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1
Von Horizont zu Horizont rollt das Feuer.
Staub und Qualm – brennende Menschen stürzen aus dem Himmel, ein Hagelsturm von zerfetzten Menschenleibern fegt über die Erde.
Die Luft wettert von rasenden Donnerschlägen, die glühenden Geschütze taumeln voll Wut, ferne grollt das böse Raubtierknurren der schwersten Kaliber. Die Erde schwankt, das Gebäude der Atmosphäre gerät ins Wanken. Lawinen, Bergstürze, der Vulkan speit. Seit Wochen, seit Monaten.
Horch! Horch – horch! Schreie, damit ich dich verstehe –! Was sagst du? Es ist die Stimme Europas – sehr wohl! Es ist die Stimme der Habgier, des Geldes – noch besser …
Schiefergrau und rostbraun, in jeder Sekunde neu genährt von Qualm, wogt von Horizont zu Horizont, unendlich, die fürchterliche Wolke über der Walstatt. Die Landschaft selbst runzelt die Stirn, gealtert, zermürbt, zerknittert und vergrämt.
»Ungemütlich, lieber Otto« – schrieb Hauptmann Falk, genannt die Feuerwalze – »es beginnt ungemütlich zu werden hier außen! Heute morgen einige tausend Granaten auf unsern Abschnitt, die nicht von schlechten Eltern waren. Ringsum Leichen, auch die Lebenden, der Divisionär, vierzig Stufen unter der Erde, ebenfalls eine Leiche! Er stammelt nur noch, schwere Sprachstörung. Ich schreibe dir, um die Nerven zu behalten. Was ist los? Wir liegen hier in Granatlöchern, keine Gräben mehr und Drahtverhaue, die gemütlichen Zeiten sind vorüber – alle fünfzig Schritt ein Mann, schwere Maschinengewehre, leichte Maschinengewehre. Im Hintergelände weit und breit keine Menschenseele – nur Feldküchen und Verbandplätze – kein Mensch, was soll das bedeuten? …«
Die schiefergraue und rostbraune Wolke flimmert, endlos, bis in den schwarzen Äther empor. Schwingen von aufgescheuchten Vogelschwärmen blitzen darin – das sind die Flieger. Qualm faucht auf, da oben in der flimmernden Wolke, Qualm schießt finster durch die Luft, stürzt zur Erde: ein Mensch, lichterloh brennend eilt über das Feld, taumelt, brennt, qualmt, kohlt –.
Horch, horch! Ja, schreie, sonst höre ich dich nicht! Stimme des Geldes, sehr wohl – die Mark, die Francs, die Pfunde, Dollars, sie brüllen – es sind auch die Millionenvölker Europas, die nach Nahrung brüllen, vergiß es nicht – und das trockene Schießpulver, der Aberwitz, er lacht aus den Feldgeschützen.
»Die gute alte Zeit, lieber Otto« – schrieb Hauptmann Falk in seinem Erdloch – »sie ist endgültig vorbei. Schade! Ringsum schreien Menschen, aber ich kann ihnen nicht helfen, bevor es Nacht wird. Ich sitze mitten im Rauch. Mein Leutnant übergibt sich, er hat Gas geschluckt, Gott helfe ihm, ich kann gar nichts für ihn tun. Ich schwitze entsetzlich in meiner Gasmaske. Gestern sollten wir fünfhundert Flaschen Sodawasser bekommen, aber ein Volltreffer hat sie auf der Chaussee vernichtet. Die Zungen hängen uns heraus. Was für ein Staub! Dank, alter Junge, für den Kognak! Es war eine Freude. Wir hatten zwei gefangene Engländer in unserem Granatloch, auch sie bekamen einen Schluck aus der Flasche, mußte schwören, sie nach dem Kriege in England zu besuchen. Hoffe in einigen Tagen in Berlin zu sein. Seit einer Woche sollen wir abgelöst werden, aber niemand zeigt sich, obwohl es uns feierlich versprochen wurde. Die Sache gefällt mir nicht, alter Junge. Stelle die Flaschen kalt, du erhältst Telegramm. Grüße Bussi! Hoffentlich kommt der Brief durch. Man braucht hier zwei Stunden für einen Kilometer.«
Bussi? Bussi? Wer ist Bussi? Niemand weiß es, offenbar eine Dame, aber es tut schließlich nichts zur Sache.
Wie ein blutüberströmtes Antlitz sank die Sonne hinter der endlosen flimmernden Staubwolke. Rasch kam die Nacht. Aber die Geschütze wüteten weiter. Schweiß badete die Gesichter der Kanoniere. Die Brandung aus Eisen und Blut rollte fürchterlich in der Dunkelheit.
Schon stiegen die Leuchtkugeln, da, dort, überall, glühend in allen Farben. Ein Netz von Blitzen geisterte. – –
Die Raketen zischten in die Höhe und zerplatzten mit einem leichten Knall am Himmel. Trauben von silbernen, violetten, lichtblauen und bengalisch roten Christbaumkugeln sanken mild durch das tiefe Blau der Nacht.
»Ein Feuerwerk!«
Die Kapelle spielte. Vor dem Kurhaus zerschmolzen die hellen Kleider und grellen Mäntel und Jacken im gleißenden Licht der Bogenlampen. Hier außen am Strand aber war es ganz still, dämmerig, nur der Mond und das glitzernde Meer. Der Geruch von Tang und Salz in der lauen Luft. Ohne Pause glitten lautlos die silberschäumenden Wellen über den Sand und breiteten ihr gleißendes Schleiergespinst aus. Klein und hoch der Mond, und schaukelnde Scherben von Silber sein Spiegelbild.
Plötzlich zischte es, eine Rakete fuhr zu den Sternen empor. Eine Gruppe von sprühenden Funken erschien am blauen Nachthimmel, trieb, heller als die Gestirne, im leichten Wind sanft dahin und erlosch allmählich.
Aus einem Strandkorb fuhr eine silberne Larve, eine Hand, blitzend von Steinen, erschien. »Brillant!«
Es war Herr Olsen aus Kopenhagen, zurzeit in einem deutschen Ostseebad, der den Zauber des fliegenden Sternhaufens bewunderte. Er streckte den blonden Kopf heraus, strampelte mit den weißen Hosen und erschien persönlich im Mondlicht. Er war nahezu zwei Meter hoch, und sein Schatten ging vollkommen über die Sandburg »Lüttich« hinweg. Er war ein hübscher, junger Mann, frisch, kindlich und gutmütig. Mit strahlender Miene und blinkenden Zähnen verfolgte er die bunten Kugeln am Himmel.
Herr Olsen lebte noch in der Welt des Friedens. Er sprach nie vom Krieg, erzählte nichts von Schützengräben, las keine Berichte und quälte sich nicht mit Kombinationen – er studierte höchstens die Börsenberichte und kaufte deutsches Geld, wenn es Vorteil versprach. Wer den Krieg gewann, das war ihm höchst einerlei, zu welchem Zwecke er geführt wurde, berührte seine Seele nicht im mindesten. Herr Olsen war – nun, dies ist der etwas triviale Ausdruck seiner Begleiterin – durch und durch Friedensware. Seine soliden Schuhe, seine sechs verschiedenen Mäntel, der Ausdruck seines Gesichts, Augen, Sprache, Lächeln, Gedanken – alles Friedensware, selbst Farbe und Glanz seiner Haut und seiner Haare, unwiederbringlich dahin bei den deutschen Männern. Er war mit einem Wort eine Sehenswürdigkeit.
Seine Begleiterin, im Schatten des Strandkorbes gegenüber, lachte. Ihre Augen sprühten im Mondlicht.
Dieses Lachen?
Dieses Lachen! Dora –?
Ja, Dora! Und nun streckte sie ihr Silberlärvchen in das Mondlicht, und ihre etwas runde Hand tauchte in die gleißende Helligkeit. Ihr heller Haarschopf flimmerte.
Sie lachte über Olsens kindliche Freude an den bunten Christbaumkugeln da oben. In seiner Nähe atmete sie leichter, er hatte eine ganz andere Atmosphäre um sich wie andere Männer. So zum Beispiel Otto, der einige Tage hier gewesen war.
Herr Olsen streifte seine Dame mit einem fragenden Blick. Weshalb mochte sie nur lachen? Selbst die Strahlen des Mondes, die nach Doras Augen zielten, vermochten nicht ihr tiefes, seltenes Blau zu dämpfen.
Herr Olsen kroch wieder in den Schatten des Strandkorbes zurück und begann sogleich voller Eifer die unterbrochene Unterhaltung fortzusetzen. Es handelte sich darum, ob Dora ihm, Herrn Olsen riet, sich ein Gut in Deutschland zu kaufen. Das deutsche Geld war ja jetzt so lächerlich billig. Herr Olsen sprach nur von seinen eigenen Angelegenheiten, fremde Schicksale, das Schicksal des deutschen Volkes, das Schicksal Europas, das Schicksal des Planeten, das war ihm alles höchst einerlei. Herr Olsen war der Mittelpunkt der Erde.
»Aber Sie müssen mir versprechen, mich dann zu besuchen? Ach, es wird ja so schrecklich langweilig sein.«
»Wenn Sie artig sind?«
»Artig? Ich will wie ein kleines Hündchen sein, so artig!« beteuerte Herr Olsen, und wieder fuhr sein Silberkopf aus dem Strandkorb.
Ja, nun war es also Herr Olsen, der sich, Dank der Gnade des Himmels, seine Friedensseele bewahrt hatte.
Feuerbalken schossen über den Horizont, und das fürchterliche Wetterleuchten setzte nicht eine Sekunde aus. Hauptmann Falk konnte ganz gut dabei schreiben. Die Leuchtkugeln sprühten wie Leuchtfeuer, die plötzlich über dem Meer erglühen. Aus der Höhe beim Nachbarregiment fuhren Bündel von roten Signalen, und die Artillerie wirbelte. Ein Feuerloch glühte auf, das waren die Einschläge.
Ein Gespenst kroch über das Feld, versank, kroch, huschte. Es war Hauptmann Falk. Obschon gefeit – er glaubte es – nahm er sich doch in acht, denn es konnte ja durch einen Zufall ein Unglück geschehen. Er glitt die Schützenlinie entlang. Hier schüttelte er Schlafende – aber sie erwachten nicht mehr. Aber er traf auch Gruppen, deren Augen hell wie Sterne im Schein des Geschützfeuers sprühten. Es waren wunderbare Menschen! Ohne einen Tropfen Wasser seit drei Tagen!
Da duckte er sich zusammen. Pechschwarz, von roter Lohe durchglüht, stieg der Einschlag in die Höhe. Ja, ungemütlich, höchst ungemütlich.
Die Blitze geisterten.
Auf allen Straßen knarrten jetzt die Wagen. Hier und drüben bei ihm. Munition, Verpflegung, Verwundete, die ganze Nacht hindurch. Hunderttausende von Wagen knarrten durch die Dunkelheit. Der Himmel erdröhnte, die Bombengeschwader waren unterwegs. Die Mützen über die geschorenen Schädel gezogen, die Nase im Wind, jagen die Befehlsempfänger die Straße hinab. Klein und hoch geht der Mond, Blitze wehen, Feuer sprüht im Walde.
2
Der Tiergarten fröstelte. Unerträglich heiß war es am Tage gewesen, und nun war es plötzlich kühl geworden. Irgendwo in der Nähe von Berlin mußten schwere Gewitter niedergegangen sein, aber man hatte nur zuweilen das tiefe Donnerknurren gehört.
Vor der roten Backsteinvilla in der Lessingallee, mit Efeu überwuchert, hielt eine Droschke.
Händeklatschen. »Petersen! Petersen!« Eine helle Stimme.
Schon öffnete sich die Türe, und Petersen in seinem Zebrakittel eilte auf die Straße.
Ein Offizier stand bei der Droschke, mit einer schwarzen Brille, eine kleine Reisetasche in der Hand.
»Nun, Petersen, alter Knabe, Sie kennen mich wohl nicht mehr?« Eine hohe, fremde Stimme.
»Herr Hauptmann?« rief Petersen erstaunt und erschrocken aus. Was tat er hier, was wollte er hier? Schon vor dem Kriege hatte er ja nicht mehr hier gewohnt.
»Welche Überraschung, Herr Hauptmann!«
»Ja ja, Petersen – so geht es – wenn man sich lange nicht sieht. Meine Frau –?«
»Im Bade, Herr Hauptmann. Kommt morgen!«
»So? Nun, ich werde nicht stören. Nur ein paar Tage, bis ich eine Wohnung gefunden habe. Na, und es geht immer gut, alter Petersen?«
»Danke, Herr Hauptmann, sehr gut, danke!«
Petersen nahm die Reisetasche, und Hauptmann v. Dönhoff stolperte die Treppe hinauf.
»Ah, wie dunkel! Ihr habt wohl eine Kleinigkeit zu essen für mich? Den ganzen Tag im Zuge –«
Wie leer diese Stadt, wie ausgestorben! Hauptmann Dönhoff roch die Stille und Ausgestorbenheit. Berlin war tot, ohne Zweifel. Hier und da ein Schritt, ein zögernder, nachdenklicher, mutloser Schritt. Ja, mutlos gingen alle diese Schritte in den dunkeln Straßen dahin, mutlos und bestrebt, keinen Lärm zu machen.
Und früher, früher!
Auch dieses Haus, sein früheres Haus – totenstill. Welche Feste hatten sie hier gefeiert. Er hörte sein früheres Lachen! Zweihundert schöne Frauen hatte er besessen, siebzig Rennen gewonnen, zwei Elefanten und ein Nashorn geschossen, als einer der ersten war er in Deutschland geflogen, einer der Entdecker des deutschen Himmels – ja, es hatte sich manches geändert.
Aber den Geruch des Hauses erkannte er sofort wieder. Doras Parfüm und eine gewisse Schwüle.
»Hoppla, Petersen –« Er stieß gegen ein Tischchen in der Garderobe. »Ich sehe etwas schlecht, bis man sich wieder eingewöhnt.« Immer sprach er mit einer hohen, fremden Stimme, hastig, unsicher, wie ein Mensch, der sich schämt.
Petersen eilte in die Küche und machte Zeichen mit den Fingern vor der Stirn.
»Er ist – so wahr mir Gott helfe, nein, was wird die Gnädige sagen? Was will er hier? Sie sind doch getrennt. Aber sehen Sie doch selbst. Er ist, mein Himmel, wie merkwürdig –«
Mina also, neugierig wie sie war, mußte sich ihn selbst ansehen.
Sie fand Hauptmann v. Dönhoff auf einem Sofa, eine Zigarette rauchend. Er richtete, als sie eintrat, die dunkle Brille auf sie, lächelte, und sie konnte vor Schreck keinen Ton hervorbringen. Der Gruß blieb ihr im Halse stecken. Sie hätte ihn – bei Gott – nicht wieder erkannt: grau, völlig grau, fast weiß, gelb, alt, um zwanzig Jahre älter mindestens! Und dieses Lächeln des welken Gesichts, diese Falten um den Mund – nur solche Leute konnten so lächeln, nur solche – Petersen hatte recht.
Mein Gott, welche Angst sie hatte! Weshalb mußte sie auch gleich hereinlaufen.
Hauptmann v. Dönhoff gähnte. Er blickte sie durch die dunkle Brille an, verfolgte jede ihrer Bewegungen. Dann sagte er lächelnd: »Na, also, Petersen, alter Knabe, erzählen Sie doch, was es Neues gibt in Berlin?«
Petersen! Er hielt sie für Petersen!
Vor Schrecken hätte Mina beinahe einen Teller fallen lassen.
Und das Feuer rollte.
Wie ein blutüberströmtes Antlitz stieg die Sonne aus der endlosen Staubwolke empor. Die in der Nacht fielen, waren jetzt schon kalt. Auf den Chausseen lagen in Stücke zerrissene Pferde und Männer, zertrümmerte Wagen und zerschmetterte Bäume; ihr grünes Laub rauschte im Morgenwind. Die Mütze über die geschorenen Schädel gezogen, kamen die Befehlsüberbringer im Auto angefegt und setzten über die rauschenden grünen Äste, die quer über der Straße lagen, hinweg.
Der Himmel stand voller Schrapnellwolken, Schwärme von Fliegern brausten im Frühlicht. Die Geschütze stampften, pochten, knackten – die rasende Erde beschoß aus ihren Kratern das aufgehende Gestirn der Sonne.
Wie gestern, wie vorgestern, wie alle Tage stürzten brennende Menschen aus dem Himmel. Ein Hagelsturm von zerfetzten Leibern fegte über die Erde. Millionen Herzen verkrampften sich in Todesangst.
Und die Wolke, die rostbraune, schiefergraue Wolke stand unendlich über der Walstatt.
3
Ganz in der Nähe der Hofjägerallee im Tiergarten läuft ein gekrümmter, schmaler Reitweg durch tiefes Dickicht.
Auf diesem schmalen, gekrümmten Reitweg ging der General hin und her, die Hände auf dem Rücken, die Augen auf die eigenen Fußspuren geheftet, die noch von gestern, von vorgestern, hier zu sehen waren, trotz dem Regen, der in der Nacht fiel. Hier ging nie ein Mensch, und Reiter – das Geschlecht der Reiter war völlig ausgestorben in Berlin.
Dora –?
Es war drückend schwül, schon um neun Uhr morgens, der General hatte seinen Kragen etwas gelockert, hier sah ihn ja niemand. Bewegungslos standen Büsche und Bäume, und zuweilen sang ein Vogel, irgendwo in weiter Ferne. Es klang wenigstens so in seinen Ohren, möglich, daß er sich täuschte. War es nicht eigentümlich, in letzter Zeit schienen alle Geräusche und Laute in weite Fernen zu rücken, auch die Stimmen der Menschen, die dicht vor ihm standen und sprachen?
Nichts von Bedeutung eigentlich –
Der General blieb stehen und heftete den Blick auf die staubige, schwarze Erde des Reitwegs. Es war ihm schwer, einen Gedanken bis zu Ende zu verfolgen.
Nein, gewiß, das war es nicht. Es wäre unvernünftig, Kombinationen daran zu knüpfen.
Vorgestern hatte er zufällig einen Blick in Ottos Zimmer geworfen, im Vorbeigehen. Das Zimmer wurde gereinigt, und das Unterste war zu oberst gekehrt: da sah er – nein, zuerst nahm er kaum davon Notiz, aber er kehrte zurück, irgend etwas war ihm aufgefallen. Da sah er also auf einem Sessel ein sonderbares Kostüm: eine Art Kaftan oder Kimono von einem eigentümlichen, unangenehmen, schmutzigen Gelb, einen Turban, orangerot, mit dicken grünen Schnüren umwickelt. Dieses Kostüm – sofort fiel es ihm ein: jener Vermummte, jener Unbekannte auf Doras Hausball, jener Stumme, der immer mit einer merkwürdigen Schale rasselte! Es ging das Gerücht, eine hohe Persönlichkeit verberge sich in dieser etwas phantasielosen Maske.
Also er – Otto –?
Ein Maskenscherz, natürlich, nichts anderes. Otto war ja damals noch im Lazarett, offenbar ausgerückt für diese Nacht, er konnte sich nicht gut zu erkennen geben. Aus diesem Grunde die Geheimtuerei, und sicherlich hatte er absichtlich das Gerücht von der Hoheit verbreiten lassen.
Gewiß, ohne jede Bedeutung. Wie kam er doch wieder darauf?
Herrlich ruhig war es hier, und nur zuweilen war das ferne Klingeln der Straßenbahn zu hören. Wohltuend und beruhigend das Grün der hohen Wipfel, und da droben, da draußen flammte heiß die Sonne, wie ein grelles Feuer. Hier aber, Schatten, Kühle sogar, und der Schritt unhörbar. Es ging sich angenehm auf der losen Erde, die Füße ruhten aus.
Der General hielt sich etwas gebückter. Er war im Gesicht magerer geworden, die Backen hingen schlaff herab, seine Gesichtsfarbe war fahler, trocken, mit kalkigen Flecken. Zuweilen zuckte sein rechtes Augenlid, und ein Nerv klopfte oft unangenehm an der Nase, dicht beim rechten Auge.
Den ganzen Sommer, hatte er in dem stickigen, heißen Berlin verbracht. Er hatte die Absicht, im August in Urlaub zu gehen, nach Babenberg, nun aber waren Ereignisse eingetreten, die ihn hier festhielten. Gewisse Schwierigkeiten an der Front, die bald behoben sein würden. Jedenfalls aber war es ganz undenkbar für ihn, jetzt, gerade jetzt seinen Posten zu verlassen, selbst nicht auf einige Tage, so nötig er auch Erholung brauchte. Sitzungen, Konferenzen, nun gut, die da draußen hatten ebenfalls keinen Urlaub. Man mußte sehen, wie man durchkam.
Diese halbe Stunde jeden Morgen – eine volle halbe Stunde, ja, es ging nicht anders, wollte er nicht zusammenbrechen – diese halbe Stunde morgens von einhalb neun bis neun Uhr war sein Urlaub. Um neun Uhr erfaßte ihn dann die Maschine, und er kam bis Mitternacht nicht mehr zu sich. Er schlief nur noch mit Hilfe von starken Schlafmitteln.
In diesen dreißig Minuten am Vormittag allein konnte er in aller Ruhe seinen Gedanken nachhängen und sich mit seinen persönlichen Angelegenheiten beschäftigen.
Gott sei Dank war er vernünftig genug gewesen, sich diese störenden Geldgeschichten vom Halse zu schaffen, wirklich ein Entschluß, zu dem er sich jetzt beglückwünschte! Er hatte das Gut Rothwasser verkauft. An einen Dänen, namens Olsen, aus Kopenhagen – ja, schon kamen sie jetzt, die Neutralen, die am Kriege verdient hatten, und kauften deutsches Land. Er bereute den Schritt nicht. Was geschehen ist, ist geschehen – das Notwendige tue rasch, ohne dich umzusehen. Otto würde ja Babenberg behalten, genug und übergenug für ihn, und Ruth – nun es würde auch für Ruth gesorgt sein.
Er machte kehrt, nie ging er weiter bis zu jenem grellen Sonnenflecken mitten auf dem Reitweg. Zerstreut blickte er, stehenbleibend, in das Dickicht – auch hier Staub auf den Blättern, selbst hier.
Rothwasser? Wie kam er darauf? Nun ja, er hatte sich durch den Verkauf diese störenden, quälenden Kalamitäten vom Halse geschafft – wie schwer es ihm doch wurde, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren! Fünf anstrengende Konferenzen waren allein für diesen Vormittag angesetzt. Schon disponierte er wieder.
Dora –?
In diesem Augenblick dröhnten von der Hofjägerallee drei langgezogene Hupensignale.
Dieser Schwerdtfeger, dieser Esel! Mußte er ihn gerade in diesem Moment unterbrechen.
Ärgerlich setzte der General seine Promenade fort. Er ging etwas rascher, sollte er warten! Ja, diese Wochen, da sie im Bade war, waren eine Art Probe gewesen. Er hatte diese Probe nicht bestanden, um ehrlich zu sein! Ja, das war es, nicht bestanden. Er hatte sie vermißt, kam sich verwaist und verlassen vor, niemand in Berlin, das Haus leer, auch Ruth auf dem Lande – die Stimmen rückten mehr und mehr in die Ferne, wurden unwirklich, nur Doras Stimme klang noch nah. Es schien auch, als ob die Menschen selbst mehr und mehr verblaßten – sie riefen unverständliche Worte, machten unverständliche Gesten. Er beachtete sie kaum, sie interessierten ihn nicht mehr, seine Mitmenschen, nein, sollten sie ruhig tun, was sie wollten. Und fünf Konferenzen – nun saßen sie schon und warteten, Weißbach schielte auf die Uhr.
Ja, es war die Wahrheit, leugnen wir sie nicht, er fühlte sich einsam ohne sie.
Einsam?
Welch ein furchtbares Wort, bei rechtem Lichte betrachtet! Nie in seinem Leben hatte er die Bedeutung dieses Wortes begriffen. Es war die Abspannung, die Nerven, natürlich. In ihrer Nähe fühlte er sich augenblicklich beruhigt, ausgeglichen. Etwas von ihrer Sorglosigkeit und Lebenskunst schien auf ihn überzuströmen.
Wie sie sich gefreut hatte über die kleine Uhr, die er ihr am ersten Abend brachte! Ein Kind, wahrhaftig, nichts als ein großes, lebenslustiges, immer heiteres Kind war diese ganze Dora, ein Quell der Verjüngung, sozusagen. Vielleicht beruhte die belebende Wirkung, die sie auf ihre Umgebung ausübte, gerade auf ihrer großen und seltenen Naivität und oft komischen Lebensunkenntnis. Wer weiß es?
Es galt zu überlegen, jedenfalls – ein bedeutungsvoller Schritt!
Ein Schritt, der wohl erwogen sein wollte, obgleich er sich ja schon Jahre mit diesem Gedanken beschäftigte. Wohl erwogen. Otto? Nun, Ottos Meinung war ihm schließlich gleichgültig, Otto fragte ja auch ihn nicht um seine Ansicht, wochenlang bekam man ihn nicht zu Gesicht. Sein Sohn war ihm fast ein Fremder geworden. Und Ruth? Nun Ruth würde sich damit abfinden. Sie zuallererst. Erst jetzt war ihm zum Bewußtsein gekommen, wie vernünftig diese Ruth in Wahrheit war. Ja, möglich, möglich, daß er ihr ganzes Naturell falsch eingeschätzt hatte. Sie war in ruhigem und ausgeglichenem Gemütszustand von Babenberg zurückgekommen. Ihre sentimentale Laune schien weniger tief gegangen zu sein, als er befürchtet hatte. Obgleich dieser jugendliche Schwarmgeist, wie man ihm berichtete, noch hinter Schloß und Riegel saß und seiner Bestrafung kaum entgehen dürfte. Offenbar hatte Ruth die Beschaulichkeit auf dem Lande dazu benutzt, nachzudenken. Der rasche Schnitt mit dem Messer hatte sich wieder als die beste Heilmethode erwiesen.
Gewiß, auch Ruth würde sich damit abfinden – vielleicht war gerade sie es, die ihn am ehesten verstand.
Aber sie selbst – Dora?
Das heißt nicht, daß er zweifelte!
Natürlich nicht, er konnte auch aus früheren Äußerungen Doras schließen – es würde für sie immerhin einiges bedeuten, gesellschaftliche Stellung, nun, und manches andere. Sie war ja aus guter Familie, ein Bruder sogar Major, aber immerhin, kleiner, unbedeutender Landadel. Und nicht zuletzt würde sie gewiß aufatmen, aus diesem Zustand finanzieller Unsicherheit herauszukommen.
Nein, nicht das.
Aber es gab da das und jenes, was ihn in der letzten Zeit stutzig – ist stutzig das richtige Wort? – nun sagen wir ruhig: stutzig gemacht hatte …
Einiges, unbedeutende Dinge, Kleinigkeiten sozusagen, Imponderabilien – aber vielleicht tat er ihr bitter unrecht? Wie? Nicht unmöglich ...
Wieder dröhnte das Hupensignal.
Der General hakte ärgerlich den Kragen zu.
»Es ist ganz unmöglich, auch nur fünf Minuten lang seine Gedanken zu sammeln«, sagte er laut und begab sich zum Auto zurück.
Die graue Limousine fegte in das heiße Berlin hinein: Sitzungen, Konferenzen, Vorträge. Schon warteten sie dichtgedrängt im Vorzimmer, und Weißbach schielte tatsächlich ununterbrochen nach der Uhr.
4
Nein, gewiß, der General kannte seine Tochter nicht.
Wäre er ein Beobachter, so würde er auf den ersten Blick gesehen haben, daß Ruth sich im Laufe des Sommers auffallend geändert hatte. Aber er war kein Beobachter: Sitzungen, Konferenzen, strategische Erwägungen – wie sollte er da ein Beobachter sein?
Ja, auffallend geändert!
Nicht mehr die schüchterne, scheue Ruth. Ihre Augen waren flammend und kühn, ihr Blick wich nicht mehr zurück. Fragend und forschend ruhte ihr Auge bei Tisch auf dem Vater, und häufiger als früher begegneten sich auf Sekunden ihre Blicke.
Etwas war hier nicht in Ordnung! Nein! Als Papa sie bei ihrer Rückkehr begrüßte, war etwas Auffallendes geschehen – noch heute zitterte die Betroffenheit in ihr nach. Papa war errötet! Noch mehr, Papa hatte die Augen niedergeschlagen. Aber man bedenke doch: Papa schlägt die Augen nieder!
Weshalb? Weshalb nur? Sie kannte Papa ja so genau. Irgendein Geheimnis war zwischen ihm und ihr.
Weshalb Papa, so sprich doch!
Aber der General war tief in seine Gedanken versunken und blickte nicht mehr auf.
Ruth hatte völlig ihr träumerisches, zerstreutes Wesen verloren. Sie sprach sogar etwas rascher als früher und nicht mehr so unsicher. Sie sang nicht mehr, trällerte nicht mehr vor sich hin, wie sie es früher zu tun pflegte – um erschrocken abzubrechen, sobald sie sich belauscht wußte. Ihre Lippen waren bestimmter geformt und klarer geschwungen. Das unsichtbare Lächeln, das früher über ihnen schwebte – fort war es.
Wie eine Fremde bewegte sie sich im Hause, die gesonnen ist, nicht lange zu bleiben. Sie lächelte über diese ewig dienstbereiten Ordonnanzen, über dieses Exzellenz hin und Exzellenz her, bald würde sie es nicht mehr hören. Ach, dieser Papa, der sich so ungeheuer wichtig nahm, dieser Otto, diese Dora, diese ganze Gesellschaft, die in den Tag hineinlebte und glaubte, es müsse so sein – nun, bald würde sie sie nicht mehr sehen. Schon wagte es niemand mehr, sich mit ihr in ein Gespräch einzulassen, weil sie unumwunden ihre Meinung äußerte.
Vorläufig, bis dahin, verrichtete sie wie früher ihre Arbeit in der Küche. Die Gäste hatte sie nach diesen heißen, stickigen Sommerwochen noch bleicher und elender angetroffen. Sie waren alle müde, sanken erschöpft auf den Stuhl, stützten den Kopf, während sie aßen. Alle Augenblicke gab es Differenzen, ihre Nerven flatterten. Die kleinen Schreibdamen flüsterten nur noch. Zuweilen kicherten sie leise, um sich rasch erschrocken umzusehen. Die Küche war auffallend still geworden.
Ruth war eifrig bei der Arbeit – aber so oft ein neuer Gast eintrat, blickte sie rasch nach der Türe. Offenbar, sie erwartete jemand, sie suchte jemand!
Sie suchte, um die Wahrheit zu sagen, jenen kleinen, alten Herrn im Havelock, ihn, der ihr auf der Treppe die schreckliche Nachricht mitgeteilt hatte. Tag für Tag erwartete sie ihn, sie hatte Geduld.
Aber er kam nicht. Augenscheinlich besuchte er diese Küche nicht mehr. Vielleicht war er auch tot? Schnell starben die Menschen in diesen Tagen. Die Erde verschluckte sie nur so.
Endlich ging sie in die Fabriciusstraße. Sie besaß sogar den Mut, das Leihhaus zu betreten. Mit welchen Gefühlen! Wie sie die Türe anstarrte! Aber sie weinte nicht.
Allein, hier wußte man nichts von dem Havelock. Er war ausgezogen, verschwunden.
Und doch, er war vielleicht der einzige, der ihr über jene Dinge Ausschluß geben konnte, die sie unbedingt wissen mußte. Klara, die mit ihr in Babenberg war, hatte ihr Hedis Erlebnis am Anhalter Platz erzählt – das war alles, was sie erfahren konnte. Seine Freunde, sein jüngerer Bruder, wie vom Erdboden verschwunden, niemand zu sehen; keine Nachricht mehr, man hatte offenbar alle verhaftet – nur sie ließ man in Ruhe.
Nach vielen Tagen, die sie durch das verwahrloste, übelriechende Stadtviertel streifte – ja, plötzlich sah sie ihn.
Das, das mußte er sein! Sie fühlte es augenblicklich.
Ein Rudel lachender und kreischender Kinder – und mitten darin ein Mensch. In diesem Augenblick geschah es, daß sie wie eine Seherin fühlte, er! Ja, er war es.
Er tanzte wie ein Hampelmann, und sobald die Kinder ihm zu nahe kamen, schlug er nach ihnen mit seinem steifen Hut.
Plötzlich fühlte er Ruths Blick. Es war dicht bei der Eisenbahnbrücke, die sich über die staubige Fabriciusstraße spannt.
Er hielt inne – gerade wollte er wieder mit dem Hut nach den Kindern schlagen – und suchte seinen Blick zu sammeln.
»Geht weg!« rief Ruth. Die Kinder drängten sich abseits zusammen. Eine Dame und der Betrunkene! Ungeheuer interessierte es sie. In der abenteuerlichen Vorstadt aufgewachsen, waren sie an die sonderbarsten Vorfälle gewöhnt.
»Ich möchte Sie einiges fragen!« begann Ruth.
»Gerne – stets bereit!« Herr Herbst schwang den Hut und schwankte erschrocken rückwärts. Er hatte Ruth sofort erkannt, und obschon er betrunken war, war ihm doch ihr verändertes Wesen aufgefallen. Ihre Stimme klang nicht mehr sanft und freundlich wie früher – hart, unbarmherzig. Ja, nun war sie also gekommen …
»Nein, nicht gesehen – nur gehört«, stammelte er erbleichend, während sein Blick flatterte. »Geschossen? Ja, geschossen! Ich hörte es. Weshalb, weiß ich nicht.«
Ja, weshalb hatte man wohl geschossen? Der Soldat schoß, weil man auf ihn schoß, wenn er nicht schoß. Vom Höchsten bis zum Niedrigsten drohte hinter jedermann in dieser Zeit ein Gewehrlauf.
»Und Sie können mir nicht sagen –?«
Die Gruppe der Kinder stand immer noch neugierig abseits. Die Dame und der Betrunkene, der hin und her schwankte und wahrscheinlich bald einige Backpfeifen erhalten würde – es war ungeheuer interessant.
»Sie meinen?«
Der Havelock hob die kleinen, schmutzigen Hände gegen die Hutkrempe, einer Ohnmacht nahe.
»Es muß doch jemand die Polizei aufmerksam gemacht haben, nicht wahr?« Ruth schrie ganz laut.
Welch eine deutliche, furchtbare Frage!
Der Havelock taumelte. Er kratzte die grauen Bartstoppeln, sein kleines, bleiches Gesicht zuckt. Dann hob er den steifen Hut in die Höhe und machte eine Bewegung, als wolle er zu tanzen beginnen, und plötzlich – plötzlich fiel er in die Knie.
»Ich, ich!« rief er, krächzte er, den Hut in der Hand und nickte. »Ich!«
»Sie –?«
»Ja, ich! Ich!« Er rutschte auf den Knien näher und senkte voller Zerknirschung den kleinen, bleichen Kahlkopf. Die Kinder lachten.
»Ja, ich, Gott sei mir gnädig!«
»Sie –!? Weshalb nur –?«
»Weshalb? Ja, ja –«
»Was hatte er Ihnen getan? Er?«
»Weshalb? Unerklärlich – wie alles in dieser Welt. Wie alles – völlig unerklärlich – ich liebe Sie ja, meine Dame, wie meine Tochter –«
»Hüten Sie sich!« Nun wird sie ihn an den Ohren packen, dachten die Kinder erwartungsvoll.
»Wie meine Tochter – unerklärlich!« schluchzte Herr Herbst, und der Hut entfiel ihm. »Ich bin ein Verkommener.«
Die Kinder kreischten und klatschten in die Hände.
»Stehen Sie doch auf!« schrie Ruth. »Stehen Sie doch auf!« Und sie schrie so laut, daß Herr Herbst sich tatsächlich taumelnd aufrichtete. »Was Sie sind, das sehe ich ja. Ein Verkommener, sehr wahr, völlig verkommen –«
»Ja, ja, ja!« Herr Herbst hob beschwörend die Hände. »Aber ich war nicht immer wie heute, meine Dame. Mein Sohn ist gefallen, seine Mutter …«
»Aber wissen Sie denn, was Sie getan haben?« unterbrach ihn Ruth außer sich. »Wissen Sie es denn? Wissen Sie denn, wen Sie verraten haben? Sie Judas Ischarioth?«
Bei dieser Schmähung prallte Herbst zurück.
»Wissen Sie es denn? Er war Jesus Christus, der wiedergekommen war, um die Menschheit zu erlösen! Ja, das war er! Sie wußten es nicht!«
»Jesus Christus!«
»Und Sie – ein Säufer –!«
Namenloser Schreck spiegelte sich in den kleinen, halbblinden Trinkeraugen. Er glaubte, was Ruth, bleich und rasend, schrie – und auch Ruth glaubte es im Paroxysmus des Schmerzes.
Rasch wandte sie sich ab und eilte fort. Eingeschüchtert sah das Häuflein der zerlumpten Kinder ihr nach. Sie waren verstummt, weil sie sahen, daß die Dame, die mit diesem komischen Betrunkenen zankte, plötzlich weinte.
»Sie haben ihn getötet – aber er ist unsterblich! Ein Prophet, ein Seher, ein Heiliger war er!«
»Sie haben ihn getötet – aber er ist unsterblich!« rief Ruth vor sich hin, und die Tränen stürzten über ihr bleiches, verklärtes Gesicht.
Selbst als sie in belebtere Straßen kam, rief sie ganz laut und unaufhörlich die gleichen Worte.
Aber niemand beachtete sie sonderlich: man war es nachgerade gewöhnt, daß Menschen vor sich hin sprachen und weinten.
5
Horch!
Das Feuer rollte.
Sie zerrissen die Eingeweide der Erde. Tag und Nacht wühlten schweißüberströmte Leiber in den finstern Stollen der Tiefe, ohne Pause klirrten die Förderkörbe in allen Erdteilen auf und ab. Die Hochöfen spien Feuer über den Kontinenten, Ströme von flüssigem Metall flossen in die Formen: Geschütze, Granaten.
Sie zerrissen ihre Gehirne. Die Ingenieure und Chemiker schliefen nicht mehr, neue Maschinen, neue Sprengstoffe und Gase, immer fürchterlicher. Hunderte von Millionen sannen nur Vernichtung, brüteten nur Tod: die Völker der Erde waren Mördervölker geworden.
Tag und Nacht peitschten die Schrauben der Schiffe das Meer – vorwärts! Tag und Nacht flogen die Züge durch Europa, vorwärts. Das Meer zittert und die Erde erbebt. Menschen, Pferde, Vieh, Wälder, die Güter der Erde, die Schätze der Welt. Sie hatten alle das gleiche Ziel.
Die Wolke!
Dort, dort, wo Menschen, Pferde, Vieh, Wälder, die Güter der Erde, die Schätze der Welt, zu Staub zermalmt werden – dort …
Schon färben sich die Flüsse rot, und auf den Meeren treiben Inseln von Leichen. Frankreich verwandelt sich in eine Wüste, Deutschland in einen Friedhof, die Welt in ein Lazarett.
Vorwärts, Soldaten! es soll sich entscheiden – die Kanonen sollen die Probleme lösen.
Die graue Limousine raste durch die glühenden Straßen Berlins. Konferenzen, Besprechungen. Schwerdtfeger wischte sich den Schweiß vom schmutzigen Gesicht. Auch er war um seinen Urlaub gekommen, aber schließlich war er nichts als ein Chauffeur und konnte Gott auf den Knien danken, daß er nicht da draußen fahren mußte, wo die Landstraßen sich öffnen und Feuer speien.
Die graue Limousine raste über die Linden. Müde und abgespannt blickte der General mit halbgeschlossenen Augen auf die Straße und gähnte.
Plötzlich galoppierte ein Berittener über den Reitweg, die Fußgänger blieben wie auf Kommando stehen und gafften.
Der General setzte sich mit einem Ruck aufrecht.
Unerhört!
Am hellichten Tage! Unter den Linden!
Niemals hätte man so etwas für möglich gehalten.
Ein paar Dutzend junger Burschen und Mädchen, hundert vielleicht, nicht mehr, eilten die Linden entlang und schrien. Eine Spritzwelle von Menschen, die über die Linden fegte, nichts sonst. War es nicht unerhört, daß jemand Unter den Linden schrie und die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich lenkte?
Der General rückte unruhig auf dem Sitz und blickte voller Empörung zum Fenster hinaus. Aber in diesem Augenblick hoben sich die Fäuste der jungen Burschen und Mädchen gegen ihn und schüttelten sich. Fassungslos zog er den Kopf zurück. Ja, was geschah, was ging hier vor? Sie schrien ein Wort, immer das gleiche Wort – er verstand es nicht. Er wagte nicht zu glauben, daß sie jenes Wort riefen – es ist unmöglich!
Oben beim Schloß aber wurde er plötzlich ernst. Ah, seht an! Eine Kette von Schutzleuten sperrte den Weg. Ein junger Bursche machte den Versuch – schon blitzte ein Säbel durch die Luft. Da lag er.
»Schlagt sie nieder!« schrie der General, purpurrot das Gesicht.
Und die Regierung?
Wütend lachte der General, wütend gegen Schwerdtfegers gekrümmten Rücken.
Die Regierung?
Sie schläft.
Die Gaffer auf den Bürgersteigen bewegen sich wieder. Die Spritzwelle hat sich verlaufen. Nichts ist geschehen.
Die graue Limousine raste weiter: Konferenzen, Besprechungen. Reserven! Nachschub! Verpflegung! Munition! Pferde! Sitzung über Sitzung – –
Vorwärts, Soldaten!
Die Schlacht brüllt, die Geschütze stampfen, kämpft, sterbt!
Schon runzelt der Divisionär am Telephon die Stirn, der Kommandeur erbleicht am Scherenfernrohr: der Angriff am rechten Flügel stockt! Vorwärts, Artillerie, wenn es sein muß, die eigene Artillerie soll euch vorwärts treiben, wartet!
Kämpft, sterbt! Die Augen der ganzen Welt sind auf euch gerichtet.
Schon zittert die Börse, die Papiere fallen. Ihr werdet doch nicht, ihr geliebten Helden? Ja, Helden! Drei Mark, drei Franken, drei Schillinge und drei Dollar am Tage, Auszeichnungen, Triumphbögen, künstliche Gliedmaßen – ihr kennt doch unsere Tarife? Ihr werdet doch nicht –? Kali, Kohlen, Kolonien …
Der Börsentelegraph tickt, Tag und Nacht, schon ist er erregt worden, es bröckelt irgendwo ab, es knistert, er tickt, ah, dieses entsetzlich erregte Ticken, ihr könnt es leider nicht hören im Kanonendonner, die Börsen von Berlin, London, Paris, Rom, Neuyork – schon hat sich ein Bankrotteur eine Kugel in den Kopf geschossen – und ihr zögert?
Die Kaiser und Könige träumen vom Einzug in die jubelnde Hauptstadt, die Präsidenten träumen von dem Moment, da sie den glänzenden Seidenhut hochheben, umbraust vom Beifallsklatschen.
Die Landesfürstin, höchsteigenhändig, die Gemahlin des Herrn Präsidenten, höchsteigenhändig, wird euch die kleine Blechmünze auf die zerschossene Brust heften –
Vorwärts, ihr Geliebten, ihr Herrlichen, Unvergleichlichen!
Die Greise, die die Geschicke dieser Welt lenken, hüsteln hinter den gepolsterten Türen in ihre kalten wächsernen Hände. Sie sitzen an langen polierten Tischen, mit rosaroten Kinderbäckchen, trommeln mit den Fingernägeln, ungeduldig – die Sekretäre, ohne Tadel, schleichen auf den Zehenspitzen über das glänzende Parkett. Die Greise kritzeln mit der Feder, werfen gebieterische Blicke.
Jedes Wort, das sie sprechen, bedeutet Tod, jeder Federstrich, jedes Lächeln – Tod, Tod – sie aber leben.
Seit Monaten, seit Jahren, flimmert himmelhoch die Staubwolke über der Walstatt, es regnet schwarzes Blut – die apokalyptischen Reiter ziehen über den Wolken dahin und gießen ihre Schalen aus über Europa. Gewogen, gewogen und zu leicht befunden! Die Feuerschrift der Geschütze flammt am verfinsterten Firmament.
Soeben ist das Kabinett der Greise zu einer neuen feierlichen Konferenz zusammengetreten.
Reserven!
Die Hände des Generals zittern. Erregt wirft er die Telegramme auf den Schreibtisch zurück. Fieberröte flammt über sein Gesicht.
Schon vor zwei Jahren hatte er eine Denkschrift eingereicht, und erst kürzlich war er wieder darauf zurückgekommen. Er hatte den Vorschlag einer Patriotin aufgegriffen, zwei Millionen Frauen in die Armee einzustellen, für Wachtdienst, Etappe, Bureau. Zwei Millionen, zehn Millionen, wenn man wollte! Aus den kräftigsten Frauen hätten sich auch Kampfbataillone aufstellen lassen, ohne Frage. Die Frauen hätten vorzügliches Material abgegeben. (Der General war gewohnt »Material« zu sagen, wie alle Militärs.) Auch die Frauen, ohne jeden Zweifel, hätten ihre Leiber voller Begeisterung den Kanonen entgegengeworfen!
Seine Denkschrift – sie verstaubte irgendwo, mit abfälligen Randbemerkungen versehen. Man hatte seinen Rat nicht beachtet – wie man Ratschläge überhaupt nicht zu beachten beliebte. Man wußte alles selbst, wußte alles besser.
»Ich klingle bereits das zweitemal und Sie kommen nicht!« sagte der General mit gerunzelter Stirn zu Weißbach.
»Es hat nur das einemal geklingelt, Herr General«, versicherte der Adjutant.
Der General erhob sich – sein Auge wuchs.
»Ach, nun fangen auch Sie an zu widersprechen.«
Der Adjutant schwieg und stand still. Seine Miene war bleich. Der General streifte ihn mit einem Blick. »Nun sind auch Sie beleidigt, Weißbach«, sagte er einlenkend. »Es fehlte noch, daß auch Sie beleidigt sind.« Der Blick des Adjutanten strahlte Vergebung.
Mit zitternden Händen ging der General hin und her. Dann blieb er vor Weißbach stehen und sagte ruhig: »Rufen Sie sofort alle Herren telegraphisch aus dem Urlaub zurück! – Wir müssen unsere Anstrengungen verdoppeln!« fügte er schreiend hinzu.
Reserven? Als ob nicht alles Grenzen hätte. Und welchen Ton sie neuerdings beliebten? Man hatte alles, was nicht umfiel, eingezogen, hatte die Lazarette ausgefegt, Fiebernde aus den Betten gerissen, vom Operationstisch hatte man die Leute fortgenommen, ohne jede Rücksicht.
Und Reserven?
Ja, es gab einfach keine Reserven mehr, das allein war die Wahrheit!
Das Telephon schrillte …
Im gleichen Augenblick wurde es draußen stockfinster, und ein knatternder Donner sprang mit teuflischem Gelächter über das Dächermeer von Berlin dahin. Gott sei Dank; die Hitze war unerträglich geworden.
6
Über den Potsdamer Platz schwang sich an Krücken ein Krüppel. Er berührte nur mit der rechten Fußspitze den Boden. Ein kleiner fahler Schatten schwang unter ihm.
Alle Passanten, wenige, sehr wenige, zertraten unter ihren Füßen einen ebenso fahlen, zusammengeballten Schatten. Es war Mittagszeit, der Himmel war mit einem Dunstschleier bedeckt, durch den die Sonne blendete. Welche Hitze?
Der Krüppel schwang sich die Leipziger Straße hinauf.
Auch diese Straße war leer! Wenige Menschen, leere Straßenbahnen. Berlin war wie ein Friedhof, den nur dann und wann ein Grüppchen von Hinterbliebenen besucht.
»Ja, ein richtiger Friedhof!« sagte der Krüppel.
Die wenigen Menschen schlichen, den Blick zu Boden gesenkt, dahin, scheu, ängstlich. Mit zitternden Händen griffen sie nach den Mittagszeitungen, warfen einen Blick hinein, falteten sie mutlos zusammen.
Krieg, Hunger, Tod – Tod, Hunger, Krieg …
Vor wenigen Wochen noch hatte die Hoffnung die Stadt neu belebt. Die feindlichen Reserven waren aufgerieben, England stand vor dem Abgrund. Ja, was blieb also noch viel zu tun übrig? Die Zeitungen schrieben es, ein Minister sogar verkündete es – nun schien aber doch nicht alles in Ordnung zu sein.
Wie Berlin vor Wochen gejubelt hatte, Tausende von Gefangenen, Hunderte von Geschützen, so jubelten jetzt Paris, London, Neuyork. Berlin aber war still geworden.
Ein Friedhof bei Tag, ein Friedhof bei Nacht. In den Nächten war häufig ein Donnern in der Stadt zu hören, ein Grollen, und die Schläfer fuhren erschrocken in die Höhe – horch!
Der Krüppel schwang sich an seinen Krücken die Wilhelmstraße hinauf. Hier, bei den Regierungsgebäuden, war es noch stiller. Kein Mensch. Nur ein Hund ging, mit Verlaub zu sagen, von Eckstein zu Eckstein.
Der Krüppel bog in die Linden ein und näherte sich der grauen Limousine, die vor Stifters Diele stand. Er strich neugierig um den Wagen herum. Schwerdtfeger saß im Schatten des Autos auf dem Bürgersteig und nahm wie gewöhnlich sein Mittagessen ein, ein Stück Brot mit etwas Käse, weiter reichte es nicht. Wie alle Soldaten erhielt er zwei Mark dreiunddreißig Pfennige am Tage und zwei Mark Verpflegungsgelder dazu.
Augenblicklich sprang Schwerdtfeger auf und nahm Haltung an. Der Krüppel war Offizier, Schwerdtfeger hatte ihn früher schon einmal gesehen. Ja, wie ein Gymnasiast, mit schneeweißen Haaren, großen, fiebernden Augen und kreidigem Gesicht, das unaufhörlich zuckte.
Der Krüppel schwang sich in Stifters Diele.
Hier, in einer halbdüstern Nische des vornehmen Restaurants, sah er ein erdiges Gesicht mit schwarzen Augenhöhlen und einem Blick, der brannte, ohne etwas zu sehen.
Auch Stifters Diele war fast leer.
»Ist es erlaubt?« fragte der Krüppel.
Das erdige Gesicht mit den schwarzen Augenhöhlen kam in Erschütterung, aufs tiefste erschrocken, die brennenden Augen, die nichts sahen, glitten prüfend über das Gesicht, das ohne Pause zuckte, über das schneeweiße Haar dieses Gymnasiastenkopfes.
»Ich hatte die Ehre –« Das zuckende Gesicht versuchte zu lächeln.
Da sah der General, daß es Hauptmann Wunderlich war.
»Ist es möglich? Es ist so dunkel hier. Bitte Platz zu nehmen – bitte mir die Freude zu machen, mein Gast zu sein, Hauptmann Wunderlich.«
Hauptmann Wunderlich lehnte die Krückstöcke an die Wand und zog sich an den Armlehnen des Sessels in die Höhe. Nie hatte der General die Krücken Wunderlichs erblicken können, ohne ihn ganz im geheimen um sie zu beneiden.
»Also in Berlin?«
»Ja. – Ich bin fertig!«
»Fertig?«
Wunderlichs Gesicht zuckte. Der Blick seiner großen Knabenaugen fieberte.
»Die Nerven«, sagte er. »Fertig! Leider, aber nicht zu ändern. Zusammengebrochen!« –
Aber, seht an, auch die Hände des Generals zitterten, und es schien, als ob es dem General Schwierigkeit bereitete, zu sprechen, er stammelte, stotterte, suchte nach Worten. Wo war die wunderbare Ruhe und Sicherheit des Generals hingekommen?
»Also nicht zufrieden mit den Nerven? Auf Urlaub?« Der General füllte mit zitternder Hand Wunderlichs Glas. »Auch hier in Berlin sind wir – überarbeitet, dazu die Hitze. Und an der Front?«
Flüstern.
»Scharen von Fliegern! Kämpfe in drei Etagen – in zwei-, drei- und viertausend Meter Höhe – für eine abgeschossene Maschine zehn neue – Kämpfe auch in der Nacht –«
»Auch in der Nacht?«
»Und Bombengeschwader – in jeder Stunde der Nacht – keine Ruhe mehr in den Quartieren und Lagern – kein Schlaf …«
»Hm.«
Der Kellner servierte.
Mit verzerrtem Gesicht berichtete Wunderlich. Er murmelte, damit niemand in der Diele ihn hören konnte.
»– allein fünfzigtausend Mann durch Gefangennahme verloren in drei Tagen, fünfhundert schwere Geschütze –«
»Ich weiß, weiß.«
Flüstern.
»– die Lazarette ohne Leinen, die armen Kerle in ihren schmutzigen Uniformen – Papierverbände, nackt begraben … Pferdefleisch –«
»Pferdefleisch?«
»– erst die Zunge, jeder ein Stück, mit dem Messer – in einer Minute liegt nur noch das Skelett des Pferdes da –«
»Hm.«
»– und die Pferde fallen zu Hunderten, Tausenden. Ohne jede Kraft –«
»– und Gelbkreuz, Blaukreuz?«
»Keine besonderen feindlichen Verluste. Man findet die Batterien verlassen. Aber dahinter stehen neue.«
»Und der – Geist der Truppe?«
»Herrlich – wunderbar, wie immer. Kämpfen bis zur Erschöpfung. Ohne ordentliche Verpflegung, seit Wochen ohne Ablösung ...«
»Einzelne Divisionen nur noch Stäbe – Feldküchen, Kraftfahrer …«
Flüstern. Raunen. Der General setzt den Kneifer auf und blickt argwöhnisch aus der Nische. Überall Lauscher. Wenn der Feind das erführe –!
»Eineinhalb Millionen amerikanischer Truppen –«
Plötzlich zieht der General die Uhr und erhebt sich rasch. Seine Hände sind eisig kalt. Er schwankt beim Hinausgehen.
Und die graue Limousine rast durch die glühenden Straßen: Sitzungen, Konferenzen …
Geschrei …
Geschrei in den Wolken. Verflucht die Welt, verflucht die Erde! Verflucht Könige, Präsidenten und Minister. Verflucht!
Betrogen um unser Leben, geopfert dem Wahnsinn!
Die Millionen der Gefallenen, Geschlachteten, Millionen und abermals Millionen, fahren über Europa dahin, in ihren armseligen Lumpen, zerfetzt ihre Leiber und schreien. Sie verdunkeln den Himmel.
Betrogen, betrogen!
Fluch auf euch!
Aber die Front donnert, und unendlich steht die Staubwolke über der Walstatt.
Nun fällt der Tau, die Nacht sinkt herab. Der Horizont funkelt, Feuer loht über das Gewölk, die Geschütze brüllen. Riesengroß steht Ackermanns Geist über dem Schlachtfeld, und lauter als die Geschütze schallt seine Stimme.
»Völker der Erde – Söhne von Müttern – Brüder …«
Furchtbar fauchen die Granaten um ihn. In seinem weiten grauen Mantel steht er, die Hände erhoben, seine Augen sind sprühende Sterne. Stahl, Feuer, Gase? Was wollen sie noch von ihm? Lauter als die krachenden Granaten tönt sein Ruf.
»Brüder!«
Und die schweißbedeckten Soldaten in den Laufgräben, Erdlöchern, Batteriestellungen lauschen. Welche Stimme?
Ackermanns Geist trägt die Verwundeten über das Schlachtfeld, fällt den Rasenden in den Arm, die den hilflosen Gegner niederschlagen wollen, führt die Hand des Arztes, der den blutenden Feind verbindet. Ackermanns Geist berührt die Toten, die mit offenen Augen liegen, Deutsche, Franzosen, Inder, Amerikaner, Engländer, Neger, Kanadier, Australier, und spricht: ihr alle werdet auferstehen am Tag der Versöhnung, ihr Heiligen und Märtyrer!
Ackermanns Geist erfüllt die finstere Wolke, die über der Walstatt bis zu den Sternen lodert, und schon – schon dämpft sich der Lärm der Geschütze. Schon schweigen sie …
Aber die Greise, die einen leisen Schlaf haben, fahren erschrocken auf in ihren Betten, lauschen und drücken auf die Klingel.
Wiederum beginnen die Geschütze fürchterlich zu toben.
Die Menschen lieben Macht und Glanz, wie Kinder. Leicht sind die Völker zu verführen – aber wehe denen, die sie verführen!
7
Nein, es ging nicht mehr! An einem Sonntagnachmittag schickte der General den Wagen wieder fort. Es geschah zum ersten Male seit Monaten. Vor Erschöpfung sank er um. Augenblicklich fiel er in Schlaf, und er schlief, röchelnd und stöhnend, den ganzen Nachmittag bis in den Abend hinein.
Als er wieder erwachte, war das Zimmer voll schwerer Dunkelheit. Verstört fuhr er auf. Sein Kopf war dumpf, glühendheiß. Der Schweiß rann über sein Gesicht.
Zehn Uhr! Sollte man es für möglich halten? Sieben volle Stunden hatte er geschlafen! Ein Unbehagen war aus dem Schlaf in ihm zurückgeblieben – etwas Schweres, Bleischweres – was war es doch? Hatte er geträumt? Das Haus war heiß wie ein Backofen, unerträglich. Er machte sich rasch zum Ausgehen fertig.
Auf der Treppe stockte plötzlich sein Schritt. Die Stiefelspitze zuckte zurück, als habe er auf der Stufe irgendein ekelhaftes Insekt bemerkt. Ja, ein häßlicher Traum, in der Tat, widerwärtig! Das Siegesgespann auf dem Brandenburger Tor – es war herabgestürzt, und sein Auto war von dem Trümmerhaufen, den Gaffer umstanden, aufgehalten worden. Welch ein Chaos und diese aus den Trümmern vorstehenden Pferdebeine! Und der Trümmerhaufe hatte sonderbarerweise fast den ganzen Pariser Platz bedeckt, ein förmlicher Berg –
Auf der Straße war die Luft herrlich und erfrischend – schon etwas herbstlich. Es mußte kurz vorher geregnet haben, das Pflaster war noch feucht. Über den Tiergarten flog rasch der Mond dahin, umwirbelt von kleinen Wolken, wie in einem Schneegestöber. Eine Droschke, ein paar Spaziergänger, tiefe Ruhe.
Der General ging langsam dahin und atmete die Frische des Abends ein. Bald hatte er auch das Unbehagen überwunden, das aus dem widerwärtigen Traume zurückgeblieben war. Er fühlte sich durch den langen Schlaf erfrischt, die abgehetzten Nerven waren ruhiger geworden. Die Gedanken gehorchten.
Er nickte vor sich hin. Klar stand es vor seinen Blicken, unheimlich klar, erschreckend klar. Es war gar nicht erst nötig, daß dieser Wunderlich kam und ihm noch diese fürchterlichen Fingerzeige gab. Nein. Er blieb stehen.
»Napoleon hatte wenigstens den Winter als Entschuldigung für sich«, raunte er vor sich hin, voller Verachtung.
Nun ging er wieder einige Schritte und nickte: »Sie lassen sich schlagen – regelrecht schlagen!« Ja, das war es.
Hatte er nicht immer gewarnt?
Diese ganze Offensive – glatter Wahnwitz! Unvermeidlich große Verluste, eine unsinnige Verlängerung der Front – keines der strategischen Ziele erreicht, der Angriff immer mehr nach Süden abgeglitten. Der Durchstoß zum Meer, die Abdrosselung der englischen Armee – alles mißglückt. Und was hatten sie, die Frage war wohl erlaubt, abermals an der Marne zu suchen gehabt? Eine Riesenausbuchtung der Front, gespeist von einer einzigen schwachen Bahnlinie. Wie? Weshalb? Unverständlich!
Aber selbst wenn diese verfehlte Offensive gelungen wäre, angenommen – was dann? Sie hatten ja nichts mehr in der Hand – nichts mehr, um den Erfolg auszuwerten. Die andern dagegen: Amerikas unerschöpfliches Reservoir an lebendem und totem Material, kaum angebrochen –
»Ja, schlagen, diese Gottähnlichen –!«
Würde man ihm heute ein Frontkommando anbieten – danke, danke ergebenst …
War er nicht immer dafür eingetreten, zurückzugehen auf befestigte Stellungen, zur Maas, zum Rhein, wenn es sein mußte, und den Feind anlaufen zu lassen? Millionen hätten sie noch opfern müssen! Jahrelang konnte man sich halten, und eine ungeheure Manövrierarmee war frei für politisch-militärische Aktionen in Italien, Mazedonien, der Türkei.
Plötzlich aber blieb der General verwundert stehen:
Licht? Bei Dora Licht?
In seine Gedanken versunken, war er bis zur roten Backsteinvilla gegangen, ohne jede Absicht.
Er sollte den heutigen Abend eigentlich bei Dora verbringen, aber sie hatte ihm gestern abgeschrieben, da sie aufs Land reisen wollte.
Erfreut, Dora zu Hause zu wissen, trat er ein. Seine Sorgen, die Gedanken, die ihn folterten, das Gefühl der Einsamkeit, das ihn marterte in letzter Zeit –
Die Haustüre stand offen. Niemand war in der Diele, das Licht brannte.
»Petersen!«
Aber niemand kam. Stille.
Aus der oberen Etage, die dunkel lag, klang ein sonderbarer Ton. Wie das Klagen eines Vogels, der immer den gleichen hilflosen, wehmütigen Schrei ausstößt, ein gefangener Vogel, der den Tod fühlt und nur noch einen Klagelaut hervorbringen kann. Eine Geige. Es war Hauptmann v. Dönhoff, der zurzeit hier Wohnung genommen hatte – bis er etwas Geeignetes fand. Zweihundert schöne Frauen, zwei Elefanten und ein Nashorn – und jetzt trug er also eine schwarze Brille und fing an, die Geige zu lernen. Er übte von früh bis nachts.
Der General legte ab und öffnete die Türe, die zum Zeltzimmer führte.
Auch in dem kleinen Vorraum brannte Licht. Der verzückte Heilige in seinem zinnoberroten Rock schwang mit rasender Gebärde sein Buch – ein blinder Spiegel – der General schlug den Vorhang zur Seite – auch im Zeltzimmer war Licht, die blaue Deckenampel brannte. Aber niemand war zu sehen.
Da hörte er Doras Lachen und eine Männerstimme.
Er schrak zusammen. Hatte sie Gäste? Wer war hier? Es war wohl besser, wieder hinauszugehen und Petersen zu suchen. Vielleicht war er im Garten? Ja, wo war er eigentlich, dieser Petersen, das Haus offen, jeder Einbrecher konnte hereinkommen.
Fern, ganz fern klang das monotone Klagen des unglücklichen, gemarterten Vogels, der seinen Schmerz in dem ewig gleichen Ton ausdrückte.
Der General war verwirrt. Es fiel ihm schwer, einen Entschluß zu fassen. Schließlich – hatte Dora Geheimnisse vor ihm? Plötzlich erinnerte er sich all der kleinen Widersprüche, der unbedeutenden, gänzlich unbedeutenden Begebenheiten, die ihn zuweilen, besonders in letzter Zeit beunruhigt hatten. Sie war also nicht auf dem Lande, und doch schrieb sie –
Ja, schwer einen Entschluß zu fassen. Wie viele Gäste mochten es sein?
Er roch den Duft von brennendem Reisig. Dora liebte es, mit Feuer zu tändeln und Reisig und Tannenwedel im Kamin zu verbrennen.
Schweigen da drinnen. Das Feuer knisterte – der Feuerschein flackerte über den Boden, und der Vogel klagte in der Ferne.
Der General wandte sich zum Gehen – aber da, gerade in dem Augenblicke, da er den Fuß rückte, um hinauszugehen und Petersen zu suchen – gerade in diesem Augenblick fesselte etwas seine Aufmerksamkeit im höchsten Maße: in der lichten Spalte des Vorhangs, neben dem bauschigen schwarzen Kissen, das auf dem Teppich drinnen lag – erschien ein himbeerfarbener kleiner Seidenpantoffel.
Er hypnotisierte den General. Dieser kleine Seidenpantoffel bewegte sich, als sei er lebendig – ein Fuß wurde sichtbar, ein Knöchel … trug sie fleischfarbene Seidenstrümpfe, oder was war es?
Nun erschien eine Hand, eine volle, gepflegte Hand, Doras Hand, und diese Hand warf mit einem kleinen Schwung eine angerauchte Zigarette in die Richtung des Kamins. Wieder bewegte sich der kleine himbeerfarbene Seidenpantoffel. Der Saum eines hellroten durchsichtigen Gewandes wurde sichtbar –
»Das ist ganz unmöglich!« sagte Dora laut und offenbar etwas ärgerlich. »Ich bitte dich, gewisse Rücksichten –«
»Rücksichten?« lachte eine Männerstimme. »Es ist töricht, ewig Rücksichten zu nehmen, Dora!«
Diese Stimme! Der General erbleichte.
Da knurrte ein Hündchen. Butzi, der Griffon, war erwacht und knurrte.
»Schweig!« sagte Dora.
Aber Butzi schwieg nicht. Im Gegenteil, er begann plötzlich mit heller Stimme wütend zu kläffen.
Der himbeerrote Seidenschuh verschwand.
»Ist jemand da? Komm, Butzi, Liebling.«
»Wer soll da sein?«
Der General wich zurück. Er war wie gelähmt. Aber trotzdem wich er zurück. Doch schon war es zu spät. Jemand stand auf, ein Schritt näherte sich, lautlos –
Ja, es war zu spät! Der lautlose Schritt war nun ganz nahe. Und eine Hand raffte den Vorhang auf.
Der General wich noch einen Schritt rückwärts, soweit ihn seine gelähmten Glieder trugen. Er rang nach Luft, die Uniform schnürte seine Brust ein – plötzlich hörte die Geige in der Ferne auf zu klagen.
Im Vorhang erschien –
Ja, was erschien da?
Es erschien eine, hochaufgerichtet, eine im ersten Moment übersinnliche Erscheinung, gleißend wie Luzifer. Ein orientalischer Priester, wenn man will, in einem gleißenden, feuergelben Gewand, über das grellrote Drachen züngelten. Mit bleichen Armen und einem bleichen bläulichen Gesicht mit schneeweißen Augen. Hochaufgerichtet. Otto.
Luft – der General faßte sich. Er hatte die Stimme ja sofort erkannt. Auch er richtete sich auf, wuchs in die Höhe und blickte in diese schneeweißen Augen.
Es waren die Augen seines Sohnes, mehr noch, es waren die hellen Augen der Hecht-Babenberg.
Diese Augen waren im ersten Augenblick erschrocken, sofort aber sammelte sich der Blick in ihnen. Sie wuchsen, und ein kalter Glanz stieg aus ihrer Tiefe.
Diese Augen sprachen, und er verstand ganz deutlich, was sie sagten! Sie glänzten verächtlich.
Du?
Du hier? Seht an! Du lauschst? Du spionierst? Ei, seht an!
Sehr interessant. Soll ich dich bei Dora anmelden?
Nun aber wurde der Glanz härter, kälter, eisig.
Gut! Nun weißt du es! Was willst du noch? Gehe!
Ja, gehe! sagten sie, diese Augen.
Und nun blendeten sie plötzlich.
Du kennst meine Gefühle für dich, oder? – Du weißt es – lange, lange! Ich ziehe die Konsequenzen, wenn du willst – ich stehe zur Verfügung – jederzeit …
Ja, das sagten also Ottos Augen – oder täuschte er sich?
Der Vorhang floß über einem nackten Arm zusammen: die Erscheinung war verschwunden.
»Niemand ist hier!« sagte Otto in gleichmütigem Ton, hinter dem Vorhang, und Dora rief das Hündchen, das immer noch kläffte, abermals zur Ruhe.
Eine – zwei – drei Sekunden lang hatten die beiden Hecht-Babenberg die Blicke gekreuzt. Nicht länger.
Mit rasender Gebärde schwingt der Heilige im roten Rock sein Buch. Durch den blinden Spiegel gleitet ein Gesicht, wie aus Kreide geschnitten. Jemand tastet sich durch die Diele, eine schwarze Hornbrille auf der Nase – richtet einige Sekunden die schwarzen Gläser auf ihn – oder war es ein Gespenst?
Zur gleichen Stunde ging Ruth die Tiergartenstraße entlang, ihrem Hause zu. Im Augenblick, da sie in das kleine verstaubte und verwahrloste Vorgärtchen eintreten wollte – sie hatte schon die Gittertüre in der Hand – rief eine leise Stimme ihren Namen.
Sie hielt inne. Im Schatten der Bäume gegenüber gestikulierte ein Schatten. Da sie zögerte, trat der Schatten einen Augenblick in den Lichtschein und winkte.
Ruth erkannte ihn. Zögernd überschritt sie den Fahrdamm. Der Mond flog dahin, hoch oben, von feinen Schleierwolken umtanzt.
»Sie? Was wünschen Sie von mir?«
»Schon seit Tagen versuche ich, Sie zu treffen. Bitte zu verzeihen. Ich habe neulich etwas zu sagen vergessen. Bitte, in den Schatten zu treten. Ich darf mich nicht sehen lassen –«
»Ich verstehe Sie nicht!«
»Vieles ist unverständlich – aber man hat mich gewarnt – ein hoher Herr ist ungehalten über mich. Man hat mir gedroht, mich in ein Irrenhaus zu sperren, wenn ich mich noch einmal sehen lasse.«
»Ich kann Sie wirklich nicht verstehen!«
»Tut auch nichts zur Sache. Nicht das wollte ich Ihnen sagen. Können wir ein bißchen weiter – so, danke – fürchten Sie nichts. Ich bin ein alter Mann, habe auch nichts getrunken heute. Mit Absicht. All diese Tage nicht. Ja, neulich – ich habe mich geschämt – aber gerade weil ich in diesem Zustand war, habe ich etwas zu sagen vergessen – etwas sehr Wichtiges.«
»Bitte –!«
»Nicht ich allein also, das wollte ich sagen –«
»Nicht Sie allein –?«
»Nein, nicht ich allein bin der Schuldige.«
»Warten Sie. Es kommt jemand. Gehen wir ein paar Schritte. So.«
Flüstern im Dunkeln.
»Nicht ich allein also, sondern gleichzeitig – vielleicht sogar früher, ich weiß es nicht – aber es galt gar nicht ihm, sondern Ihnen.«
Flüstern. Plötzlich ein Schrei. Es ist Ruth, die schreit.
»Unmöglich! Unmöglich! Unmöglich!«
»Ich bitte Sie, gnädiges Fräulein – gehen wir – gerade kommt – so, ein paar Schritte –«
»Ganz unmöglich!«
»Ich schwöre! Der Agent sagte es mir.«
Flüstern. Raunen. Wieder bewegen sich die Schatten im Dunkel der Bäume vorwärts.
Plötzlich bleibt Ruth stehen.
»Schwören Sie mir –!«
»Ich schwöre!«
»Schwören Sie mir – bei Ihrem Sohn, der gefallen ist –«
»Ich schwöre!«
»Beim Andenken Ihrer Frau – schwören Sie –«
»Ich schwöre!«
»Hören Sie: Sie sollen ewig verflucht sein, wenn Sie lügen –«
»Ewig verflucht soll ich sein –«
Ruth schlägt die Hände vors Gesicht und läuft in die Finsternis des Parkes hinein. –
Der Mond flog über den finstern Himmel, durch brodelnde Wolken hindurch. Aber schließlich kam er nicht mehr von der Stelle. Er blieb in einer pechschwarzen Wolke stecken, und endlich verschwand er vollkommen. Die Bäume des Tiergartens neigten die Wipfel – ein Windstoß pfiff über sie dahin.
In völliger Dunkelheit lag plötzlich die Stadt, schwarz und leblos, wie der Kadaver eines stachligen Riesentieres, das auf dem Marsch durch die Rübenfelder und Kartoffeläcker verendet war und faulte. So lag sie zwei, drei, fünf Minuten, dann aber verschwand sie in einer ungeheuren Staubwolke, die aus den Straßenschluchten emporschlug. Ein Gewirr von Blitzen griff nach ihr, umklammerte sie, um sie zu vernichten. Der Donner knatterte.
Plötzlich begannen die verspäteten Passanten erschrocken dahinzueilen! Nein, nicht das Wetter war es! Etwas ganz anderes –
Durch die dunkeln Straßenschluchten flatterte – in unheimlicher Eile – ein weiter, heller Soldatenmantel. Glänzende Hände, glänzend im Schein der Blitze, pochten donnernd an die Türen der Häuser: Auf, auf, ihr Schläfer, die Stunde ist gekommen! Die glänzenden Hände berührten die Schultern der Dahineilenden, daß sie erbleichten: Zögert nicht länger! An den schwarzen Scheiben der finstern Häuser fuhr ein glänzendes Antlitz vorbei: Schon sind sie unterwegs die Boten des neuen Reichs. Seid bereit!
Da trug der Wirbelwind den flatternden Soldatenmantel in die Höhe, und die glänzenden Hände, das glänzende Antlitz flogen mit rasender Schnelligkeit über die Dächer der Stadt dahin.
Was war es? Was für Dinge geschahen in dieser Stadt –?
Nun rauschte der Regen.
Die Schutzleute flüchteten, die Diebe und Einbrecher huschten in Torbogen – sonst war niemand mehr auf der Straße.
Ein herrlicher, wunderbarer Regen, kalt, klar, rücksichtslos stürzte aus dem schwarzen Himmel.
Hauptmann v. Dönhoff stand unter einer Haustüre am Ende der Lessingallee. Weiter war er nicht gekommen, das Wetter hatte ihn überrascht.
Hier stand er nun und lauschte glückselig auf das Rauschen des Regens und das Krachen der Donnerschläge. Ja, ganz wunderbar!
Da – eine Droschke klapperte dahin.
»He, Kutscher – hundert Mark für die Fahrt!«
»Heda, Droschke! Droschke, halt!«
Es war wieder nichts. Die Pferdehufe klappten weiter.
»Heda, Droschke! Hundert Mark!«
Ah, endlich hatte er Glück. Die Droschke hielt.
Hauptmann v. Dönhoff, mit der schwarzen Brille auf der Nase, tastete sich durch den Regen. »Wo sind Sie denn? Ich sehe etwas schlecht.«
»Hier stehe ich!«
Langsam schaukelte die Droschke durch die Sintflut. Dönhoff streckte die Nase durch das Fenster und schnupperte. Herrlich diese Luft, herrlich dieser Regen und geradezu berauschend das Knattern des Donners. Endlich etwas Lärm! Die Straßen waren wie reingefegt. Nur dann und wann das Klatschen von Pferdehufen und das Rasseln eines eisernen Ungeheuers, das Dönhoff als ein Auto feststellte.
Endlos war diese Reise in das Bayrische Viertel, aber ein Hochgenuß. Zum ersten Male verließ er sein Zimmer in der roten Backsteinvilla, wo keine Seele sich um ihn kümmerte. Frei! Frei! Er zündete sich eine Zigarette an, verbrannte sich etwas die Nasenspitze, aber das schadete nichts. Wie eine Reise erschien ihm diese Droschkenfahrt durch das dunkle, regenrauschende Berlin.
Da hielt die Droschke, und Dönhoff kroch heraus.
»Und nun, mein Freund, eine große Gefälligkeit, da ich schlecht sehe – klingeln Sie den Portier heraus. Ich möchte zu Fräulein Alexa Alexandra.«
Alexa Alexandra? Eine Tänzerin, das heißt weniger eine Tänzerin als eine Dame. Früher war er befreundet mit ihr, er hatte sie gewissermaßen entdeckt, kreiert. Petersen hatte ihm im Telephonbuch ihre jetzige Adresse aufgesucht.
Der Kutscher steckte sein Benzinfeuerzeug in Brand, überzeugte sich, daß die Banknote echt war, und begann den Portier herauszuklingeln.
»Er bekommt ein schweres Trinkgeld – sagen Sie –«
Und dieser Portier brachte ihn im Lift zu Alexa Alexandra hinauf.
»Bitte, klingeln Sie – ich sehe schlecht!«
Offenbar hatte Alexa Gesellschaft – Lachen, Händeklatschen, ein sehr lauter Phonograph, Stampfen – das traf sich ausgezeichnet.
Die Türe öffnete sich, und Dönhoff bat der Dame des Hauses zu sagen, daß »Rinaldo« vor der Tür stände und sie erwarte. »Rinaldo! Sonst nichts! Sie kennen doch den berühmten Räuberhauptmann? Ich bin es!«
Ah! Dönhoffs Herz pochte – es hatte nicht so laut gepocht, als die Granaten einschlugen – ein Ausruf, ein Schrei! »Rinaldo! Wirklich?« Und zwei Arme umschlangen Dönhoffs Hals, zwei weiche, gepuderte, duftende Arme.
»Rinaldo, Lieber, Liebster! Welche Überraschung!«
Aber sofort hatte Alexa herausgefunden, daß diese Sache mit den schlechten Augen auffallend war, diese entsetzliche schwarze Brille!
Sie schob diese Brille mißtrauisch in die Höhe – und da waren also, wo sonst die Augen sind, wo sonst diese Augen waren, sie kannte diese frechen Augen – zwei rote Nähte, keine Augen mehr.
Alexa stieß entsetzte Schreie aus. »Mein Gott, was haben sie mit dir gemacht?«
Sie weinte und stampfte mit den Füßen.
»Ah, diese Schurken!« schrie sie – und der laute Phonograph spielte einen Two-step – »Sie haben ihn blind geschossen!« Und sie drückte ein paar rasche Küsse auf diese roten Nähte, wo die Augen früher saßen.
»Meine Herrschaften!« – der Phonograph schwieg – »Ich stelle Ihnen hier meinen Freund vor, meinen lieben alten Freund, Baron Dönhoff – ein lieber Junge! Er ist blind – diese Schurken von Franzosen haben ihn blind geschossen! Er ist der berühmte Herrenreiter Dönhoff. Sie erinnern sich, meine Herren – er gewann so viele Rennen – Kitty, gehe weg – nun ist er also wieder in Berlin – ja, hier bist du zu Hause, du lieber Junge!«
Dönhoff lächelte verlegen. Er schämte sich.
Die Alexa küßte ihn, und er fühlte, wie ihre Tränen seine Wangen näßten. »Noch etwas – ladies and gentlemen – er wünscht nicht, daß man auf ihn die geringste Rücksicht nimmt. Also weiter!«
Der Phonograph ertönte wieder – die Füße, die Schuhe schlürften.
Die Alexa führte ihn in eine Ecke zu einer Ottomane. Parfüm, allerlei Essenzen, der Geruch eines scharfen Punsches, Musik und dicht an ihm vorbei flatterten die Röcke.
»Ganz ungestört sollst du hier sein, du lieber Junge. Du bist zu Hause und kannst es dir ruhig bequem machen. Siehst du denn gar nichts mehr? Nein! Oh, diese elenden Schurken! Hören Sie, Doktor, geben Sie ein Glas Sekt für Baron Dönhoff – vielleicht haben Sie Geld gewonnen, als Sie seinerzeit auf ihn setzten? Er gewann fast immer, ach, das waren Zeiten! Im ganzen sind fünfzehn Menschen hier, Rinaldo, sechs, sieben Damen. Ich werde sie dir vorführen. Lola!«
»Hier also, das ist die kleine Lola. Sie ist eine Ungarin eigentlich. Sie ist ganz schwarz, und ihre Brauen wachsen zusammen. Aber sie ist eine ganz kühle Person, ganz und gar nicht sinnlich – oder, Lola? Ja, so komm doch dicht an ihn heran. Verstehst du mich, er sieht ja nichts, er ist blind. Sei lieb zu ihm, sei nett – er ist nett zu mir gewesen, vor zehn Jahren, als ich noch Verkäuferin war und am Sonnabend in Halensee tanzte – ja, fühle nur, die Brauen wachsen tatsächlich zusammen – fühle nur – küsse ihn, Lola, du mußt nett zu ihm sein.«
Und Lola küßte Dönhoff und streichelte ihn.
»Das hier ist Fiffi – wie nett, sie kniet vor dir. Küsse sie, so! Sie ist die Freundin dieses kleinen Schwarzen dort, der mit dem Monokel, die beste Tangotänzerin in Berlin. Sie ist blond, aber ihre Haare sind gefärbt – Fiffi – er sieht doch nicht, er ist blind, ich muß ihm also alles beschreiben. Sie tanzt wunderbar und hat zwei erste Preise gewonnen.«
»Und hier, das ist Thea – sie ist etwas üppig – aber Thea, er sieht doch nicht! – sie hat ganz große blaue Augen und filmt. Du würdest dich in sie verliebt haben, weil sie so drollig ist. Küsse ihn, Thea, er ist ein so lieber Junge!«
»Und das hier – Rolli – come along! – Rolli – ein kleiner Teufel! Siehst du, sie bringt dir gleich Punsch mit! Sie ist erst achtzehn Jahre alt, aber schon völlig verdorben. Pfui, Rolli – beherrsche dich doch! Aber sie ist sehr süß. Sie hat, nun dir darf ich es ja sagen, eine kleine Schwäche für Frauen und kennt die Damen der höchsten Gesellschaft. Ihr Freund ist ein Dichter. Siehst du, sie trinkt an derselben Stelle des Glases, wo du getrunken hast. Sie will dir zeigen, wie lieb sie dich hat. Ja, das also ist der berühmte Rinaldo – nun entstellt ihn ja diese häßliche Brille etwas, aber man gewöhnt sich ja rasch!«
»Und das hier – Reh – sie heißt Rebekka – Reh, komm hierher. Siehst du, sie ist ein Kind. Sie hat Tränen in den Augen. Aber sie ist auch ein bißchen angetrunken. Reh! Was tust du? Ach, siehst du, sie weint. Küsse ihn, so, so, küsse ihn. Er sieht ja nicht, man muß nett zu ihm sein.«
»Du siehst, wie sie dich hier verwöhnen. Das ist Blanche, und sie bringt dir ein Pralinee. Stecke es ihm doch in den Mund! Blanche heiratet übermorgen, und dann werden wir Tag und Nacht bei ihr tanzen. Sie heiratet einen Sattler, der im Kriege sieben Millionen verdient hat. Ja, reizend wird es bei ihr werden. Fühle nur ihre Ringe. Fühle doch. Alles echte Steine, aber er ist so verschossen in sie. Fühle doch ihre Wangen. Hast du je so etwas Sanftes gefühlt? Ihr Teint ist herrlich. Fühle ihre Hüften – was sagst du? – Ah, siehst du, Rinaldo –«
9
Allmählich wurden die Donnerschläge schwächer, das Gewitter zog langsam ab.
Erst nachdem der General ungeduldig wurde und seinen Titel nannte, erhielt er telephonischen Anschluß. Augenblicklich meldete sich Major Wolff, der Nachtdienst hatte.
Der General ließ sich Vortrag halten. Wolff las die wichtigsten Telegramme vor, die wichtigsten Eingänge – eine volle Stunde sprach der General am Telephon. Das Gewitter sog an den Drähten, zuweilen klang die Stimme Wolffs ganz fern und klein. Um jede Kleinigkeit kümmerte sich der General. Er gab mit kühler, klarer Stimme Anordnungen – schließlich aber war alles erledigt. Bitte morgen um einhalb acht um telephonischen Anruf. Schluß und gute Nacht!
Augenblicklich vertiefte sich der General wieder in die Aktenstücke, ohne aufzublicken. Ja, nun waren sie alle erledigt. Nochmals breitete er die große Karte über den Schreibtisch. Staubecken, Überschwemmungsgelände, natürliche Hindernisse – es mußte schließlich noch in letzter Stunde gelingen, den Riesenkörper der Armee rückwärts zu leiten. Vielleicht verführte ihn der gegenwärtige Zustand seiner Nerven zu einer allzu pessimistischen Beurteilung der Lage.
Der General war noch in voller Uniform, er hatte sich nicht umgekleidet. Und immer noch rauschte draußen der Regen.
Auch die strategische Betrachtung war nun abgeschlossen. Er warf noch eine Anzahl Notizen auf den Block, für morgen. Ja, nun war alles Dienstliche erledigt.
Ohne jede Unterbrechung, voller Hast, begann der General plötzlich einen Brief aufs Papier zu werfen.
Während des einstündigen Telephongespräches, während er die strategische Lage analysierte – immer hatte er nur an diesen Brief gedacht, um die Wahrheit zu sagen. Er hatte ihn völlig im Kopfe entworfen, und nun rasch, rasch, um die Sache zu Ende zu bringen.
Ein Vermögen …
Nun – das war ja schließlich das wenigste!
Aber schon fühlte er Unruhe. Gemurmel in den Ohren, Stimmen, die von innen heraus kamen, nicht von außen her, und absurde Worte raunten. Sein Herz schlug, es pochte in der Brust, im Kopf, in den Armen, im Schenkel. Die Wände klafften, das starre Auge blickte durch die Spalten in die schwarze Finsternis, leer, tot, kalt und unendlich wie der Raum zwischen den Sternen. Erschauernd schob er den Schreibtisch weit von sich und sprang auf.
Licht!
Lauten Schrittes, absichtlich ging er ganz laut, wanderte er durch die Zimmer. Er sprach abgerissene Worte vor sich hin, lachte mit geschlossenen Zähnen.
»Wie? Wie? Freundschaft – Treue – Glauben – wie?«
Grau sein Gesicht. Er vermied es, in die Spiegel zu blicken – aber doch, ohne es zu wollen, sah er immer wieder ein graues Gesicht durch die Spiegel wandern. Er schlich dahin, gebeugt, scheu, verfolgt. Geflüster kroch über die Wände, die toten Dinge begannen sich zu winden, das Licht blinzelte.
Im Salon hing sein Porträt, gemalt kurz vor dem Kriege. Von einem Schützling von – ihr! Aus Gefälligkeit hatte er sich malen lassen, er gab sonst nichts auf moderne Malerei. Früher war er jahrelang Mitglied eines Kunstvereins gewesen, dem hoher Adel und Grundbesitz angehörte, man zahlte zwanzig Mark Jahresbeitrag und erhielt dafür jedes Jahr irgendein Kunstblatt. Längst war er ausgetreten, aber da sie es gewünscht hatte –
Die Hände auf das Schwert gestützt, hatte ihn der Künstler dargestellt. Das Gesicht war kantig, hart, entschlossen. Trotz der angegrauten Schläfen blühend von Gesundheit und Kraft. Der Blick voller Festigkeit und Ziel. Vielleicht ein bißchen geschmeichelt das ganze Bild.
Trotzdem, diese letzten vier Jahre waren wie ein Jahrzehnt.
Grau und erdig sah er sein Gesicht durch die Spiegel gleiten, obgleich er es vermied, hinzusehen. Auch sein Rücken, die Linie seines Rückens – sie schien ihm gebogen zu sein, obgleich er nicht hinsah, sondern den Blick abwandte.
Dieselben Hände, die in kraftbewußter Lässigkeit auf dem Schwertknauf ruhten, sie waren heute die Hände eines alten Mannes. Die Haut hatte eine fahle Färbung, die Adern auf den Handrücken waren geschwollen.
Ja, kaum war er den Hauptmannsjahren entwachsen – und schon war er alt! Und doch sah er sich noch als Leutnant vor sich! Seine für damalige Verhältnisse etwas stutzerhafte Uniform. Und doch sah er sich noch als Kadett vor sich, ganz deutlich, mit dem kleinen Seitengewehr und der altmodischen hohen Mütze.
Seit seinem zehnten Lebensjahre trug der General das farbige Tuch. Zivilkleidung hatte er nur höchst selten getragen, vielleicht einmal einen Jagdanzug auf dem Lande.
Mit zehn Jahren war er Kadett, mit achtzehn Leutnant, dann Hauptmann, dann Major, Oberstleutnant, Oberst, Regimentskommandeur. Im Sturmschritt hatte er alle Ränge durchlaufen – aber es schien ihm, als sei er eigentlich immer der gleiche gewesen, nur mit verschiedenen Rangabzeichen versehen. Seine Welt, seine Weltanschauung, seine Auffassung von Dienst, Vorgesetzten, Pflicht, Religion, Vaterland – sie hatten sich nicht geändert. Der Leutnant der gleiche wie der General.
Er war eigentlich nie jung gewesen, auch als Kadett nicht, nein. Nie jung, und schon wurde er alt!
Er drehte im Salon das Licht aus, um nicht mehr das zuversichtliche kraftstrotzende Gesicht des Offiziers mit den Ordenssternen sehen zu müssen – jugendlich trotz der angegrauten Schläfen.
Ja, ja, ja – keine Beschönigung, Mut! Otto, sein Sohn – ein Ehrloser! Er hatte ja seinerzeit im Frühjahr, als diese Geschichte mit der Hand passierte, sofort gewußt, ja, gewußt, augenblicklich und instinktiv, worum es sich in Wahrheit handelte! Aber er hatte nicht gewagt, es zu glauben. Offizier – ein Hecht-Babenberg – und doch! Ja, nun wußte er alles …
Der General kehrte wieder zum Schreibtisch zurück.
Ja, ein Vermögen, diese Frau – in der Tat, Rothwasser … Ihre Augen strahlten Reinheit, Treue, Unschuld. Es gab niemand, dessen Lachen und Stimme allein ein solches Maß von Vertrauen erweckte! Ihre Offenheit, ihre kindliche Naivität, ihre Unbefangenheit und Harmlosigkeit, unmöglich, gänzlich unmöglich – er hätte die Hand für sie ins Feuer gelegt.
Daß ihn seine Menschenkenntnis so trügen konnte!
Nein! Er legte die Feder weg. Schweigen, Schweigen – nichts sonst ...
Plötzlich horchte er betroffen auf. Eine Stimme!
Diese Stimme?
Langsam und heiß stieg ihm das Blut in den Kopf. Die Adern an den Schläfen zuckten.
Ottos Stimme! Er rief nach dem Burschen.
Wollte er ihn herausfordern, der – Infame? Der General sprang auf. Mit zuckenden Schläfen stürzte er zur Türe …
In der Tat, Otto war gekommen, wie er zuweilen kam, seitdem er im Westen wohnte, um irgend etwas abzuholen, Bücher, Wäsche. Er kam zu jeder Tages- und Nachtzeit, wann es ihm gerade beliebte, und knallte ohne Rücksicht mit den Türen. Jetzt war er gekommen, um einen Gummimantel zu holen. Er brauchte ihn, da es noch immer in Strömen regnete.
Dies war der eigentliche Grund seines Besuches. Der zweite Grund aber war, ganz offen gestanden, daß er dem General seine Furchtlosigkeit beweisen wollte. Nein, er hatte keine Furcht vor einer Begegnung, nicht die geringste. Aus diesem zweiten Grunde schrie er auch etwas lauter, als es eigentlich nötig war. Sein Zimmer hatte er absichtlich offen gelassen. Jeden Augenblick konnte die Türe gegenüber aufspringen – nun, er war gewappnet. Seine hellen verwegenen Augen waren auf eben diese Türe geheftet, die sich jeden Augenblick öffnen konnte. Er war bereit, die Konsequenzen zu ziehen – zu allem war er bereit. Papa sollte nie und nimmer auf den Gedanken kommen, daß er sich feige in eine Ecke verkrieche.
Aber nichts regte sich hinter dieser Türe, die zu den Zimmern Papas führte. Wahrscheinlich hatte er sein Kommen gar nicht wahrgenommen.
Der General – er war nicht weiter als bis zu eben dieser Türe gekommen. Sein Herz pochte so stark, daß er sich festhalten mußte. Keuchend und bebend stand er im dunkeln Zimmer, seine Beine zitterten.
Ein Schritt noch – und etwas ganz Furchtbares, etwas unsäglich Grauenhaftes würde geschehen …
Sein eigenes Blut hatte sich gegen ihn erhoben!
Die Türe öffnen – und schon, schon würde es geschehen, das Gräßliche – Vater gegen Sohn, Sohn gegen Vater – bis zur Vernichtung – das Grauen noch der Ururenkel, ewige Schändung des Namens, Schändung des Geschlechtes, Schändung der Schöpfung. Schon begann die Finsternis des Zimmers zu flammen.
»Wo sind meine Handschuhe, Jakob?« rief Otto.
Dann pochte er an Ruths Türe, und der General hörte die beiden plaudern, ohne zu verstehen, was sie sagten.
Fünf Schritte waren zwischen ihnen, zwischen ihm und seinen Kindern, der Korridor. Aber dieser Korridor war ein Abgrund, unergründlich wie die Mysterien des Blutes.
»Dann gute Reise, Ruth!« rief Otto und schloß Ruths Türe.
Ja, in der Tat, ein Abgrund, schauerlich und bodenlos wie das tausendfach unergründliche Schicksal selbst.
Die Haustüre krachte ins Schloß. Otto war gegangen.
Dank dem Himmel! dachte der General, während er heftig zitterte.
Immer noch stand er, die Dunkelheit lohte, immer noch keuchte er, und das Zittern seiner Beine wurde stärker mit jeder Minute.
Ja, nur ein Schritt, ein kleiner Schritt und es wäre geschehen. Das unsagbar Gräßliche. Das keine Macht der Welt hätte wieder auslöschen können, selbst die Allmacht Gottes nicht.
Es war geschehen, das unsagbar Grauenhafte!
Der General sah seinen Sohn erwürgt auf der Diele liegen.
Zitternd am ganzen Körper sank er in einen Sessel; der Schweiß brach aus seiner Stirn.
Otto aber eilte im strömenden Regen quer durch den stockfinstern Tiergarten. Zu Ströbel!
Lustige Kumpane, ein Fest heute, Wein, Spiel. Wie albern, diese kleinlichen Bedenken, die ihn bisher von Ströbels Haus ferngehalten hatten!
In förmlichen Wasserhosen verschwand die Straße, wo Ströbels Haus lag, aber ein wohlbekannter Lichtschein, wie der Schein eines Leuchtfeuers, zeigte den Weg.
Otto pfiff, den vereinbarten Pfiff, er klatschte in die Hände. Das erleuchtete Fenster öffnete sich, und ein Schatten neigte sich heraus.
»Wer ist da?« Es war Hedis Stimme.
»Ich bin es«, antwortete Otto mit heller und lauter Stimme. »Ihr habt doch Gesellschaft heute?«
Der Schatten trat zurück. Erst nach einer Weile wurde Hedis Stimme wieder hörbar.
»Sie sind es?« sagte sie stockend. »Nein, die Gesellschaft wurde abgesagt, Ströbel ist verreist!«
»Sie? Seit wann sagen wir Sie zueinander?« sagte Otto lachend. Er konnte Hedi nur undeutlich erkennen, durch Büsche hindurch, an denen das Wasser herabrann. Das erleuchtete Fenster ging auf einen kleinen, dichtbewachsenen Garten hinaus.
Wieder zögerte Hedis Stimme. »Es ist völlig nebensächlich,« sagte sie, »aber lassen wir es dabei. Er mußte unerwartet in Geschäften fort, und der Abend wurde verschoben.«
»Schade! Sehr fatal!«
Der Regen prasselte auf Ottos Mantel, Ströme von Wasser wirbelten um seine Füße. Selbst aus dem Boden sprangen Bäche.
»Ja, leider«, sagte Hedi und schickte sich an, das Fenster zu schließen. »Gute Nacht.« Der Regen verschluckte ihre Stimme.
»Einen Augenblick –« beeilte sich Otto, und die Fensterflügel blieben halb offen stehen. »Ich bin durch diese Sintflut gewatet, in der Erwartung, fröhliche Menschen zu finden –«
»Das ist sehr bedauerlich«, sagte Hedi spöttisch.
Otto lachte belustigt auf. »Sehr bedauerlich? Hören Sie, Hedi – oder höre, Hedi – ich finde es töricht, Sie zu dir zu sagen – halte du es ganz wie du willst – ich hatte gerade heute das Bedürfnis, Freunde zu sehen – sei nett und lieb, öffne und koche etwas Kaffee. Ich bin völlig durchnäßt.«
»Ich bin ganz allein.«
»Ist das ein Grund –?« Eigentümlich war der Tonfall dieser Frage.
Hedi antwortete nicht sogleich. Er fühlte ihren Blick.
»Gehe doch zu ihr!« sagte sie dann. Aber sie schloß das Fenster nicht.
Otto stockte.
»Ich komme soeben von ihr!« sagte er hierauf. Diese Antwort war sehr kühn, und er wußte genau, daß er alles aufs Spiel setzte. Aber er hatte seiner Stimme einen gleichgültigen und gelangweilten Klang gegeben.
Schweigen. Der Regen rauschte.
»Lebst du glücklich mit Ströbel?« begann Otto von neuem, in völlig geändertem, vertraulichem Tone.
»Was für eine Frage? Was kümmert es dich?«
»So öffne doch, Hedi, und wir werden etwas plaudern.«
Hedi schwieg. Nach einer Weile sagte sie, leise und bebend: »– Ich öffne!«
Kaum aber hatte Hedi die Türe aufgeschlossen, so riß Otto sie an sich und vergrub seine Lippen in ihren Hals.
Sie stammelte.
10
Mehre den Schatz!
Mehre den Schatz des Guten und Schönen! Lege nicht Hand an die Geschlechter, die nach dir kommen – –
Friedlich säuselt der Morgenwind.
»Lieber Junge,« – schrieb Hauptmann Falk an Otto – »mit dem Urlaub war es diesmal nichts. Und ein Flieger hatte mir schon versprochen, mich in seinem Kahn mit nach Berlin zu nehmen. Drei Tage hinten, immer in Alarmbereitschaft, kein Schlaf, Schwärme von feindlichen Fliegern, in jeder Nacht Verluste. Die Sache hat sich anmutig ausgewachsen! Heute abend wieder in Stellung. Wollte Dir gerne mehr schreiben – aber ich kann nicht. Es gibt gewisse Dinge. Nun, wir kämpfen, tun unsere Pflicht. Herrliche Leute! Das Feuer wächst von Tag zu Tag –«
Ja, von Tag zu Tag wuchs das Feuer!
Bis nach London, nach der Schweiz war der Lärm der Kanonen zu hören. Es stand sogar in den Zeitungen.
Tausende sanken täglich dahin, Zehntausende –
»Trinke, Kamerad!«
»Erlöser!«
»Trinke! Stütze dich auf mich!«
»Erlöser!«
»Komm, komm, ich trage dich!«
»Erlöser! Erlöser!«
Auf Hunderte von Kilometern standen die Geschütze in einer Breite von zehn bis fünfzig Kilometern, Rohr an Rohr, gestaffelt, auf Kähnen, Flößen, Eisenbahnwagen und spien Feuer und Tod. Die Geschosse wurden von keuchenden Zügen herbeigeschleppt, von Dampferflotten, Schleppkähnen, endlosen Reihen von Lastautomobilen. Die ganze Welt arbeitete im Schweiße ihres Angesichts, um die Mäuler aus Stahl zu speisen. Die Geschosse, mannshoch, wurden auf besonders konstruierten Karren zu den Geschützen gefahren, durch Krane in die Rohre gehoben. Sie wurden zur Reklame in Zeitschriften abgebildet, einzeln und zu Tausenden aufgestapelt. Die Astronomen, die sonst der Bahn der ewigen Gestirne folgten, berechneten die Flugbahnen der Ungeheuer, die sich in den blauen Äther hineinstürzten. Tausende, Zehntausende von Geschützen spien Tod Tag und Nacht.
Und die Wolke wälzte sich, unendlich, über der Walstatt. Staub – die zermalmte Fruchterde, der zermalmte Fels, der zermalmte Baum, der zermalmte Mensch flimmerten in der Luft. Der Staub zog über ganz Europa, die Staubteilchen zermalmter Menschenleiber regneten auf ganz Europa, auf die ganze Erde nieder.
Endlich war es dem Menschen gelungen, den höchsten Gipfel des Wahnsinns zu erklimmen. Die Erde selbst war nichts als eine gasgefüllte Bombe, die durch den Weltraum raste.
Hunderttausende von Kilometern waren durch die Erde gewühlt, Menschen und Tiere keuchten – mit dem gleichen Aufwand an Energie hätten die Wüsten sich in Gärten verwandeln lassen – noch aber wurde um das Weltmonopol des Plünderns gekämpft.
Erlöser! –
»Lieber Junge,« – schrieb Hauptmann Falk an Otto – »ich weiß nicht, ob diese Zeile Dich noch erreichen wird. Der Kommandeur ist schwer verwundet worden und einige Leute wollen es unternehmen, ihn in der Nacht durch das Feuer zu tragen. Sie wollen diese Zeilen mitnehmen. Sage allen, daß wir unsere Pflicht tun! Zweiundsiebzig Stunden haben wir nicht geschlafen und kaum gegessen. Wir können nicht mehr. Bald werde ich wohl hinter Stacheldrähten spazierengehen. Aber sage allen, daß wir kämpfen und sie uns nicht umsonst haben sollen! Ich werde Nachricht geben, wenn ich kann. Alles Bisherige war Kinderspiel –«
Dies aber war der letzte Brief, den Otto erhielt. Wie durch ein Wunder kam er durch, obgleich der Kommandeur und seine Träger auf dem Rückwege getötet wurden. Man fand den Brief bei einem Mann ohne Beine, der verblutet war. Ein Offizier, dessen Name unleserlich war, hatte es auf die Rückseite des Briefes geschrieben.
Hauptmann Falk, genannt die Feuerwalze und wenn es hoch herging, die glorreiche Feuerwalze, konnte keine Briefe mehr schreiben …
Ein Erdloch. Und aus diesem Erdloch sieht eine Leiche mit entblößten Zähnen. Die Leiche wendet langsam den Kopf und späht aus. Staub treibt, Staub flimmert. Wenig zu sehen. Die Wimpern der Leiche sind voller Staub und auch ihre rotweißen Haare sind gepudert, die weißen Lippen haben den Staub zu einem weißen Brei zerrieben. Ruckweise atmet diese Leiche und stößt dabei mit dem Kopf in die Luft. Die Uniform ist beschmutzt, eben hat die Leiche gebrochen.
Fünfzig Schritte feldein, im Staub, kohlt ein Flugzeug. Er war der letzte, der kam, er warf Nahrungsmittel ab, aber er kehrte nicht zurück. Fünf Schritte zur Linken aber liegt ein gekreuzigter Mensch auf der Erde, mit gebrochenen Gelenken, Arme und Beine von sich gestreckt, vom Luftzug fast völlig entkleidet, die Fetzen angesengt, flachgedrückt, das Gesicht ins Genick verdreht. Und noch schwelt das versengte Gras von den giftigen Dämpfen der Granate, die ihn kreuzigte. Es riecht nach verbranntem Fleisch und verbrannten Haaren.
Zehn Schritte zur Rechten aber kauert eine Gruppe von Leichen um ein Maschinengewehr, und sobald die Leiche im Erdloch die Hand hebt und die Zähne bleckt, so feuert sie. Schatten taumeln im Sandsturm. Schatten kommen, nähern sich, versinken. Aber weshalb geht die Leiche im Erdloch nicht zu dem Maschinengewehr? Das ist es eben. Sie kann nicht. Durch einen Balken sind ihre Beine festgeklemmt.
Und so kann sie nur die Arme heben, die Zähne blecken und schreien – aber man hört nichts.
Tanks kriechen im Sandsturm. Dort die Höhe, schwarzer Qualm. Durch den Sandregen ist zu sehen, wie Menschenleiber in die Luft fliegen – und Hauptmann Falk sieht deutlich die Sturmhauben, deutsche Sturmhauben, wirbeln. Dort im Nebel – Nebelwesen mit erhobenen Händen, fern, klein. Und die deutschen Batterien, sie, die stets bereiten, wo sind sie? Nichts, nichts, kaum zuweilen ein Einschlag drüben – völlig außer Gefecht, vergast.
Schatten im Sandsturm, im Qualm. Und wieder schreit er und bleckt die Zähne. Obschon er seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hat, muß er sich wieder erbrechen. Die flachen Chinesenhüte verschwinden, versinken.
Zwanzig Kilometer hinter der Feuerlinie fährt ein schweres Eisenbahngeschütz aus dem Wald, von gutgelaunten, schwitzenden Kanadiern in Hemdärmeln bedient. Das Langrohr steigt in die Höhe, wird abgerissen. Die Mannschaft stürzt zurück, die Hände gegen die Ohren gepreßt.
Die Granate war unterwegs. Es war jene Granate – –
Ein Tank faucht durch den Sandsturm, hinweg über das Erdloch. Flache Eisenhüte. Amerikaner. Sie haben die Gewehre umgehängt und trotten durch den Sandsturm dahin. Nichts stört sie, sie haben keine Eile.
Vor den flachen Eisenhüten einher schreitet ein junger amerikanischer Offizier. Ein Deutscher, namens Martin. Man hat ihm gesagt, daß die deutschen Soldaten den Kindern die Hände abschneiden. Er hat es in den Zeitungen gelesen, er hat sogar Abbildungen gesehen mit eigenen Augen. Und nun ist er gekommen, diese Kinderschänder vom Erdboden zu vertilgen.
11
Pünktlich auf die Minute erhob sich der General am nächsten Morgen. Er hatte fast nicht geschlafen in dieser Nacht. Funken sprühten vor seinen Augen, er sah schlecht. Wieder zuckte sein rechtes Augenlid. Seine Haut war trocken und heiß, er hatte Fieber.
Nicht einmal Niki, der in seinem Bauer zwitscherte, gönnte er heute einen Blick. Teilnahmslos, schwerfällig, automatisch bewegte er sich, wie im Halbschlaf.
Punkt einhalb acht klingelte das Telephon, das Amt, wie befohlen.
Der General taumelte am Apparat. Der Hörer zitterte in seiner Hand. Er war genötigt einen Stuhl heranzuziehen und lallte, als er sprechen wollte.
Schlechte Nachrichten, offenbar. Ja, schlechte, sehr schlechte!
Und niemand, dachte der General, niemand – das Reich wankt – und niemand, nichts als Unfähigkeit, Dünkel und Verblendung!
Schlimmer noch – schlimmer! Ein Verbrechen …
Das Haus war leer, tot, das Speisezimmer düster und verlassen.
Ein Brief?
Seht an!
Man schrieb Briefe!
Schon von weitem, obschon schwere und düstere Gedanken ihn niederdrückten, sprang der weiße Umschlag in seine Augen. Auf dem Frühstückstisch lag dieser Brief. »An Papa!«
An Papa! Man schreibt Briefe!
Er hatte nicht den Mut, diesen Brief zu öffnen. Was sollte Ruth zu schreiben haben? Er ließ den Brief in die Tasche gleiten. Seine Wangen zuckten. Nun, es mochte recht gut sein, daß sie etwas mißverstanden hatte, seine Fürsorge falsch deutete – sie war jung und konnte nicht begreifen, daß ein Vater sich sorgte, daß er nur aus Liebe für sein Kind, nur aus Liebe, wohlgemerkt –
Plötzlich erhob sich der General.
Er war erbleicht.
»Therese?«
Etwas Unglaubliches war geschehen! Der General war in die hinteren Räumlichkeiten gekommen, die er nie zuvor betreten hatte.
»Meine Tochter ist verreist?«
»Ja. Ruth ist abgereist.«
»Wohin? Sie wissen es nicht?«
»Nein – aber ein Brief –«
»Ich weiß –«
Der General schwankte durch den Korridor. Mühsam kletterte er in den Wagen.
»Ah! Ah!« stöhnte er, als die Limousine dahinschoß, und bedeckte die Augen.
Ungeöffnet stak der Brief noch in seiner Tasche.
Ein deutsches Feldgeschütz fuhr plötzlich mitten im Sandsturm auf. Was wollten sie? Waren sie wahnsinnig? Verschwunden ist das Feldgeschütz –
Furchtbar rollt die Brandung aus Eisen und Blut. Die Kanonen knackten, als würden Knochen in der Luft zerbrochen.
Die Front wankte, kein Zweifel, keine Beschönigung mehr. Schon klafften breite Risse.
Die Mauer aus Menschenleibern, hundertfach aufgefüllt, hundertfach in Stücke geschossen, in jede Bresche stürzten sich neue Menschenleiber, ja, nun wankte sie. Diese Mauer aus Blut, aus menschlichen Gehirnen, aus menschlichen Herzen, die vor Liebe glühten und sich verzehrten – sie stürzte.
Die Karte war ausgespielt, die letzte Karte, ausgespielt gegen alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit. Sie hatte verloren.
Hunderte, Tausende von Granaten in der Sekunde, Einschlag neben Einschlag. Die Hochöfen der Welt sind gegen dich im Kampf. Die erschöpften, verbluteten Truppen sahen sich nach Unterstützung um. Die Kameraden, wo sind sie? In Finnland, Livland, Polen, Rumänien, Mazedonien, Syrien, in der Ukraine, im Kaukasus – weit, weit, sie können nicht helfen.
Und jeden Tag entsteigen zehntausend frische, mutige, wohlgenährte Männer dem Ozean.
Der Hagelsturm von Eisen rast. Explosionen, Explosionen …
Pulvermagazine fliegen in die Luft, Gaskessel explodieren, Städte verschlingt die krachende Erde – das Trommelfell birst, Blut sickert aus den Ohren …
Über die ganze Erde ist das furchtbare Krachen der zusammenbrechenden Mauer zu hören.