die heute besprochen wurde, war die der Reichskanzlerschaft, ob Wirth noch möglich sei oder nicht? Und wer eventuell jetzt sofort sein Nachfolger werden könne? Darüber, daß seine Leitung in letzter Zeit völlig unzureichend sei, herrschte Einstimmigkeit. Das Duell Hermes-Wirth und seine eigene Ratlosigkeit namentlich in der Reparationsfrage haben seine Direktionslosigkeit und Unzulänglichkeit enthüllt. Bernhard meinte: Rathenau habe Wirth wie eine Art von Golem geschaffen; das Unglück sei, daß dieser Golem nach Rathenaus Tod weiterlebe und daß niemand wisse, wie man ihn ersetzen solle. Besprochen wurden als mögliche Kandidaten Adenauer, Hermes, Oeser, aber ohne daß irgendeiner von ihnen standhielt. Hilferding und Bernhard plädierten trotz allem für Wirth mit einem umgestalteten und aus Kapazitäten bestehenden Kabinett. Gegen einen sozialdemokratischen Reichskanzler sprach Hilferding aus außenpolitischen Gründen.
Berlin. 10. November 1922. Freitag
Gefrühstückt bei Stresemann. Dort Bergers, Herbert Guttmann und Bankiers. Siegesgewisse Stimmung Stresemanns, der einem Gast den Kopf von Hirsch versprach ›in einigen Tagen‹. Von den Mitgliedern der heutigen Regierung wurde mit größter Geringschätzung gesprochen (Köster ›ein kleiner Reporter‹) mit Ausnahme von Hirsch, der ›ein Demagoge‹ sei durch die vielen Ideen, die er vorbringe und dem Publikum anziehend mache. Die althergebrachten Redensarten über die bei Hiller und in andren ersten Restaurants verkehrenden Sozialisten wie Hilferding und Breitscheid flogen als Neuentdeckungen hin und her. Alles in allem: man wittert in diesen Kreisen Morgenluft. Revolution, Sozialisierung, Linksregierung liegen wie böse Träume schon hinter ihnen. Wir segeln mit geschwellten Segeln nach rechts.
Berlin. 11. November 1922. Sonnabend
Otto Flake vormittags bei mir. Ich hatte ihm für die Übersendung seiner ›Deutschen Reden‹ gedankt. Er klagte, daß er gar keine Fühlung mit Männern der praktischen Politik habe; er müsse sich alles konstruieren. Mein Brief sei etwas ganz Vereinzeltes für ihn gewesen. Außerdem hat er materielle Schwierigkeiten, in Berlin zu bleiben, will deshalb ›in die Berge‹, wo er billiger leben kann.
Fischer hat ihm die Leitung der ›Neuen Deutschen Rundschau‹ angeboten, aber zu unmöglichen materiellen Bedingungen. Er machte einen praktisch hilflosen Eindruck, ein endlos langer blonder Mann, ein etwas alter deutscher Jüngling. Dabei sind seine Schriften zur Politik das Beste, was wir seit der Revolution gehabt haben. Ich konnte ihm nicht helfen. Er ist ein Schwager des Malers Kardorff.
Berlin. 14. November 1922. Dienstag
Unser ›Kamarilla‹-Diner abends bei Hiller. Lobe und Gerlach kamen neu hinzu. Hilferding und Breitscheid kamen aus ihrer Fraktionssitzung mit der Nachricht, daß die Sozialdemokraten die große Koalition mit hundertfünfzig gegen zwanzig Stimmen abgelehnt hätten. Da Wirth sein Verbleiben gestern vom Zustandekommen der großen Koalition abhängig gemacht hat, ist damit Wirth gefallen. Etwas später erschien Köster und teilte mit, daß das Kabinett in der Tat zurückgetreten sei.
Als Nachfolger kamen in erster Linie Adenauer und Hermes in Betracht. Die Sozialdemokraten möchten höchst ungern den Reichskanzler stellen wegen der Schwierigkeiten im Winter in Deutschland und aus außenpolitischen Gründen. Falls es nicht anders ginge, würden sie sich aber, wie Hilferding sagte, doch dazu entschließen, und dann käme in erster Linie Otto Braun in Betracht.
Ich warf die Frage des Außenministers auf. Man scheint sich nämlich mit Cuno, der für unfähig gehalten wird, wie mit einem unabwendbaren Schicksal abgefunden zu haben. Bernhard zitierte Rathenau, der in Genua gesagt habe: Cuno sei eine dicke Zigarre, man werde sie wegen ihrer schönen Bauchbinde doch einmal rauchen müssen. Köster hielt Cuno für ganz ungeeignet. Hilferding war weniger ablehnend. Ich kenne Cuno nicht, vertrat aber die Ansicht, man könne in diesem Augenblick kein Experiment riskieren. Vestigia terrent. Zimmermann, Rosen haben uns genug gekostet.
Berlin. 15. November 1922. Mittwoch
Hauptmann-Feier in der Universität. Neue Aula, feierliche, etwas michelangeleske Halle mit einem häßlichen Wandgemälde von Arthur Kampf. Hauptmann saß zwischen Ebert und Löbe vorne vor dem Rednerpult. Irgendein Literaturprofessor, ich glaube, er hieß Petersen, hielt eine farblose, langweilige Ansprache, der noch einige weitere Professorenaufsätze folgten. Nur Roethe, der als Vorsitzender der Goethegesellschaft sprach, zeichnete sich durch seine Taktlosigkeit aus, indem er, statt auf der Rednertribüne zu sprechen, vor Hauptmann hintrat und ihm eine Adresse unter die Nase hielt, ihn dadurch zwingend, die ganze Rede stehend anzuhören.
Die einzigen Redner, die etwas zu sagen wußten, waren ein Student und Löbe. Der Student sprach mit so viel Feuer und jugendlicher Frische, daß er die Versammlung hinriß. Nur ein neben mir stehender Professor mit goldener Brille und auch sonst dem Urbilde des ›boche‹ entsprechend, der während der ganzen Zeremonie nicht aus einer kaum zu meisternden Wut herauskam, gab auch hier sein Mißfallen murmelnd kund. Hauptmann las eine kurze, nicht sehr tiefe Ansprache vor, die sich aber erfreulich entschieden für Humanität und Versöhnung aussprach.
Das Denkwürdigste an der Feier ist das grotesk bornierte Verhalten der Studenten und Professoren gewesen. Die Berliner Studentenschaft hat mit einer Mehrheit von, ich glaube, vier zu zwei feierlich beschlossen, an der Hauptmann-Feier nicht teilzunehmen, weil Gerhart Hauptmann, nachdem er sich als Republikaner bekannt hat, nicht mehr als charakterfester Deutscher zu betrachten sei! Und von Sam Fischer höre ich, daß der genannte Petersen, der die Festrede hielt, vor zwei Tagen bei ihm war, um ihn zu bitten, Ebert wieder auszuladen, da es der Universität nicht angenehm sein werde, wenn das republikanische Reichsoberhaupt bei ihr erscheine. Und als Fischer das ablehnte, hat ihn Petersen gebeten, dann doch wenigstens Löbe auszuladen, denn zwei Sozialdemokraten auf einmal sei doch etwas viel!
Zum Schluß der Feier spielte d'Albert prachtvoll die ›Appassionata‹. Wonach wieder einer der Professoren, die neben mir saßen, sich auszeichnete, indem er seinem Nachbarn mißvergnügt zuflüsterte: »Das war natürlich eigene Komposition des Klavierspielers, nicht?« Beethoven scheint in der Universität Berlin ebensowenig zu Hause zu sein wie Ebert.
Abends Festvorstellung von ›Florian Geyer‹ im Großen Schauspielhause. Hauptmann saß, von einem Scheinwerfer beleuchtet und wie ein Doppelgänger von Goethe oder wie der ›Goethe‹ aus einem Goethefilm aussehend, in einer Proszeniumsloge und wurde nach jedem Aktschluß von Kloepfer (Florian Geyer) über die Logenbrüstung auf die Bühne heraufgezogen. Das Publikum tobte, natürlich vor Begeisterung und etwas anders als bei der Uraufführung, wo ich mich mit Seebach und Bodenhausen im fürchterlichen Skandal fast entzweite.
Nachher Festsouper für Hauptmann in der ›Deutschen Gesellschaft‹ bei dem ich mit Hauptmann, seiner Frau sowie Ivo und ›Scheldchen‹ bis um halb drei blieb. Ich gratulierte Hauptmann zu seiner Rede heute, in der er so nachdrücklich für die Völkerversöhnung eingetreten war. Er machte aber eine gewisse Einschränkung: es gebe doch Fälle, wenn einer einem das dritte oder vierte Mal ins Gesicht spucke, wo man auch zuhauen müsse usw. Nachher, als ich ihm sagte, er sei der erste wahrhafte Volksdichter in der neueren deutschen Literatur, meinte er: Nein, auch Goethe sei ein Volksdichter gewesen, der aus dem Volke seine Stoffe und seine Kraft geholt habe, nicht aus einer komplizierten Intellektualität wie Schiller. Der ›Faust‹, der ›Werther‹, der ›Götz‹, die schönsten Goetheschen Gedichte seien genauso aus dem Volk und für das Volk gedichtet wie die ›Weber‹ oder der ›Biberpelz‹. Bei diesem Vergleich, den er selbst machte, erschien das doppelgängerhafte Äußere Hauptmanns in einer merkwürdigen Beleuchtung.
Berlin. 20. November 1922. Montag
Redaktionsbesprechung der ›Deutschen Nation‹. Das Ministerium Cuno, das in der Bildung begriffen ist, besprochen. Niemand hielt viel davon. Riezler meinte, der falsche Parlamentarismus habe sich bei uns so verächtlich gemacht, daß heute schon ›ein Leutnant und zehn Mann‹ ihm den Garaus machen könnten. Die Gefahr sei sehr groß. Ich wies auf den Einfluß der Franzosen beim Sturze Wirths und dem Herausholen der Volkspartei hin und auf die Unerträglichkeit dieser Einmischung.
Berlin, 21. November 1922. Dienstag
Das Kabinett Cuno ist konstituiert ohne die Sozialdemokraten. Die Presse begrüßt es fast mit Mitleid.
Berlin. 22. November 1922. Mittwoch
Bußtag. Sitzung der Friedensgesellschaft bei Löbe in seiner Reichstagspräsidentenwohnung. Er führte uns durch die Prunkräume: übelster S.M.-Stil. Bedrückend protzig und geschmacklos. In diesem Stil ist die Katastrophe schon einbegriffen.
Berlin. 23. November 1922. Donnerstag
Im Deutschen Theater ›Richard II.‹ mit Moissi. Tolstoische Durchgeistigung der Shakespearischen Tragödie. Je mehr der König von seinem königlichen Ornat ablegt, um so königlicher (menschlicher) wird er. Und bei seinem Gegenspieler Bolingbroke umgekehrt. Gegen Moissi, der diese Auffassung mit größter Intensität verkörperte, verblaßten alle andren.
Berlin. 24. November 1922. Freitag
Abends las Hauptmann in der Philharmonie (Großer Saal) ›Kaiser Max' Brautfahrt‹ und Gedichte. Übervoller Saal, Begeisterung, Feststimmung, Schulmädchen überreichten Rosen. Das wirkt schon ein wenig wie die Hurra-Stimmung, mit der Wilhelm II. gespeist wurde.
Nachher Abendgesellschaft bei d'Abernons. Sehr elegant. Hauptsächlich Diplomatie, fremde und deutsche. Die Bellincioni, von der ich glaubte, daß sie nicht mehr lebe, sang mit schon alter, aber wunderbar beherrschter Stimme. Baby Kühlmann in Smaragdgrün, Knabenlocken und einem weißen, spanischen Schal, der der Kaiserin Eugenie gehört hat, flüsterte mir zu, daß sie nicht tanze, ›weil sie schon im sechsten Monat sei‹. Renate Schubert (sehr schön, mit wunderbaren Ohrringen und Perlen) stellte mich der etwas rundlichen Mrs. Houghton, der amerikanischen Botschafterin, vor. Mit d'Abernon, der sich um die Damen sehr kümmerte, konnte ich nur einige Worte wechseln.
Berlin. 25. November 1922. Sonnabend
Gegessen bei Baby Kühlmann mit Nostitzens, Gerhard Mutius und der Frau Huldschinsky, einer Tochter von Carl Fürstenberg, einer etwas unangenehmen, gehirnstolzen Frau, die unwahrscheinlich große und schöne Perlen trug. Richard Kühlmann war verreist. Wir mußten nach Tisch alle auf der Erde herumkriechen, um in gigantisch großen Mappen zwei oder drei Rodinzeichnungen zu sehen, von denen die Kühlmann die ganze Zeit bei Tisch gesprochen hatte, als ob es mindestens fünfzig wären. Für sie ist alle Kunst nur Hintergrund zu ihrer eigenen Person als Kennerin, als Sammlerin, als schöne Frau, als schwangere Frau, als Baby mit Ponylocken usw., alle Kunst nur ›Schmuck‹. Sie ist drollig, sehr hübsch (jetzt) und nicht sehr achtbar. Schließlich zeigte sie, was zu ihr am besten paßt, eine Bändersammlung, lauter bunte Seidenbänder aus den verschiedensten Epochen.
Berlin. 27. November 1922. Montag
Stresemann richtete an mich die positive Anfrage, ob ich als Gesandter nach Brüssel gehen würde? Landsberg sei unmöglich dort und müsse fort. Es seien dort große Aufgaben zu erfüllen. Ich antwortete: ich hätte gar keinen Ehrgeiz, einen Gesandtenposten wiederzubekommen. Ich sei vollkommen unabhängig, meine Tätigkeit befriedige mich durchaus, die Intrigen, mit denen jeder im auswärtigen Dienst zu kämpfen habe und die ihm das Leben verbitterten, kennte ich aus Erfahrung; es sei daher ein sehr großes persönliches Opfer, das ich bringen würde, wenn ich wieder in den aktiven auswärtigen Dienst einträte. Ich wäre nur bereit, dieses Opfer zu bringen, wenn ich die Überzeugung gewönne, daß ich damit wirklich dem deutschen Volke einen Dienst leisten könnte. Diese Überzeugung hänge aber wiederum davon ab, ob die deutsche Regierung endlich mit positiven Vorschlägen und nicht bloß mit vagen Erklärungen ihres guten Willens in der Reparationsfrage herausrücke.
Berlin. 28. November 1922. Dienstag
Diner bei Bergers (dem früheren Chef der Sicherheitspolizei und Gesandten in Dresden). Prachtvolle Räume in der Roonstraße, fürstlich ausgestattet mit alten Sachen, zum Teil sehr kostbaren und schönen. Milliardärdiner: der junge Thyssen, Otto Wolff, Vera Guttmann (geb. Herzfelde), die ›reichste Frau Deutschlands‹. Auch Restbestände der alten Hofgesellschaft wie der Graf Platen, Frau von Loebell, Stohrer.
Der Clou des Abends war aber die Frau von Wassilko, die ukrainische Gesandtin, eine kleine, magere Frau, die ganz aus knallrot gefärbtem Haar und Brillanten zu bestehen schien, dazwischen nur, wo das Gesicht sitzt, sehr viel Schminke und Emaille. Sie soll früher Wiener Chansonette und dann Mätresse des Schahs von Persien gewesen sein und ist jetzt Gesandtin der Ukraine in Berlin und Bern. An den Fingern waren die Brillanten so groß wie Taubeneier und von reinstem Wasser; vom Hals und bis zum Schoß hinunter hingen ihr Reihen von Brillanten, untermischt mit großen Perlensträngen. Ich dachte zuerst, sie trüge als Sowjetgesandtin den ganzen konfiszierten Schmuck des Ukraineadels. Man sagte mir aber, daß ihr Mann Gesandter nicht der Sowjets, sondern Petljuras ist. In dieser merkwürdigen und schwerreichen Gesellschaft vertraten Weismann, Stresemann und der frühere Minister Heine das neue Deutschland. Eine Gesellschaft für einen Balzac.
Köln-Haag. 7. Dezember 1922. Donnerstag
Unterwegs Tolstoi, nachgelassene Werke: ›Der gefälschte Coupon‹. Grandiose Konzeption. Die ganze russische Welt von einer kleinen Lumperei aus aufgerollt. Hätte ein Gegenstück zu den Karamasows werden können. Vielleicht war aber die Konzeption zu gewaltig, um jemals ausgeführt werden zu können. Wie eine winzige Gymnasiastenlumperei, einem vergifteten Sauerteig gleich, diese ganze Welt vom Bettler bis zum Zaren durchdringt, mit einer Fülle von Phantasie und einer Kraft angepackt, die erstaunlich sind. Bemerkenswert, daß die drei großen Anläufe, dieses russische Universum zu schildern, Gogols ›Tote Seelen‹, Dostojewskis ›Karamasow‹ und Tolstois ›Gefälschter Coupon‹, alle drei Fragmente geblieben sind. Wir haben in der deutschen Literatur, außer vielleicht dem ›Wilhelm Meister‹, nicht einmal einen solchen Anlauf zu verzeichnen. In Frankreich dann Balzac, der vielleicht alle drei großen Russen angeregt hat zu ihren Unternehmen. Bei Tolstois ›Coupon‹: eine Welt als ethisches Zusammenhängendes konzipiert und zum Gegenstand genommen.
Haag. 9. Dezember 1922. Sonnabend
Abends öffentliche Versammlung des Frauenkongresses in einem Konzertsaal. Ich sprach über die Rolle der Frau bei der Schaffung eines neuen Menschen, der als Träger eines neuen Friedens unentbehrlich sei. Die Hauptrolle der Frauen müsse sein, Organisationen gegen die nationalistische Verseuchung der Kinder zu schaffen, wie die Metallarbeiter ihre Hauptrolle darin sehen müßten, Organisationen gegen die Erzeugung von Munition zu schaffen. Unmöglich sei es für die Schulen, gegen die Gesinnung der Mütter zu erziehen, wie es unmöglich sei für den Staat, gegen den organisierten Widerstand der Metallarbeiter Granaten oder Kanonen zu fabrizieren. Emily Holhouse, Elizabeth Rothen und die Mrs. Robinson unterstützten meine Ausführungen, die einen starken Eindruck zu machen schienen. Mme. Claparède war anwesend.
Haag. 10. Dezember 1922. Sonntag
Eröffnung des vom Internationalen Gewerkschaftsbunde einberufenen Kongresses, der die organisierte, planmäßige Kriegsverhinderung durch die Gewerkschaften, Pazifisten und Intellektuellen vorbereiten soll. Feierliche Eröffnungssitzung im großen Saal des Zoologischen Gartens mit schönen Arbeiterchören; die ›Internationale‹ usw. Der Saal brechend voll. Vorsitzender des Kongresses der Engländer Thomas, Beisitzer Leiphart, Jouhaux, Mertens, Oudegaast, Fimmen.
Thomas stellte in seiner Eröffnungsrede fest, daß über sechshundert Delegierte von vierundzwanzig Nationen erschienen seien, die vierzig Millionen Menschen verträten. Es sei ein einzigartiger Kongreß, wie es noch keinen gegeben habe. Er müsse zu einem praktischen Resultat führen. Thomas spricht langsam und klar und formuliert scharf, aber er sagt ›drops his aiches‹, er kann wie die Londoner Proletarier das ›h‹ nicht sprechen, was seiner Rede einen Stich ins Halbgebildete gibt. Die Rede von Thomas war das einzig Geschäftsmäßige. Sonst nur Begrüßungsreden und Chöre.
Abends war Empfang von Gerhart Hauptmann (der jetzt von Holland gefeiert wird) durch die ›Deutsch-Niederländische Gesellschaft‹ im Hause von Kröllers. Mit van de Velde hin. Da heute abend eine große Feier der sozialistischen Jugend Haags für den Gewerkschaftskongreß im Zoologischen Garten war, versuchte ich Hauptmann zu bestimmen, mit mir einen Augenblick hinzufahren und ein paar Worte zu sprechen. Zuerst nahm er an, dann kamen ihm aber Bedenken, es sei vielleicht eine Parteisache, er könne nicht frei sprechen, es komme ihm etwas plötzlich, er könne nicht recht übersehen, was er damit tue usw., kurz, ich möge entschuldigen, wenn er lieber fortbleibe. Er wurde dann von befrackten Herren in einen Großvaterstuhl gesetzt, und ich glaube, es sollten ihm Gedichte vorgelesen werden oder Stücke aus seinen eigenen Werken.
Ich floh mit van de Velde und ging zu den jungen Proletariern, die sehr hübsch und malerisch auf der Bühne des Zoo-Saales um eine große rote Fahne gruppiert lagen, Jungens und Mädels mit bloßen Füßen, alle sehr frisch und blond, während ein deutscher Arbeiterjunge gerade eine schmetternde, sehr temperamentvolle Rede gegen den Krieg hielt, die mit den Worten schloß: »Aber wenn ihr Soldaten für den Frieden braucht, hier sind sie!«, wobei er auf seine jungen Kameraden hinzeigte. Donnernder Applaus und dann noch eine kurze Schlußrede auf französisch eines jungen Mannes. Vorher sollen die Jungens und Mädels sehr hübsch getanzt haben. Schade, daß der Dichter der ›Weber‹ und des ›Hannele‹ sich nicht bewegen ließ, plötzlich inmitten dieser frischen Proletarier Jugend zu erscheinen! Aber es bestätigt meine arevolutionäre Einschätzung Hauptmanns. Aber jetzt ist dieses Arevolutionäre schon fast bis zum Geheimrätlichen gediehen. Merkwürdig unentschlossener, verkniffener Mund.
Haag. 13. Dezember 1922. Mittwoch
Dritter Sitzungstag. Der Bolschewik Rotstein brachte vierzehn Punkte vor, durch deren Annahme das international organisierte Proletariat den Frieden sichern sollte. Schon die kokette Parallele mit den vierzehn Punkten, die Wilson zum gleichen Zwecke der dauernden Friedenssicherung aufgestellt hatte, verstimmte und nahm dem Antrag den Ernst. Man fühlte, das ist Theater, Ironie, Journalismus, Feuilleton.
Andre ungewollt ironisch-tragische Situation: Während Helene Stöcker das unbedingte Recht jedes Menschen auf sein Leben proklamierte und damit das Recht auf militärische Dienstverweigerung begründete, ging Friedrich Adler, der Mörder von Stürgkh, wie ein krankes Raubtier, groß, schwer, gebeugt, mit den sanften Raubtieraugen hinter goldener, blitzender Brille, im Saal herum als einer der auf diesem Kongreß Gefeiertsten. Schließlich hat vor Gott Techow auch nichts andres getan als Adler.
Hauptredner waren heute neben dem Bolschewiken Rotstein der Menschewik Abramowicz, eine blasse, vom Elend gezeichnete, tragische Figur, Grumbach, rhetorisch und wie ein Stier brüllend, ein elsässischer Danton, der spanische Sozialist Caballero, ein Toreador, Ben Tillett, der historische englische Rote, der als Gentleman in mittleren Jahren erschien. Wels, deutscher Regierungssozialist, Freund von Noske und Friedensapostel mit der Entrüstung über die Schandtaten der Entente als Klischee, Friedrich Adler selbst, der ganz klug und skeptisch sprach. Ich redete nachmittags über Generalstreik und Völkerbund, dessen Erweiterung im Sinne der Braunschweiger Resolution ich forderte.
Haag. 15. Dezember 1922. Freitag
Letzte Sitzung des Kongresses. Alle Resolutionen werden angenommen, natürlich gegen die Stimmen der Russen. Radek hielt noch eine boshafte Rede. Hinter der Maske des jungen Liebhabers, die er aufgesetzt hat, hinter seinen blitzenden Brillengläsern zeigt sich plötzlich in seinem Gesicht etwas, das zwischen Facta und Wolf ist, und auch etwas von einem Straßenjungen oder von den ›bösen Buben‹ von Busch nach einem besonders gelungenen Streich. Eine wahre, freche, amüsante und schreckliche Mephistophysiognomie.
Haag. 16. Dezember 1922. Sonnabend
Vormittags ins Mauritshuis. Rembrandts ›Anatomie‹. Die marmorne Ewigkeit des Toten im Gegensatz zu der Trivialität und Vergänglichkeit der um ihn beschäftigten Lebenden. Man muß das Bild aus einer gewissen Entfernung sehen, um das zu empfinden.
London. 17. Dezember 1922. Sonntag
Früh in Harwich. Um zehn in London, nach über acht Jahren. Am Freitag, acht Tage vor dem Krieg, fuhr ich vormittags mit Rodin ab. Ich dachte an unsere Überfahrt: wie Rodin mir beim Abfahren aus Folkestone sagte, als ich ihn fragte, ob er nicht etwas essen wolle: »Non, je n'ai pas faim. Je regarde la nature. La nature me nourrit.« Und dann die Ankunft in Boulogne: das Ultimatum in den Zeitungen, meine von dem Augenblick an feste Überzeugung, daß der Krieg unvermeidlich und von Österreich gewollt sei. Rodins Abschied an der Gare du Nord in Paris mit der (für mich nach meiner Überzeugung wesenlosen) Verabredung zum Tee bei der Gräfin Greffulhe am nächsten Mittwoch. Am nächsten Mittwoch saß ich in Köln und wartete auf die Kriegserklärung!
Das alles ging mir durch den Kopf, als ich wieder in London einlief durch die rußigen, gemeinen Vorstädte.
Am späten Vormittag Spaziergang am Embankment entlang nach Westminster. Sonnenschein bei nassen Straßen und niedrig am Himmel hinziehenden schweren Wolken. Ganz London ist violett und gold, das auf der Themse zu glühendem Kupfer wird.
Nachmittags im Britischen Museum. Parthenon. Ägypten. Assyrien. Den stärksten unmittelbaren Eindruck hatte ich trotz des Parthenonfrieses von der Löwenjagd des Assyrerkönigs Assurnasirpal II.
London. 18. Dezember 1922. Montag
Vormittags Besorgungen. Die Läden haben sich wenig geändert in den acht Jahren, alles noch so solide und geschmackvoll wie früher. Aber es ist nicht die erstaunliche Fülle von Leben und Luxus wie 1914 oder wie noch heute in Paris. Man fühlt, daß das Land und die Käufer ärmer und seltener geworden sind.
Nachmittags kam Wilma an. Abends in ein Theater mit ihr; Daby's, eine Musical Comedy von Jean Gilbert (The Lady of the Rose). Zu meiner Überraschung waren im Parkett mindestens die Hälfte der Männer im Straßenanzug, die übrigen im Smoking, nur fünf oder sechs im Frack. Eine wahre Revolution oder richtiger das Symptom einer solchen, seit 1914.
London. 20. Dezember 1922. Mittwoch
Nachmittags bei Emery Walker, wo Will Rothenstein getroffen. Beide schienen sehr erfreut über das Wiedersehen nach den furchtbaren Kriegsjahren. Mit Walker die Fertigstellung meiner Frakturtype durch Prince besprochen. Er lud mich zu Weihnachten zu sich aufs Land ein in ein aus dem vierzehnten Jahrhundert stammendes Landhaus, das er von Lord Bathurst gemietet hat.
London. 21. Dezember 1922. Donnerstag
Vormittags auf der Botschaft bei Sthamer. Er machte den Eindruck eines klugen matter-of-fact-Kaufmanns, ohne Eleganz und ohne viel Geist, aber mit einem ganz gesunden Menschenverstand. Dabei allerdings etwas altmodisch und ohne eine klare Vorstellung einer irgendwie von der Welt vor 1914 verschiedenen neuen Welt.
London. 22. Dezember 1922. Freitag
Wilma reiste morgens nach Paris zurück. Ich besuchte Arthur Henderson im Büro der Labour Party (Eccleston Square). Mein Zweck war, ihn mobil zu machen, damit er die Einsetzung des im Haag beschlossenen Völkerbundkomitees mit Nachdruck betreibt. Er versprach, in diesem Sinne einen Brief an den IBG nach Amsterdam zu richten und auch mit Thomas zu sprechen. Seine Ideen über die Reform des Völkerbundes berühren sich mit den meinigen. Er will ihn auf den drei Organisationen der Produzenten, der Konsumenten und der ›citizens‹ (Staatsbürger) aufbauen. Aber er glaubt nicht, daß der jetzige Völkerbund in diesem Sinne umgebaut werden kann.