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Berlin–Magdeburg. 6. November 1918. Mittwoch
Früh um acht telephonierte mich Hatzfeldt an, das Kabinett habe doch noch gestern abend in Sachen Pilsudski einen Beschluß gefaßt, allerdings in Abwesenheit des Kanzlers und nach aufgehobener Sitzung im Stehen, aber unter Zustimmung von Groener und Hoffmann. Er soll freigelassen werden, aber vorher eine schriftliche Erklärung abgeben, deren Wortlaut von General Hoffmann aufgesetzt ist. Ich wurde beauftragt, hinzufahren und ihn zu der Erklärung zu bestimmen.
Mit Hatzfeldt ins Kanzlerpalais, wo der Kanzler nicht zu sehen war; dagegen Groener, den ich nur einen Augenblick, ohne Pilsudski zu erwähnen, sprach; dann Haeften, der die Sache formal in die Hand nahm. Im gewaltigen Kongreßsaal berieten derweilen an einem Tischchen der Marinestaatssekretär Mann und der Sozialdemokrat Ebert; Haeften hatte Eile, weil er Hermann Müller in ein Flugzeug setzen mußte, damit er nach Hamburg fliege, wohin die Verbindungen unterbrochen sind; Scheidemann schritt majestätisch im Gespräch mit einem anderen Staatsmanne durch die Säle. Auf der Treppe traf ich Oberndorff, der mir zurief, daß er um fünf mit Erzberger zu Foch ins französische Hauptquartier fahre, um die Waffenstillstandsbedingungen zu erfahren. Das débâcle ist vollständig, Kapitulation und Revolution; in diesen durch den Berliner Kongreß bismarckisch geweihten Räumen ebenso packend wie vor fünfzig Jahren die Kaiserkrönung in Versailles. Büdingen im Kriegsministerium, wohin ich mit Hatzfeldt wegen Pilsudski ging, erzählte, außer Kiel seien Hamburg, Lübeck, Cuxhaven von der meuternden Marine genommen, in Hamburg die Truppen übergelaufen, eine rote Regierung. Rote strömten mit allen Zügen von Hamburg nach Berlin. Man erwarte für heute abend hier einen Putsch. Die Russische Botschaft ist heute früh aufgeflogen wie eine Kaschemme, Joffe mit Personal abgeschoben. Das bolschewistische Hauptquartier in Berlin damit zerstört. Vielleicht werden wir sie noch zurückrufen.
Um drei nach Magdeburg. Drei Viertel sieben an. Keine Weisungen angetroffen. Daher Verhandlungen heute abend unmöglich. Der Hauptmann d. R. Schloessmann, der Bewachungsoffizier von Pilsudski, sagt mir, es sei ausgeschlossen, daß dieser unsere Erklärung unterschreibe oder überhaupt etwas Schriftliches von sich gebe; er und Sosnkowski seien genau über die politische Lage unterrichtet und hätten ihm bereits gesagt, daß sie infolge des Waffenstillstandes in wenigen Tagen freikommen müßten. Weshalb sollten sie da sich jetzt noch binden?
Magdeburg. 7. November 1918. Donnerstag
Da früh noch immer keine Weisungen, an Hatzfeldt über Generalkommando telegraphiert. Gegen zwölf telephonierte mir Hatzfeldt, die Antwort auf meine Depesche sei unterwegs und zustimmend. Da zu spät, um noch heute den Zug nach Warschau in Berlin zu erreichen, solle ich morgen fahren und es so einrichten, daß Pilsudski möglichst kurz in Berlin bleibe. Daher das geplante Frühstück bei Hiller mit Pilsudski, Hatzfeldt, Langwerth aufgegeben. Ich mache die Freilassung morgen früh und fahre mit beiden um eins nach Berlin, von wo sie um sechs nach Warschau Weiterreisen.
Nachmittags kam für mich über das Generalkommando vom Kriegsministerium Telegramm: ›Staatssekretär mit sofortiger Freilassung unter Berufung auf die Ihnen neulich gemachten mündlichen Erklärungen einverstanden. Es liegen neue politische Gründe vor, welche möglichst baldige Freilassung dringend erwünscht erscheinen lassen.‹
Schloessmann morgens bei mir in großer Aufregung, weil der Kommandierende ihm den Befehl geschickt hat, die Garnison in Alarmbereitschaft zu setzen. Er meint – was wohl richtig ist –, dadurch würden die Truppen nur nervös und zu Putschen geneigter; bat mich, zu intervenieren. Ich sagte, meine Mission gebe mir nicht das geringste Recht, in militärische Maßnahmen einzugreifen; wenn der Kommandierende aber meine Ansicht als Privatmann hören wolle, werde ich auffälligen und nicht unbedingt notwendigen Vorkehrungen widerraten. Gleich darauf wurde vom Generalkommando angeklingelt, der Kommandierende wünsche mich zu sprechen. Ich fuhr hinaus und hörte dort, daß inzwischen auch Hannover von den Roten genommen ist. Sie haben den Kommandierenden verhaftet und das Generalkommando besetzt. Man erwartet eine Abordnung roter Matrosen in Magdeburg heute nachmittag, hofft, sie am Bahnhof abzufangen. In den Kruppwerken wird gearbeitet, jedoch unter Unruhe.
Der Kommandierende, ein General der Kavallerie von Werder, ein fetter, müder Mann, der aus dem Kriege heimgekehrt und hier den Verhältnissen nicht gewachsen ist, saß ziemlich zusammengebrochen vor seinem Schreibtisch. Den Befehl zur Alarmbereitschaft hatte er bereits wieder zurückgezogen auf Vorstellungen des Polizeipräsidenten. Er fragte mich, wie man es in Berlin mache? Ich sagte, soviel ich weiß, benutze man möglichst die Arbeiter selbst, die Organisation der Gewerkschaften und Sozialdemokratischen Partei, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Werder meinte müde, das sei auch seine Absicht, möglichst die Arbeiter selbst vorzuschieben, ließ aber durchblicken, daß er sich nicht wundern würde, wenn ihn selber noch im Laufe des heutigen Tages die Revolutionäre abführten. Zu den Truppen hat offenbar weder er noch irgendeiner seiner Offiziere, die ich sprach, wirklich Zutrauen. Er sagte kleinlaut, ›er habe ja nichts da‹. Womit solle er einen Aufstand niederwerfen? Ich mußte an die Zeit in Lüttich im August 1914 denken, wo wir auch nichts hatten und dann der Aufstand wirklich kam, die gräßliche Unterdrückung. Man muß hoffen, daß wir das jetzt nicht in Deutschland erleben! Bisher sind die Vorgänge in Kiel, Lübeck, Altona, Hamburg, Hannover ziemlich unblutig. Aber alle Revolutionen fangen unblutig an. Der Durst nach Blut kommt erst allmählich mit den Anstrengungen, die die neue Ordnung kostet, um sie durchzuführen.
Auf der Straße hier grüßen die Mannschaften prompt und stramm, ihre Straßendisziplin hat bisher nicht gelitten.
Die Physiognomie der Revolution beginnt sich abzuzeichnen: allmähliche Inbesitznahme, Ölfleck, durch die meuternden Matrosen von der Küste aus. Sie isolieren Berlin, das bald nur noch eine Insel sein wird. Umgekehrt wie in Frankreich revolutioniert die Provinz die Hauptstadt, die See das Land: Wikingerstrategie. Vielleicht kommen wir so gegen unseren Willen an die Spitze des Sklavenaufstandes gegen England und das amerikanische Kapital. Liebknecht als Kriegsherr in diesem Endkampf; die Flotte hat die Führung.
Magdeburg. 8. November 1918. Freitag
Die sozialdemokratische Parteileitung hat gestern nachmittag um fünf durch Ebert und Scheidemann dem Reichskanzler eine Erklärung überreicht, in der unter anderem gefordert wird, daß die Abdankung des Kaisers und des Kronprinzen bis heute mittag bewirkt würde. Der Kanzler ist zum Kaiser ins Hauptquartier gefahren.
Schloessmann kam morgens um achteinhalb, um mir zu sagen, daß der Bahnverkehr mit Berlin unterbrochen sei. Ich beschloß, ein Militärauto zu requirieren und Pilsudski im Auto nach Berlin zu bringen. Während Schloessmann telephonisch deshalb verhandelte, kamen Nachrichten, daß sich ein großer Demonstrationszug auf dem Breiten Weg gebildet habe, daß Offizieren die Achselstücke abgerissen und der Degen abgenommen würden. Die Arrestlokale seien gestürmt und die Gefangenen befreit worden. Offenbar war es höchste Zeit, wenn ich Pilsudski überhaupt noch aus Magdeburg hinausbringen wollte. Ich ging daher mit Schloessmann zum Kommandanten der Kraftfahrtruppen, dem Rittmeister von Gülpen, und bat diesen, mir sofort ein Auto zur Verfügung zu stellen. Gülpen, ein äußerst energischer Mann, der die Armeniergreuel und den Krieg bei den Türken im Kaukasus mitgemacht hat, erbot sich, selbst zu fahren. Fraglich war, ob die Meuterer bereits die Elbbrücken besetzt hätten. Wir beschlossen daher, uns zu trennen. Gülpen sollte das Auto aus der Stadt hinausbringen und an der Berliner Chaussee jenseits der Elbe warten, während ich mit Schloessmann in die Festung ging und Pilsudski befreite.
Da man als Offizier nicht mehr unbelästigt über die Straße gehen konnte, zogen Schloessmann und Gülpen sich in Zivil um; ich lieh mir von Gülpen wenigstens einen Zivilmantel und Zivilhut. In diesem Aufzuge gingen Schloessmann und ich durch Seitenstraßen zur Zitadelle. Hier war noch alles ruhig. Etwa zwei Dutzend Soldaten von der Genesenden-Kompanie lungerten vor dem Tor. Auf der Wache bat der wachhabende Unteroffizier um Verhaltungsvorschriften.
Wir hielten uns nicht auf, sondern eilten über den Hof zum Hause, in dem Pilsudski und Sosnkowski interniert waren. Beide gingen zusammen im Garten auf und ab: Pilsudski in polnischer Uniform, Sosnkowski in Zivil. Ich trat auf sie zu und sagte, ich freute mich, ihnen sagen zu dürfen, daß sie frei seien. Der Reichskanzler und die Regierung hätten auf Grund des Berichtes, den ich ihnen über mein Gespräch mit Pilsudski erstattet hätte, und der darin zum Ausdruck gekommenen Gesinnung Pilsudskis seine Freilassung beschlossen und mich beauftragt, ihm davon Mitteilung zu machen sowie ihn und den Obersten Sosnkowski nach Berlin zu bringen, damit sie von dort noch heute abend nach Warschau führen. Pilsudski und Sosnkowski verbeugten sich schweigend, während ich ihnen die Hand drückte. Jetzt mußte ich ihnen aber auch noch sagen, daß der Eisenbahnverkehr mit Berlin unterbrochen sei, daß in der Stadt Demonstrationen stattfänden, wir daher zu Fuß über die Eibbrücke und bis auf die Berliner Chaussee hinausgehen müßten, wo uns ein Auto erwarte. Sie möchten das Nötigste zusammenpacken und gleich mitkommen.
Schloessmann, der befürchtete, daß die Meuterer die Zitadelle stürmen könnten, mahnte zur Eile. In einer Viertelstunde hatte jeder sein Päckchen gepackt, und wir zogen, Pilsudski mit mir, Sosnkowski mit Schloessmann, zur Zitadelle hinaus, die allgemeine Neugier der herumstehenden Soldaten erregend. Pilsudski ging in seinem alten, abgetragenen Soldatenmantel, eine Decke über dem Arm, etwas gebeugt neben mir, nachdenklich und ernst. Er meinte, wir hätten zu lange gewartet; er kenne die Psychologie der Revolution: man müsse entweder sofort energisch unterdrücken (er machte mit der Faust eine Handbewegung) oder sofort Konzessionen machen. Jetzt sei es schon für beides zu spät. Deutschland werde schwere Zeiten durchmachen. Der Bolschewismus passe nicht für zivilisierte Länder, die gut organisiert seien. Unsere Roten wüßten offenbar selber nicht, was sie wollten. Auch für Polen passe der Bolschewismus nicht. Ich sagte, Polen brauche wie Deutschland Ruhe; weil auch er diese Auffassung habe und daher Frieden mit Deutschland wollte, sei er freigelassen worden. Er murmelte: »Selbstverständlich.« Dann fragte er, ob ich wisse, warum er und Sosnkowski das Eiserne Kreuz, zu dem sie Gerok eingegeben habe, nicht bekommen hätten? Es sei eine Dekoration für tapfere Männer, die man gern trüge.
Hinter einer Vorstadt stand Gülpen und führte uns zum Auto. Schloessmann verabschiedete sich; der Wagen wurde angekurbelt, wir fuhren los. Es war ein frühlingswarmer, himmelblauer Tag, etwas feucht und erschlaffend, so daß draußen zwischen Wald und Acker der Gedanke an Feindschaft, Krieg, Revolution bei uns allen vieren in die Ferne schwand. Pilsudski, der hustete und sich einen alten Filzhut zum Schutz vorm Luftzug vor den Mund hielt, stieß mich einmal an und sagte, so sei die Gegend bei ihm zu Hause, ganz heimatlich, dieser arme Boden, die Kiefern und Waldstückchen, nur hügeliger sei es, wo er aufgewachsen sei auf dem Familiengut bei Wilna. Seine Familie sei mit dem Lande von alters her verwachsen, heiße eigentlich Ginet (Ginaitis), nach dem Gute aber Ginet-Pilsudski. Sie seien Litauer; er selbst könne aber nur Polnisch, kein Litauisch. Auch Sosnkowski taute auf, fand Gefallen an den Erzählungen von Gülpen aus Armenien.
In Genthin machten wir halt bei einem Molkereibesitzer Ballhöfer, der auf Gülpens Weisungen ein Mittagsmahl gerüstet hatte, friedensmäßig, mit schöner und reichlicher Butter, einer Milchsuppe, Fleisch, Käse, Sahne zum Kaffee. Wir saßen im Molkereigebäude im oberen Stock. Pilsudski lag glücklich in einem bequemen Rohrstuhl, Sosnkowski meinte, es sei wie ein Märchen ›Tischleindeckdich‹.
Eine Anfrage in Brandenburg beim Garnisonältesten ergab, daß dort alles ruhig sei. Bald nach zwei fuhren wir weiter. ›Komfortabel‹, wie Sosnkowski beim Losfahren bemerkte.
Plaue und Brandenburg waren ganz ruhig. Erst in Wustermark trat die Unruhe wieder zutage. Das Dorf auf den Beinen, am Bahndamm versammelt, kurz dahinter ein Posten von Landwehrleuten, die uns anhielten, mitten dazwischen ein Husarenoffizier, der jede Kenntnis oder Verantwortung ablehnte. Eben fuhren zwei dicht mit Matrosen besetzte Züge in der Richtung auf Berlin durch; ›Deputationen‹, wie der Unteroffizier des Postens erläuterte. Niemand dachte daran, sie aufzuhalten.
Am Reichskanzlerplatz, wo Gülpen wohnt, machten wir Station und stiegen zu ihm hinauf. Frau und Kinder empfingen uns, etwas überrascht. Ich telephonierte an Hatzfeldt, um ihm unsere Ankunft mitzuteilen. Er antwortete, weiterreisen könne Pilsudski heute nicht, da der Eisenbahnverkehr eingestellt sei. Zimmer seien im ›Continental‹ bestellt. Pilsudski und Sosnkowski sehr niedergeschlagen, als ich ihnen dies mitteilte. Pilsudski seufzte: »Einen Tag zu spät«; Sosnkowski fragte, ob sie nicht morgen auf einem Extrazuge oder Auto wenigstens bis an die Grenze kommen könnten? Ich brachte sie ins ›Continental‹. Beim Abschied bat mich Pilsudski, ob ich ihm nicht einen Degen verschaffen könne, da er in Uniform ohne Degen hier nicht ausgehen könne. Ich sagte ja, aber allerdings nur einen preußischen, wenn ihn das nicht störe? »Nicht im geringsten«, antwortete er. Ich versprach ihm, einen morgen früh zu bringen.
Berlin. 9. November 1918. Sonnabend
Der Kaiser hat abgedankt. Die Revolution hat in Berlin gesiegt. Vormittags von zu Hause fortgehend sehe ich einen Soldaten im Hofe des Potsdamer Bahnhofs neben der aufgefahrenen MG-Kompanie eine Menschenmenge harangieren. Auf den Straßen (Friedrichstraße – Linden) ist um diese Zeit (zehneinhalb bis elf) alles still. Ich gehe in Uniform unbehelligt bis zur Disconto-Gesellschaft gegenüber von der Bibliothek. Von da zu Pilsudski ins ›Continental‹. Der Diener, dem ich den Auftrag gegeben hatte, mir für Pilsudski einen Degen zu besorgen, wartete am ›Continental‹, um mir zu sagen, daß alle Waffen in den Geschäften beschlagnahmt, ein Degen deshalb nicht zu bekommen sei. Ich ging zu Pilsudski, sagte es ihm, schnallte mein altes Feldzugsseitengewehr ab und gab es ihm als Erinnerung an unsere frühere Waffenbrüderschaft.
Wir sprachen dann noch einmal in Anwesenheit von Sosnkowski über Politik. Ich wiederholte, daß eine schriftliche Bindung Pilsudskis auf mein ausdrückliches Betreiben und im Einverständnis sowohl mit dem Reichskanzler Prinzen Max wie mit Groener und dem Kriegsminister unterblieben sei, weil ich es für klüger hielte, mich ganz allein auf seine Ehre und seinen Patriotismus zu verlassen, die ihm eine für Deutschland genehme Bahn wiesen, nämlich Frieden mit Deutschland, um Ruhe zum inneren Aufbau zu gewinnen. Pilsudski sagte, dieses sei um so richtiger, als Polen nicht selber über seine Grenzen zu bestimmen habe, sondern sie von der Entente bestimmt bekommen würde. Was die Entente ihnen schenke, würden sie gewiß nicht zurückweisen; aber selber würden sie kaum gefragt werden. Ich sagte, es gebe Geschenke, die dem Beschenkten nicht zum Vorteile gereichten. Eine Zerstückelung Deutschlands durch Herausreißen von Westpreußen würde eine Revanche und Irredentabewegung hervorrufen, die weder Polen noch Deutschland je zur Ruhe kommen ließe. Allerdings wäre eine solche Unruhe für Amerika und England durchaus erwünscht, nicht aber für Deutschland und Polen, die nur in gegenseitiger Hilfe und guter Nachbarschaft vorwärtskommen könnten.
Von Pilsudski ging ich ins Amt zu Hatzfeldt, um einen Extrazug für die beiden Polen zu besorgen; sie müssen, auch nach Hatzfeldts Wunsch, noch heute abreisen. Hatzfeldt erzählte mir hierbei vertraulich, zu einem Waffenstillstand im bisher erwarteten Sinne werde es wahrscheinlich nicht mehr kommen, da inzwischen in Frankreich ähnliche revolutionäre Zustände eingetreten zu sein schienen wie bei uns. Hintze habe aus dem Hauptquartier telephoniert, daß sich an unserer und an der französischen Front Soldatenräte gebildet hätten, die direkt miteinander über den Frieden verhandelten. Das sei unsere Rettung, wenn es wahr wäre. Ich ging einen Augenblick zu Langwerth in sein Zimmer, um ihn zum Frühstück mit Pilsudski einzuladen; während wir sprachen (es war ein Uhr), wurde er angeklingelt und bekam die Nachricht, daß eben die Maikäferkaserne gestürmt sei. Damit ist die Revolution auch in Berlin erfolgreich ausgebrochen.
Hatzfeldt und ich gingen ins Kriegsministerium, um den Zug für Pilsudski zu besorgen. Hier arbeitete alles noch wie gewöhnlich. Ein Major, der im alten Schnodderton sprach (von Pilsudski als ›der Kerl‹), wies uns an die Linienkommandanten am Schöneberger Ufer. Durch die Königgrätzer Straße zog eine Demonstration gegen den Potsdamer Platz; wir kamen hinten daran vorbei. An der Ecke der Königgrätzer und Schöneberger Straße wurden Extrablätter verkauft: ›Abdankung des Kaisers‹. Mir griff es doch an die Gurgel, dieses Ende des Hohenzollernhauses; so kläglich, so nebensächlich, nicht einmal Mittelpunkt der Ereignisse. »Längst überholt«, sagte Ow schon heute morgen. Ich zog mir zu Hause Zivil an, weil Offizieren die Achselstücke und Kokarden abgerissen wurden; ging dann zu Hiller. In der Wilhelmstraße sah ich das erste rotbeflaggte Auto, ein feldgraues mit dem kaiserlichen Adler.
Von zu Hause ging ich, um Schickele zu treffen, in die Viktoriastraße zu Paul Cassirer, wo der ›Bund Neues Vaterland‹ tagte; in den Sälen unten hielt Pfemfert eine Rede. Wir aßen ohne Cassirers in ihrem Eßzimmer mit Hugo Simon und seiner Frau. Schickele warf den Gedanken auf, das Elsaß durch Matrosen zu revolutionieren, als rote Republik auszurufen und so für das deutsche Volk zu retten. Währenddessen hörte und sah man aus dem Hinterzimmer die Schießerei beim Schloß. Langsames Infanteriefeuer, einzelne Schüsse am Himmel aufleuchtend wie in einer stillen Nacht an der Front. Das Schloß war nach Nachrichten bereits in den Händen der Revolutionäre, der Marstall noch zum Teil von Offizieren und Jugendwehr besetzt.
Um den Einfall ins Elsaß zu besprechen, gingen Schickele, Kestenberg und ich gegen zehn in den Reichstag. Vor dem Hauptportal steht in den Scheinwerferstrahlen von mehreren feldgrauen Autos eine Nachrichten abwartende Menge. Leute drängen die Stufen hinauf ins Portal. Soldaten mit umgehängten Karabinern und roten Abzeichen fragen jeden, was er drinnen will. Kestenberg bringt uns auf den Namen Haase anstandslos hinein. Innen herrscht ein buntes Treiben; treppauf, treppab Matrosen, bewaffnete Zivilisten, Frauen, Soldaten. Gut, frisch und sauber, vor allen Dingen sehr jung sehen die Matrosen aus; alt und kriegsverbraucht, in verfärbten Uniformen und ausgetretenem Schuhzeug, unordentlich und unrasiert die Soldaten, Überreste eines Heeres, ein trauriges Bild des Zusammenbruchs. Wir werden zuerst in ein Fraktionszimmer hinaufgewiesen, wo am grünen Tisch drei blutjunge Matrosen Waffenscheine ausstellen, mit dem Ernst und dem Willen zur Wichtigkeit von Schuljungen prüfend, bewilligend, verwerfend.
Dann geht es auf die Suche nach Haase. Unter den Säulen der Wandelhalle liegen und stehen auf dem mächtigen roten Teppich Gruppen von Soldaten und Matrosen; Gewehre sind zusammengestellt, hier und da schläft einer auf einer Bank lang hingestreckt: ein Film aus der russischen Revolution, Taurisches Palais unter Kerenski. Die Tür des Sitzungssaals fliegt auf. Während die Wandelhalle ziemlich dunkel ist, ist dieser grell beleuchtet, Bogenlicht. Mir fällt zuerst nur seine Häßlichkeit auf; nie ist er mir so würdelos und kneipenhaft vorgekommen, dieser lächerliche ›altdeutsche‹ Kasten, eine schlecht imitierte Augsburger Truhe. In ihm wogt zwischen den Bänken eine Menschenmenge, eine Art Volksversammlung, Soldaten ohne Kokarden, Matrosen mit umgehängtem Karabiner, Frauen, alle mit roten Schleifen, dazwischen Abgeordnete, um die sich kleine Gruppen bilden: Dittmann, Oscar Cohn, Vogtherr, Däumig. Haase steht vorgebeugt über den Bundesratstisch und spricht auf einen jungen Zivilisten ein, einen der Hauptbolschewisten, wie erzählt wird. Endlich dringen wir zu ihm durch; Schickele begrüßt ihn und stellt mich vor. Er ist auf die Idee eines Matroseneinbruchs ins Elsaß scheinbar vorbereitet, geht kurz darauf ein, schlägt morgen eine Besprechung vor. Dann ziehen ihn andere ins Gespräch.
Wir drängen uns wieder zum Sitzungssaal hinaus; steigen einige Stockwerke hinauf in ein Sitzungszimmer, wo eine Frau, anscheinend die eines Abgeordneten, Legitimationen austeilt. Auf Kestenbergs Empfehlung erhalte ich eine Karte, wonach ich als ›Inhaber dieses Ausweises‹ beauftragt bin, ›den Ordnungs- und Sicherheitsdienst in den Straßen der Stadt zu versehen‹. Gezeichnet: Oscar Cohn, Vogtherr, Dittmann. Ich bin also sozusagen Schutzmann in der roten Garde. Außerdem bekomme ich eine Legitimation auf meinen Namen vom Arbeiter- und Soldatenrat, daß ich vertrauenswürdig und berechtigt sei, ›frei zu passieren‹. Beides mit dem Stempel des Reichstages.
Kestenberg und Schickele gehen nach Hause. Ich durchschritt auf Grund meiner neuen Papiere die Absperrung am Potsdamer Platz und ging gegen das Schloß zu, wo noch einzelne Schüsse fielen. Die Leipziger Straße war menschenleer, die Friedrichstraße mäßig belebt von dem üblichen Publikum; die Linden gegen die Oper dunkel. In der Schinkelschen Wache sah man im hellen Licht Qualm und viele Soldaten. Auf der Schloßbrücke niemand. Die weißen, nackten Krieger mit ihren Siegesgöttinnen allein. Im Schlosse waren einzelne Säle hell beleuchtet, aber alles still. Patrouillen ringsherum, die mich anriefen und durchließen. Am Marstall lagen viele Steinsplitter. Der Posten sagte, ›Lausejungens‹, Pfadfinder, seien noch verborgen, sowohl im Schloß wie im Marstall. Es gebe geheime Gänge, durch die sie flüchteten und wieder auftauchten. In der Enckestraße schössen aus einem Hause noch zwei Offiziere und einige kaisertreue Mannschaften. Autos, die mit Bewaffneten über die Schloßbrücke heranbrausten, wurden angehalten, umgedreht und nach der Enckestraße 4 gewiesen. Jenseits der Schloßbrücke wieder eine Absperrung. Dahinter lichtscheues Gesindel in kleinen Rudeln an beiden Ecken der Königstraße, von den Posten zerstreut, aber immer wieder sich sammelnd. Ein Unteroffizier sagte zu mir, sie warteten auf das Plündern; man müsse sie fortbringen. Ich ging von hier langsam nach Hause.
In der Leipziger Straße rannte mir flüchtendes Publikum entgegen; ich fragte, wovor? Einige riefen, Gegentruppen seien aus Potsdam angekommen, gleich werde geschossen. Ich bog durch die Wilhelmstraße ab, hörte nichts. Einige Schüsse sollen aber am Potsdamer Platz um diese Zeit gefallen sein. Zu Hause war ich gegen eins. So schließt dieser erste Revolutionstag, der in wenigen Stunden den Sturz der Hohenzollern, die Auflösung des deutschen Heeres, das Ende der bisherigen Gesellschaftsform in Deutschland gesehen hat. Einer der denkwürdigsten, furchtbarsten Tage der deutschen Geschichte.
Berlin. 10. November 1918. Sonntag
Bei Cassirer Gespräch mit Schickele und anderen über die Lage. Die meisten beurteilten sie pessimistisch. Alles dreht sich jetzt um die Frage, ob die Liebknechtleute und mit ihnen der rote Terror oder ob der gemäßigte Teil der Sozialdemokratie siegen wird. Schickele meinte, die Bolschewisten hätten schon gesiegt. Haase treibe eine zweideutige Politik. Alle Anstrengungen müßten darauf gerichtet sein, Haase und den rechten Flügel der Unabhängigen vom Bolschewismus fernzuhalten und auf die konstituierende Nationalversammlung einzustellen. Während wir sprachen, wurde beim Reichstag geschossen. Anscheinend Maschinengewehrfeuer. Nachher hörten wir, daß die Schießerei während einer Volksversammlung vor dem Bismarckdenkmal gewesen war.
Abends aß ich bei Schickeles im »Excelsior« mit seinem Freund Dr. Licktrig und Theodor Däubler. Schickele wird durch den Frieden, wenn er nicht optiert, Franzose, Däubler Italiener; beides deutsche Dichter, schon dadurch die ganze Unsinnigkeit und die Brüchigkeit des projektierten Friedens beleuchtend. Schickele erklärte seine feste Absicht, nach Berlin überzusiedeln, obwohl er Norddeutschland nicht mag. Die Person des Kaisers, der das Preußentum verschandelt und dadurch zugrunde gerichtet hat, wurde mit Verachtung besprochen. Daß Deutschland Republik wird, scheint schon nicht mehr fraglich. Der König von Sachsen ist heute abgesetzt worden. Der Großherzog von Hessen befindet sich, wie Schickele erzählt, in Schutzhaft. Die Wahl der neuen Regierung hat Schickele und alle, die ich sprach, sehr beruhigt.
Der Chef der roten Garde, der das Excelsior-Hotel bewacht, ein Kamerad vom Matrosenregiment Nr. 1, entwickelte mir sein Programm, das Gehorsam gegen die neue Regierung, Wahrung von Ordnung und Ruhe, Feindschaft gegen alle Gewalt einschließlich von Plünderungen umfaßte – ein junger Mensch von etwa dreiundzwanzig bis vierundzwanzig Jahren, der die Revolution seit Kiel mitmacht; ein einfacher Mann, der die Gesinnung der großen Mehrheit unserer Revolutionäre ausspricht. Alles in allem war trotz der Schießereien die Haltung des Volkes in den beiden bisherigen Revolutionstagen ausgezeichnet: diszipliniert, kaltblütig, ordnungsliebend, eingestellt auf Gerechtigkeit, fast durchweg gewissenhaft. Ein Gegenstück zur Opferfreudigkeit im August 1914. Ein so großes und tragisches Erleben, so reinen Sinnes und tapfer getragen, muß es innerlich zusammenschweißen zu einem Metall von unzerstörbarer Spannkraft. Wenn nur der politische Sinn nicht so selten wäre! Das, was jeder italienische Makkaronihändler hat!
Den Schluß des Abends bildete ein komisches Intermezzo. Däubler, der seiner Schwester versprochen hatte, wegen der Gefahren der Straße die Nacht im Hotel zu bleiben, sich aber als »Österreicher« einschrieb, wurde vom Direktor als Hotelgast energisch abgelehnt, weil er als »Ausländer« keinen Ausweis habe. Es gab eine Szene, bis ich als Beauftragter des Arbeiter- und Soldatenrates, der auf Grund meiner Karte für Sicherheit und Ordnung zu sorgen hatte, einschritt und dem Direktor kraft meiner Autorität befahl, Däubler zu behalten; worauf der Direktor nach guter, alter preußischer Art vor der Disziplin, wenn auch revolutionären Ursprungs, sich beugte und Däubler ein Zimmer anwies. Alles ist wie ausradiert, nur nicht der Knick in der Wirbelsäule.
Berlin. 11. November 1918. Montag
Die furchtbaren Waffenstillstandsbedingungen sind heute unterschrieben worden. Langwerth sagt, etwas anderes sei nicht möglich gewesen, da unsere Front in voller Auflösung begriffen sei.
Der Kaiser ist nach Holland geflohen.
Berlin. 12. November 1918. Dienstag
Nachmittags im Reichstag im Fraktionszimmer des »Bundes Neues Vaterland«. Auf Kestenbergs Anfrage sagte ich zu, in den Vorstand einzutreten. Wie in der Französischen Revolution bilden sich Klubs, in denen die politisch wichtigen Fragen vordebattiert und entschieden werden. Ihren Sitz haben sie sich in den Fraktionszimmern des Reichstags erobert: der »Bund Neues Vaterland«, die »Aktivisten« (Kurt-Hiller-Gruppe) und andere, die neben den Soldaten- und Arbeiterräten dort tagen. Das Bild des Reichstags hat sich trotz der strengen Absperrung (man kommt nur noch mit dem roten Passierschein des Soldatenrates hinein) seit der ersten Revolutionsnacht nicht geändert, bis auf den größeren Schmutz, der sich anhäuft. Überall Zigarettenstummel, fortgeworfene Papierstücke, Staub, Straßendreck auf den Teppichen. Gänge und Wandelhalle wimmeln von Bewaffneten, Soldaten und Matrosen. In der Halle stehen auf dem Teppich die Pyramiden zusammengestellter Gewehre; in den Klubsesseln liegen Matrosen. Eine große Unordnung, aber Ruhe. Die alten Diener in ihren Livreen gehen dazwischen machtlos und schüchtern herum als letzter Rest des früheren Regimes. Die Abgeordneten der bürgerlichen Parteien sind ganz verschwunden.
In der Stadt ist heute alles ruhig; die Fabriken arbeiten wieder. Von Schießereien ist nichts bekanntgeworden. Bemerkenswert übrigens, daß während der Revolutionstage trotz der Straßengefechte die Elektrischen regelmäßig gefahren sind. Auch das elektrische Licht, Wasserleitung, Telephon haben keinen Augenblick ausgesetzt. Die Revolution hat nie mehr als kleine Strudel im gewöhnlichen Leben der Stadt gebildet, das ruhig in seinen gewohnten Bahnen drum herumfloß. Auch gab es trotz dem vielen Schießen merkwürdig wenig Tote oder Verwundete. Die ungeheure, welterschütternde Umwälzung ist durch das Alltagsleben Berlins kaum anders als im Detektivfilm hindurchgeflitzt.
Berlin. 13. November 1918. Mittwoch
Um eins ging ich zu Haase ins Reichskanzlerpalais. Im schönen Empirevestibül viele wartende Bittsteller in Schlapphüten. Nie ist hier ein solches Gedränge gewesen. Ein kleiner Junge, der als Laufbursche amtiert, wies mich in den ersten Stock, wo noch einige befrackte Diener aus der früheren Zeit ihren Dienst versehen. Zum letzten Male war ich vor acht Tagen, noch unter dem Prinzen Max zu Anfang des débâcle, hier; seitdem rapider Fortschritt in der Verwahrlosung. Die Boheme ist eingedrungen. Der Kongreßsaal war leer bis auf einen Literaten mit einer roten Schleife im Knopfloch, der mit mir wartete.
Haase kam aus einem der Salons links heraus und holte mich zu sich hinein. Er ist ein kleiner, unscheinbarer Mann mit einer freundlichen jüdischen Manier; erinnerte mich, ins Semitische transponiert, an Chlodwig Hohenlohe. Er sitzt an Bismarcks Schreibtisch, erkennbar an der Kupferplatte. Ich kam wegen der Anknüpfung mit Frankreich, namentlich jetzt sofort mit den französischen Sozialisten. Haase sagte, am liebsten wäre er selber nach der Schweiz gekommen; augenblicklich sei das aber nicht möglich. Aber die Franzosen wüßten, daß er schon vor August 1914 gegen den Krieg gewesen sei und nur mitgemacht habe, um die Einigkeit der Partei nicht zu gefährden, bis es ihm schließlich unmöglich geworden sei. Schickele solle die Sache machen, ich mitwirken. Auch die kulturelle Anknüpfung, die in meinen Händen liege, sei äußerst wichtig. Ich sagte, selbstverständlich stellte ich mich weiter zur Verfügung; aber wenn ihm oder der neuen Regierung eine andere Persönlichkeit lieber wäre, würde ich sofort zurücktreten. Haase antwortete, ihm sei ich sehr recht, er müsse aber noch die Sache bei seinen Kollegen vorbringen; er bäte mich, ihn vor meiner Abreise noch einmal zu besuchen.
Um fünf bei Paul Cassirer, wo noch Schickele. Beide reisen heute abend über München nach der Schweiz. Cassirer ist erfüllt von der Gefahr einer Reaktion. Das ganze Bürgertum habe schon heute die Revolution satt. Die Potsdamer Regimenter, die ihre Offiziere in den Soldatenrat gewählt haben, könnten mit leichter Mühe alles wieder umstoßen. Schickele und Cassirer machten beide einen mißmutigen, verschlossenen, verlegenen Eindruck.
Von hier ins Auswärtige Amt, wo ich Langwerth sehen wollte wegen der Anknüpfung mit den französischen Sozialisten und Ferdinand Stumm wegen anderer Dinge. Langwerth über das mit Haase und Solf Besprochene informiert. Dann einen Augenblick bei Hatzfeldt, der über Pilsudskis Tätigkeit in Warschau sehr erfreut: Pilsudski ist vom Regentschaftsrat als eine Art von Diktator eingesetzt und hat als erste Amtshandlung den deutschen Soldaten die Waffen wiedergegeben. Wenn er so weiterregiert, ist meine Politik glänzend gerechtfertigt. Riezler, den ich traf, erzählte, am Sonntag habe Liebknecht einen wüst aussehenden »Hauptmann Wagner« zum Reichskanzler Ebert geschickt mit einem roten Zettel, auf dem sofortige Gestellung eines Autos zur Befreiung von Pilsudski verlangt wurde. Ebert schickte den Mann zu Riezler, der ihm sagen konnte, daß Pilsudski längst in Warschau sei.
Berlin. 14. November 1918. Donnerstag
Vormittags bat mich Hatzfeldt zu einer Besprechung und fragte mich, ob ich den Gesandtenposten in Warschau annehmen würde. Die polnische Regierung verlangt die Abberufung von Lerchenfeld und Oettingen und die sofortige Ernennung eines Gesandten. Meine Hauptaufgabe werde zunächst sein, dafür zu sorgen, daß unsere Truppen aus Polen und aus der Ukraine herauskommen. Eine äußerst schwere und verantwortungsvolle Aufgabe. Ich nahm an.
Gleich nachher traf ich im Amte Erzberger. Er zog mich in ein Zimmer und meinte, ich hätte hierbleiben sollen. Jetzt würden energische Männer hier gebraucht, sonst bekämen wir keinen Frieden. Mit der jetzigen Regierung werde die Entente keinen Frieden schließen, wenn nicht bürgerliche Elemente hineinkämen. Er bedauere, daß er während der Revolution abwesend gewesen sei; sonst wäre keine rein sozialistische Regierung zustande gekommen. Er unterschätzt jetzt wieder wie in der Abdankungsfrage die Linkskräfte, die der Krieg bei uns entwickelt hat. Seine Reise ins französische Hauptquartier hat bei ihm einen sehr schlechten Eindruck hinterlassen. Die Behandlung sei gemein gewesen; Foch eisig und ganz von oben herab.
Zum Tee bei der Gräfin Bernstorff, wo auch er, der Botschafter, und ihre Schwiegertochter. Bernstorff bereitet sich auf die Reise nach den Haag zu den Friedensverhandlungen vor.
Nachher im Amt nochmals bei Hatzfeldt, dem ich meine Wünsche für meine Gesandtschaft vortrug: als erstes sofort einen im Eisenbahnwesen erfahrenen, tüchtigen Generalstabsoffizier, der mir bei den Verhandlungen über den Abtransport der Truppen hilft. Dann einen jüngeren Diplomaten, der in polnischen Dingen schon gearbeitet hat. Ferner einen guten, polnisch redenden Journalisten. Schoeber als meinen persönlichen Adjutanten. Gülpen als Stütze in brenzligen Lagen und als Freund von Sosnkowski. Schließlich ein ausreichendes Budget, auch für Repräsentation. Hatzfeldt gestand dies alles zu. Ich bat ferner um Weisungen in den Grenzfragen und über das Verhältnis zu Oberost. Hatzfeldt sagte, für die Grenzfragen solle ich auf die Friedenskonferenz verweisen, die bestimmen werde, welche Gegenden rein polnisch seien. Die Truppen in Polen unterstünden noch dem Oberbefehlshaber Ost. Mit diesem muß ich mich also verständigen. Langwerth gratulierte mir im Gang; er schien wohlwollend und erfreut. In Wirklichkeit werden wohl die wenigsten diesen Posten begehren.
Heute um eins, als ich die Linden hinunterging, kam die Schloßwache vom Brandenburger Tor mit dem Hohenfriedberger Marsch anmarschiert, genau wie früher, nur mit roten Revolutionsfahnen, die Mannschaften ohne Kokarden und die Unteroffiziere oder Ordner mit schwarzrotgelben großdeutschen Armbinden. Die Leute marschierten etwas lässiger als die Garde vor dem Kriege, aber in guter Ordnung und durchaus soldatisch. Eine große Menschenmenge mit roten Schleifen und Armbinden begleitete sie. Vor der in den Revolutionstagen arg zerschossenen Passage stimmte die Musik die Weise an: ›Es liegt eine Krone im grünen Rhein.‹ Sie klang wie ein Trauermarsch; mir schnitt sie ins Herz. Ich dachte an das verlorene Elsaß, das französische linke Rheinufer. Wie werden wir im Gefühl das jemals verwinden? Mag der Völkerbund noch so schön werden, diese Wunde kann er nur verewigen.
Viele Soldaten tragen jetzt wieder die schwarzweißrote Kokarde über der roten revolutionären, die an die Stelle der preußischen getreten ist.
Berlin. 15. November 1918. Freitag
Früh um neun bei Erzberger in der Budapester Straße. Ich warnte davor, die jetzige Regierung durch Hineindrängen Bürgerlicher zu erschüttern. Augenblicklich sei die Hauptsache die Front gegen Spartakus, daneben die Vorbereitung der Wahlen zur Nationalversammlung. Erzberger beschimpfte die Feigheit der bürgerlichen Klassen und namentlich der Offiziere, die der Revolution überhaupt keinen Widerstand entgegengesetzt hätten. Der Chef des Gardedukorps, der den Soldaten verboten habe zu schießen, gehöre erschossen. Jetzt müsse man wenigstens nicht wieder vor den Spartakusleuten kampflos das Feld räumen. Für den Präliminarfrieden entwickelte Erzberger folgende Grundsätze: er wolle ihn mit der größten Beschleunigung, womöglich innerhalb von acht Tagen, abschließen, um das linke Rheinufer vor der Besetzung zu retten. Das Besetzungsrecht gelte nur für den Waffenstillstand. Um den Präliminarfrieden schnell fertigzubringen, wolle er Elsaß-Lothringen preisgeben; anders bekomme er ihn nicht zustande, und Elsaß-Lothringen sei doch nicht für uns zu retten. Polen wolle er zurückstellen für den großen Frieden, im Präliminarfrieden nur grundsätzlich ein neutrales Polen zugestehen und Vorarbeiten ethnographischer und anderer Art besprechen. Keine Grenzen für Polen im Präliminarfrieden. Oberschlesien dürften wir unter keinen Umständen verlieren; es sei wirtschaftlich für uns unentbehrlich, kein unzweifelhaft polnisches Gebiet, habe nie zu Polen gehört, die Polen seien nur eingewandert. Oberschlesien sei Kernpunkt. Danzig könne Freihafen werden, oder wir könnten den Polen als Freigebiet einen anderen Mündungsarm der Weichsel zugestehen und ein Stück am Haff; Geldfrage.
Auf der Straße am Potsdamer Platz sah ich zum ersten Male seit der Revolution wieder einen Offizier mit Achselstücken.
Das Auswärtige Amt für die Republik ... Vor acht Tagen wäre diese Vorstellung geradezu grotesk erschienen, wo alles noch die monarchische Gesinnung als selbstverständlich voraussetzte. Und doch glaube ich, daß die wahre Gesinnung jetzt herauskommt. Der monarchische Gedanke war durch das völlige Versagen des Kaisers, namentlich im Kriege, aber auch schon durch seine glitzernde und beunruhigende Unfähigkeit vorher langsam abgetötet worden. Das konstatiert heute abend in der ›Deutschen Tageszeitung‹ Ernst Reventlow selber, der mit fliegenden Fahnen zur Republik übergeht.
Berlin. 16. November 1918. Sonnabend
Hatzfeldt zeigt mir heute vormittag eine Bleistiftnotiz von Solf: die Regierung scheine mich als Gesandten abzulehnen, weil sie eine Frau nach Warschau schicken wolle. Hatzfeldt meint, es handele sich um eine theoretische Liebhaberei von Haase, der wünsche, daß die sozialistische Regierung mit einer weiblichen Ernennung in der Diplomatie anfange. Natürlich könne eine Frau in dieser furchtbaren Lage in Warschau nichts ausrichten. Solf war nicht zu sprechen, da er in einer Sitzung des Kriegskabinetts war und bis zwei nicht gestört werden durfte. Ich schlug vor, Breitscheid als Adlatus von Kautsky um seine Vermittlung zu bitten. Inzwischen sind von verschiedenen Arbeiter- und Soldatenräten, von der deutschen Kolonie in Warschau und von Oettingen dringende telephonische Bitten um sofortige Entsendung des neuen Vertreters eingelaufen. Auch das Hauptquartier Oberost schickt einen Notschrei im selben Sinne.
Hatzfeldt und ich besprachen die Sache mit Bussche und gingen dann ins Ministerium des Inneren zu Breitscheid, der mit Gerlach zusammensaß. Breitscheid erklärte sich bereit, mit Kautsky zu sprechen, fand die Liebhaberei für weibliche Vertretung in diesem Augenblick unbegreiflich, da er sich keine Frau denken könne, die sie im Auge hätten. Kautsky war dann aber auch nicht zu sprechen, da er ebenfalls im Kriegskabinett saß. So gingen Hatzfeldt und ich zum Unterstaatssekretär David, einem ausgesprochen kleinbürgerlichen, pedantischen grauen kleinen Mann von etwas abstoßendem Mangel an Wärme (früher Lehrer), der gegen weibliche Vertretung in Warschau ziemlich stark polemisierte, ohne aber irgendeinen praktischen Vorschlag zu machen, wie meine Ernennung schnell gefördert werden könne. Es blieb nichts übrig, als auf den Schluß der Kabinettssitzung zu warten. So geht wieder ein halber oder sogar ein ganzer Tag verloren, so wie es unter der alten Regierung aus denselben Desorganisationsgründen bei der Freilassung Pilsudskis war. David machte außerdem ängstlich darauf aufmerksam, daß die Bestätigung des Kriegskabinetts für meine Mission nicht genüge; ich müsse außerdem eine Vollmacht vom Vollzugsrat haben, sonst würden mich die Arbeiter- und Soldatenräte nicht anerkennen.
Nachmittags um fünf war Sitzung des Kriegskabinetts, in der David meine Ernennung in Solfs Auftrage zu vertreten hatte. Hatzfeldt und David baten mich, während der Beratung im Vorzimmer bei der Hand zu bleiben. Die Sitzung fand in der Reichskanzlei, links hinter dem großen Kongreßsaal statt. Ich wartete in einer Art von Eßzimmer, wo der Schreibtisch Bismarcks aus der Konfliktszeit steht und noch zwei Kaiserbilder hängen. Nacheinander kamen Landsberg, Ebert, Scheidemann, Dittmann und verspätet Haase. Den mir noch nicht Bekannten ließ ich mich vorstellen. Ebert mit seinem schwarzen Knebelbart und seiner breiten, untersetzten Figur sieht aus wie ein Südfranzose, ein Schiffskapitän aus Marseille. Alle bis auf Landsberg und Haase waren sehr reserviert und, wie mir schien, mißtrauisch. Daß der erste von der Deutschen Republik ernannte Gesandte ein Graf und Garde-Kavallerie-Offizier sein soll, ist offenbar allen ungemütlich und nicht geheuer; obwohl die ›Freiheit‹, das Organ der Unabhängigen, mir heute früh, wahrscheinlich durch Breitscheid, ein gutes Zeugnis ausstellt.
Ich ging auf dem Bismarckischen Speisesaalteppich auf und ab, nicht ohne die Eigenart der Situation zu empfinden. Nach etwa drei viertel Stunden kam David heraus und sagte mir, das Kabinett habe meine Ernennung gebilligt, sie bedürfe aber noch der Bestätigung durch den Vollzugsausschuß des Arbeiter- und Soldatenrates, der gegenwärtig die Stelle des Souveräns vertritt und von Brutus Molkenbuhr und R. Müller geleitet wird. Es werde gewünscht, daß ich den sozialdemokratischen Rechtsanwalt Rawicki aus Bochum, der polnisch spreche und gute Beziehungen zu den polnischen Sozialdemokraten habe, mitnehme. Der Sozialdemokrat Brahe, der neue Chef der Reichskanzlei, ein überaus schätzenswerter Mann, gab mir außerdem ein Empfehlungsschreiben für den sozialistischen polnischen Ministerpräsidenten Daszynski mit. So ausgestattet wanderte ich wieder ins Amt, wo Hatzfeldt, Langwerth, Victor Wied mich als republikanischen Gesandten begrüßten. Mein Agrément durch die polnische Regierung wird noch heute nacht, ohne die Entscheidung von Brutus Molkenbuhr und R. Müller abzuwarten, nachgesucht, um möglichst wenig Zeit zu verlieren. Ich soll am Montag abend mit dem polnischen Vertreter in Berlin Niemozecki nach Warschau abreisen. Als Sekretär habe ich mir Ow und vertretungsweise, bis er aus Spa heran ist, den Dr. Meyer ausgebeten. Als Eisenbahnsachverständiger schließt sich in Thorn ein vom Kriegsministerium empfohlener Baurat an. Auch der juristische Vertreter wurde von Hatzfeldt in privater Stellung zugestanden.
Berlin. 17. November 1918. Sonntag
Erster Sonntag nach der Revolution. Am späten Nachmittag bewegten sich große Massen von Spaziergängern über die Linden bis zum Marstall, um die Spuren der Gefechte an den Gebäuden zu sehen. Alles sehr friedlich in spießbürgerlicher Neugier; namentlich die sehr auffallenden Einschläge am Marstall wurden begafft. Das einzige gegen frühere Sonntage im Straßenbild Veränderte ist das Fehlen der Schutzleute und die nicht sehr zahlreichen bewaffneten Matrosen, Wachen und Patrouillen, Ferdinand Stumms Leute.
Vormittags im Amt verschiedene für meine Mission in Betracht kommende Leute besucht. Zuerst Nadolny, um über Ukraine Auskünfte zu erhalten. Er sagt, unsere Soldatenräte nähmen in der Ukraine in Übereinstimmung mit unserer Regierung gegenüber allen Wirren und Kämpfen eine neutrale und abwartende Haltung ein. Das Einrücken der Entente in die Ukraine stehe bevor; unsere Truppen hätten dann dort keinen Zweck mehr, da sie nur den Schutz gegen die Bolschewiki bildeten. Sie sollen sich daher dort halten, bis die Entente hereinkommt, dann aber sofort abbauen. Ich solle in Warschau mit Hochdruck arbeiten, damit der Durchtransport durch Polen gewährt werde. Dazu nötig Verständigung mit Oberost.
Sodann zum Botschafter Bernstorff. Er will wie Erzberger die polnische Frage für die große Friedenskonferenz zurückstellen. Ich solle bei jeder Gelegenheit öffentlich und privatim sagen, daß wir die internationale Regelung der polnischen Frage zugestanden hätten gemäß Wilsons Punkt XIII; sie sollten daher jetzt keine Dummheiten machen.
Von Bernstorff zu Solf. Dieser fügte den Aufklärungen von Erzberger und Bernstorff nichts hinzu, warnte aber dringend vor Verbindung mit dem Zionismus oder jüdischen politischen Tendenzen, da dieses Pilsudski mißtrauisch gegen mich machen würde. Ich solle möglichst gute Beziehungen zu Pilsudski pflegen und diesem auch sagen, Solf habe sehr bedauert, ihn bei seiner Durchreise durch Berlin nicht gesehen zu haben. Solf sagte, er habe ziemlich hart kämpfen müssen, um meine Ernennung bei der Regierung durchzusetzen, weil diese eigentlich einen Sozialdemokraten und am liebsten ein sozialdemokratisches Frauenzimmer geschickt hätte. Ebert habe ihn aber unterstützt und ebenso Landsberg.
Berlin. 18. November 1918.
Montag Ich bin noch immer in Berlin trotz der flehentlichen Hilferufe der Deutschen in Polen nach einem deutschen Vertreter. Erst heute abend um acht bekam ich mein von Ebert und Haase unterzeichnetes Beglaubigungsschreiben bei der polnischen Regierung. Die schriftliche Bestätigung des Vollzugsrats der Arbeiter und Soldaten steht noch immer aus. Allerdings telephonierte mir Breitscheid mittags, sie sei im Prinzip erteilt. Spätabends meinen neuen Legationssekretär Dr. Meyer ins Herrenhaus geschickt, um die Unterschrift des Vollzugsrats unter meiner Ernennung zu erwirken.
Wenn morgen das Agrément der polnischen Regierung eintrifft, können wir morgen abend reisen.
Morgens meldete sich bei mir wieder der mir beigegebene sozialdemokratische Rechtsanwalt Rawicki. Ich bat Hatzfeldt, ihn für die Dauer seiner Tätigkeit in Warschau zum Legationsrat ernennen zu lassen, damit er nach mir die erste Stelle einnimmt. Bis vor zwei Monaten war er Armierungssoldat und als solcher meistens vorne. Er erzählte vom großen Haß der Soldaten gegen die Offiziere, ähnlich wie Wieland Herzfelde, hauptsächlich wegen der Bevorzugungen und des rücksichtslosen Gebrauchs, den die Offiziere davon machten. Am schlimmsten und verhaßtesten seien die Feldwebelleutnants gewesen. Die Verpflegung für die Soldaten sei zum großen Teil unterwegs hängengeblieben. Man gewinnt doch allmählich den Eindruck eines großen moralischen Fehlschlagens des Offizierkorps, wodurch eigentlich der Krieg verlorenging, zum Beispiel in der unrechtmäßigen Aneignung von Verpflegung, in einem unleidlichen Dünkel und Ton, in stellenweise direkter Bestechlichkeit. Die preußische Armee war nicht auf materielle Gesinnung des Offizierkorps zugeschnitten. Der ungeheure Aufschwung hat sie unterwühlt.
Nachmittags um vier Versammlung der jüngeren Beamten des Auswärtigen Amtes, die den Aufruf unterzeichnet haben im ›Kaiserhof› im Hohenzollernsaal. Ferdinand Stumm präsidierte. Farbe etwas akademisch, Riezlerisch. Ich versuche, soweit ich kann, sie nach links festzulegen; verlangte Knochen, irgend etwas Hartes, worauf man baue und von dem man nicht ablasse. Drum herum könne meinetwegen auch Molluskenhaftes sein zum Aufputz, über das man handeln könne; aber ein Rückgrat, und ein absolut steifes, sei irgendwo im Programm und in der Gesinnung nötig. Das, was bisher als Skelett der ganzen Staatsanschauung gegolten habe, die monarchische Gesinnung, habe sich als durch und durch morsch erwiesen. Daher gelte es jetzt, ein neues Gerüst zu finden. Ich möchte als solches auf dem definitiv anzuerkennenden Boden der Republik und des Sozialismus den Kampf um das Selbstbestimmungsrecht und die möglichste Freiheit des Individuums. Trotz Sozialismus, oder gerade weil Sozialismus, keine Staatssklaven, sondern freie Menschen. In der auswärtigen Politik Selbstbestimmungsrecht der Völker und gerechte Rohstoffverteilung, den wachsenden oder schwindenden Bedürfnissen der Völker jeweilig angepaßt. Kein starrer Völkerbund. Freiheit der Meere und Häfen für die Schiffahrt. Also: freie Meere, freie Völker, freie Menschen. Selbstbestimmungsrecht der Völker innerhalb des Völkerbundes, Selbstbestimmungsrecht des einzelnen innerhalb des sozialistischen Staates. Es wurden drei Kommissionen eingesetzt: 1. für Ausarbeitung des Programms, 2. für Propaganda und Werbung, 3. für Ausarbeitung einer deutschen Verfassung. In die Propagandakommission wurde ich gewählt, Ferdinand Stumm als mein Vertreter.
Berlin. 19. November 1918.
Dienstag Ich erhielt heute meine Ernennung zum Gesandten, unterschrieben von Solf und bestätigt vom Vollzugsrat des Arbeiter- und Soldatenrates. Sie haben unter Solfs Unterschrift vermerkt:›Einverstanden. Der Vollzugsrat des Arbeiter- und Soldatenrates Berlin. 18. November 1918. Molkenbuhr. Müller.› Ihr beigefügter Stempel lautet: ›Vollzugsrat des A. u. S.-Rates von Groß-Berlin. Deutsche Sozialistische Republik.›
Nachmittags Abschiedsbesuche und Scherereien, um mein Personal zusammenzubekommen, im Amt. Berger war empört, daß sich ein Gesandter die Bestätigung des Vollzugsrates der Arbeiter und Soldaten holen müsse; ›eine Frechheit!› Auch sonst voll Sorge wegen der Zukunft; sie könnten in der Wilhelmstraße jeden Tag ausgehoben werden.
Morgen findet die feierliche Bestattung der Revolutionsopfer statt. Ein ungeheurer Zug bewegt sich durch das Brandenburger Tor und die Linden hinunter; etwas anders, als man sich die Feier des Kriegsendes gedacht hatte. Hatzfeldt sagte mir, er gehe um elfeinhalb aus dem Amt fort, ›um nicht abgeschnitten zu werden›. Die Spartakuspartei mit ihrer ›Roten Fahne› und ihren drei starken Leuten, Rosa Luxemburg, Liebknecht, Mehring, wirkt als Schreckgespenst.
Abends um zehn Uhr dreiundvierzig von der Friedrichstraße abgefahren in dem nur für die Dauer meiner Gesandtschaft zur Verfügung gestellten Extrazug: ein Salonwagen, Schlafwagen, Speisewagen – etwas amerikanisch-milliardärhaft. Ich nahm den polnischen Geschäftsträger Niemozecki nebst Frau mit und von der Gesandtschaft Rawicki, Dr. Meyer, Gülpen, den Attache von Strahl, Otto Fürstner, einen Feldjäger und das Unterpersonal, Chiffreure, Bürovorsteher, Stenotypistinnen usw. Alles in allem etwa zwanzig Personen. Mit Niemozecki und den anderen Herren bis zwölf im Salon geplaudert, dann ruhig geschlafen. Morgens gegen sieben in Alexandrowo meldeten sich bei mir sehr stramm und militärisch der Präsident des deutschen Soldatenrates, ein junger Soldat, und mit ihm zusammen ein polnischer Legionsoffizier. Hier ist alles ruhig. Die Schienen, die aufgerissen waren, sind wieder geflickt. Wir können glatt nach Warschau durchfahren. Der Pendelverkehr von Flüchtlingen aus Polen und aus Deutschland geht seit einigen Tagen ungestört vonstatten; nur brachte der Soldatenrat durch seinen Präsidenten bei mir eine Beschwerde vor, daß die Polen dreihundert Waggons schuldig geblieben seien. Die Pünktlichkeit und Ordnungsliebe unserer Leute hat durch die Revolution nicht gelitten. Sie haben sich auch wieder einen Offizier herangeholt, einen Leutnant von Oppen, der irgendwo in der Nähe amtiert. Viele Offiziere seien allerdings, wie der junge Präsident mir sagte, ›fort›.
So fahre ich in meinen neuen Wirkungskreis ein, in diesen Osten, den ich liebe, der irgendeine unformulierbare, tiefe Schönheit für mich hat.
Warschau. 20. November 1918. Mittwoch
Unterredung mit Niemozecki im Speisewagen beim Frühstück. Er betont seinen Wunsch nach einem engen freundschaftlichen Verhältnis mit Deutschland. Ich bejahte und sagte, dieses sei nur möglich, wenn sowohl Polen wie Deutschland Opfer brächten und auf gefährliche Hoffnungen verzichteten. Wir hätten die Wilsonpunkte angenommen und damit gewisse Gebietsabtretungen; Danzig könnten wir aber nicht hergeben. Niemozecki bestätigte: »Unmöglich!« Ich fuhr fort, am besten würden Polen und Deutschland eine gegenseitige dauernde Freundschaft vorbereiten, wenn sie miteinander direkt verhandelten und ein gemeinsames Programm auf die Friedenskonferenz mitbrächten. Voraussetzung hierfür seien aber starke Regierungen sowohl in Polen wie in Deutschland. Wenn Pilsudski Fuß fasse, so sei direkte Verständigung vielleicht möglich. Niemozecki: Die Entente spiele ein Doppelspiel zum Zwecke, Polen und Deutschland dauernd zu entzweien. Den Polen habe sie große Versprechungen gemacht, scheine davon aber jetzt abzurücken.
Niemozecki erzählte, er wolle aus der diplomatischen Laufbahn ausscheiden und in Warschau bleiben. Hier hoffe er mir gute Informationen geben und Dienste leisten zu können. Mir scheint, er will mich einfangen.
Mittags im Salon für Niemozecki, Rawicki, Meyer, Gülpen, mich servieren lassen. Wir fahren durch die großen, berühmten Stellungen der Jahre 1914 und 15. Noch einzelne Ruinen. In Warschau begrüßten mich am Bahnhof ein Vertreter des polnischen Ministers des Auswärtigen, ein Vertreter des Kriegsministeriums, ein Adjutant von Pilsudski und noch ein halbes Dutzend Legionsoffiziere. Ein polnisches Militärauto fuhr uns ins Hotel (wahrscheinlich eines von unseren beschlagnahmtem, mit dem polnischen roten Adler bemalt).
Im ›Bristol‹ abgestiegen. Gleich nach Ankunft besuchte mich der Major Ritter, der Vertreter der Obersten Heeresleitung in Warschau. Er hatte es offenbar eilig, den Vertretern des Soldatenrates zuvorzukommen. Aus seinen zurückhaltend vorgebrachten Schilderungen ging die jämmerliche Haltung des Generalgouverneurs der Kommandantur, des Chefs Nelke, gegenüber den meuternden deutschen Soldaten und den aggressiven Legionären am Montag vor acht Tagen deutlich hervor. Der Generalgouverneur ließ sich als erster abtransportieren. Nelke sei zusammengebrochen und hilflos dagesessen. Die Polen ›übernahmen‹ ohne Schwertstreich für Hunderte von Millionen Munitionsdepots, Rohstofflager, Pferde, Büroausstattungen. Natürlich muß jetzt darüber abgerechnet werden. Ein Rumpf des deutschen Soldatenrates hat sich ohne Ermächtigung als ›Liquidationskommission‹ aufgetan, sich selber hohe Diäten und andere Annehmlichkeiten zuerkannt. Ritter verlangte, daß ich sie absetze.
Bald nachher erschienen die Vertreter des Soldatenrates, zuerst ein Hauptmann von Knoblauch, später zwei Journalisten, Roth und Brunner. Ich stellte mich auf den Standpunkt, daß deutsche Militärpersonen nach unserem Versprechen an die polnische Regierung nichts mehr in Warschau zu suchen hätten. Die Militärs im Soldatenrat müßten die Liquidation einstellen und sofort abreisen. Ich werde für ordnungsgemäße Erledigung durch einen höheren Intendanturbeamten sorgen. Alle drei fügten sich.
Mit Knoblauch kam ein Pfarrer Geisler, der mir die halbe Million Deutschstämmiger in Polen ans Herz legte. In der Tat eine große und wichtige Frage, da sie durch die Schuld unserer Okkupationsbehörden jetzt dem Haß und Ruin ausgesetzt sind.
Dann kam ein Herr Sarnow, der Sekretär von Lerchenfeld. Er hat dessen Akten und noch einige andere gerettet; möchte gern bei mir ankommen. Lerchenfeld und Oettingen sind heute früh abgereist. Unser Funkspruch, der meine Ankunft meldete, ist ihnen von der polnischen Regierung, die die Funkerstation besetzt hat, nicht übermittelt worden. Sie sind abgereist, ohne zu wissen, daß ich heute ankam. Sarnows Schilderungen vom Zusammenbruch stimmten ungefähr überein mit denen von Ritter.
Auf Sarnow folgte ein Herr Korff, Präsident des deutschen Hilfsvereins. Er hat die Legationskasse in Verwahrung genommen, möchte sie mir übergeben. Er ist ein großer Fabrikant, lebt seit über fünfzehn Jahren in Warschau, sagte, er schäme sich, seinen polnischen Freunden zu begegnen, gehe nur noch nachts aus dem Hause, so unwürdig hätten sich unsere Truppen und Beamten von oben bis unten benommen. Der Schaden, der den Deutschen erwachsen sei, sei unermeßlich und nicht wiedergutzumachen. Die Schuld trifft, wie er zugab, die Offiziere, die sich um ihre Leute nicht mehr kümmerten und zum Teil, ebenso wie die Beamten, bestechlich waren. Verlust jeder moralischen Autorität.
In meine Unterredung mit Korff platzte ein Adjutant von Pilsudski herein, derselbe Franzose, der mich am Styr führte. Pilsudski lasse sich entschuldigen, daß er mich gleich am ersten Tage so brüsk in Anspruch nehme, ehe noch zwischen uns die offiziellen Formalitäten erfüllt seien. Aber es handele sich um sehr Wichtiges. Deutsche Truppen aus Brest-Litowsk hätten in den Dörfern Biala und Miedzyrzec, angeblich als Repressalie für Entwaffnungen, Häuser angesteckt und Gefangene fortgeschleppt, die sie sofort zu erschießen gedroht hätten. Ich möge einschreiten, damit sie wenigstens ordnungsgemäß abgeurteilt würden; sonst könnten sehr ungünstige Rückwirkungen eintreten. Ich versprach, an Oberost zu telegraphieren. Tat dieses und schickte dann eine Verbalnote an das Ministerium des Äußeren, daß das Telegramm fort sei, ich gleichzeitig aber darauf aufmerksam mache, daß fünfzehn Reichsangehörige von den Polen ohne Prozeß eingekerkert seien, worunter einer angeblich schon erschossen sei. Ich bäte auch in diesen Fällen Rücksicht auf unsere Beziehungen zu nehmen.
Nachdem Pilsudskis Adjutant fort war, sagte mir Korff, er glaube nicht, daß Pilsudski sich halten könne. Er sei kein Politiker, stütze sich jetzt ausschließlich auf die Sozialisten, habe ein rein sozialistisches Ministerium gebildet. Das ließen sich die polnischen Bourgeois und Bauern auf die Länge nicht gefallen.
Ein Vertreter des Ministers des Auswärtigen kam, um mir zu sagen, daß der Minister mich zur Überreichung meines Beglaubigungsschreibens morgen empfangen werde.
Das Verhalten der deutschen Offiziere und Beamten in Polen am 11. November ist gewiß schmachvoll. Aber in Berlin war es am 9. nicht viel besser, und man hat das Gefühl, daß überall nicht einzelne Menschen, sondern ein System versagt hat, das schließlich nur noch die nackte Gewalt als Mittel kannte und hilflos zusammenbrach im Augenblick, wo diese ihm entglitt.
Warschau. 21. November 1918. Donnerstag
Alles war auf dem Prestige aufgebaut. Als dieses im Westen und in Bulgarien zusammenbrach, stürzte auch die Verwaltung in den besetzten Gebieten zusammen. Deshalb trifft Beseler und Nelke nur eine indirekte Schuld, sowenig ihr persönliches Verhalten am Schluß zu verteidigen ist. Der Krieg war schließlich eine ungeheure Spekulation, deren Mißlingen alles andere mitriß; der größte Krach aller Zeiten.
Um elf machte ich dem Minister des Äußeren Wassiliewski meinen Antrittsbesuch. Er empfing mich mit seinem Unterstaatssekretär Filippovicz. In den Vorzimmern, auf Treppen und Gängen herrschte eine große Unordnung, weil das Ministerium gerade einzog, natürlich in eine ›besetzte‹ deutsche Behörde. Vor acht Tagen war hier noch die Presseabteilung des Gouvernements. Tische, Sofas, kleine Jungens bewegten sich durcheinander: ein Ausverkauf, ein Chaos von Altem und Neuem, von Nachlaßgut und Anfängen eines neuen Staates. Das haben wir mit unserem Blute erreicht; aber die Schuld ist an uns, weil nichts war in unserem Volke, um das kostbare junge Blut auszuwerten. Ich sagte bei Überreichung meines Beglaubigungsschreibens dem Minister einige freundliche Worte, auf die er ähnliche, aus einem Manuskript verlesene erwiderte. Was echt, was falsch daran war, ließ sich bei diesem ersten Zusammentreffen nicht erkennen. Positives wurde nur besprochen in bezug auf die festgesetzten Deutschen. Filippovicz, der außer Polnisch nur Englisch spricht, sagte mir zu, über diese bis heute nachmittag um fünf mir Nachricht zu geben und ihre baldige Freilassung erwirken zu wollen.
Nachmittags um fünf empfing mich in feierlicher Audienz Pilsudski im Palais am Sachsenplatz. Ich überreichte ihm das Original meines Beglaubigungsschreibens und hielt eine kleine Ansprache. Er erwiderte als Staatsoberhaupt. Bemerkenswert, daß er dabei von ›unserer (seiner und meiner) Aufgabe‹ in bezug auf die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen sprach. Ich griff den Ausdruck auf und sprach meine Freude aus, daß er von einer ›gemeinsamen Aufgabe, die ihm und mir zugefallen sei‹, gesprochen hätte. Er ergänzte: ›die gemeinsame Aufgabe, unsere beiden Völker aus der alten Feindschaft in eine neue Freundschaft überzuführen‹. Er sieht sehr krank aus, das Gesicht blaß und eingefallen, aber noch immer mit dem alten Ausdruck von Energie und Güte; und er sprach lebhaft und heiter. Er wolle möglichst bald das Land in einen konstitutionellen Zustand überführen; die irreguläre Macht, die ihm zugefallen sei, ablegen. Dem Sozialismus müsse man in Worten weit entgegenkommen; die Zeit verlange das. Ob die Ausführung mit den Worten Schritt halten würde, sei eine andere Frage. Sehr beunruhigt sprach er sich über die Zustände im Etappengebiet Bug aus. Unsere Soldaten schössen dort Dörfer in Brand, verschleppten Gefangene. Das sei sehr gefährlich für die von uns beiden angestrebte Freundschaft. Er möchte möglichst bald durch Verhandlungen hier klare Zustände schaffen. Ich sagte ihm, daß ich für meine Gesandtschaft einen Verbindungsoffizier vom Oberbefehlshaber Ost bereits angefordert habe. Pilsudski nahm dieses mit sichtbarer Erleichterung auf. Ich kam dann auf unsere Gefangenen im Gefängnis hier. Meine sehr vorsichtig ausgesprochene Hoffnung, daß er sich halten werde, verstand er richtig als Frage und erwiderte, Gefahren sehe er nur im Südosten und Südwesten: im Südosten die russischen und ukrainischen Bolschewiki und Banden, im Südwesten die sehr unruhigen Zustände im Gebiet von Dombrowa, wo der revolutionäre Funken aus Deutschland nach Polen überspringen könne. Im übrigen gehe er seinen Weg und lasse die anderen schreien. In der posenschen Opposition sehe er keine Gefahr, denn diese werde sich immer in legalen Bahnen bewegen. Wir sprachen dann noch einiges Private, alte Erinnerungen, die Pilsudski jedesmal beglücken. Seine schönste Zeit, seine eigentliche Jugend, ist doch offenbar die gewesen, wo er mit seinen Legionären kämpfte.
Warschau. 22. November 1918. Freitag
Früh um halb neun kam der Major Ritter zu mir, um über heute bevorstehende Verhandlungen mit den Polen wegen Abtransports der Truppen aus der Ukraine zu berichten. Um halb elf besuchte ich Nieniewski, den stellvertretenden Chef des Generalstabes, mit dem ich bei Gerok im Stabe zusammen war.
Kaum war ich wieder zu Hause, erschien bei mir unangemeldet um elf Pilsudski mit seinem Adjutanten. Er ist gestern durch ein von ihm selber unterzeichnetes Dekret Diktator von Polen geworden. Um so überraschender war sein Besuch, da Staatsoberhäupter sonst Besuche nicht persönlich erwidern. Er knüpfte im Laufe der Unterhaltung an sein gestriges Wort an, daß unsere gemeinsame Aufgabe sei, die alte deutsch-polnische Feindschaft in eine neue deutsch-polnische Freundschaft überzuführen, um hinzuzufügen, daß die Verhältnisse in der Bugetappe das Gelingen dieser Aufgabe gefährdeten, um so mehr, als nach dem Lösen der Frage von Lemberg die Bugetappenfrage in den Brennpunkt des öffentlichen Interesses rücken werde. Die Einnahme von Lemberg konnte er nicht bestätigen, sie stehe aber unmittelbar bevor. Mit Stolz erwähnte er, daß er seine eigene alte 1. Legions-Brigade zusammengezogen und hingeschickt habe. Dabei erwähnte er, daß die polnische Armee gegenwärtig dreißigtausend Mann zähle, die in etwa vierzehn Tagen genügend ausgebildet sein würden. Er blieb ungefähr eine halbe Stunde, plauderte, lachte, erzählte seine Wohnungspläne, er wolle in ein kleines Palais ziehen, besitze gegenwärtig kaum ein zweites Hemd, zeigte aber mit Stolz seinen Ehrendegen, den ihm die Legionen nach zweijährigem Krieg geschenkt hätten.
Nachmittags unter einem Ansturm von Besuchern meinen ersten Bericht über die Lage in Polen diktiert. Um halb acht besuchte mich noch Hütten, der vormittags in meinem Badezimmer gesessen hatte, ohne daß er vorkam, weil zuerst Pilsudski und nachher Wassiliewski bei mir waren. Er schimpfte über Oberost und die Bugetappe, wo unsere Soldaten wie die Wilden hausten, Leute totschlügen, Häuser ansteckten usw. Er empfahl mir dringend, noch heute meinen Antrittsbesuch beim Generalstabschef, dem Grafen Sczeptycki, zu machen. Er war noch keine zehn Minuten fort, als Sczeptycki mir sagen ließ, er müsse mich in einer äußerst dringenden Angelegenheit noch heute abend sprechen. Ich antwortete, ich würde ihn um halb elf empfangen.
Präzise um halb elf erschien Sczeptycki allein bei mir und brachte mündlich die Forderung vor, daß wir sofort die Bugetappe links des Bug räumen sollten, widrigenfalls Polen sich um Hilfe an die Entente wenden werde. Er betonte nochmals, daß er als Chef des Generalstabes spreche, und fügte hinzu, ich werde dasselbe Verlangen morgen von der Regierung offiziell gestellt bekommen. Ich stehe also in einem Augenblick, wo ich vollkommen von meiner Regierung abgeschnitten bin, vor einem kaum noch verschleierten Ultimatum. Sczeptycki begründete seine Forderung mit den von unseren Soldaten angeblich verübten Greueln, die er selber übrigens, als ich ihm die Untaten seiner eigenen österreichischen Armee, zu der er bis vor einem Jahr gehörte, vorhielt, als unter den Verhältnissen im Bandenkrieg als kaum vermeidbar zugab. Aber die Erregung der öffentlichen Meinung sei bereits so groß, daß keine polnische Regierung ihr widerstehen könne. In Wirklichkeit sind es natürlich unsere Schwäche und die Verachtung für das Verhalten unserer Beamten und vieler Offiziere am 11., die die polnische Regierung zu dieser brüsken Forderung ermutigt haben.
Warschau. 23. November 1918. Sonnabend
Vormittags Besuch beim Erzbischof Kardinal Kakowski. Er wohnt in einem großen, aber spießbürgerlich möblierten Palais, das nach Chlor riecht. Sein Hauskaplan führte uns die Treppen hinauf in einen steifen, altmodischen Salon, wo nach kurzer Zeit der Kardinal erschien, ein großer, stattlicher, noch junger Mann mit einem ziemlich gewöhnlichen Gesicht und hellen blauen Augen. Er sowohl wie der Kaplan erkundigten sich mit großem Interesse nach dem Umsturz bei uns, ob wirklich alle Dynastien beseitigt seien, ob Ruhe jetzt herrsche, ob die Bolschewiki uns gefährlich werden könnten. Polen werde durch die deutsche Revolution weit mehr gefährdet als durch die russische, weil alles, was vom Westen komme, hier einschlage. Ich brachte absichtlich das Gespräch auf Pilsudski. Der Kardinal machte ein böses, ins Verächtliche hinüberspielendes Gesicht, aus dem zu sehen war, daß er Pilsudski nicht gerade Sympathien entgegenbringt. Er sei sehr populär; le peuple a besoin d'un héros (wir sprachen Französisch); seine Verhaftung sei es, die ihn zum Märtyrer und Nationalhelden gemacht habe. Ich hatte das Gefühl, daß der Kardinal sie gerade deshalb uns besonders verargt. Wir haben ihm und seinen Heiligen eine Konkurrenz geschaffen. Pilsudski sei kein Soldat, verstehe von militärischen Dingen nicht viel, da er nie regulär gedient habe. Ich hatte im ganzen den Eindruck verletzter Eitelkeit und einer aristokratischen Mißachtung gegen den populären Helden.
Um halb zwölf brachte ein polnischer Offizier mein Telegramm über Sczeptyckis Ultimatum vom Funkerturm, wo es um sechs Uhr morgens durch Gülpen aufgegeben worden war, unerledigt zurück. Meine eigenhändige Unterschrift sei nötig. Ich nahm es an mich und schrieb an Sczeptycki einen ziemlich schroffen Brief, in dem ich ihn »ersuchte«, Anordnungen zu treffen, damit die von ihm mit mir getroffenen Verabredungen gehalten würden. Inzwischen sei ich außerstande, den Inhalt unseres gestrigen Gesprächs nach Berlin zu übermitteln. Bereits um halb zwei erschien bei mir daraufhin Sczeptyckis persönlicher Adjutant, ein kleiner Graf Josef Michatowski, um Entschuldigungen auszusprechen; sie seien noch in der Organisation begriffen, große Unordnung herrsche, es solle nicht wieder vorkommen, von jetzt an würden alle meine Telegramme anstandslos befördert werden.
Das von Sczeptycki in Aussicht gestellte Ultimatum der polnischen Regierung ist bis jetzt, halb vier, nicht eingetroffen.
Nachmittags beim Generalsuperintendenten Bursche und im Festungslazarett III, wo unsere letzte Formation liegt. Bursche sagte, er erwarte bestimmt Unruhen in nicht ferner Zeit, und zwar von Seiten der Nationaldemokraten.
Im Lazarett das ganze Elend des Krieges, zum Teil Schwindsüchtige, die sich die Krankheit in russischer Gefangenschaft geholt haben. Ein armer Kerl, der »Schweizer« ist und ein Bein verloren hat, sagte mit Tränen in den Augen, daß er seinen Beruf nicht mehr ausüben könne.
Abends gegen zehn, während ich mit Meyer im Speisesaal des ›Bristol› allein aß, hörten wir plötzlich in der Hotelhalle einen lauten Stimmenwirrwarr und Lärmen einer großen Schar von Menschen. Ich ging mit Meyer an die Tür des Speisesaals, um zu sehen, was los sei. Plötzlich kam ein Kellner an mich herangelaufen und rief mir leise zu: »Fliehen Sie; hier, hier durch die Hintertür.« Die Menge schrie: »Nieder, Kesslera«, wollte meine Zimmer stürmen; »Kesslera heraus, heraus.« Einige wilde Leute liefen im Rudel die Treppe hinauf, ein gestikulierender Mann hielt von einem Tische eine Ansprache, die ich nicht verstand. Der Hotelwirt kam zu mir und sagte, wir müßten morgen vor zehn aus dem Hotel ausziehen, sonst werde er erschossen. Ich besprach mich mit Meyer, ging nach oben, holte Gülpen, vor dessen Tür im Korridor die erschreckte Gesandtschaft sich versammelt hatte, und begab mich mit ihm und Meyer nach dem Sachsenplatz 6, um mit Pilsudski zu reden. Er war abwesend; die Wache gab uns aber einen Mann mit, der uns in eine ziemlich entlegene Straße führte, wo er sein sollte. Es war eine etwas altmodische, halb elegant mit verschlissenen Empiremöbeln eingerichtete Wohnung. Zunächst kam sein Adjutant Winiawa, mein Freund vom Kormin, dann Sosnkowski, der General geworden ist und jetzt den Korpsbezirk Warschau kommandiert. Diesem sagte ich, ich käme als Privatmann, nicht als Gesandter, um ihm mitzuteilen, daß hundert bis zweihundert Leute ins »Bristol« eingedrungen seien und meinetwegen den Wirt bedroht hätten. Dieser habe uns deshalb morgen früh um zehn auf die Straße gesetzt. Da ich nicht gern in dieser Weise ausziehen möchte, bäte ich, den Wirt zu beruhigen und das Hotel unter militärischen Schutz zu nehmen. Sosnkowski sagte zu und bat mich, auf Pilsudski zu warten, der gleich kommen müsse. Wir plauderten dann noch lachend, obwohl es Sosnkowski offenbar unangenehm gewesen war, als ich sagte, die Menge habe gedroht, morgen früh um zehn Uhr wiederzukommen, und obwohl er dazwischen auch auf die Bugetappe kam; vierzig Leute seien auf einen Haufen von unseren Soldaten erschossen worden. Da es bald eins wurde, brach ich auf, ohne auf Pilsudski zu warten.
Warschau. 24. November 1918. Sonntag
Heute früh war von Sosnkowskis Schutzmaßregeln noch nichts zu sehen. Um neun brachte Gülpen vom Sachsenplatz drei Mann, die sich mit aufgepflanztem Bajonett auf dem Korridor vor meinem Zimmer aufstellten. Um halb zwölf kam die für die Gesandtschaft bestimmte Wache, ein Zug Infanteristen. Um die Mittagszeit ziehen fortwährend in langsamstem, feierlichem Schritt Trupps P.P.S.-Leute mit roten Fahnen am Hotel vorbei zum Sachsenplatz, wo große Versammlung ist. Um dieselbe Zeit meldet sich bei mir ein polnischer Leutnant, der beauftragt ist, für mich eine Gesandtschaftswohnung zu suchen. Er will sie bis morgen finden. Drei Viertel eins Ansammlung von einigen hundert Menschen vor dem Hotel. Die Direktoren lassen sich melden und zeigen sich besorgt für meine Sicherheit. Sie sind terrorisiert, meinen, die Wache sei nicht zuverlässig, kurz, wollen mich möglichst schnell los sein.
Gefrühstückt bei Langner. Der Kaisermaler Kossak, der jetzt hier in der Uniform eines polnischen Rittmeisters herumläuft und an einem Nebentisch saß, rief einem Bekannten im Saale laut zu: » Je ne voudrais pas être dans la peau de l'Ambassadeur; il va passer un mauvais quart d'heure.« Dann erkannte er mich, stellte sich vor und entschuldigte sich.
Nachmittags bei Korff. Gülpen meldet, daß vor dem Hotel die Menge bis an die gegenüberliegenden Häuser sich staut, die Wagen der Elektrischen steckenbleiben, die Wache bis auf die Hoteltür zurückgedrückt ist. Ich setzte eine Meldung nach Berlin auf, die ich versuchen werde, chiffriert hinzufunken. Alle telegraphischen Verbindungen sind unterbrochen. Wassiliewski hat heute früh Meyer, den ich hinschickte, erklärt, daß das polnische Außenministerium jede Garantie für unsere persönliche Sicherheit übernehme. Später schränkte er das Strahl gegenüber ein, indem er sagte, Garantien könne es zwar nicht übernehmen, es werde aber alles tun, was möglich sei.
Abends um sieben meldet Meyer, daß die Menge die Gesandtschaftswache überrannt, ins Hotel eingedrungen und meine Zimmer sowie die sämtlicher Gesandtschaftsmitglieder durchsucht hat. Unser Gepäck war vorher durch den Direktor in den fünften Stock geschafft worden. Eine Aufforderung, sofort jemanden auf das Ministerium zu schicken, fand Meyer im Hotel vor. Im Ministerium wurde Meyer eröffnet, wir müßten noch heute abend umziehen. Eine Wohnung werde uns um neun Uhr im Ministerium bezeichnet und zur Verfügung gestellt werden. Meyer ließ sich zum Minister Wassiliewski führen und legte Protest ein gegen die völkerrechtswidrige Behandlung, die uns zuteil werde, indem die polnische Regierung trotz ihrer Garantie uns nicht gegen die Durchsuchung der von der Gesandtschaft benutzten exterritorialen Räume geschützt habe. Ich setzte mit Meyer die Meldungen nach Berlin auf, die ich morgen per Bahn durch einen unserer Chiffreure hinschicke, da alle telegraphischen Verbindungen unterbrochen sind.
Im Ministerium wurde Meyer gesagt, sieben Zimmer stünden in zwei verschiedenen Wohnungen zur Verfügung, aber ungeheizt und zum Teil unbeleuchtet. Ich ging mit Fürstner in die uns vom Bankdirektor Theusner angebotenen Räumlichkeiten in seinem ›Heim‹. Die Gesandtschaft ist in der großen Stadt drolligerweise trotz aller angeblichen Anstrengungen der polnischen Behörden wie ein gehetztes Wild, offenbar ist die jetzige Regierung zu schwach, um Ordnung zu halten. Die Polen sind nur mit einer eisernen Faust und viel Glanz und Ruhm zu regieren. Daher bieten sie das beste Material für einen imperialistischen Großstaat, wenn der richtige brutale und ehrgeizige Mann an die Spitze kommt. Allerdings sind sie selbst politisch Kinder. Deshalb sind die bisherigen polnischen Imperien immer bald zerfallen, wenn eine überragende Persönlichkeit an der Spitze fehlte. Vieles hiervon ist auch von Preußen-Ostelbien wahr.
Warschau. 25. November 1918. Montag
Um halb zwölf bei Wassiliewski, dem ich durch Meyer hatte sagen lassen, ich wünschte eine Unterredung mit ihm, bedauere, ihn infolge der gestrigen Ereignisse nicht bei mir empfangen zu können, und werde daher zu ihm kommen. Ich sagte ihm, ich hätte auch nach dem, was gestern vorgefallen ist, den Wunsch, freundschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und Polen anzubahnen, müsse ihm aber sagen, daß die Lage nicht eines gewissen Ernstes ermangele. Ich werde um halb vier bei ihm nach Büroräumen und um sechs nach einer standesgemäßen und militärisch gut zu sichernden Wohnung für die Gesandtschaft fragen lassen. Er schrieb sich auf einen Zettel die beiden Stunden auf und versprach, daß alles zur Zeit bereitstehen werde. Er war so verlegen und hilflos, wie ich selten einen Menschen gesehen habe, versicherte, die Demonstrationen richteten sich mehr gegen die Regierung als gegen mich; kam nicht einmal auf die Greuel der Bugetappe zurück.
Nachmittags um sechs wurde uns endlich eine winzige kleinbürgerliche Wohnung in der Ujazdowska für Büroräume angewiesen und gleichzeitig eine Wache von zehn Mann gestellt, die wir in der Küche unterbringen müssen, da sonst kein Platz ist. Ich nahm diese Abspeisung unter Protest vom Beamten des Außenministeriums an, der geschickt war, um uns hinzubegleiten. Eine Wohnung haben wir noch immer nicht. Die Stimmung scheint heute gegen uns weniger feindlich; die Zeitung, die den ersten bösartigen Artikel brachte, schreibt heute abend, eine deutsche Gesandtschaft in Warschau mit einem zahlreichen Personal sei zweifellos nötig. Ich habe nur den Fehler gemacht, täglich mehrere hundert Menschen (!) zu empfangen. Wie mir das gelungen sein soll, verrät die Zeitung nicht.
Auch die Verhandlungen über den Abtransport aus der Ukraine und die Benutzung der polnischen Bahnen zu diesem Zwecke, die heute begonnen haben und zu denen ich als meinen Vertreter Rawicki abgeordnet hatte, haben einen guten Verlauf genommen, zum Teil infolge der Anwesenheit eines Stabsarztes und eines Gefreiten aus Oberost, die heute morgen angekommen sind und sich zuerst durch einen Ausweis von Hoffmann als legitimiert zu Verhandlungen mit der polnischen Regierung erklärten. Ich ließ ihnen durch Gülpen sagen, mit der polnischen Regierung zu verhandeln, die Legitimation habe nur ich. Wenn sie trotzdem zu verhandeln versuchten, werde ich das Resultat nicht anerkennen. Dagegen sei ich bereit, sie als Sachverständige und Berater zu meiner Kommission zuzulassen. Dieses nahmen sie an. Sie sagen, Eile tut not. Die Soldaten in Oberost wollten nach Hause und seien kaum noch zu halten. Wenn die polnische Regierung Schwierigkeiten mache, würden sich die sechshunderttausend Mann mit Gewalt einen Weg durch Polen bahnen. Dieses scheint auf Sczeptycki Eindruck gemacht zu haben.
Warschau. 26. November 1918. Dienstag
Heute vormittag in unsere von der Regierung gestellten Büros eingezogen, Ujazdowska 22, Hinterhaus. Kleine-Leute-Wohnung; in die gute Stube, die den Eingang bestreicht, kommen ein Maschinengewehr und sechs Mann.
Vormittags beim Unterstaatssekretär Filippovicz. Ich richtete an ihn erneut die Frage, wann die von der polnischen Regierung in ›Schutzhaft‹ genommenen deutschen Beamten befreit werden würden. Er antwortete, es sei nicht gut möglich, sie alle auf einmal herauszulassen, er wolle sie ›in batches‹ von drei oder vier befreien, die ersten bereits diese Woche.
Niemozecki, den ich traf und der polnischer Geschäftsträger in Berlin werden soll, sagte, er sehe eine weitere Radikalisierung der Verhältnisse und der Regierung hier spätestens in einigen Wochen voraus, auch wahrscheinlich Unruhen. Die polnische Telegraphenagentur (WAT) verbreitet inzwischen einen Artikel des Djiennik Poznansk (Korfanty), wonach ich von jeher linksdemokratisch, ja Internationalist gewesen sei. Mein Zusammentreffen mit der Baumgarten (bei Breitscheid) wird ausgebeutet, offenbar, um alle rechtsstehenden und bourgeoisen Kreise gegen mich einzunehmen und der Entente in die Arme zu treiben. Korfanty hat am Tage der Kundgebungen gegen mich von meinem Fenster aus eine glühend ententophile Ansprache an die Menge gehalten.
Plötzlich um ein Uhr ist unsere Wache abmarschiert. Es sei von der Kommandantur Befehl gekommen, daß sie sofort dorthin zurückkehren solle. Meyer hingeschickt, um zu sehen, was los ist, und erneut Bedeckung zu verlangen.
Abends gegessen beim Schweizer Konsul Wettler mit dem norwegischen Konsul und einem Ehepaar Lippmann oder Lippert, sie Polin, er Reichsdeutscher und früher bei der Zivilverwaltung beschäftigt. Sie erzählte einen Sketch, den sie gestern im Kabarett ›Mirage‹ gesehen habe: Ein Jude bekommt nicht die Telephonverbindung; er bittet, schimpft, droht, schließlich ruft er ins Telephon: »Wenn ich jetzt nicht sofort den Anschluß bekomme, gehe ich zu Beseler. Ach nein, Beseler ist nicht mehr da; aber, Fräulein, wenn Sie mir nicht sofort den Anschluß geben, gehe ich zu Kessler, der hat ja Beseler ersetzt.« Darauf bekommt er den Anschluß umgehend. Stimmungsmache, recht geschickte. Eine Zeitung schreibt, Hunderte von Polen und Deutschen hätte ich im ›Bristol‹ am ersten Tage empfangen; deshalb sei das Volk erbost gewesen und habe demonstriert, weil dieser Strom von Besuchern verdächtig war. Natürlich habe ich nicht Hunderte, sondern höchstens ein paar Dutzend Leute gesehen.
Warschau. 27. November 1918. Mittwoch
Die Wache ist wieder da, neun Mann im Vorderzimmer mit einem deutschsprechenden Sergeanten. Vormittags kam Morawski, um mir seinen Stellvertreter, einen Grafen Raczynski, vorzustellen. Auf die Note kam er nicht zurück. Ferner besuchte mich Studnicki, der wegen seiner bei mir im ›Bristol‹ vom Mob gefundenen Visitenkarte durch die Zeitungen arg zerzaust worden ist. Er möchte die polnischen ›östlichen Provinzen‹, das heißt ein großes Stück Rußland, haben. Die Polen entwickeln einen Appetit wie ein neu aus dem Ei gekrochener Sperling. Studnicki ist ein kleiner, etwas unordentlicher schwarzer Mann mit hübschen, guten Augen, der sehr schlecht Deutsch spricht, aber Deutschland lieben soll. Etwas Theoretiker und Idealist, wie mir schien, ohne viel Gefühl für das Reale.
Warschau. 28. November 1918. Donnerstag
Von Berlin habe ich noch immer keine Weisungen, überhaupt keine Antwort auf meine Telegramme über die Bugetappe.
Abends aß ich im ›Angielski‹ mit dem bisherigen deutschen Direktor der polnischen Darlehnskasse Theusner und Otto Fürstner. Das Lokal bei Musik überfüllt, auch viele hübsche, ganz elegante Frauen. Gegenüber in einem Hause sah man durch das Fenster Legionäre mit Mädchen tanzen. Auf der Straße zog einmal ein Zug Demonstranten vorbei, die ›Nieder mit der Regierung‹ johlten. Beim Weggehen zog mich der Oberkellner schnell durch eine Seitentür. Fürstner, der mit Theusner die Treppe vorn herunterging, sagte, vier oder fünf junge Leute, darunter ein polnischer Offizier, hätten draußen auf mich gewartet und meinen Namen gerufen; offenbar einen Affront vorgehabt. Sie wollen sich noch schnell für den Einzug der Entente Verdienste erwerben; nicht sehr tapfer, aber klug.
Warschau. 29. November 1918. Freitag
Heute früh steht an den Litfaßsäulen ein großes Plakat ›Zu den Waffen‹, das zum Kriege gegen Deutschland aufruft. Keine Unterschrift. Offenbar nationaldemokratische Arbeit mit Ententegeld. Mittags stehen vor diesem Plakat überall kleine Gruppen, die es still studieren. Studnicki, der vormittags bei mir war, bat mich, ihm keine Bedeutung beizumessen.
Warschau. 30. November 1918. Sonnabend
Mein polnischer Diener Biskupick meldet morgens beim Wecken, daß heute nacht ›Tausende von Menschen‹ vor dem Haus Ujazdowska 22, wo unsere Büros sind, bis um fünf Uhr früh demonstriert hätten; sie hätten den Sdrusz (Portier) herausgeholt und wissen wollen, wo ich wohnte. Der Sdrusz behauptet, sie hätten gedroht, ihn zu erschießen, wenn er meine Adresse nicht verrate. Viele Frauen seien bei den Demonstranten gewesen. Sie sind bis in unsere Räume vorgedrungen.
Nach den Morgenzeitungen, die mir Roth auf dem Büro vorliest, ist gestern abend um elf Uhr das Ministerpräsidium von der Menge gestürmt worden; sie haben die Minister haben wollen. Vor unserem Büro ist wahrscheinlich derselbe Pöbelhaufen um ein Uhr angelangt: Beweis, wie eng die Hetze gegen uns mit der gegen die Regierung zusammenhängt.
Um zehneinhalb vormittags wird mir mitgeteilt, daß unsere Gesandtschaftswache den Befehl zum Abmarsch erhalten hat. Daraufhin schicke ich das Personal nach Hause, schließe die Büros und entsende Meyer, um Rücksprache zu nehmen und zu protestieren, zum Unterstaatssekretär Filippovicz. Er wird wieder Worte, aber keinen Schutz geben. Eine ordnungsmäßige Arbeit ist unter diesen Verhältnissen unmöglich.
Zeligowski, der neue Posener Polizeipräsident, besuchte mich in meiner Privatwohnung. Er sagt, daß ich offenbar beobachtet werde; unten vor der Tür habe er sehr verdächtige Gestalten herumlungern sehen. Ich steckte ihm, da er heute Korfanty und Scyda sehe, könne er ihnen sagen, nach meiner Ansicht handelten die N.D.s (Nationaldemokraten) sehr unvernünftig und gegen das Interesse Polens, indem sie mich zu vertreiben und die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen zum Bruch zu bringen suchten. Denn meine Arbeit hier gelte dem Versuch, einen ordnungsmäßigen Abtransport der Truppen aus der Ukraine im Einvernehmen mit der polnischen Regierung zu bewerkstelligen. Am Tage, wo diese Verhandlungen abgebrochen würden, würden sich unsere ukrainischen Truppen, fünfhunderttausend Mann, wohlausgerüstet mit Artillerie und Munition, nicht mehr halten lassen und über Polen herfallen, um sich gewaltsam den Weg in die Heimat zu bahnen. Am Tage, wo ich hier abführe, werde sich diese Truppenmasse in Bewegung setzen, und für das, was dann geschehe, müsse meine Regierung jede Verantwortung ablehnen. Ich sei der einzige Damm zwischen Polen und dieser drohenden Lawine; wenn die N. D.s mich beseitigten, werde sie wie eine Dampfwalze über Polen hingehen. Zeligowski schien beeindruckt und schlug eine Zusammenkunft zwischen mir und Korfanty vor heute nachmittag an einem dritten Orte.
Meyer kam von Filippovicz und sagte, dieser habe sich in Entschuldigungen überboten. Meyer hat in meinem Auftrag Requirierung einer leerstehenden Villa, ausreichenden militärischen Schutz unter einem zuverlässigen und deutschsprechenden Offizier und eine Audienz für mich bei Pilsudski gefordert.
Um sechs Uhr bei Pilsudski. Er ist ins Schloß Belvedere übergesiedelt. Vorfahrt in einem großen, vornehmen Hof, der dick beschneit und von den hell erleuchteten Schloßfenstern blaßrot beschienen ist. Adjutanten und Unteroffiziere flitzen in der Eingangshalle hin und her. Winiawa kommt heruntergeeilt und führt uns in ein Vorzimmer mit steifen Möbeln, in dem ein Papiermachémodell eines preußischen Gardedukorps aus den Befreiungskriegen unter einer Glasglocke steht; offenbar ein Geschenk Friedrich Wilhelms III. oder IV. an den Kaiser Nikolaus. Beseler hat es vielleicht ausgegraben.
Nach wenigen Minuten kam Winiawa zurück und führte Meyer und mich zu Pilsudski hinauf. Er empfing uns in einem großen altmodischen, ziemlich leeren Salon im ersten Stock. In Benehmen und Haltung bei aller Einfachheit schon ganz das Staatsoberhaupt. Eine merkwürdige Metamorphose seit meinem Besuch in Magdeburg. Er sieht krank aus, aschgrau und mager; klagte über seine Gesundheit. Die mystischen Augen aber brennen noch im blassen und zerfurchten Gesicht. Sorgenvoll und von einer tiefen Traurigkeit war der Ausdruck. Ich sagte, nachdem der Pöbel in der vorigen Nacht zum dritten Male in meine Gesandtschaft eingedrungen sei, müsse ich gewisse Forderungen stellen: ein eigenes Palais, das militärisch requiriert, jedoch von mir zum vollen Wert bezahlt werden solle (ich schlug Ujazdowska 11 vor, das leer steht und einem abwesenden Russen gehört); eine starke Wache unter einem zuverlässigen und deutschsprechenden Offizier.
Pilsudski versprach, diese Forderungen unter Vorbehalt einer Rücksprache mit der Regierung zu erfüllen, entschuldigte sich und setzte hinzu, die Kundgebungen richteten sich ebenso gegen ihn wie gegen mich. Bisher habe er versucht, in Güte auszukommen. Jetzt sei er aber entschlossen, die Unordnung auch mit Gewalt zu unterdrücken. Er habe Befehle gegeben, die vielleicht zu Blutvergießen führen würden (indem er dieses sagte, wurde sein Gesicht noch blasser und grauer; ein schauerlicher Kampf und Schmerz war darin sichtbar). Schon heute nacht würden einige Verhaftungen vorgenommen. Die Nationaldemokraten hätten es nicht anders gewollt. Er bedauere die Notwendigkeit, sein Entschluß sei aber fest. Er werde den Bolschewismus von rechts ebenso niederhalten wie den von links. Allerdings könne er mir nicht verhehlen, daß die Erregung der Bevölkerung gegen die Gesandtschaft nicht ohne Ursache sei. Die Meldungen über Greueltaten unserer Soldaten im Buggebiet, der Ausschluß der polnischen Beamten aus dem zweifellos zum polnischen Staate gehörenden Gebiet von Suwalki, die durch das Zurückgehen unserer Truppen in Litauen und Weißrußland verursachte Furcht vor den nachrückenden russischen Bolschewiki böten einen großen Agitationsstoff. Er müsse mir sagen, daß, wenn die Dinge so weiterliefen, er selbst vielleicht in einigen Tagen gezwungen wäre, gewisse Anordnungen zu treffen (also ein drittes Ultimatum).
Ich erwiderte, die Leute, die hier zum Bruch und zur Abberufung der Gesandtschaft trieben, schienen mir merkwürdig töricht. Denn wenn es zum Abbruch der Beziehungen und Verhandlungen komme und unsere Soldaten in der Ukraine dieses erführen, würde nichts sie halten; sie würden sich selbständig und gewaltsam einen Weg durch Polen in die Heimat bahnen. Meine Abberufung werde das Signal sein, auf das sich diese Masse in Bewegung setze; und ehe die Entente Hilfe bringe, werde Polen schon zerstampft sein. Pilsudski gab mir völlig recht, selbst der schweigsame Winiawa stimmte zu.
Wieder habe ich den Eindruck erhalten, daß Pilsudski einen Ausgleich mit uns sucht und fest und klaren Blickes seinen Weg geht; fraglich ist, welche Macht ihm zur Verfügung steht oder welche Macht er sich noch rechtzeitig schaffen kann. Gegen die Einmischung der Entente und gegen den Bolschewismus genügen Einsicht und Wille nicht. Er selbst sagte, die N.D.s wollten durch alle Mittel und unter anderem durch die Hetze gegen mich einen Zwischenfall hervorrufen, der den Einmarsch der Entente zur Folge habe. Ganz sicher, daß ihnen dieses nicht gelingen werde, schien er nicht.
Nach meiner Unterredung nach Berlin telegraphiert, noch einmal auf die Gefahren der Bugetappenfrage aufmerksam gemacht und wieder dringend um Weisungen gebeten. Seit meiner Ankunft in Warschau habe ich trotz der kritischen Lage und des Ultimatums kein einziges politisches Telegramm oder anderes Schriftstück aus Berlin bekommen. Das Auswärtige Amt antwortet auf nichts. Meyer meint, vielleicht sei es so in der Auflösung begriffen, daß niemand eine Entscheidung zu fällen wage. Nach unverbürgten Nachrichten soll Eisner den Rücktritt von Solf und Erzberger gefordert haben. Meyer sagt, das ganze Amt werde sich mit Solf solidarisch erklären und mit ihm zurücktreten. Mit Meyer allein gegessen in einer kleinen Weinstube. So endet dieser weltgeschichtliche Monat November 1918, der neben dem August 1914 ewig einen denkwürdigen Klang haben wird.
Warschau. 1. Dezember 1918. Sonntag
Auch heute noch keine Weisungen und kein Feldjäger. Es ist, als ob man uns in Berlin vergessen hätte.
Wir haben jetzt in unserem Haus Ujazdowska einen Zug Infanterie und zwei Maschinengewehre. Ein Posten steht auf der Straße vor der Tür. Pilsudski hat also Ernst gemacht. Außerdem sind uns neue Räume für die Gesandtschaft zur Verfügung gestellt.
Verschiedene Versammlungen nationaldemokratischen Charakters sind für heute angekündigt. Die eine abends um zehn auf dem Sachsenplatz, die jedenfalls zu Kundgebungen führen wird. Meine Wirtin in der Bodnena 4, wohin ich gestern gezogen bin, kam nachmittags sehr höflich, aber sehr ängstlich zu mir und gab zu erkennen, daß sie froh wäre, wenn ich auszöge. Ich werde in der Stadt gesucht vom Pöbel; man wisse nicht, was geschehen könne. Sie gab mir schließlich meine Papiere zurück, weil sie nicht riskiert, mich bei der Polizei anzumelden.
Abends Abschiedsessen beim Festungslazarett III, das morgen im Lazarettzug mit sämtlichen Kranken und Verwundeten nach Deutschland fährt. Es war unsere letzte geschlossene Formation in Polen. So endet die Besetzung dieses Landes, in das wir 1914 so hochgemut und mit solchen Hoffnungen einrückten. Jetzt muß ich froh sein, daß diese letzten armen Kerle, die hier nicht mehr sicher waren, heil herauskommen. Der Chef, ein Oberstabsarzt Haenisch aus Stettin, erwies sich als noch immer alldeutsch; seine Redensarten wirkten unter den traurigen Umständen dieses Abschiedsessens zugleich harmlos und ärgerlich. Als ich nach elf fortfuhr, bewegte sich ein großer Volkshaufen gegen das Belvedere, ›Prezd‹-(Nieder-)Rufe im Takte feierlich brüllend. Der Eindruck der dunklen, wilden Masse in der Nacht war schauerlich. Ich ging gegen ein Uhr zur Ujazdowska revidieren, ob alles in Ordnung sei. Die Wache meldete, die Volksmenge sei vorbeigezogen, ohne sich vor unserem Hause aufzuhalten.
Warschau. 2. Dezember 1918. Montag
Endlich heute durch den Feldjäger Weisungen aus Berlin erhalten. Die Oberste Heeresleitung einverstanden mit der Räumung der Bugetappe westlich des Bug bis auf einen Brückenkopf bei Brest-Litowsk, ferner mit dem Einrücken polnischer Truppen in Teile des Ostgebiets, ehe diese von uns geräumt werden, um das Nachrücken der Bolschewiki zu verhindern. Allerdings scheint es einen Kampf gekostet zu haben, denn die Einwilligung der O.H.L. ist vom 27., und am 26. erklärt Oberost in einem gleichzeitig eingetroffenen Schreiben die Räumung der Bugetappe noch für ausgeschlossen. An Pilsudski abends geschrieben und ihm das Einverständnis meiner Regierung mit der Räumung der westlichen Bugetappe mitgeteilt; sofortige Verhandlungen über die Modalitäten angeregt. Damit haben wir der Pilsudskischen Regierung einen Erfolg verschafft, der sie zweifellos festigen wird. Die gestrigen Versammlungen haben ebenfalls ein Fiasko der N.D.s gebracht.
Schoeber angekommen, das heißt seit gestern früh ist er hier, hat uns gestern den ganzen Tag gesucht, unterwegs zwischen Berlin und Thorn sein ganzes Gepäck verloren, liegt mit Fieber zu Bett, klagt über eine entsetzliche Reise. In Berlin hat er in den letzten Tagen gesehen, wie einem alten General am Knie in Charlottenburg die Achselstücke heruntergerissen wurden und wie am Potsdamer Platz ein blutjunger Leutnant Burschen, die ihm die Achselstücke nehmen wollten, einen Browning vorhielt: »Zehn Schritt vom Leibe, oder ich schieße.« Von Frankfurt bis Berlin ist er zwei Tage dritter Klasse gefahren mit Truppen aus der Etappe; die Demoralisation sei furchtbar, namentlich unter den Offizieren, die einfach fortgelaufen sind. Die Truppen aus der wirklichen Front dagegen noch immer glänzend. Den Kaiser bezeichnet Schoeber als Deserteur. Diese Erbitterung gegen den Kaiser gerade in konservativen Kreisen geht auch aus einem Artikel des roten ›Tag‹ hervor.
Abends besuchte mich der alte Graf Milewski. Vor vier Wochen habe er noch seinen Paß ins Belvedere zu seinem alten Freund Beseler getragen. Als er wiederkam, herrschte dort ›ce bolchévique de Pilsudski!‹ Als Edelleute müßten wir zusammenhalten gegen diese in allen Ländern wütende Kanaille.
Warschau. 4. Dezember 1918. Mittwoch
Nachmittags um fünf erste Verhandlung über die Räumung der Bugetappe beim Generalstabschef Sczeptycki im ›Bristol‹. Anwesend außer Sczeptycki der Unterstaatssekretär Filippovicz, sein Gehilfe Jodko, Winiawa, der Pilsudski vertrat, der Rittmeister Górka. Ich hatte Meyer, Rawicki, den Major Ritter, den Major Schmidt als Vertreter des Feldeisenbahnchefs und den Hauptmann Rabien als Vertreter von Oberost mitgebracht.
Jodko führte die Verhandlungen auf Seiten der Polen. Er begann sofort mit der Frage, innerhalb welcher Frist wir die Bugetappe bis zum Bug räumen wollten. Es werde der polnischen Regierung schwerfallen, sie über den 23. Dezember, zwölf Uhr mittags, zu verlängern. Ich antwortete, die Frist hänge nach unserer Auffassung ab von der Zeit, die nötig sei, um unsere Vorräte und Materialien fortzuschaffen. Hierzu sei das sachverständige Urteil eines Offiziers der Bugetappe nötig. Ich hätte heute telegraphisch den dortigen Chef hergebeten. Erst wenn ich diesen gehört hätte, werde es mir möglich sein, über Fristen zu reden. Sodann verlangte Jodko Organisierung und Bewaffnung der polnischen Bevölkerung in Litauen zum Widerstand gegen die Bolschewiki. Ich antwortete, ich werde mir Mühe geben, unsere Regierung zu bewegen, daß sie der polnischen Regierung ihre Absicht zu räumen eine angemessene Zeit vorher mitteile, so daß die Verteidigung vorbereitet werden könne. Hierbei erlaubte sich Jodko, Wünsche in bezug auf Posener Dinge vorzubringen. Ich wies ihn scharf zurück mit der Bemerkung, daß Posen vorläufig noch zum Deutschen Reich gehöre, ich daher jede Erörterung Posener Verhältnisse mit der polnischen Regierung ablehne. Er wurde sehr rot, aber schwieg.
Die Verhandlung fand im Schlafzimmer von Sczeptycki statt, der krank ist: einem großen gelbseidenen Raum mit Alkoven im Hintergrunde. Merkwürdige Köpfe unter den Teilnehmern: Sczeptycki selbst, ein schlauer Pole, der den Heißsporn und undiplomatischen Haudegen spielt; Jodko, ein alter Sozialdemokrat mit einem Sokrateskopf und einer scharfen, schulmeisterlichen Stimme, aber weicher, als er scheinen möchte; Winiawa, der Adjutant Pilsudskis, ganz, wie er sagt, Soldat und trotzdem noch mit einer sympathischen Pariser Quartier-Latin-Atmosphäre; Filippovicz, der aus dem Exil ein etwas brüchiges Englisch und die Haltung eines amerikanischen Professors zurückgebracht hat. Die Polen versuchten, äußerst bestimmt und hitzig in ihren Forderungen aufzutreten. Sie werden aber hauptsächlich vom Gefühl ihrer Schwäche getrieben.
Warschau. 6. Dezember 1918. Freitag
Heute lungern in den Straßen eine Anzahl französischer Kriegsgefangener aus deutschen Lagern; die meisten mit trikoloren Schleifen und Bändchen. Das Publikum achtete auf sie wenig. Dagegen hat Rabien gestern abend im Theater eine Ovation erlebt. Es gab die ›Schöne Helena‹. Vier französische Offiziere saßen im Proszenium. Agamemnon ist vorgetreten und hat das glorreiche Frankreich auf polnisch als Brudervolk begrüßt. Die Marseillaise ertönte. Ein französischer Hauptmann dankte aus der Loge, worauf wieder Marseillaise und tosender Beifall des Publikums. Eine Szene für Daumier oder Flaubert.
Nachmittags kamen aus Biala der Vertreter der Bugetappe, Major Wolpmann, und der Präsident des Soldatenrates der Etappe, Gefreiter Müller; sie sollen mich informieren wegen der Räumung des Buggebiets. Konferenz mit beiden auf der Gesandtschaft, nach der ich sie zum Diner mit Korff, Rawicki und Fürstner im ›Europejski‹ einlud. Der geschniegelte Generalstabsmajor und der in einen Schafspelz gehüllte Gefreite Müller, seines Zeichens Dekorateur in Essen, waren für ein elegantes Souper im Cabinet particulier des ›Europejski‹ selbst mir etwas merkwürdig. Korff erblaßte sichtlich, als ich mit dem Paar eintrat. Aber die Überlegenheit des einfachen Soldaten Müller über den Generalstäbler stellte sich so schnell heraus, daß die Befangenheit verwehte. Er kam ganz natürlich als der Besonnenste und Klarste in den Mittelpunkt der Unterhaltung. Der Major saß daneben wie eine Hofschranze, höflich und zustimmend, wogegen Müller mit einer unbefangenen, natürlichen Würde ihm die Meinungen vorschrieb und das Tafelgespräch beherrschte. Seine Aszendenz war so unwiderstehlich wie ein Sonnenaufgang. Plötzlich saß er als Führer da. Der bisherigen Organisation in Krieg und Frieden warf er vor allem ›den Herrenstandpunkt‹ vor. Der müsse aufhören, so dächten alle seine Kameraden, der Standpunkt: ›Wenn es dir nicht paßt, dort ist die Tür. Ich bin nämlich der Herr.‹ Dieser Standpunkt habe die Kluft zwischen Offizier und Mann erweitert, bis der Zusammenbruch erfolgte. Sie wollten Ruhe und Ordnung und für jeden einzelnen Freiheit und einen gerechten Anteil am Arbeitsertrag und Arbeitsregelung. Ich sagte, das ›Bildungs‹-Ideal sei durch den großen Zusammenbruch getötet; an seine Stelle müsse im neuen Deutschland das Ideal der Tüchtigkeit treten.
Müller stimmte begeistert zu. Das schmachvolle Verhalten der Truppen und Beamten in Warschau am 11. November vernahmen sowohl der Major wie sein Begleiter erst durch uns. Müller sagte, wenn seine Kameraden das erführen, wisse er nicht, was geschehen werde, so groß werde die Empörung sein, daß die Kameraden in der Etappe ihre Kameraden an der Front so schändlich im Stich gelassen hätten. Zur Räumung der Bugetappe meinten sowohl der Major wie Müller, wenn die Ukraine-Truppen das Gefühl bekämen, daß die Polen der Bahn zu nahe kämen, dann würden sie losbrechen. Niemand werde sie halten können. Sie wollten ›nach Hause‹; alles andere sei ihnen gleichgültig. Aber wenn dieses Ziel gefährdet werde, dann würden sie sich zusammenschließen und durchbrechen wie die Löwen.
Warschau. 7. Dezember 1918. Sonnabend
Ein Leutnant, der im Auftrage des Kriegsministeriums heute morgen aus Berlin eingetroffen ist, brachte die Nachricht mit, daß die Wahlen zur Nationalversammlung auf den 16. Februar anberaumt sind und daß Deutsch-Österreich wahrscheinlich mitwählen wird. So abgeschnitten sind wir, daß wir dieses nicht erfahren hatten. Außerdem erzählt er, daß die zurückkehrenden Fronttruppen aus dem Westen gar nicht rot sind, sondern mit ihren Offizieren an der Spitze einrücken. Die Unabhängigen und Spartakusleute würden dadurch sehr zurückgedrängt und seien schon verängstigt.
Vormittags Beratung bei mir mit Wolpmann und Müller über die Fristen für die Räumung des Buggebiets. Sie schlugen zwei Zonen vor, die erste bis zum 23. Dezember, die zweite bis zum 1. Februar zu räumen.
Nachmittags Verhandlungen im Generalstab bei Sczeptycki, zu denen ein Haufen von Menschen aus allerlei Ministerien herankam. Jodko führte wieder das große Wort. Er verhandelt im Tone der Volksversammlung und schweifte immer wieder über das eigentliche Verhandlungsthema hinaus nach Litauen, hierin unterstützt von Winiawa, der aufgeregt hineinquasselte.
Sczeptycki hatte nichts gegen den Durchtransport bewaffneter Kolonnen, Jodko erklärte aber, daß seine Vollmachten zu diesen Zugeständnissen nicht ausreichten; er werde mir schriftlich Bescheid geben. Wir würden also gegen Räumung der Bugetappe doch noch ein wertvolles Recht eintauschen. Das war der Höhepunkt der Diskussion, die im übrigen in den Formen des polnischen Reichstags vor sich ging. Alles redete durcheinander, Sczeptycki saß unbekümmert dabei, ließ reden, tat so, als ob er zu dieser Gesellschaft nur halb dazugehörte, was seinen Gefühlen auch entsprochen haben mag. Müller meinte nachher, das sei nichts gewesen; diese Art, eine Versammlung zu leiten, könne ihm nicht imponieren; ›mies, mies, eine ganz miese Sache‹. Der Einblick ins polnische Staatsleben stimmte ihn offenbar nachdenklich. Er selbst hatte, seine rote Binde um den Arm, die einzige verständige und eindrucksvolle Rede gehalten. Bemerkenswertes Bild: ein deutscher Gefreiter, der als Repräsentant der Revolution mit dem Chef des Generalstabes eines fremden Landes von gleich zu gleich verhandelt!
Abends aßen Wolpmann und Müller wieder bei mir. Müller meinte, ein Sieg wäre kein Glück für uns gewesen, denn er hätte die Klassengegensätze verschärft und verewigt. Infolge der Niederlage und Revolution werde das ganze Volk, näher zusammengeführt, gemeinsam zur Arbeit an Staat und Wirtschaft herantreten. Deshalb werde Deutschland durch die Niederlage stärker und glücklicher werden, wenn nur Ruhe und ein geordnetes und nicht durch den Feind versklavtes Wirtschaftsleben erhalten blieben. Allerdings, wenn die Entente uns zu Lohnsklaven herabdrücke, dann bedeute das einen neuen Krieg.
Warschau. 8. Dezember 1918. Sonntag
Endlich ist heute ein Kurier angekommen, aber ohne Zeitungen. Unter den Depeschen eine von Oberost an das Auswärtige Amt, in der Oberost die Unverschämtheit hat, auszusprechen, sie hätten versucht, mich über die wirklichen Verhältnisse in Oberost zu unterrichten, ›damit ich in Warschau nicht bloß polnische, sondern auch deutsche Interessen vertrete‹. Den Militärs von der Art des Generals Hoffmann ist noch immer nicht ihr Dünkel gebrochen. Man staunt, ob mehr Borniertheit oder mehr Frechheit in diesen verbrecherischen Maulhelden und Intriganten wie Hoffmann gesteckt hat. Zum Glück sind ihre Zähne zum Beißen schon zu locker. Diese Leute, die durch ihre Diplomatie Deutschland in die furchtbare Katastrophe hineingeritten haben, besitzen die Schamlosigkeit, noch diplomatische Vorschriften geben zu wollen.
Der Kurier erzählt, daß bei seiner Abreise aus Berlin am Freitag nachmittag eine Schießerei zwischen Spartakusleuten und Regierungstruppen gewesen sei, etwa zwanzig Tote.
Warschau. 9. Dezember 1918. Montag
Vollkommene Ruhe. Eine Krakauer Zeitung bringt noch einen Artikel, welch schlechten Eindruck auf die Entente meine Ernennung als Gesandter nach Warschau gemacht habe; Polen sei dadurch aus der Reihe der alliierten Länder ausgeschieden, habe sich neutral erklärt. In den Warschauer Blättern und in Grabskis Interviews aber nichts dergleichen. Krakau scheint nachzuhinken. In den Straßen sieht man eine Anzahl von zerlumpten französischen Kriegsgefangenen, Mannschaften und Offiziere. Sie tragen ostentativ trikolore Bändchen und Schleifen; das Publikum achtet aber kaum auf sie. Die große Mehrheit ist dieser Ententepropaganda gegenüber offenbar gleichgültig.
Abends nach einer Aufführung der ›Csardäsfürstin‹ ging ich mit Schmieden einem Straßenlärm nach, den man vom ›Bristol‹ her hörte. Etwa dreihundert bis vierhundert Leute, die aus einer N.D.-Versammlung kamen, schrieen vor Grabskis Fenstern (den früher meinigen) Hochs auf die Entente. Die Passanten eilten, ohne sich umzusehen, vorüber.
Warschau. 10. Dezember 1918. Dienstag
Vormittags erscheint bei mir ein kleiner Sekretär vom Auswärtigen Ministerium und überbringt mir ein Schreiben Wassiliewskis von gestern, wonach mir vom 9. an das Recht entzogen wird, Chiffretelegramme zu schicken.
Nachmittags um Viertel nach vier bei Wassiliewski. Er war bemüht, kalt und unfreundlich zu sein. Es sei aufgefallen, daß wir sehr viele Chiffretelegramme abschickten und empfingen; damit werde gegen die Regierung Stimmung gemacht. Sie seien in einer sehr schwierigen Lage. Die Maßregel könne zur Zeit nicht rückgängig gemacht werden. Ich sagte, leiden würden darunter hauptsächlich die Verhandlungen über die Bugetappe und Litauen. Wenn ich auf den Kurier angewiesen bliebe, so sei ein rasches Fortschreiten unmöglich. Wassiliewski antwortete, die Verhandlungen führten ja doch zu keinen Ergebnissen. Wir seien heute noch auf demselben Fleck wie vor drei Wochen.
Ich habe den Eindruck, daß die Regierung dem Ententedruck nachgibt, auch durch Verstimmung über die langen Räumungsfristen und Furcht vor der eigenen öffentlichen Meinung getrieben wird. Möglich ist, daß sie jetzt einen Befehl zur Räumung gegen uns von der Entente erwirkt. Was dann unsere Ukraine-Truppen machen, ob sie ruhig bleiben oder durchbrechen, steht dahin. Wenn sie durchbrechen, kann Frankreich das zum Vorwand nehmen, um den Waffenstillstand zu kündigen. Das Risiko, das für uns mit dem Abbruch der Beziehungen hier verbunden ist, ist daher unermeßlich. Unter diesen Umständen mich entschlossen, nach Kowno zu Oberost zu fahren, teils um mit Hoffmann zu verhandeln und Konzessionen in den Fragen der Bugetappe und Litauens zu erreichen, teils um ungestört mit der Regierung in Berlin sprechen zu können. Offen diese Absicht und das Verbot des Chiffrierens heute abend nach Berlin telegraphiert.
Warschau. 11. Dezember 1918. Mittwoch
Statt meiner Meyer nach Kowno geschickt. Ich sah ein, daß es bedenklich sei, wenn ich in der jetzigen kritischen Lage Warschau verließe. Meyer einen Bericht ans Amt und genaue schriftliche Weisungen mitgegeben für seine Verhandlungen mit Hoffmann. Strahl, der im Auswärtigen Ministerium war, ist von Morawski und Raczynski eisig empfangen worden. Offenbar ist eine Parole ausgegeben. Bluff oder Angst, Angst vor der Entente? Wahrscheinlich beides. Jedenfalls versuche ich den Bruch zu verhindern oder hinauszuschieben, weil die Gefahren, die er brächte, riesengroß sind, aber mit jedem Tage, den wir dem Frieden näher kommen, abnehmen. Außerdem ist mir Pilsudski auf der Friedenskonferenz lieber als der mit den Franzosen intime, ihr unbedingtes Vertrauen genießende Dmowski.
Warschau. 12. Dezember 1918. Donnerstag
Abends bei Korff mit B. zusammen, einem früheren höheren Beamten des russischen Auswärtigen Amtes, der Warschauer von Geburt ist und hier gute Beziehungen hat. Er erzählt, daß bei Pulawski, dem von uns eingesetzten früheren Kronmarschall, eine Versammlung stattgefunden habe, in der Grabski meine sofortige Entfernung aus Warschau verlangt habe; und zwar solle das so gemacht werden, daß Polen in Form eines Ultimatums von Deutschland die sofortige Räumung Oberschlesiens, Posens und Westpreußens mit Danzig fordere. Auf meine negative Antwort sollten mir die Pässe zugestellt werden. Pilsudski aber habe abgelehnt, indem er darauf hinwies, daß die polnische Armee keine Stiefel, keine Munition, keine Ausbildung habe; in diesem Zustande könne sie keinen Krieg gegen Deutschland führen. Die Kampagne in der Presse ist, wie B. sagt, der Überrest von Grabskis Bemühungen, von diesem organisiert und von zwei hier anwesenden Amerikanern, Daniel W. Strickland (Korrespondent der ›Saturday Evening Post‹) und Charles B. Sherman aus New York, mit großen Geldmitteln bezahlt. B. meinte (was mir nicht sehr wahrscheinlich scheint), daß sogar ein Attentat gegen mich möglich sei, da um jeden Preis der Bruch mit Deutschland herbeigeführt werden solle. Gegen Pilsudski sei vor vierzehn Tagen ein Komplott unter den Offizieren des Musnickischen Korps vorbereitet gewesen, aber vereitelt worden; er sollte verhaftet und erschossen werden.
B. sagt, Grabskis Hauptargument sei, daß Polen unter den sozialistisch angehauchten Nachbarstaaten – Deutschland, Ukraine, Rußland – der einzige den Kapitalisten Amerikas und Englands sichere werden müsse, indem es die sozialistische Regierung und mich hinausschmeiße, die N.D.s ans Ruder lasse und ein Bündnis mit der Entente abschließe. Dann werde ihm diese Ostelbien, Ostgalizien mit den Petroleumquellen, Litauen, Danzig anvertrauen und unermeßliches Kapital zur Verfügung stellen. Dadurch, aber nur dadurch könne Polen Großmacht werden. B., der vor fünf Wochen in Petersburg war, sagt, daß Hunderte von Leichen Verhungerter und Erfrorener in den Straßen unbeerdigt herumliegen; niemand kümmere sich darum.
Eine sehr merkwürdige Schilderung gibt er von Rasputin, den er persönlich gekannt hat. Er sei ein ganz ehrlicher Bauer gewesen und schon mit zwölf Jahren bei Hofe angestellt als Lampenanzünder, der die vor den heiligen Ikonen brennenden Lampen ansteckte. In dieser Eigenschaft sei er wohl auch nachts gelegentlich in die Zimmer der jungen Großfürstinnen gekommen, um die Lampen anzuzünden, aber dabei habe sich irgend etwas Besonderes nicht ereignet. Zu Anfang sei Rasputin vollkommen ehrlich und anständig gewesen. Dann habe ihn allmählich der Hof korrumpiert. Die Damen seien ihm, als sie merkten, daß er Einfluß hatte, geradezu in die Hosen gekrochen. So sei er schließlich ein Wüstling und Schlemmer geworden. Die Kaiserin habe nie intime Beziehungen zu ihm gehabt, sondern sich mit ihm nur gezeigt, um zu beweisen, daß sie eine gute orthodoxe Russin sei. Dadurch sei der Klatsch entstanden. Der Zar habe ihn ›als Stimme der schwarzen Erde‹ angesehen. Was brauchte er eine Duma, wenn Rasputin ihm die Stimme des Volkes direkt übermittelte? So sei allmählich ein ungeheurer Einfluß ihm zugefallen und eine entsprechende Menge Neid und Feindschaft gegen ihn entstanden. Im Kriege sei er immer gegen den Krieg gewesen. Das habe den Haß Englands und der Großfürsten-Partei noch gesteigert. England habe ungeheure Summen gegen ihn aufgewendet. Letzten Endes sei er immer der einfache Bauer und Lampenanzünder geblieben. Alles andere sei Romantik.
Als ich um zwei vor meinem Hause stand, wurde anscheinend jemand in der Nebenstraße umgebracht. Es gab schreckliche Angstrufe, dann mehrere Revolverschüsse, Leute liefen. Die Straßen sind noch immer recht unsicher.
Warschau. 13. Dezember 1918. Freitag
Tragikomödientag. Von der Buginspektion aus Biala waren mir zwei Vertreter angesagt, die mittags ankommen und mit Sczeptycki verhandeln sollten; ich möchte einen Vertreter schicken. Nachmittags um sechs erschienen bei mir ein Hauptmann Knackfuß, Generalstäbler, und der Gefreite Müller, der famose Soldatenratsvorsitzende von neulich. Sie erklärten, die Bugetappeninspektion sei bereit, das ganze Gebiet westlich des Bug bis auf den Brückenkopf von Brest bis zum 28. Dezember zu räumen; Knackfuß fügte hinzu, sie müßten es räumen, sogar wenn die Polen es nicht verlangten, da sie ihre Truppen zum Schutz der Bahn brauchten; die Landwehrleute an der Strecke seien unruhig und unzuverlässig geworden.
Um acht Uhr läßt sich der Chef der politischen Abteilung im Auswärtigen Ministerium, Dr. Bader, bei mir melden; er komme, um mir ein wenig angenehmes Schreiben zu überreichen, das ich aber vielleicht erwartet habe. Damit übergab er mir ein Schriftstück, in dem die polnische Regierung die diplomatischen Beziehungen zum Deutschen Reiche abbricht, mich bittet, ›immédiatement‹ mit der ganzen Gesandtschaft das Land zu verlassen, gleichzeitig aber die Hoffnung ausspricht, daß bei Rückkehr normaler Verhältnisse die Beziehungen wieder angeknüpft werden. Begründung des Bruches: der unbefriedigende Verlauf der Verhandlungen über die Bugetappe und über Litauen (Selbstschutz), die noch unbefestigten Regierungsverhältnisse in Deutschland, die Haltung von Oberost, die eine befriedigende Lösung der Schwierigkeiten als aussichtslos erscheinen ließen. Ganz besonders wird Bezug genommen auf die letzte Verhandlung und die lange Räumungsfrist, die einer Ablehnung des polnischen Vorschlags (Räumung bis zum 23. Dezember) gleichgekommen wäre. Unterschrieben war das Schriftstück vom Vizeminister Filippovicz.
Bader fügte hinzu, mündlich und vertraulich habe er mir mitzuteilen, daß die im Schreiben angeführten Gründe nicht die wirklichen seien; sondern in Wirklichkeit müsse die Regierung die Gesandtschaft bitten, fortzugehen, weil meine Person nicht mehr in Sicherheit sei und die Regierung nicht die Macht habe, mich zu schützen. Es seien zwei Komplotte gegen mich im Gange; das eine von Personen, die bereits öfter in der Gesandtschaft gewesen seien, das andere von anderen Elementen, die die Regierung nicht zügeln könne (vermutlich N.D.s). Sie wolle mir um jeden Preis, schon wegen der katastrophalen politischen Folgen, das Schicksal Mirbachs ersparen. Ich sagte Bader, es sei tragisch, daß der Bruch komme, gerade eine Stunde nachdem mir Oberost und die Bugetappe Konzessionen gemacht hätten, die mit Sicherheit einen günstigen Abschluß der Verhandlungen in Aussicht stellten. Ich betrachte den Bruch aber als Tatsache, an der nichts mehr zu ändern sei, und bäte morgen um einen Extrazug. Der Ton der Unterredung war im Gegensatz zu ihrem Inhalt freundlich und fast von einer gewissen Wärme.
Ich rief mein Personal zusammen, teilte ihnen den Bruch mit, schickte zu Wettler, damit er den Schutz der deutschen Interessen übernehme, ließ Ritter, den Soldatenrat, Knackfuß, Korff usw. benachrichtigen und sandte dann Strahl, wie mit Bader verabredet, zu diesem ins Auswärtige Ministerium, um die Einzelheiten der Reise zu verabreden. Nach einer Stunde kam Strahl sehr aufgeregt zurück, sagte, er habe mit Bader gesprochen, ihm noch einmal ›rein privatim‹ gesagt, wie unglücklich der Moment für den Bruch sei, da wir gerade heute große Konzessionen von Oberost erreicht hätten; darauf habe Bader ihn gebeten, einen Augenblick das Zimmer zu verlassen, da er mit dem Minister telephonieren wolle. Nach einer halben Stunde habe er ihn wieder hereingerufen und ihm gesagt, er müsse mich noch heute abend von neuem sprechen, ich möge alles, was heute geschehen sei, vertraulich behandeln und nichts weiter unternehmen, bis er bei mir gewesen sei.
Um elf erschien Bader, nahm den Mantel nicht ab, da er nur einen Augenblick bleiben wolle, bat mich, ihm das Schriftstück wieder auszuhändigen, da es einen Formfehler enthalte, von Filippovicz, statt vom Minister selbst, Wassiliewski, unterschrieben sei. Ich fragte, wie ich diesen Schritt auffassen, ob das Schriftstück damit aus der Welt geschafft werden solle? Bader sagte: »Ja, nul et non avenu.« Wassiliewski lasse mich bitten, ihn morgen zu besuchen. Ich sagte mich um elf bei ihm an. Damit waren nach einem dreistündigen Abbruch die Beziehungen vorläufig wieder angeknüpft. Über die Komplotte, ob die auch zurückgenommen sind, äußerte sich Bader dieses Mal nicht. Ein solches Beispiel von Wankelmütigkeit und Angst vor der eigenen Courage hat wohl selten irgendeine Regierung gegeben. Die Motivierung mit der ungültigen Unterschrift des Vizeministers ist die reinste Operette.
Warschau. 14. Dezember 1918. Sonnabend
Filippovicz ist zurückgetreten wegen des gestrigen Vorfalls. Um elf fuhr ich zu Wassiliewski (nebenbei bemerkt im Schlitten; Warschau ist ganz in Weiß gehüllt, prächtige Schlittenbahn). Er entschuldigte sich wegen des gestrigen Zwischenfalls; es sei ›Mißbrauch‹ getrieben worden; der betreffende ›Beamte‹, Filippovicz, sei ›sofort seines Amtes enthoben worden‹. Ich möge das mir überreichte Schriftstück als ungültig betrachten. Hierbei zeigte Wassiliewski auf die Unterschrift von Filippovicz hin; dieser habe nicht das Recht gehabt, ein solches Schriftstück zu unterschreiben. Wassiliewski war auffallend herzlich, ganz im Gegensatz zu seiner Haltung bei unserer letzten Unterredung. Ich sagte ihm, ich hätte weitgehende Vollmachten erhalten und bäte, daß baldmöglichst verhandelt werde; ich hoffte, daß wir uns noch heute einigen und den Vertrag über Buggebiet und Litauen paraphieren könnten. Wassiliewski war einverstanden und offenbar erfreut. Die Krisis scheint vorläufig vorbei; das Ministerium hat sich endlich fest für eine Politik, die der Neutralität, entschieden.
Nachmittags um viereinhalb Sitzung im Generalstab bei Sczeptycki. Ich nahm Meyer, Ritter, Rabien, den Gefreiten Müller, seinen Begleiter, den Hauptmann Knackfuß, und den Major Schmidt von Etra IV mit. Die Polen schickten Sczeptycki, Jodko, Górka, den üblen Eisenbahnmann, und einige andere. Ich brachte Punktationen mit. Eine Einigung in den großen Zügen über Bug und Litauen wurde rasch erzielt, die Detailarbeit einer Kommission übergeben, in die ich Meyer delegierte. So wurde über das Schicksal von großen, menschenreichen Gebieten, über Tausende von Einzelexistenzen entschieden – in wenigen Stunden, was sonst ein großer Krieg zuwege bringt. Oder richtiger, es wurde für diese Gebiete das Fazit des Krieges festgestellt – ohne innere Anteilnahme. Jodko drängte sich privatim an mich heran, sprach und saß ostentativ freundschaftlich mit mir. Auf Jodkos Wunsch wurde beschlossen, noch heute eine zweite Sitzung abzuhalten, um womöglich zu paraphieren. Es handelt sich um drei Verträge: über Bug, Litauen und Eisenbahnen und einen Zusatzvertrag, der Ausführungsbestimmungen enthält.
Die Abendzeitungen ergeben den Eindruck, daß durch Filippovicz' Sturz zwischen uns und der Regierung von Pilsudski eine einheitliche Front hergestellt ist. Wir haben eine Partei hinter uns bekommen, weil die Regierung jetzt mit mir steht und fällt. Gegessen in der Weinstube von Müller mit Schoeber, Meyer, Rabien und dem Feldjäger Oberleutnant Schuster. Ein Nachbartisch mit polnischen Offizieren nahm eine drohende und höhnische Haltung ein.
Warschau. 15. Dezember 1918. Sonntag
Heute sind die Beziehungen endgültig abgebrochen worden. Morgens um zehn kamen Bader und Morawski zu mir und überreichten mir ein diesmal von Wassiliewski unterschriebenes Schriftstück, das, auf eine Menge von mehr oder weniger faulen Gründen gestützt, die Beziehungen abbricht, genau gesagt ›unterbricht‹, und mich ersucht, ›immédiatement‹ mit der Gesandtschaft abzureisen. Bader sagte, Nachrichten, die sie ›aus dem Westen‹ hätten (soll wohl heißen Posen), und der Mangel eines Resultats bei den gestrigen Verhandlungen hätten den Entschluß hervorgebracht.
Ich protestierte energisch gegen den zweiten Grund, da volle Übereinstimmung erzielt war und Jodko mir abends, beim Aufschub der Unterzeichnung, keinen einzigen Punkt gesagt hat, an dem er noch sachlich etwas auszusetzen hätte. Den Aufschub begründete Jodko lediglich mit dem Wunsche, die Formulierung der Verträge noch nachzuprüfen. Hierauf wußte Bader nichts zu erwidern. In Wirklichkeit ist natürlich ein energischer Druck der Entente erfolgt, die die Kaltstellung von Filippovicz sich nicht gefallen läßt und als Sühne die sofortige Entfernung der Gesandtschaft gefordert hat.
Gleichzeitig mit der Notifizierung des Abbruchs wurden mir zwei Schriftstücke überreicht, in denen in einem höchst erregten und arroganten Ton gegen angebliche Greuel unserer Truppen im Buggebiet protestiert wird; offenbar für ein Weißbuch bestimmte Machwerke. Uns trifft an diesem Abbruch keine Schuld; wir haben uns hier in Warschau Unerhörtes gefallen lassen, ohne jemals die Konzilianz und die Versuche, auszugleichen, aufzugeben. Auch habe ich auf Oberost und Regierung immer den möglichsten starken Druck ausgeübt, damit sie den Polen entgegenkämen. Pilsudski und die polnische Regierung wollten offenbar den Bruch nicht. Aber die N.D.s, gestützt auf Frankreich, haben ihn erzwungen. Frankreich zeigt sich auch hier unersättlich in Rachgier und Ehrgeiz, sein dämonischer Haß ist durch unsere Niederlage, wie es scheint, in keiner Weise gedämpft worden. Auch künftig wird es gegen uns hassen und kämpfen, bis es selber oder wir zugrunde gehen.
Nachmittags melden Extrablätter den Abbruch oder die ›Unterbrechung‹ der Beziehungen mit Deutschland. Das Publikum kauft sie ziemlich eifrig. Gülpen, den ich zu Pilsudski wegen Freilassung der festgesetzten Polizeikommissare schickte, berichtet, Pilsudski sei sehr freundlich gewesen, habe aber gesagt, jetzt könne er zum ersten Male wieder frei atmen, so sei er von rechts und links bedrängt worden. Den ganzen Tag kamen Deutsche, die sich Ausweise zur Abreise mit der Gesandtschaft holten. Um fünf besuchte mich der Schweizer Konsul Wettler, dem ich den Schutz der deutschen Interessen übertragen will. Er übernahm ihn provisorisch, sagte aber, er müsse unter den veränderten Umständen bei seiner Regierung anfragen, ehe er ihn endgültig übernehme. Gegessen dann im ›Europejski‹ im großen Saal, wo im Nachbarsaal gleichzeitig ein großer Rout polnischer Soldaten und Damen vor sich ging; Musik, Jugend, Begeisterung, eine Stimmung wie im Manöver.
Um zehn meldete sich bei mir als Begleitungsoffizier ein junger polnischer Leutnant, Leutnant Bednarz, der bis zur Grenze mitfährt, gleich nachher ein zweiter Offizier, dann ein Automobiloffizier mit einem Personen- und einem Lastauto. Vor der Tür patrouillierte Miliz. Der Bahnhof militärisch besetzt. Gülpen hat von einem befreundeten Legionsoffizier eine Warnung erhalten, ›man befürchte den Anschlag irgendeines Verrückten‹. Bednarz drängte uns schnell durch die Menge durch, die neugierig, aber ruhig war. Am Bahnsteig stand der Extrazug vorgefahren mit meinem Salonwagen, einem Personen- und einem Gepäckwagen. Wir nehmen etwa sechzig Personen mit; die meisten Deutschen sind in Warschau geblieben. Um halb zwölf kam ein Vertreter des Ministeriums des Auswärtigen und richtete mir einen Abschiedsgruß vom Minister aus. Gegen Filippovicz soll ein Disziplinarverfahren eingeleitet sein.
Auf dem Bahnsteig dauerte das Durcheinander von Gepäck, Personal, patrouillierenden Soldaten etwa eine Stunde. Ein großer Teil der Akten kommt, da Kisten heute nicht zu haben waren, unverpackt mit; ganze Schübe, die in den Gepäckwagen hineingeworfen werden. Sonst waren die Vorkehrungen, die die Polen getroffen hatten, mustergültig. Um zwölf fuhren wir aus dem Bahnhof. Die beiden polnischen Leutnants, von denen der eine, Bednarz, gut Deutsch spricht und ein Mitkämpfer vom Styr ist (mit siebzehn Jahren Legionär, jetzt einundzwanzig, seit vier Jahren im Krieg), hatte ich in meinen Salon eingeladen. In freundschaftlichster Stimmung saßen sie mit uns um unseren Tisch. Nichts von der Möglichkeit, daß wir morgen Feinde sein könnten, trübte das Gefühl. Gegen halb zwei hielten wir, und es hieß, wir führen nach Warschau zurück; die Strecke nach Alexandrowo sei nicht frei, wir müßten über Mlawa und Ostpreußen fahren. Um zwei waren wir wieder im Vorbahnhof Warschau und fuhren langsam um die Stadt herum in die andere Strecke ein.
Mlawa. 16. Dezember 1918. Montag
Kurz nach zwölf meldet sich bei mir ein preußischer Leutnant mit Achselstücken. Nach halb eins konnten wir aus Mlawa fort. Die polnischen Offiziere standen salutierend, als wir ausfuhren. Um ein Uhr sieben Minuten über die Grenze bei Illowo. Der Kommandant des Grenzschutzes, ein Ulanen-Rittmeister, meldete sich mit seinem Adjutanten und fragte, warum die Gesandtschaft fortführe. Ich antwortete, weil sie mich herausgeschmissen hätten; aber kein Kriegszustand. Immerhin sei Vorsicht geboten. Der Rittmeister sagte, bei ihm sei alles ruhig; aber in Westpreußen, dicht hierbei, werde die polnische Bevölkerung unbotmäßig: beim geringsten Anstoß könne die Lage umschlagen. Seine eigenen Leute seien vernünftig. Übrigens trug auch er die Achselstücke, aber mit roten Streifen.
Berlin. 17. Dezember 1918. Dienstag
Früh um acht in Berlin. Mein Personal und Gepäck ausgeladen am Bahnhof Friedrichstraße. Fahrt durch die Stadt am frühen Morgen. Brandenburger Tor, Pariser und Potsdamer Platz mit Girlanden bekränzt und im Flaggenschmuck für die rückkehrenden Truppen. Auffallend, daß keine rote Fahne mehr zu sehen ist; alles nur Schwarz-Weiß-Rot, Schwarz-Weiß und vereinzelt Schwarz-Rot-Gold. Mannschaften und Offiziere gehen meistens wieder mit Kokarden und Achselstücken. Der Unterschied gegen Mitte November ist groß.
Um halb zehn kam ein Reporter von der ›BZ‹ (Dr. Leimdörfer), um mich zu interviewen. Um elf gab ich Ludwig Stein ein politisches Interview für die ›Voss‹. Stein sagt, ich sei von gewissen Leuten als Nachfolger von Solf zum Staatssekretär ausersehen. Dann ging ich ins Amt zu Solf, um ihm zu berichten. Ich fand ihn sehr geknickt, mit grauer Gesichtsfarbe und ganz an der Möglichkeit, die Geschäfte des Staatssekretärs unter dem jetzigen Regime zu führen, verzweifelnd. Mit dem, was ich in Warschau getan habe, erklärte er sich vollkommen einverstanden. Fragte, was ich zu einem Protest wegen Ausschreibung der Wahlen durch die polnische Regierung auf Reichsgebiet meine; die Beziehungen seien ja bloß unterbrochen, nicht abgebrochen. Ich erklärte mich einverstanden.
Von Solf ging ich zu Haase ins Reichskanzlerpalais. Haase empfing mich sehr freundlich, billigte ausdrücklich meine Tätigkeit in Warschau, ›niemand hätte mehr tun können; ich sei einer vis maior erlegen‹. Der überwiegende Eindruck, den Haase macht, ist der einer großen Geschmeidigkeit bei fundamentaler Härte; die eiserne Faust im Gummihandschuh. Ein kleiner, verbissener, etwas jesuitischer Jude mit klugen, harten Augen.
Berlin. 18. Dezember 1918. Mittwoch
Als ich nachmittags gegen zwei aus dem Amt kam, marschierte gerade eine aus dem Felde zurückkehrende Division durch die Linden ein. Die Soldaten alle im Stahlhelm, zum Teil bekränzt, Blumensträuße an Rock und Gewehr; Protzen und Geschütze mit Girlanden geschmückt, zahllose schwarzweißrote, preußische und großdeutsche Fahnen, kleine und große in der Marschkolonne wehend, keine einzige rote; die Offiziere mit Blumen bekränzt zu Pferde an der Spitze ihrer Formationen. Rechts und links eine ungeheure Menschenmenge schwach hurra rufend; aus den beflaggten Häusern Winkende. Mir schnitt das Schauspiel ins Herz, Wehmut, Scham, Trauer, Liebe zu diesem tapferen Heer, das ruhmbedeckt, aber unglücklich einzieht. Das Pathos dieser gewaltigen Tragödie hier Unter den Linden in diese blumengeschmückte Wehmut ausmündend.
Berlin. 19. Dezember 1918. Donnerstag
Der Kongreß der A.u.S.-Räte im Reichstag zankt sich weiter und wird von Zeit zu Zeit von unlegitimierten Deputationen vergewaltigt. Liebknecht erreicht mit seiner Agitation eine allgemeine Beunruhigung. Die Regierung scheut sich, energisch durchzugreifen; und wenn sie dieses nicht jetzt tut, ehe die Fronttruppen demobilisiert sind, werden später die Spartakusleute, die bewaffnet sind und dreißig Mark täglich erhalten, Oberwasser haben. Der dreiundfünfzigste Ausschuß der Matrosen, die den Marstall und andere Gebäude halten, ist schon zu Liebknecht übergegangen. Metternich ist vor vierzehn Tagen auf einem Flugzeug nach Holland entkommen. Seitdem sind die Matrosen immer radikaler geworden; Folge der Liebknechtschen Bearbeitung und Geldmittel.
Berlin, 20. Dezember 1918. Freitag
Nachmittags Sitzung bei Lewald wegen Einleitung einer Untersuchung über die Mißbräuche in Polen. Der frühere Verwaltungschef Kries und Geheimrat Überscheer nahmen daran teil. Lewald war es darum zu tun, die ihm unterstellte Zivilverwaltung zu rechtfertigen. Kries gab die Korruption der unteren Stellen zu. Am Anfang sei alles unbestechlich, 1916 dagegen schon eine starke Bestechlichkeit der unteren und mittleren Stellen zu merken gewesen. 1917 wäre der große Umschwung zur allgemeinen Korruption bis ziemlich weit hinauf eingetreten. Die Juden hätten sich an die Leute herangemacht und sie korrumpiert. Den Polen sei diese deutsche Korruption härter, drückender und ärgerlicher als die russische gewesen, weil bei den Russen auch die höchsten Beamten bestechlich waren, die Bestechung daher sicher zum Ziele führte, während bei den Deutschen manchmal eine niedere Stelle, nachdem sie Geld bekommen hatte, nicht durchdrang, der Geldgeber also sein Geld oft umsonst los wurde.
Berlin. 21. Dezember 1918. Sonnabend
Mittags Beisetzung der Putschopfer vom 6. Dezember. Durch Liebknecht inszenierte Demonstration. Trauerzug von der Siegessäule, wo die Särge aufgebahrt waren und Liebknecht redete. Ich traf den Zug am Potsdamer Platz. Die Särge zu zweien auf gewöhnlichen Rollwagen, bedeckt mit roten Blumenkränzen und Schleifen. Bierkutscher fuhren sie im Arbeitsanzug, den runden Straßenhut auf dem dicken Schädel. Hinterher zuerst rote Matrosen, dann mehrere tausend Männer und Frauen, gut geordnet mit zahlreichen roten Fahnen und Tafeln, die an Stangen mitwanderten und wie Mohnblumen an langen Stielen über dem unabsehbaren schwarzen und grauen Zug hin und her schwankten. Das Ganze nicht sehr schrecklich oder feierlich, aber herb malerisch im Dezembersonnenschein.
Oscar Fried besuchte mich. Er kommt aus der Ukraine, wo er dirigiert hat. Erzählte von der Auflösung unserer Truppen und ihrer Gefährdung durch den ukrainischen Bürgerkrieg, der zu Petljuras Gunsten ausschlägt. Die Entente mache nichts, werde sich auch wahrscheinlich hüten hineinzugehen. Fried war bei Petljura selbst in seinem Hauptquartier, ist dann bei der Rückreise nach Deutschland in allerlei Kämpfe und Schießereien hineingekommen.
Nachmittags in der Sitzung des Preußischen Staatsministeriums Bericht erstattet über Polen. Die meisten Minister – Rosenfeld, Hirsch, Braun usw. – jüdisch. Südekum mit seinem weißen, vornehmen Botschafterkopf der einzige Vertreter des Ancien régime, auch der einzige, soweit ich hörte, der die andren mit ›Herr‹ anredet. Üblich ist unter den Ministern in der Debatte die Anrede ›Genosse‹. In dem geschmacklosen, in W. II.-Barock dekorierten Sitzungssaal mit vier schlechten Hohenzollern-Prunkbüsten in den Ecken wirkt die sozialdemokratische Phrase noch weniger unästhetisch als die höfische. Praktisch wichtig war, daß ich die militärische Schwäche der Polen feststellte. Beherrscht wurde die Debatte vom Bewußtsein unserer Ohnmacht. Im ganzen war der Eindruck, den die Korona auf mich machte, der einer Stadtverordnetenversammlung; salopp und schwunglos.
Im Amte berichtete mir, als ich zurückkam, Meyer, daß, was wir befürchteten, eingetreten sei: unsere Truppen in der Ukraine seien losgebrochen und würden wahrscheinlich auf eigene Faust durch Polen zurückmarschieren. Anlaß: Petljuras Leute haben ihnen vertragswidrig die Bahnstrecke Golocz–Kowel gesperrt. Deshalb sind sie wild geworden und selbständig losmarschiert. Verschiedene Funksprüche, auch einer an die polnische Regierung, sollen noch heute abend abgehen. Die Gefahr besteht, daß der Waffenstillstand deshalb gekündigt wird. Die Polen werden jedenfalls das Losbrechen der Truppen als eine abgekartete Sache und eine Wiedervergeltung für meine Ausweisung auffassen.
Berlin. 22. Dezember 1918. Sonntag
Paul Cassirer besucht, der aus der Schweiz kommt, wo er mit Schickele in Verbindung mit den französischen Sozialisten steht. Er sagt, Grumbach sei jetzt ganz für uns gewonnen aus Abscheu vor dem französischen Imperialismus und bearbeite die ›Humanité‹ in unserem Sinne. Auch hätten sie jetzt die N.K.-Agentur ganz zur Verfügung und könnten durch sie Nachrichten in die Northcliffe-Presse lancieren. Hier hat er mit Bolschewiki (Spartakus) gesprochen und skizzierte ihr Programm, das keinen Frieden mit den Entente-Imperien will, im Gegenteil den Krieg bis aufs Messer, mögen dabei die deutschen Bourgeois verhungern. Sie wollen die Entente zwingen, mobil zu bleiben, damit die Revolution bei ihnen ausbreche. Die deutsche Revolution bis jetzt bezeichnet Cassirer als nichts anderes denn eine große Schiebung. Nichts Wesentliches sei geändert, nur einige Vettern hier und dort hineingeschoben. Für später sei Spartakus eine Gefahr. Die Mehrheitssozialisten würden zwar in der Nationalversammlung die große Majorität für sich haben, die Verhältnisse seien aber für die Spartakusleute und würden die ruhige Arbeit der Majorität verhindern.
Als ich um eins aus dem Amte kam, zog wieder wie neulich eine aus dem Felde heimkehrende Division durch die Linden ein im Stahlhelm und geschmückt mit Blumen. Aber an der Ecke der Wilhelmstraße erwarteten sie Scharen von Kriegsverstümmelten, die ihre Krücken hochhoben und Plakate trugen: ›Keine Gnade, nur Recht‹ und ›Wir wollen die Schuldigen hinauswerfen, die uns in Elend und Not führten.‹ Ein langer Zug von solchen Unglücklichen, offenbar von Liebknecht herdirigiert, bewegte sich als Demonstration der einziehenden Division entgegen, bedrängte sie, hielt sie auf, brach in ihre Reihen ein. Es war ein peinliches Schauspiel, das offenbar auf die Heimkehrenden einen tiefen Eindruck machte. Alle Gesichter waren ernst, die Stimmung bedrückt, das Publikum ärgerlich, aber still.
Gefrühstückt im ›Adlon‹ mit Rudi Schröder, den ich seit Kriegsanfang nicht gesehen hatte. Er deklamierte mir nach Tisch drei Gedichte an Hofmannsthal. Seine Lebenspläne sind durch die Revolution umgeworfen.
Berlin. 23. Dezember 1918. Montag
Sitzung unseres Ausschusses für auswärtige Politik: Prittwitz, Roediger, Schott usw. Ich warf die Frage auf, ob und welche auswärtige Politik wir jetzt haben könnten, auch mit welchen Methoden die neue Politik durchzuführen sein werde, nachdem mit der alten Machtpolitik die ihr angepaßten bisherigen Methoden gleichfalls unbrauchbar geworden seien. Als ich gegen fünf mit Roediger aus der Deutschen Gesellschaft ins Amt hinüberging, bemerkten wir an der Tür eine Auseinandersetzung zwischen bewaffneten Matrosen und irgendwelchen Leuten, die aus dem Amte herauswollten. Wir achteten nicht darauf und gingen hinein. Abends gegen zehn hieß es, irgendwo sei wieder eine Schießerei gewesen; es gebe zwanzig Tote. Die einen sagten, am Potsdamer Bahnhof, die anderen, am Alexanderplatz. Ich fuhr nach dem Alexanderplatz, um zu sehen, was los war, und bekam hier die richtige Auskunft, die Schießerei sei in der Nähe des Schlosses gewesen. Am Marstall standen Gruppen von Matrosen, die erzählten, ihre Kameraden seien vor die Kommandantur gerückt, um Löhnung zu fordern. Plötzlich sei von der Universität auf sie geschossen, zwei Mann tot; darauf hätten sie den Stadtkommandanten Wels verhaftet und in den Marstall abgeführt. Dieses sei gegen acht gewesen.
Als ich die Linden hinunter an die Universität kam, rückte in der Dunkelheit ein Regiment in Sturmhauben vor: große, schöne Leute, in denen ich erst nach einiger Zeit 3. Garde-Ulanen, mein eigenes Regiment, erkannte. Einige junge Offiziere, Schimmelmann, Krieglstein, erzählten, Ebert habe sie hergeholt und vorhin eine Ansprache gehalten. Halb zerlumpte Soldaten von der Straße und Zivilisten drängten sich währenddem an die Mannschaften und redeten auf sie ein. Keine Antwort von unseren Leuten, die schwiegen. Nach einigen Minuten kam ein Befehl, und die Truppe verschwand geschlossen in die Universität. Ich hatte mein Regiment seit August 1914 vor Namur nicht gesehen. Ein trauriges Wiedersehen in dieser konfusen, gefahrschwangeren Revolutionsnacht am Rande des Bürgerkrieges und der Auflösung.
Jetzt ist aber die Situation durch diese Schießerei, das geflossene Blut und den Einmarsch der Potsdamer Truppen reif für eine große Entscheidung. Wenn die Regierung Energie hat, wird sie sie benutzen, um die ganz radikalisierte Matrosendivision aus Berlin hinauszubringen; wenn nötig mit Gewalt. Die überwiegende Stimmung unter den Soldaten und der Zivilbevölkerung Berlins ist den Matrosen feindlich, weil man sie als Unruhestifter ansieht. Radikal sind sie aber erst geworden nach Aufdeckung der Komödie, die Metternich mit ihnen gespielt hat. Diese hat den Nährboden für die Spartakuspropaganda unter ihnen geschaffen. Jeden Tag ist auf den Straßen Berlins etwas Neues los; aber das Reich geht dabei zum Teufel.
Berlin. 24. Dezember 1918. Dienstag
Weihnachtsabend hat heute früh mit einem Artilleriegefecht am Schloß begonnen. Die Regierungstruppen haben versucht, die Matrosen aus Schloß und Marstall herauszuschießen. Ich ging gegen elf ins Amt, wo Meyer triumphierte. Jetzt mache die Regierung endlich Ernst; sie solle nur eine Anzahl von Matrosen gegen die Wand stellen. Er machte mir gelinde Vorwürfe, daß ich diese gegenrevolutionäre Stimmung nicht teilte.
Gegen zwölf die Linden hinauf, die in der Höhe der Friedrichstraße von republikanischer Sicherheitsgarde abgesperrt waren. Man kam aber durch Mittel- und Charlottenstraße um die Absperrung herum. Vor der Universität eine ziemlich große Menschenansammlung, die durch die Gitter die Soldaten im Vorgarten beobachtete. Sonst alles ruhig. Aber schon aus dieser Entfernung sah man große helle Flecken in den Schloßmauern, Spuren der Artilleriebeschießung. Im Lustgarten wogte unbehindert eine gewaltige Volksmenge. Das große Portal nach dem Lustgarten ist ganz zerschossen, eine von den Säulen liegt zertrümmert am Boden; die eisernen Torflügel klafften durchlöchert und verbogen. Der Balkon darüber, von dem der Kaiser am 4. August 1914 seine Rede hielt, hängt zerfetzt herunter. Die Fenster in der Fassade sind leer und dunkel, ohne Scheiben, mit schief baumelnden Fensterkreuzen und zerkerbten, zerhauenen Brüstungen. Am schmerzlichsten haben die schönen Barock-Karyatiden unter dem Balkon gelitten: ein michelangelesker Arm weggeschossen, die ausdrucksvollen Köpfe scheinen noch pathetischer gebeugt als früher. Matrosen halten vor dem gefechtsbereiten Portal Wache. Vorläufig ist aber Pause.
Ähnlich sieht es auf dem Schloßplatz aus. Auch hier Matrosen mit Maschinengewehren in den Fenstern der zur Ruine geschossenen Fassade. Der ganze Platz schwarz von Menschen. Irgend etwas wird erwartet, ein Gefecht, eine Volksrede, Liebknecht: man weiß nicht, alles wartet und fürchtet sich nicht. Die Neugier ist bei Tausenden größer als die Furcht. Gleichzeitig bilden diese Neugierigen die beste Schutzwehr für die meuternden Matrosen. Bis sie nicht zerstreut oder zurückgedrängt sind, können die Regierungstruppen ihren Angriff nicht erneuern. Plötzlich kommt aus der Breiten Straße ein Maschinengewehrtrupp der Regierungstreuen durch die Menge, gleich umringt von tosenden, schimpfenden Menschen. Viele hier am Schloß sind also liebknechtisch. Ein Unteroffizier mit einer schwarzrotgoldenen Binde steigt auf die Protze und hält eine Rede, die man weithin über den Platz vernimmt. Es werde verhandelt, man solle doch nicht unter Brüdern sich totschießen. Das wirkt, das heißt vielleicht vor allem die laute, ruhige Stimme. Das Gewehr wird durchgelassen und fährt ab.
In der Menge halten überall Spartakusagitatoren kleine Volksversammlungen ab; man tritt ihnen entgegen, hört sie aber an. Ein großer, fanatischer Kerl an der Ecke der Schloßbrücke schreit einen Herrn, der ihn zu überzeugen sucht, mit bösartig blitzenden Augen und verbissener Wut nieder: Taten wolle man sehen, nicht immer bloß Worte. Die Regierung habe jetzt genug geredet, endlich solle sie mit dem Sozialismus Ernst machen, sonst werde man nicht lange fackeln. Ein anderer alter, zerschlissener Mann ohne Kragen, eine Art Vagabund, predigt Vernunft: Immer mit der Vernunft, etwas Vernunft auf beiden Seiten, dann werde man sich schon verständigen. Jeder Redner hat sein Publikum. Diese kleinen Konventikel, wo teils fanatisch, teils leise diskutiert wird, erinnern mich an Hyde Park am Sonntagabend.
Während dieser blutigen Ereignisse geht unbekümmert der Weihnachtsmarkt seinen Gang: Leierkasten spielen in der Friedrichstraße, Straßenverkäufer bieten Salonfeuerwerk, Lebkuchen und Silberflitter an, die Juwelierläden Unter den Linden sind sorglos geöffnet, hell erleuchtet funkeln ihre Schaufenster; in der Leipziger Straße, bei Wertheim, Kayser usw. drängt sich das übliche Weihnachtspublikum. Gewiß brennen in Tausenden von Häusern Christbäume, und Kinder spielen drum herum mit Geschenken von Papa, Mama und der lieben Tante. Daneben liegen im Marstall die Toten, und in der Weihnachtsnacht klaffen frisch gerissen die Wunden des Schlosses und des deutschen Staates.
Berlin. 25. Dezember 1918. Mittwoch
Alle Zeitungen, selbst der ›Vorwärts‹, konstatieren heute früh, daß die Regierung kapituliert hat. Besser wäre es gewesen, sie hätte nicht erst angefangen mit Schießen.
Nachmittags war wieder eine große Spartakusdemonstration von der Siegesallee bis zum Schloß, wo sie mit der siegreichen Volksmarinedivision fraternisierte. Darauf ist die Menge zum ›Vorwärts‹ gezogen, hat ihn besetzt und Flugblätter gedruckt mit der Überschrift: ›Der rote Vorwärts‹, in denen verkündet wird: ›Heute, am 25. Dezember 1918, wurde der ›Vorwärts‹ von uns, den revolutionären Arbeitern, in Besitz genommen kraft des neuen Rechtes, das (sic!) mit der Revolution am 9. November geboren wurde ... Es lebe die revolutionäre Marinedivision, das revolutionäre Proletariat, die internationale sozialistische Weltrevolution. Nieder mit der Regierung Ebert-Scheidemann! Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten! Bewaffnung der Arbeiterschaft! Entwaffnung der Bourgeoisie und ihrer Helfershelfer! Gezeichnet: Revolutionäre Obleute und Vertrauensleute der Großbetriebe Groß-Berlins.‹ Das Ganze auf rotem Papier.
Einige andere Flugblätter besagen auf weißem Papier Ähnliches. Zwei Sicherheitsmannschaften vom Polizeipräsidium brachten sie mir abends in eine Bar, wo getanzt wurde und wo ich überraschenderweise auch Theodor Däubler traf. Die beiden Leute (alte Soldaten) erzählten, wie sie den ›Vorwärts‹ wieder der rechtmäßigen Redaktion zurückgegeben hätten. Der jüngere schien allerdings nicht sehr taktfest gegen Spartakus, war stolz, daß er Liebknecht gesprochen hatte. Der andere meinte, wenn es noch lange so weitergehe, würden wir bald die Tommies in Berlin sehen.
Berlin. 26. Dezember 1918. Donnerstag
In der Reichskanzlei, wo ich Baake warnen wollte, nur seinen Sekretär Böhme getroffen, den ich beauftragte, meine Mitteilung an Baake weiterzugeben. Böhme sagte, sie erwarteten jeden Augenblick »etwas«. Im Amt Bussche gesprochen und erhöhte Alarmbereitschaft empfohlen. Er behauptet, daß die Infanterie im Amte zuverlässig sei.
Um neun Sitzung unseres politischen Vereins; Riezler referierte über die Lage. Er sagte, nach seinen Nachrichten seien heute schon in den Spartakusversammlungen Ledebour und Liebknecht zu Volksbeauftragten gewählt worden; Liebknecht werde heute nacht oder morgen als Oberhaupt der Regierung ausgerufen werden. Der jetzigen Regierung stünden in Berlin alles in allem vielleicht noch hundert Mann zuverlässiger Truppen zur Verfügung. Ebert habe sich bis heute abend noch nicht entschlossen, was er tun wolle. Riezler äußerte, das einzige, was helfen könne, sei die Verlegung der Hauptstadt (Auskneifen). Rücker von meinem Regiment, der zufällig anwesend war, berichtete, dieses sei durch den Mißerfolg von neulich so verärgert, daß es für einen neuen Versuch nicht zu haben sei; die Leute meinten, sie seien mißbraucht worden.
Bei der Debatte ergab sich viel Geschwätz und Ausmalen trüber Bilder, aber nichts Praktisches. Eigentlich hat sich alles schon in das hereinbrechende Schicksal ergeben. Die Stimmung war, daß wir noch heute nacht oder spätestens morgen hilflos verhaftet würden. Zwischendurch referierte Haase über seine Erfahrungen in Trier und Spa in der Waffenstillstandskommission: eisige und habgierige Franzosen, sympathische und fast deutschfreundliche Haltung der Amerikaner.
Um zehn gingen Riezler, Trautmann, Kamphövener und ich zum Schloß, um der Ausrufung Liebknechts beizuwohnen. Es war in dieser Gegend der stillste und leerste Abend, den ich seit langem erlebt habe. Nur eine kleine Volksversammlung, in der ein junger, gut angezogener, sympathischer Spartakusmann, offenbar ein Intellektueller, auseinandersetzte, daß das deutsche Volk noch nicht reif sei für die politische Herrschaft; es müsse erst einen langsamen und mühevollen Aufstieg durchmachen. Daher keine Nationalversammlung, sondern Arbeiter- und Soldatenräte. Riezler versuchte sich mit ihm einzulassen, hielt aber nicht stand, bekam Angst, wollte fortgehen und wurde von der Menge höhnend verfolgt. Riezler soll Ebert morgen Mut machen! Der Kern des politischen Problems ist, ob noch irgendwo irgendwelche brauchbaren und zuverlässigen Truppen sind. Oder, wenn nicht, ob man die Matrosen kaufen und bestechen kann, damit sie abziehen. Byzanz! Käuflich sind sie, aber wie kaufen? So schimpflich ist kaum je eine Regierung schwach gewesen.
Berlin. 27. Dezember 1918. Freitag
Die Krisis dauert ungemildert an. Hatzfeldt, der heute in der Kabinettssitzung war, sagt, nur die Unabhängigen – Haase, Dittmann, Barth – hätten teilgenommen. Landsberg sei einen Augenblick hereingekommen; Ebert und Scheidemann blieben fort. Zur Beratung stand ein von den Polen durch Górka in Kowno vorgeschlagenes Abkommen zur gemeinsamen Verteidigung von Wilna gegen die russischen Bolschewiki, wogegen die Polen uns den Abtransport unserer Truppen aus der Ukraine garantierten. Das Kabinett hat unter dem Einfluß von Cohen-Nordhausen den Vertrag abgelehnt. Grund: Man dürfe sich nicht mit den Bolschewiki überwerfen; im Gegenteil, man solle mit dem bolschewistischen Rußland ein Abkommen und Handelsverträge suchen.
Abends aßen mit mir bei Hiller Paul Cassirer, Kestenberg, Hilferding und die Unabhängigen-Minister Breitscheid und Hugo Simon. Breitscheid und Simon machten keinen Hehl daraus, daß ihre Ministerschaft vielleicht nur noch Stunden dauern werde. Alles hänge vom Zentralrat ab. Wenn er gegen die Unabhängigen in der Reichsleitung entscheide, würden sie als preußische Minister ebenfalls gehen. Simon, der an den finanziellen Auseinandersetzungen mit den Matrosen in erster Linie beteiligt war, sagt, ihm sei es hauptsächlich darum zu tun gewesen, sie aus dem Schloß herauszubekommen wegen der Plünderungen. Sie hätten zwar die Schlüssel zum Weinkeller, nicht aber die zur Silberkammer abgegeben. In einem Schloßflügel, den er besichtigt hat, sei entsetzlich geplündert worden. Die Matrosen hätten auch eingewilligt, die Schlüssel abzugeben, aber nicht an Wels, den sie haßten. Dagegen habe Wels einen »point d'honneur« daraus gemacht, daß gerade ihm die Schlüssel übergeben würden. Dadurch sei die ganze unglückselige Verwicklung entstanden. Jetzt bricht an den Folgen dieses törichten Kommentstandpunktes die deutsche Reichsregierung und vielleicht Deutschland zusammen.
Breitscheid hatte starke Bedenken gegen Rantzau, vor allem seine Homosexualität, die an sich gleichgültig, aber für seine Bewegungsfreiheit hemmend sein könne; und dann die Schieber, mit denen er sich in Kopenhagen umgeben habe.
Berlin. 28. Dezember 1918. Sonnabend
Die Frage, ob ich die Gesandtschaft in Bern als Sprungbrett für Anknüpfung mit Frankreich übernehmen will, tritt immer dringender an mich heran. Gestern telegraphierte Schickele und sondierten mich Kestenberg, Breitscheid und Hilferding deshalb. Heute früh sprach wieder Kestenberg mit mir, und mittags war bei Cassirer zur weiteren Besprechung ein Frühstück mit Breitscheid, Hilferding und Kestenberg. Ich erklärte mich, nachdem ich mehrmals abgelehnt habe, jetzt prinzipiell bereit, die Stellung zu übernehmen, aber unter der Bedingung, daß ich von den örtlichen Schweizer Geschäften und der Ausmistung der Gesandtschaft, die auf weniger als ein Zehntel ihres Personals zurückgeführt werden muß, entlastet werde. Mir bliebe als einzige wirkliche, allerdings weltpolitische Aufgabe die Anknüpfung mit Frankreich und England.
Meine Politik erläuterte ich Breitscheid und Hilferding dahin, daß ein Gewaltfrieden mir unentrinnbar erscheine, ich dann zu seiner Beseitigung nur drei Wege sähe: einen neuen Krieg, Bolschewismus oder Stärkung der dem Gewaltfrieden abgeneigten Parteien in den bisher feindlichen Ländern, damit diese zur Macht gelangten und ihn nachträglich beseitigten. Ein neuer Krieg scheine mir in absehbarer Zeit für Deutschland unmöglich, Bolschewismus, solange irgendeine andere Hoffnung bestehe, zu kostspielig; daher hätte ich mich für den dritten Weg entschieden.
Vor dem Frühstück mit Breitscheid das Schloß besichtigt. Hugo Simon hatte uns zu diesem Zweck den Dr. Hübner als Führer zur Verfügung gestellt. Die Verwüstungen im Innern durch die Beschießung sind überraschend gering. Eine Granate ist durch den Pfeilersaal gegangen und hat die Marmorwand hinten durchschlagen. Ein Bild von Skarbina ist dabei zerfetzt worden. Sonst sind nur Fensterscheiben draufgegangen. Dagegen ist in den Privatgemächern des Kaisers und der Kaiserin ziemlich arg geplündert worden, namentlich in den Garderoben. Die Kleiderschränke der Kaiserin sind bis auf einen ausgeräumt, die des Kaisers stark gelichtet, besonders von den Spazierstöcken die Krücken abgeschraubt, die Rohrschäfte kopflos und zerbrochen fortgeworfen. Ebenso sind überall Photographien, Puderschachteln, Andenken herumgestreut. Der Schreibtisch der Kaiserin ist erbrochen, der Inhalt verschwunden; man soll ihn in der Stadt verhökern, namentlich Briefe des Kaisers und der alten Königin Victoria. Die Nippesschränke des Kaisers sind leer, die Glasscheiben zerschlagen. Was den Matrosen an den Plünderungen zuschulden kommt, scheint nicht festzustellen. Die Privaträume, Möbel, Gebrauchsgegenstände, übriggebliebenen Andenken und Kunstobjekte der Kaiserin und des Kaisers sind aber so spießbürgerlich nüchtern und geschmacklos, daß man keine große Entrüstung gegen die Plünderer aufbringt, nur Staunen, daß die armen, verschreckten, phantasielosen Wesen, die diesen Plunder bevorzugten, im kostbaren Gehäuse des Schlosses zwischen Lakaien und schemenhaften Schranzen nichtig dahinlebend weltgeschichtlich wirken konnten. Aus dieser Umwelt stammt der Weltkrieg oder was an Schuld am Weltkrieg den Kaiser trifft: aus dieser kitschigen, kleinlichen, mit lauter falschen Werten sich und andere betrügenden Scheinwelt seine Urteile, Pläne, Kombinationen und Entschlüsse. Ein kranker Geschmack, eine pathologische Aufregung die allzu gut geölte Staatsmaschine lenkend! Jetzt liegt diese nichtige Seele hier herumgestreut als sinnloser Kram. Ich empfinde kein Mitleid, nur, wenn ich nachdenke, Grauen und ein Gefühl der Mitschuld, daß diese Welt nicht schon längst zerstört war, im Gegenteil in etwas andren Formen überall noch weiterlebt. Erschütternd wirkten im Erdgeschoß in einem Portal, durch das ich oft bei Hoffesten hinaufgegangen bin, die aufgebahrten, gefallenen Matrosen, teils schon in offenen Särgen, teils noch auf Bahren. Einige Angehörige, kleine Leute, standen herum, ließen die Deckel abheben, um die Toten zu rekognoszieren. Ein fader Leichengeruch schwebte in der kalten Luft. Die Nüchternheit des fast geschäftlichen Tuns der Verwandten entsprach der Sinnlosigkeit dieser Todesfälle. Kein Mensch könnte angeben, wofür eigentlich diese jungen Leben geopfert worden sind oder wofür sie sich selbst geopfert haben.
Berlin. 29. Dezember 1918. Sonntag
Das Leichenbegängnis der Matrosen war über Erwarten großartig. Ich sah es vom Lustgarten. Die sieben Särge standen vor dem zerschossenen großen Schloßportal. So weit man sehen konnte, eine ungeheure Menschenmenge: im Lustgarten, an der Schloßfreiheit, am Nationaldenkmal hochgeklettert, auf der Schloßbrücke, zwischen Zeughaus und Kommandantur und Oper auf der Opernrampe und bis zum Denkmal Friedrichs des Großen. Der ganze gewaltige Raum, unregelmäßig eingerahmt von strengen, prunkvollen Gebäuden, vielleicht der ernsteste und schönste große Platz der Welt, wurde durch diese unabsehbare, gewaltige, überall gleichartig grauschwarze Proletariermenge zu einer Einheit. Irgend jemand hielt von der Terrasse am Schlosse eine Rede. Dann setzte sich der Zug mit Musik in Bewegung. Voran auf sieben von Kutschern des Marstalls gefahrenen kaiserlichen Wagen die sieben ganz gleichen schwarzsilbernen Särge, jeder mit Kränzen aus roten und weißen Blumen. Man sah sie in langer Reihe langsam hoch über den Köpfen der ungeheuren Menschenmenge dahingleiten. Dahinter Kränze und Blumen, alle rot oder rot gemischt mit Weiß, von Deputationen getragen, in solcher Fülle, wie ich sie noch nie gesehen habe; namentlich prachtvolle rote Rosen, ein wandernder Garten, ja hängende Gärten, die auf Tragbahren, fast so hoch erhoben wie die Särge, über der grauen Menge weiß und rot üppig leuchteten.
Das Ende war nicht abzuwarten. Ich ging zum Brandenburger Tor. Hier rückte gerade der Demonstrationszug der Demokratischen Partei, die ›Wacht am Rhein‹ singend und schwarzrotgoldene Fahnen schwenkend, ein. Wie vorauszusehen, traf er an der Ecke der Wilhelmstraße auf den Trauerzug der Matrosen. Da die Linden gestopft voll von Menschen waren, konnte er nicht ausbiegen; der Führer sagte: »Der Klügere gibt nach« und bog um, zurück zum Brandenburger Tor. Dadurch riß der Zug ab, Spartakusleute mischten sich hinein, alles geriet in Unordnung, man schrie: »Hoch Liebknecht«, »Nieder mit Liebknecht«, merkwürdigerweise aber nicht ›Hoch‹ irgend jemand von der Demokratischen Partei. Plötzlich rief ein Unteroffizier, der eine schwarzrotgoldene Fahnetrug: »Mir nach! Die Straße ist für jedermann. Wir lassen uns das nicht gefallen, daß wir aufgehalten werden; wir brechen durch!« und machte den Ansatz zu einem Sturm die Linden hinunter. Leute fingen an, sich zu prügeln. Es sah so aus, als ob jetzt der große Zusammenprall kommen sollte. Da wurde ein Herr mit Schlapphut, den er schwenkte, aus der Menge emporgehoben und hielt eine Ansprache: Die Demokraten seien die Partei der Ordnung; sie dürften die Ordnung nicht stören. Deshalb sollten sie jetzt wieder umkehren. Das Ganze wurde zu einer spießbürgerlichen Groteske, bei der an der Spitze des Zuges nur das eine fehlte, der Nachtwächter. Abends wird bekanntgegeben, daß drei Mehrheitssozialisten, Noske, Loebe-Breslau und Wissel, als neue Volksbeauftragte in die Regierung eingetreten sind. Noske soll energisch und klug sein.
Berlin. 30. Dezember 1918. Montag
Diner beim Geheimrat von Berger. Bekker von der ›Deutschen Tageszeitung‹, Frau Taegert (die Freundin der Kronprinzessin), Westernhagens, Georg Bernhard mit Frau. ›Deutschnationaler‹, reaktionärer Kreis; monarchistisch, aber nicht für Wilhelm II. Frau Taegert trat natürlich für den Kronprinzen ein. Überwiegend war aber der Widerwille gegen die jetzige Regierung und Anarchie. Bekker begehrte leidenschaftlich gegen meine Äußerung auf, daß man die Ebertsche Regierung stützen müsse; im Gegenteil, man müsse alles tun, um sie zu stürzen. Was dann kommen soll, sagte er nicht. Unfruchtbare Politik.
Die Beziehungslosigkeit des Kaisers und der Kaiserin zu unserer Zeit bestätigte die Taegert nachdrücklich, als ich meinen Eindruck im Schlosse schilderte. Sie sagte, noch während des Krieges hätte ›die gute Kaiserin‹ keine Ahnung gehabt, was ein Sozialdemokrat ist; es habe Mühe gekostet, ihr klarzumachen, daß Sozialdemokraten ›nicht kleine Kinder fräßen‹.
Merkwürdig war mir Bekkers scharfes Urteil über Ludendorff, wobei er aber die Erzählung vom ›Nervenzusammenbruch‹ als unwahr hinstellte. Ludendorff habe bereits sechs Wochen vor den verhängnisvollen letzten Septembertagen die Reichsregierung ersucht, schnellstens Frieden zu schließen. Als immer und immer wieder nichts geschah, sei er schließlich ungeduldig geworden und habe sich seiner Natur entsprechend vielleicht etwas zu stürmisch an die Telephonstrippe gehängt. Dadurch sei in Berlin der Eindruck seines Nervenzusammenbruchs entstanden, der aber falsch sei. Er habe energisch werden müssen, weil sämtliche Armeeführer berichtet hätten, ihre Armeen könnten nicht mehr weiterkämpfen.
Berlin. 31. Dezember 1918. Dienstag
Letzter Tag dieses furchtbaren Jahres. 1918 wird wohl ewig die schrecklichste Jahreszahl der deutschen Geschichte bleiben. Vormittags im Amt ein Telegramm von Montgelas aus Bern, daß Wassiliewski einem ›Secolo‹-Berichterstatter erklärt hat, ich habe in Polen ein bolschewistisches Komplott angezettelt; die Beweise seien in Händen der polnischen Regierung. Diese lächerliche Lüge dementiert durch WTB.
Nachher bei Hermann Keyserling, der morgen auf mehrere Monate zu Bismarcks nach Friedrichsruh fährt. Er meinte, in der auswärtigen Politik könnten wir gar nicht links genug sein (unter Ausschluß von Spartakus); nur durch weitgehende Sozialisierung im Gegensatz zu den reaktionär bleibenden Westmächten könnten wir uns wieder an die Spitze der Völker stellen. Wir müßten der Musterstaat des Sozialismus werden, dann bekämen wir mit unseren siebzig Millionen notwendig die Führung in Europa. Ich sagte, die Crux sei, wie man weitgehende Sozialisierung ohne Einschränkung der Produktion durchführen könne. Wenn wir dieses Problem lösten, würden wir allerdings der Welt vorangehen. Gegen Rantzau hat Keyserling, der ihn, wie er sagt, intim gekannt hat, große Bedenken.