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Erster Teil


Erstes Buch

 

1

Einige Ordonnanzen, die die Treppe emporeilten, blieben plötzlich wie angewurzelt stehen, ein junger ordenglitzernder Hauptmann mit rosigen Wangen, eben im Begriff sich zu schneuzen, verbarg in äußerster Hast das Taschentuch, und nur einem Drillichkittel gelang es noch im letzten Augenblick, in die Portierloge zu entkommen: oben auf der Treppe leuchtete der hellrote Mantelaufschlag eines Generals.

Mit breitem Steingesicht, den Blick verborgen in den grauen Augenhöhlen, die massige Gestalt von schweren Gedanken eingehüllt, stieg der General v. Hecht-Babenberg langsam und ohne jede Eile die breite Granittreppe zum Foyer hinab. Die Augen der angewurzelten Ordonnanzen folgten ruckweise jedem seiner Schritte, der junge ordenglitzernde Hauptmann mit den rosigen Wangen erstarrte in seiner Verbeugung.

Der General nahm nicht die geringste Notiz von ihnen. Ganz Kälte, ganz Würde, ganz Sammlung schritt er zwischen ihnen hindurch. Seine Lackstiefel blitzten, und ein feiner Parfümgeruch blieb hinter ihm zurück.

In diesem Augenblick stürzte der Portier aus seiner Loge und überreichte dem General einen Brief.

»Soeben abgegeben, Euer Exzellenz!«

Zögernd trat der General unter die Bogenlampe, die aus der Decke des Foyers herabhing. Der Umschlag des Briefes, dünn, ein ungewöhnliches, giftiges Hellgrün, mißfiel, die Schrift. Er drehte den Brief mißtrauisch zwischen den Fingerspitzen. Ganz offenbar empfand er es als eine Verletzung der Achtung, die man seinem Range schuldete, ihm einen Brief von derart geschmackloser, ja unangenehmer Färbung zu senden. Die Stirn zuckte. Ohne Absender, eilt, persönlich –

Dann aber fuhr er entschlossen in den Pelz, unter den hellroten Aufschlag, und holte den goldenen Kneifer hervor. Eine feine Ziegelröte überzog langsam das breite Steingesicht, den Hals, der aus dem gestickten Kragen hervorquoll, das knorpelige, große Ohr – er faltete den Brief zusammen und schob ihn unwillig in die Manteltasche.

»Wer hat den Brief –?«

»Ein Herr, ein älterer Mann – soeben –«, stammelte der Portier und schwankte bestürzt auf den dünnen Beinen.

Der Portier, ein alter Mann, Veteran von 1870, allerlei Münzen und Medaillen auf der Brust, kannte seine Leute. Schon an der Art, wie Exzellenz den Brief zwischen den Fingerspitzen drehte, hatte er erkannt, daß Exzellenz ungehalten waren. Aber dieser ältere Herr hatte solange auf ihn eingeredet – sein einziger Sohn – eine Audienz, hm – sogar eine Zigarre – und schließlich war es ja nur ein Brief, richtig adressiert, wie täglich Dutzende in seiner Loge abgegeben wurden.

»Ein älterer, etwas kleiner Herr, Euer Exzellenz. Vor zehn Minuten. Er ist schon öfter hier gewesen und fragte nach Euer Exzellenz.«

»Öfter hier gewesen?«

»Ja, schon einigemal – und – ah, ah: da ist er ja – an der Türe!« rief der Portier plötzlich erleichtert aus.

Ein kleines Gesicht von glänzender, stahlblauer Blässe, wie blauer Schnee, hatte sich in diesem Augenblick der Scheibe der Türe genähert, vorsichtig, spähend. Eine Larve eigentlich, kein Gesicht, eine faustgroße Larve mit Gramfurchen und blinkenden Augen.

Der General drehte den Kopf – aber sofort prallte das kleine blaue Gesicht wieder von der Scheibe zurück. Ein steifer Hut, ein Havelock verschwanden in der tiefblauen Dämmerung.

»Da – nun läuft er.« Der Portier murmelte ärgerlich vor sich hin und warf das Gewicht seines hageren Körpers gegen die schwere Türe. »Und mir macht er Scherereien. So sind sie!«

Ganz Kälte, ganz Würde und Sammlung schritt der General die Granitstufen hinab, ohne einen Blick auf die Straße zu werfen. Ungeduldig surrte der Motor der grauen Limousine.

Der Wagenschlag klappte, der Portier machte seinen gewohnten tiefen Bückling, und die Limousine flog dahin.


Der General vergrub das Kinn in den Pelz.

»Dieser Schurke!« dachte er und das Steingesicht zitterte. »Aber es sieht ihm ähnlich!«

Die Augen in den tiefen Höhlen sprangen auf – hier im dunkeln Wagen, wo aufdringliche Blicke ihn nicht belauerten, konnte er getrost die Augen öffnen – es waren helle, große Augen, geschliffene Linsen.

An der Ecke des großen roten Amtsgebäudes stand der kleine ältere Herr im Havelock und zog den steifen Hut, als der Wagen des Generals vorüberjagte. Sein Gesicht, blau wie Schnee, leuchtete, und auch seine Glatze leuchtete blau.

Tiefblau und glänzend wie Stahl sank die Dämmerung des nassen Wintertags über Berlin. Die Scheiben des Autos glänzten, irgend etwas glitzerte hoheitsvoll im Innern –. Da verschlang eine stickige Rauchwolke den Wagen. Augenblicklich aber betrat der Mann im Havelock den Fahrdamm und folgte dem Auto des Generals mit kleinen eiligen Schritten, als ob er es einholen wolle.

Die Limousine flog durch die dämmerigen Straßen und überspülte die Fußgänger mit einer Welle von Schneewasser und Schmutz. In dem Luftwirbel zwischen den hinterm Pneus tanzten schmutzige welke Blätter, die aus dem Tiergarten herübergeweht worden waren, und ein Zeitungsblatt, das ein Passant, in der Eile sein Leben in Sicherheit zu bringen, verlor, rollte rasend hinterher. Bei den Kurven pflügten die Hinterreifen breite Schlittenspuren in den klebrigen Schmutz. Die Hupe dröhnte, die Marspfeife trillerte. Achtung!

Die flüchtenden Fußgänger erblickten nichts als einen Pelz, eine Mütze und, wenn sie Glück hatten, das leuchtende Rot des Mantelaufschlags. Ein General! Einer von jenen Auserwählten, die die Schlachten schlagen, von denen die Heeresberichte melden. Die Verwünschungen erstarben auf den Lippen. Eine Ehre, sozusagen eine Ehre, beinahe vom Auto eines Generals überfahren worden zu sein!

Ecke Wilhelmstraße kroch ein Krüppel in Feldgrau durch den Straßenschmutz, und die Limousine hätte ihn beinahe in Stücke gerissen. Dieser Krüppel schleppte sich an zwei niedrigen Krücken dahin. Sein Rückgrat war bis zur Erde gekrümmt und das zwischen den Krücken hängende Gesicht streifte nahezu den Schmutz der Straße. Er bewegte sich nur langsam vorwärts, indem er Krückstock vor Krückstock setzte, er ging auf den Knien und schleifte die verstümmelten Fußstumpen hinter sich her. Wie ein Hund, dem man die Sehnen der Hinterbeine durchschnitten, schob er sich dahin. Während er aber vorwärts kroch, wurde sein ganzer Körper von einem ununterbrochen entsetzenerregenden Zittern geschüttelt.

»Sieh dich vor!« schrie der Chauffeur und bog in der letzten Sekunde aus.

Der Kopf des Krüppels schnellte zwischen die Schultern zurück, und die mit schweren Nägeln beschlagenen Pneus der Limousine überspülten ihn mit einer Woge von Schmutz. Er blieb auf schwankenden Krückstöcken mitten in der Wilhelmstraße zurück, und als es ihm gelungen war, das von ewigen Zuckungen geschüttelte Gesicht zu heben, bog die graue Limousine bereits in die Linden ein.

Eine Flut von hüpfenden Regenschirmen, blendende Pfützen, zwei stahlblaue Omnibusschimmel, ein Schutzmann und wieder eine Flut von hüpfenden Regenschirmen. Eine Stockung. Der Wagen zitterte von den wütenden Schlägen des gedrosselten Motors.

Die Augen des Generals glitten über die hüpfenden Regenschirme dahin, über die eilenden Schattenwesen mit blauen Gesichtern und blauen Händen – gelangweilt, gleichgültig, ohne Anteilnahme. Obwohl nur getrennt von diesen Wesen durch eine Glasscheibe, waren sie für den General weltenweit entfernt, weltenweit – diese Menschen mit Regenschirmen, Gummischuhen, Mänteln, Bärten, Brillen … Sie erschienen gewissermaßen unwirklich! Sie waren Chaos, Masse – gärend von sonderbaren, eigenwilligen Gedanken und unnützen, gefährlichen Trieben. Sinnlos ihr Tun, unverständlich. Ohne Ideale, hohe Ziele, Hunger, Sinnendurst, Geld – ohne Zweck und Sinn. Unverständlich. Nichts als rohe Masse, die die Berufenen willkürlich formten, das große Reservoir, aus dem die Erkorenen schöpften nach ihrem Gutdünken.

Die Welt des Generals war bevölkert von Wesen, die in Uniformen gekleidet waren und mit einer Salve ins Grab gelegt wurden. Diese Wesen bewegten sich nach bestimmten unverrückbaren Gesetzen. Sie kamen in breiten langen Kolonnen einher wie die Brandung des Meeres, oder sie standen still in Reih und Glied, zu Tausenden gestaffelt, wie aus Stein. Ein Gebirge. Sie waren ohne eigenes Leben, ohne eigene Gedanken, ohne Namen, ohne Gesichter, ohne Seele, von wenigen Auserwählten in Bewegung gesetzt und mit Leben und Geist erfüllt. Sie waren mit einem Wort Soldaten, Werkzeug in der Hand der Starken dieser Erde, die das Rad der Weltgeschichte bewegten. Zuweilen fluteten unübersehbare Heerscharen, alle im gleichen Schritt, durch seinen Kopf. Armeekorps, die wie ein Bataillon in fehlerloser Geschlossenheit schwenkten, nach rechts, nach links, um zu erstarren, wenn die Gedanken des Generals es wollten. Zuweilen sah der General die ganze Erde davon erfüllt. Ungeheure Menschenwellen wälzten sich quer durch Europa und ergossen sich in der Breite des Urals in die endlosen Steppen Sibiriens. Eine Blutwelle in den Gehirnwindungen des Generals ließ sie auferstehen und versinken …

Weiter! Die Gänge krachten, und wieder flog die Limousine dahin. Hagelkörner prasselten gegen die Scheiben.


Dieser Schurke! dachte der General und rückte sich in der Ecke des wiegenden Wagens zurecht.

Durch einen Zufall – übrigens einen merkwürdigen, fast lächerlichen Zufall – hatte er heute erfahren, daß eine Vermutung, die er schon seit langer Zeit hegte, begründet war. Jener – nun eben jener »Schurke«, wie er ihn in Gedanken nannte – der in der Umgebung der höchsten Persönlichkeiten weilte, das Ohr der allerhöchsten Persönlichkeiten besaß, jener Schurke hatte ihn auf das »tote Geleise« geschoben. Höchst einfach! Und so erklärte sich alles, ja.

Vor einem halben Jahr etwa hatte man dem Generalleutnant v. Hecht-Babenberg, achtundfünfzig Jahre alt, plötzlich, ohne jede Begründung, ohne jede Warnung, sein Frontkommando genommen und ihn zur Bureauarbeit nach Berlin abkommandiert – während draußen, wie er zu sagen pflegte, die Kanonen Europa in Fetzen schossen und eine neue Welt aus dem Blutmeer emporstieg.

Unerklärlich, unfaßbar.

Jüngere als er machten nun – auch das ist ein Ausdruck des Generals – Weltgeschichte. Unbekannte, aus unbekannten Geschlechtern stiegen in die Höhe. Es war die Zeit, um nicht zu sagen, Konjunktur, in die Höhe zu steigen. Und wie viele unfähige Narren kannte er (der General liebte starke Ausdrücke), Narren, die nicht imstande waren, ein Regiment durch das Brandenburger Tor zu dirigieren, und die heute, gestützt auf ausgesuchte Stäbe, Armeekorps führten. Er konnte, wenn man es wünschte, ihre Namen nennen! Erst vor kurzem hatte einer seiner Bekannten, seiner früheren Bekannten, besser gesagt, dreihundert Kanonen verloren – um daraufhin Gouverneur eines besetzten Landes zu werden. Es kam nur darauf an, gute Freunde zu haben. Das war das ganze Geheimnis, nichts sonst. Er hatte gegen die Russen eine Division geführt vor – wie lange war es doch her? – vor drei Jahren und sich das persönliche Lob seines Allerhöchsten Kriegsherrn erworben. Im Westen dagegen hatten seine Ansichten mit denen der Obersten Führung nicht immer übereingestimmt. Bei einem plötzlichen Angriff der Franzosen hatte er die Ansicht vertreten, zu halten, koste es, was es wolle, während man »hinten«, wo man alles besser wußte, der Meinung war, auszubiegen. Er hatte allerdings etwas liegenlassen – aber schließlich, was kam es auf diese relativ geringfügigen Verluste und ein paar Minenwerfer an?

Es war nichts – man bedenke: im Vergleich zu dreihundert Geschützen! Nichts –

Er würde heute, denn er konnte nicht gegen seine Überzeugung handeln, er würde heute genau so verfahren, auf Ehre und Gewissen! In seinem Abschnitt befand sich eine Höhe, die Höhe von Quatre vents, und es war nur natürlich, daß er diese für den ganzen Abschnitt, ja für einen großen Frontsektor wichtige Höhe nicht ohne weiteres preisgab. Dreimal gab er Befehl, Quatre vents zu halten, koste es, was es wolle. Erst als die Höhe vom Gegner flankiert war, gab er den Befehl zum Rückzug. Die Loslösung glückte dann allerdings nicht ganz, zugestanden.

Ein alltäglicher Vorfall – ohne jede Bedeutung.

Niemand würde –

Es war augenscheinlich: irgend jemand mußte die Hand im Spiel haben – irgend jemand, der ihm übel wollte.

Er – der das Ohr der höchsten Persönlichkeiten hatte –, jener »Schurke«, mit einem Wort.

Das Steingesicht geriet in Erschütterung: vor mehr als dreißig Jahren –

Aber plötzlich hielt das Auto. Es stand vor einem hellerleuchteten Blumengeschäft. Der General erwachte. Ein Verkäufer schleppte soeben ein Blumenarrangement, einen schweren Korb mit Maiglöckchen, an den Wagen.

»Hierher!« rief der General und pochte an die Scheibe. Nässe und Kälte kamen mit herein. Augenblicklich begannen die Blumen Duft und Frische auszuatmen.

»Lessingallee!«

Die Limousine flog dem Westen Berlins zu. Die Federn knirschten. Bald hielt der Chauffeur warnend die Rechte, bald die Linke hinaus – die Pfeife trillerte – Schnelligkeit ist die Losung des Generals –

– vor mehr als dreißig Jahren, hatte er, der General, ihm, eben jenem einflußreichen Würdenträger, einen Streich gespielt, und damit hatte die Animosität, um nicht Feindschaft zu sagen, ihren Anfang genommen.

Es war auf einem Ball bei Baron Kreß. Eine junge Dame spielte eine Rolle dabei, und damals war er, der General, der beste Tänzer in Berlin. Damals wartete, gegen Morgen, ein Wagen vor der Treppe des Kreßschen Palais. Eine Dame springt die Treppe herunter. Sie hat den Pelz eilig um die Schultern geworfen. »Um Gottes willen,« ruft sie, »er hat mich beobachtet, schnell.« Schon rollt der Wagen davon. Der Pelz ist von den Schultern der schönen Dame gefallen, und er, der General, sagt: »Sie werden frieren, meine Gnädigste!« Und er hüllt sie wie ein Kind in den Mantel. Sie trägt eine ganz dünne Robe, und es kommt ihm vor, als ob sie völlig nackt im Pelz stäke. Deutlich erinnert er sich dessen. Und er erinnert sich, daß dieselbe Dame seinen Rivalen rachsüchtig genannt habe, hüten Sie sich, er ist rachsüchtig! Welcher Instinkt, diese Frauen! Und sie war fast noch ein Kind.

Vor dreißig Jahren –

Hätte er damals ahnen können, daß sein Nebenbuhler sich einst bis zur höchsten Stellung emporschwingen sollte! Vielleicht wäre er immerhin etwas vorsichtiger gewesen, wer weiß es? Nicht ohne Grund hatte er seinen Söhnen immer eingeschärft: Freunde zu werben. Freunde, schon in der Kadettenanstalt. Denn Freunde waren im späteren Leben – alles. Nicht die Begabung – welche Albernheit – die Beziehungen waren alles.

Plötzlich sieht der General die junge Dame vor sich im Wagen, als sei es gestern gewesen. Jahrelang waren ihre Züge in ihm erloschen. Sie ist gepudert und trägt ein Schönheitspflästerchen am Kinn. Ihre Augen sind warm und leuchten eigentümlich aus der Tiefe.

Diese junge Dame mit dem Schönheitspflästerchen, die er seinerzeit aus dem Ballsaal entführte, wurde seine Frau.

Lange, lange Zeit –

Der General öffnet den Mund und ringt nach Luft.


Aus dem hellerleuchteten Entree der roten Backsteinvilla, ganz mit Efeu bewachsen, stürzt ein Diener in zebragestreiftem Kittel und öffnet den Wagenschlag.

»Herr General!«

»Herr General?«

Der General erhebt sich. Mit steifen Gliedern, den Rücken etwas gebeugt, steigt er aus dem Wagen.

»Frau v. Dönhoff empfängt?«

»Gnädige Frau empfangen, obwohl gnädige Frau die Grippe hat.«

»Wird es lange dauern, Petersen?« fragt der Chauffeur den Zebrakittel. »Was ist denn los bei euch?«

»Geburtstag. Die Gnädige hat Geburtstag.« Und der Zebrakittel eilt, den Korb mit den Maiglöckchen auf den Armen, rasch in das hellerleuchtete Entree, um Exzellenz beim Ausziehen des Mantels behilflich zu sein.

 

2

Frau v. Dönhoff – die Dame der roten, mit Efeu bewachsenen Backsteinvilla in der Lessingallee, dicht am Tiergarten, war eine Blondine, nicht mehr in der ersten Jugend, von ihren intimen Bekannten die schöne Dora genannt.

Sie war mittelgroß, die schöne Dora, etwas üppig, kleine, zierliche Füße, kleine, zierliche Händchen mit spitzen Fingern, große strahlende Augen von herrlich leuchtendem, seltenem Blau – der berühmte Schriftsteller, der in ihrem Hause verkehrte, hatte die Farbe mit dem Blau des Gebirgsenzians verglichen – ein Paar reizender Grübchen, runde rote Lippen – ah, und Zähne – schneeweiß! Sie lachte immer und bei jeder Gelegenheit, das Lachen setzte ganz unvermittelt ein, sie lachte in Skalen und Trillern, ein Geklingel war ihr Lachen. Es riß mit fort. Und immer, schon im Bett am Morgen, hielt sie eine dicke Zigarette zwischen den spitzen Fingern und qualmte. Sie rauchte auch auf der Straße, während sie Butzi, einen belgischen Griffon, an die frische Luft brachte. Das war die schöne Dora.

Etwas umschwebte sie. Ein Glanz, ein Abglanz. Der Abglanz einer Freundschaft, die sie vor ihrer Heirat mit einer Königlichen Hoheit verbunden hatte. Dieser Abglanz war immer gegenwärtig. Hatte die Königliche Hoheit wirklich diese schlanken ringgeschmückten Finger an die Lippen gedrückt? Diese Grübchen bewundert, sich an diesem Lachen erfrischt, diesen weichen, verschwenderisch reichen blonden Haarschopf liebkost? Ruhten die Augen der Königlichen Hoheit auf diesen Schultern? Immer, immer war Dora von diesem Abglanz umschwebt. Die Sonne war untergegangen – aber der Glanz lag noch in der Luft.

Nunmehr war die Königliche Hoheit längst verheiratet, hatte drei Kinder.

Dora aber hatte – danach – einen Freund der Königlichen Hoheit geheiratet, den Hauptmann v. Dönhoff, einer der ersten Herrenreiter Deutschlands, professioneller Schürzenjäger und Spieler, der in kürzester Zeit zwei Vermögen durchbrachte, auch Doras Vermögen. Eines Tages stand sie ohne einen Pfennig da – vis-à-vis de rien!

Mit einem Wort: dieser Hauptmann Dönhoff entpuppte sich als ein Lump ersten Ranges, er betrog Dora schon am Hochzeitstage, so unglaublich es klingt, und sie gab ihm nach kurzer Zeit den Laufpaß. Schon vor dem Kriege trennte sie sich von ihm. Gegenwärtig lebte sie in Scheidung – oder war sie schon geschieden? Niemand wußte es, der Krieg hatte das Interesse an den armseligen privaten Schicksalen in den Hintergrund gedrängt.

Der Herrenreiter und Spieler war Artillerist und lebte gegenwärtig bei seiner Batterie im Westen – irgendwo. Er ergraute bei seinen Kanonen, in den Waldschluchten des Argonner Waldes oder in den Kalkhügeln der Lausechampagne, sein Gesicht wurde gelb, pergamenten. Die Welt hatte ihn vergessen, seine Damen – nur die Gegenwart hat Macht. Ein einziges Mal war er während des Krieges in Berlin aufgetaucht, ohne Dora zu besuchen, es gab sofort wieder Skandal, eine Dame, ein Offizier – immer die gleiche Geschichte. Und er ergraute weiter bei seinen Kanonen. Seine Schläfen waren schon ganz weiß. Zuweilen schrieb Dora an ihn, zuweilen kam auch ein Brief aus dem Felde, und Petersen, der Diener, zeigte ihn Frida, der Zofe, und flüsterte: »Von ihm!«

Also, das war Dora und ihre Lebensgeschichte, in flüchtigen Linien natürlich nur, und heute hatte sie die Grippe.

Doras Haus war eine alte Villa, verbaut und immer wieder umgebaut, mit Sälen und Zimmern, Nischen, Erkern, Korridoren, großen und kleinen Treppen und Treppchen. Niemand, der nicht hier lange verkehrte, fand sich zurecht. Dora hatte das ganze Haus in ein Teppichmagazin verwandelt. Es gab keinen Quadratmeter, der nicht mit einem Teppich belegt war. Es gab im Dönhoffschen Hause sogar etwas, was es nur selten in Berlin gab, nämlich einen Raum, der ein vollkommenes Zelt war. Eine Art arabisches Zelt, ganz aus Teppichen ausgebaut. Infolge der vielen Teppiche roch es im Dönhoffschen Hause eigentümlich nach Staub. Dazu hatte Dora das ganze Haus mit antiken Möbeln vollgestopft, Möbeln aller Stilarten, mit Säulen aus Kirchen und grellbemalten oder vergoldeten Heiligenfiguren. Alle Tische, Kommoden und Gesimse waren mit kleinen Kostbarkeiten aller Art, mit Leuchtern, Schnitzereien, Waffen, Miniaturen, Dosen derartig übersät, daß es unmöglich war, auch nur ein Paar Handschuhe abzulegen, ohne irgendeine Kostbarkeit in Gefahr zu bringen. Es war unmöglich, alle diese Dosen, Schnitzereien, Waffen und Heiligen abzustauben. Und so sammelte sich immer mehr Staub an. An das arabische Zelt stieß das Speisezimmer, ein riesiger Raum mit einer Empore, zu der eine steile Rokokotreppe, gelb und rot bemalt, emporführte. Dieser Raum war zurzeit schwer heizbar und beständig strömte ein kalter Luftzug in das arabische Zelt hinein. Doras Haus hatte aber noch eine Eigentümlichkeit: das waren die Lampen. Es gab kein Haus in ganz Berlin, das so viele Beleuchtungskörper aufwies. Blaue, grüne, gelbe, rote Ampeln, alle von ganz besonders erlesener Färbung, Kronleuchter mit Dutzenden von Flammen, schwere Messingkronen mit halb heruntergebrannten dicken Wachskerzen. Das arabische Zelt selbst wurde durch eine polnische Synagogenampel beleuchtet. Es war ein opalisierendes, bläuliches Licht, der Farbe von Zigarettenrauch ähnlich. In der Ecke des arabischen Zeltes aber stand noch eine riesige purpurrote Lampe, die auf eine vergoldete Barocksäule aus irgendeiner Kirche montiert war. Neben dieser roten Lampe saß gewöhnlich Dora, sie strahlte dann wie glühender Alabaster, während die andern wie Leichen aussahen. Sie verstand ihre Sache.

Zwischen diesen Teppichen und Lampen, sonderbaren Heiligen und tausenderlei Krimskrams bewegte sich Dora, mit ihrem blonden Haarschopf, ihren Grübchen und dem Glanz, der sie umschwebte. Niemand hatte Dora jemals in schlechter Laune gesehen. Ihr Benehmen war immer gleich. Jedermann fühlte sich wohl bei ihr.

Nicht zu vergessen auch Doras Badezimmer, eine Sehenswürdigkeit – ein richtiges Treibhaus.


Sobald der General die rote Backsteinvilla betrat, kam das Steingesicht in Erschütterung.

Der General gehörte zu den Intimen des Hauses. Zweimal in der Woche, Dienstag und Freitag, pflegte er bei Dora zu Abend zu speisen. Ohne andere Gäste.

Der Stein verwitterte im Lichte der Garderobenampel, er verwandelte sich in Haut, in die Haut eines Menschen, der ewig von Zimmerluft umgeben ist, und der – vielleicht, nur eine Vermutung – an beginnender Sklerose der Arterien leidet. Die starre Leblosigkeit des Gesichts löste sich. Es zeigte sich sogar, seht an, eine Spur von Farbe auf den breiten Wangen, ein rötliches Violett, von feinem Geäder herrührend. Die ernsten Gedanken, die den General einhüllten, zerflatterten, der etwas massige, schwerbewegliche Körper schien elastisch und verjüngt.

Es scheint ja nicht so schlimm zu sein, mit der Grippe, dachte er, als Doras Lachen in die Garderobe drang.

Die geschliffenen Linsen der Feldherrnaugen ruhten sogar einen Augenblick leutselig auf dem Diener. Etwas Außergewöhnliches, denn der General pflegte seine Mitmenschen nie anzusehen. – Dann widmeten sie sich mit rein menschlichem Interesse dem Studium einiger Gummischuhe, die in der Garderobe standen.

»Sind auch – Damen hier, Petersen –?«

»Frau Major Sterne-Dönhoff mit Töchtern.«

Nichts haßte der General mehr als Ansammlungen von Menschen, mochten sie groß oder klein sein; nichts fürchtete er mehr als Überraschungen – es war ja möglich, daß man ihm, ohne jede Vorbereitung, ixbeliebige Menschen präsentierte, wie es ihm schon passiert war. So neulich bei einem Militärattaché, wo unerwartet der Redakteur einer sehr linksstehenden liberalen Tageszeitung auftauchte, ganz zu schweigen von jenem Herrenabend bei Exzellenz v. Krämer, wo ein sehr orientalisch aussehender Chirurg anwesend war, eine Berühmtheit, getauft – aber trotzdem. Er wünschte zu wissen, wer anwesend sein würde – bei Dora allerdings, wo er zweimal in der Woche zu Abend speiste – machte er eine Ausnahme. Er kannte Doras Kreis, nahezu wenigstens, und nur zuweilen traf er hier irgendeinen Maler oder Schriftsteller, auf deren Bekanntschaft er allerdings wenig Wert legte, um offen zu sein. Das war indessen nicht zu ändern: Dora selbst war eine Art Künstlernatur.

Der General strich den grauen Scheitel mit der Bürste zurecht, glättete den dünnen grauen Schnurrbart, prüfte die Hände ...

Der General war das Bild der Akkuratesse selbst. Alles leuchtete und glänzte an ihm, die Stiefel, die roten Streifen der Hosen, die Ordensauszeichnungen, die langen polierten Fingernägel – nur die Haut des Gesichts war, wie gesagt, stumpf, von der Zimmerluft beschlagen. So, genau so hatte er ausgesehen, als er sich in Polen mit den Russen schlug – in Frankreich, wo er in einem Chateau wohnte, war es ja schließlich kein Kunststück. Er hatte sofort ein Bad einbauen lassen, das war das erste gewesen, die Wanne wurde mit dem Auto aus Frankfurt geholt.

Ohne jede Übertreibung, der General war noch heute eine stattliche Erscheinung.

Auch einige Offiziersmützen, drei im ganzen, hingen da. Er erkannte die Seidenmütze seines Sohnes Otto, die eine ganz besondere Form hatte. Offenbar machte er seinen Abschiedsbesuch; er mußte morgen wieder ins Feld. Falten erschienen auf der breiten Stirn des Generals, verschwanden aber sofort wieder. Er liebte es nicht, Otto oder Ruth, seine Tochter, in Gesellschaft zu treffen. Er kam sich beobachtet vor, sie störten, mit einem Wort.

»Die Herrschaften sind im Zelt, Herr General.«

»Schön« – aber der General hielt den Schritt an und zog die Brauen in die Höhe – »eine Bürste, Petersen.« Der General hatte tatsächlich ein Härchen auf seinem Ärmel entdeckt.

»Es ist von Butzi, Herr General – das ganze Haus ist voll von seinen Haaren –«

»Wie soll es denn von Butzi sein? Dann müßte es ja seit Dienstag – nein, das ist unmöglich, Petersen.«

»Vielleicht war es im Mantel? Überall sind diese Haare –!«

Petersen öffnete die Türe zu einem Vorzimmer. Hier brannte eine einsame, hohe Wachskerze, zu Füßen eines verlassenen steingrauen Heiligen mit zinnoberrotem Rock, der in Verzückung ein Buch schwang. Hierauf schlug Petersen den Teppich zurück.

Der Rücken des Generals, etwas zusammengesunken während der Unterhaltung mit Petersen – ob das Haar von Butzi stammte oder nicht – straffte sich.

»– sollten sich aber wirklich schonen. Zum Beispiel, das Rauchen –«

»– es ist ja gar nicht die Grippe.«

»– täglich sterben Hunderte –«

Dora lachte: »Sie wollen mir Mut machen, Otto!«

Und Petersen schlug den zweiten, gelbseidenen Vorhang zurück.

Augenblicklich stürzte der belgische Griffon kläffend heraus. (Er war mit Exzellenz verfeindet!)

Die Offiziere schnellten von ihren Sesseln empor.


Dora trug die kleinen mattgelben Perlen in den Ohren, nicht die Boutons, die von früher stammten! Der General sah es auf den ersten Blick.

Mit aufgehellter Miene, soweit sie sich aufhellen konnte, trat er ein. Selbst seine Augen verloren ihre Strenge, aber sie blieben trotzdem – kalt.

Dora glühte im Schein der großen Purpurlampe, ihre Arme und Hände leuchteten wie Korallen, und in ihrem durchsichtigen feinen Ohr schimmerten in der Tat kleine gelbe Perlen. Aus dem Halbdämmer des Zeltes hoben sich die drei schwarzgekleideten Damen Sterne-Dönhoff, schmal, steif, todernst. (Major Sterne-Dönhoff war vor einem halben Jahr gefallen.) Aus einem Spiegel funkelten bleiche Gesichter, fahl im Scheine der blauen Ampel. Diese Gesichter verwirrten den General, so daß er seine Gratulation etwas steifer und förmlicher vorbrachte, als er es wünschte.

Erst jetzt bemerkte er, daß Hauptmann Wunderlich, einer der drei anwesenden Offiziere, ein Freund des Dönhoffschen Hauses, noch immer stand. Er hielt sich an den Lehnen des Sessels aufrecht, denn er war lahm geschossen und ging an Krücken.

Erst jetzt bemerkte er die zarte, ätherische Dame mit dem langen Gesicht, die Kinn und Näschen in den Muff drückte, neben Dora saß sie auf dem Diwan – ah, welche Überraschung, welch freudige und ungeahnte Überraschung!

»Es ist in der Tat kein Scherz, gnädige Frau, mit dieser Grippe –«

»Ich hörte es von einem Krankenhausarzt – einhundertvierzig Tote gestern – und wie gesagt, gar keine Grippe, sondern die Lungenpest –«

»Man sagt es ja nur, man schwätzt –«

»Derselbe Arzt versicherte es mir. Die Lungen sind völlig mit weißen Bläschen bedeckt und vereitert.«

»Es sind einfache Streptokokken.«

»Ja, nun, Sie sagen einfache –«

»Und Pest? Auch Pest ist nur ein Wort.«

Vorlaut, immer ist dieser Junge vorlaut, dachte der General.

Otto, der Sohn des Generals, sprach mit lauter, heller Stimme, die stets etwas keck klang, selbst wenn er die harmlosesten Dinge sagte. Er sah seinem Vater auffallend ähnlich. Groß, das gebräunte Gesicht breit und brutal, die Augen hell und verwegen, aber voller Unruhe. An der Stirne, dicht neben den blonden, glänzenden Schläfenhaaren, hatte er eine Narbe, die von einem Kopfschuß herrührte, den er im Mai 1915 bei Ypern erhielt. Damals lag er ein halbes Jahr im Lazarett – aber so gering war die Eile der internationalen Generalität, daß er sein Regiment im Herbst noch an genau derselben Stelle vorfand, wo man ihn im Frühjahr weggetragen hatte. Er saß mit einer gewissen Ungeniertheit (die dem General mißfiel) im Sessel, frei und selbstgefällig, die Brust voller Auszeichnungen – im Gegensatz zum jungen Heinz Sterne-Dönhoff, der, ganz wie seine Schwestern in Schwarz, bescheiden und steif dasaß. Dieser Heinz war noch ein Knabe, schlank und zart, noch nicht neunzehn Jahre. Er trug Feldgrau und – seit heute – das Abzeichen des Flugzeugführers. Er war indessen noch nicht im Felde gewesen und lebte in der beständigen Angst, der Krieg könnte zu Ende gehen, bevor die Reihe an ihn käme. Er hatte den roten Mund eines Knaben, noch umschwebt vom Lächeln der Kindheit. Unausgesetzt waren seine blauen, strahlenden Knabenaugen voller Ehrfurcht auf den General gerichtet, auf seine Ordensschnalle, den gestickten Kragen und das weiße große Emaillekreuz, das er am Kragen trug. Was für ein Orden mochte es wohl sein? Seit dem Eintritt des Generals öffnete er den Mund nicht mehr, die Nähe eines so hohen Vorgesetzten bedrückte ihn. Er saß, bereit, jeden Augenblick aufzuspringen, wenn sich die Gelegenheit bieten sollte, dem General einen Dienst zu erweisen.

Mit großen grauen, etwas düsteren Katzenaugen saß neben Dora Hauptmann Wunderlich. Blaß und mager, sah er aus wie ein achtzehnjähriger Gymnasiast, der über Nacht ergraut war. Er lächelte nie, und wenn er – selten, ganz selten – einmal lächelte, so war es das Gespenst von einem Lächeln, das niemand ertrug. Seine gleichmäßige Miene forderte indessen auf, sich nicht im geringsten durch ihn stören zu lassen. Der Blick seiner Augen glitt in die Ferne. Auch während er sprach, schien er zu Leuten irgendwo in der Ferne zu reden und nicht zu den Anwesenden. An seiner linken, mit einem goldenen Armband geschmückten Hand fehlten einige Finger.

Hinter seinem Sessel lehnten die Krücken, womit er sich, nur mit einem Fuß den Boden berührend, wie eine Glocke dahinschwang. Hauptmann Wunderlich war schon in den ersten Wochen des Krieges durch einen schweren Brustschuß außer Gefecht gesetzt worden. Ein Jahr später wurden ihm in Rußland beide Beine zerschmettert. Hierauf ging er zur Fliegerwaffe über. Er war heute einer der bekanntesten Menschenjäger in der Luft. Er wurde in die Maschine gehoben.

Frau v. Sterne-Dönhoff mit ihren Töchtern, aus dem Halbdämmer sich abhebend – mit flachen Hüten, enganliegenden Kostümen, langen Gesichtern, steif, still, langweilig. Nur selten warfen sie ein Wort in die Unterhaltung. Sie trugen schwarze, sehr enge Glacéhandschuhe.

Und jene andere Dame, die Ätherische, die Kinn und Nase in den Muff drückte und neben Dora auf dem breiten Diwan saß, die spitzen Knie hochgezogen? Jene Dame, über deren Besuch der General so erfreut und überrascht war?

Es war eine Gräfin Heller, soeben aus der Schweiz zurückgekommen. Gräfin Heller war Spiritistin, Theosophin – alles Dinge, die den General nicht im geringsten interessierten. Sie war darüber hinaus die Schwester jenes – eben jenes »Schurken«, wie ihn der General in Gedanken nannte. Jener einflußreichen Persönlichkeit, deren Name in der Gesellschaft nur flüsternd ausgesprochen wurde. Seine Majestät hat ihm höchst eigenhändig – wissen Sie … Der General hatte nicht ahnen können, sie hier zu treffen. Solche Zufälle gibt es! Aber vielleicht hatte Dora ihre Hand dabei im Spiel? Dora, die mit ihrem künstlerischen Naturell auf rätselhafte Weise die Gedanken ihrer Mitmenschen erriet und alles so wunderbar zu arrangieren verstand? Wie?

»Ich hatte in der Tat nicht vermutet, Gräfin, Sie heute zu sehen!« wandte sich der General mit allen Zeichen der freudigen Überraschung, die bei jeder Anrede neu auflebte, an sie. »Sie waren lange weg. Wie gefällt es Ihnen wieder in Deutschland?«

Gräfin Heller lächelte und schob Butzi ein Stückchen Torte zwischen die scharfen, schneeweißen Zähnchen. »Ich finde es ent–setz–lich!«

»Ah, ah!«

»Ein Friedhof!«

Der General lächelte nachsichtig. Bei einer Dame des hohen Adels, des höchsten Adels, der Schwester einer solch hochgestellten Persönlichkeit, mußte man wohl einige Wunderlichkeiten in Kauf nehmen – noch dazu bei einer Dame, die mit dem Geist Friedrichs des Großen in okkulter Verbindung stand.

In diesem Augenblick überbrachte Petersen ein Telegramm. Dora errötete, als sie es öffnete. Es enthielt nur wenige Worte, wie man sehen konnte.

Der General ahnte: es kommt aus dem Felde!

Die Unterhaltung geriet ins Stocken.

 

3

In der Tat, das Telegramm – das Dora lässig zusammenfaltete und in eine kleine japanische Lackschale legte – kam aus dem Felde. Hauptmann Dönhoff hatte es heute morgen abgeschickt, und eben jetzt dachte er, ob das Telegramm wohl schon angekommen sei. Beinahe nämlich hätte er Doras Geburtstag vergessen. Erst in der Nacht, als er durch einen dumpfkrachenden Einschlag geweckt wurde, war es ihm eingefallen und er hatte sich sofort eine Notiz gemacht. Sein Gedächtnis war im Laufe der Kriegsjahre völlig geschwunden.

Er saß mit seinem Adjutanten Kammerer in seinem Unterstand, zwei Meter unter der Erde, mitten in den Finsternissen des Argonner Waldes. Eine kleine Petroleumlampe, ein eiserner Ofen, der immer glühte, ein Telephon, zwei Pritschen und allerlei Gerümpel, das war die Ausstattung. Die Wände schwitzten von Nässe. Kammerer war eifrig damit beschäftigt, seine kurze Stummelpfeife zu reinigen. Er bediente sich einer Krähenfeder, die er – da draußen – gefunden hatte. Dönhoff, der Batteriechef, tat gar nichts, er gähnte zuweilen, gähnte. Er war nicht schläfrig, sondern nur müde, immerzu müde.

In der Ferne brummte ein schweres Geschütz. Ganz deutlich war sein tiefes mächtiges Raubtierknurren aus dem Lärm, dem Knacken und Donnern der fernen und nahen Geschütze herauszuhören.

Hauptmann Dönhoff hob horchend das gelbe Gesicht.

»Hören Sie? Da ist er wieder!«

Der junge Offizier blickte nicht auf, er war voller Andacht bei der Arbeit.

»Er schießt jetzt wieder öfter mit dem schweren Geschütz«, erwiderte er leichthin. »Sie haben mehr Munition.«

Die Erde zitterte, und ein lautes Krachen ertönte, Hauptmann Dönhoff lachte belustigt. »Da, da,« sagte er, »er streut jetzt unsere Kuppe ab.«

Kammerer antwortete hierauf nichts mehr. Er blies voller Anstrengung in das verstopfte Pfeifenrohr. Der braune Tabaksaft quoll heraus, aber, der Teufel, immer noch mußte etwas im Rohr stecken.

»Sie sollten einen Draht nehmen, Kammerer.«

»Es muß auch so gehen –«

Wieder gähnte Hauptmann Dönhoff. Seine Zähne waren gelb und schlecht gepflegt.

Hier in diesem verfluchten Wald wurde man, mit Respekt zu sagen, langsam zu einem Schwein. Über ein Jahr lag er mit seiner Batterie an der gleichen Stelle. Neulich sah es so aus, als ob sie nach der Champagne kommen sollten – aber es war wieder nichts daraus geworden. Auch die Champagne war kein Paradies, aber es gab wenigstens Licht dort – hier war es immer düster.

Tag und Nacht hallte dieser finstere Wald wider von einem unheimlichen Dröhnen und Rasseln, Lachen, Niesen und Husten. Tag und Nacht strichen winselnde und klagende Stahlvögel über ihn dahin, und das Rasseln der Maschinengewehre hämmerte hundertfach verstärkt in den Waldschluchten – bis plötzlich alle Lärme von einem einzigen großen Lärm sekundenlang übertönt wurden. Gestern ist die Eiche vor dem Unterstand zersplittert, heute stürzte eine hohe Tanne zu Boden. Die Splitter leuchten in der Finsternis. Der Regen rauscht, Ströme von Lehm fließen die schmalen Knüppelwege hinab, die die Soldaten durch das Dickicht geschlagen haben. Zuweilen trifft man auch ein menschenähnliches Wesen, bis an die Augen mit Lehm beschmiert. Zuweilen schleppen sich auch Trüppchen von Gespenstern, mit blutigen Binden an Köpfen und Armen, die Knüppelwege hinunter – nein, pfui, der Wald ist kein Platz für einen Gentleman!

Hauptmann Dönhoff denkt an Sonne – an eine Wüste, in der Sonne, flimmernd von Licht, zitternd, vibrierend vor Hitze. Es würde ihm direkt Vergnügen machen, einmal tüchtig in der Sonne zu schwitzen. Und plötzlich kommt ihm Dora in den Sinn. Das Telegramm mußte nun wohl da sein. Langsam kriechen die Gedanken.

»Kannten Sie nicht General v. Hecht-Babenberg, Kammerer?«

»Welchen Babenberg?«

»Nun, den, wissen Sie – man hat ihn nach Hause geschickt –«

»Nie gesehen. Weshalb fragen Sie?«

»Ich dachte gerade an ihn – nur so –«

Was will er? dachte Dönhoff und erinnerte sich an das, was man ihm berichtet hatte. Was beabsichtigt er? Dora? Erwachsene Kinder – man kann nie wissen. Dora drang darauf, daß er bald nach Berlin käme – es fehlte noch eine Unterschrift in der Urkunde – gut, an ihm sollte es nicht liegen.

Kammerer strahlte. Plötzlich pfiff die Luft durch das Pfeifenrohr. »So, das Kind hat Luft –«

Das Telephon tutete. Die Beobachtung meldete, daß der Feind in der neuen Sappe unverschämt arbeite.

Schon trillert Kammerers Pfeife draußen im Wald. Die Geschütze der Batterie Dönhoff sind über eine weite Strecke verteilt und erst zu erkennen, als die dunkeln Rohre sich plötzlich bewegen. Hier im Wald ist es schon ganz düster, aber draußen bei der Beobachtung sind im Scherenfernrohr noch deutlich die Nebelgestalten zu unterscheiden, die dicht am Waldrande bei Boureuille Erde aufwerfen.

Da donnern auch schon die Geschütze. Wütend, mit kurzen harten Schlägen, und das Echo rollt breit und drohend dahin. Die Petroleumlampe schwankt, während Hauptmann Dönhoff müde die Augen schließt und gähnt.

Nun rieselt es draußen im Wald wie Regen. Die welken Blätter, die noch an den Bäumen hängen, fallen, von den Luftwirbeln losgerissen, zu Boden.


»Und Ruth? Wo ist Ruth?« fragte Gräfin Heller. »Weshalb ist sie nicht gekommen?«

»Sie hat immer mit ihrer Küche zu tun.« Ruth, die Tochter des Generals, arbeitete in einer Mittelstandsküche, ehrenamtlich natürlich, nicht gegen Bezahlung.

»Ruth war heute vormittag bei mir«, warf Dora ein.

Verführerisch war Doras Teetisch gedeckt, Blumen, Kuchen, Konfitüren.

»Wann wird die Hochzeit sein?« Ruth war mit einem Baron Dietz, einem der reichsten pommerschen Grundbesitzer, verlobt. Er war zurzeit in Bukarest bei der Verwaltung.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte der General und schüttelte den Kopf. »Im Sommer wahrscheinlich. Ruth hat Lust, bis zum Frieden zu warten, wie mir scheint. Ich kümmere mich grundsätzlich nicht um die Angelegenheiten meiner Kinder –«

Butzi, einem alternden übellaunigen Löwen lächerlichen Formats ähnlich, saß auf dem Schoß seiner Herrin und betrachtete aufmerksam, mit nachdenklich gekräuselter Stirn den General, seinen Feind, dessen blanken Stiefeln nahezukommen gefährlich war.

Krieg, Nahrung, Politik – in jeder Gesellschaft, sobald nur zwei Menschen zusammentrafen, versank man rettungslos augenblicklich in das gleiche Thema. Verzweifelte Anstrengungen, die Blicke glitten in die Ferne, ein Lächeln versuchte die Mienen zu verklären – gewiß, es gab Himmel und Hölle im menschlichen Herzen, Engel und Teufel wandelten auf der Erde, bestechend durch ihre Liebe und ihre Kraft, ewig unergründliche Probleme bewegten unsichtbar die Jahrhunderte – immer noch flog die Sonne, ein Ball überhitzter Gase, samt ihren winzigen Planeten mit der Geschwindigkeit von zwanzigtausend Sekundenmetern, unfaßbar, dem Sternbild der Leier zu – immer noch war das Einfachste nicht ergründet, die Vergangenheit rätselhaft, die Zukunft undurchdringlich, die Gegenwart unbegreiflich, immer noch schaukelte der Mensch, ein Atom, nicht einmal ein Atom, über den Abgründen der Mysterien, voller Entsetzen, voller Hoffen – immer noch war alles geheimnisvoll, unfaßbar. Noch immer versank der Mensch jede Nacht in einen erschreckenden Zustand der Bewußtlosigkeit. Noch immer war die Liebe, die mütterliche, unbegreifliche, offenbart im winzigen Insekt, in Doras Lachen und selbst in den ernsten Gesichtern der Damen Sterne-Dönhoff – noch immer war sie allgegenwärtig – gewiß! Aber doch – gänzlich hoffnungslos. Es war wie die Verdammnis selbst! Das verklärende Lächeln erlosch, der Blick flüchtete erschrocken zurück – nichts blieb: Politik, Krieg, Nahrung.

Das politische Schicksal – die Summe der menschlichen Schwächen und Irrtümer – hatte die Gedanken versteinert. Die Staubschicht der Schlachtfelder, die bis an die Grenze der Atmosphäre hochstieg, lastete wie ein Gebirge auf den Gehirnen, vom Atlantik bis zum Pazifik – die Gehirne bewegten sich nicht mehr. Butzi allein führte sein eigenes geistiges Leben weiter. Weshalb, zum Beispiel, durfte man den Hosen mit den roten Streifen nicht zu nahe kommen? Weshalb zuckte die Stiefelspitze, wenn man mit der Zunge den Glanz der Stiefel berühren wollte? Antworte, gerechter Himmel! Wonach roch er? Nach, um es kurz zu sagen, Gleichgültigkeit und Verachtung. Er liebte Hunde nicht. Und plötzlich, ohne es selbst zu wollen, knurrte Butzi, ohne zu wissen, was er tat und weshalb plötzlich der Zorn in seinem kleinen Stahlherzen klopfte.

Butzi bekam sofort eine Ohrfeige. Aber das nahm er nicht übel. Denn es war ja seine Herrin, deren Lachen er liebte, deren Geruch er liebte – sie, die Freundschaft fühlte für die Hunde, Liebe. Die Wohltäterin und Heilige – obschon diese kläffenden Ungeheuer sie vielleicht für verworfen hielten – für schamlos – für …

Nein, Butzi verstand die unartikulierten Laute dieser kläffenden Ungeheuer nicht. Er begriff ihren Eifer nicht, ihre Erregung. Offensive, die bevorstehende große Offensive – der Entscheidungsschlag. Unbegreiflich! Der Herr mit den roten Streifen glaubte nicht an die Amerikaner, und die Damen lächelten. Wie beliebt? Bluff, mit einem Wort. Er gestand, daß er besorgt war – besorgt, nicht mehr! Hätten sie sich auf Spezialwaffen beschränkt – Fliegertruppen, Automobilkorps, Artillerie – er hätte vor Angst gefiebert. Aber eine Armee? Unmöglich! Woher das Offizierkorps nehmen? Nun, die Rüstungen galten ja gar nicht uns! Nein! Der größte und geschickteste Bluff der Geschichte.

Hier wollte Otto etwas einwerfen, aber der General wandte ihm den Blick zu, und er schwieg.

Und die Transportfrage, ich bitte? Willkommene Beute für unsere U-Boote, so sagte der Minister.

Die Damen hingen an den Lippen des Generals. Ihr Atem ging plötzlich leichter. Gräfin Heller beliebte die Zwischenfrage: ob das Volk – so ganz im allgemeinen –?

Der Herr mit den roten Streifen runzelte vorwurfsvoll die Stirn. Dann lösten sich seine Züge zu beschämender Zuversicht.

»Ein kleines Beispiel nur, wenn die Damen gestatten wollen – wie herrlich dieses Volk ist. Einer meiner Burschen, er begleitete mich durch den ganzen Feldzug, Jakob mit dem Familiennamen, ein Bauernsohn. Ich frage ihn, ob er nicht gerne wieder dabei wäre, da draußen, wenn es nun wieder losgeht? Natürlich möchte er das! Er strahlt über das ganze Gesicht! Sie sollten dieses Strahlen gesehen haben, Gräfin! Aber, sage ich, höre, wenn ich dich nun hier brauche? – Langes, tiefes Sinnen. Das echt deutsche tiefe Sinnen! – Dann bleibe ich bei Herrn General! – Gräfin, zwei der augenfälligsten deutschen Charakterzüge mögen Sie in dieser kleinen Szene erkennen: die dem Deutschen angeborene Kampfesfreude und seine Mannestreue –«

Die Gräfin blinzelte lächelnd mit den gepuderten Wimpern. Immer noch spricht der General. Jedes seiner Worte atmet Zuversicht. Heute abend wird Gräfin Heller jede Einzelheit des Gesprächs jener einflußreichen Persönlichkeit berichten. Jedermann weiß das. Der hohe Würdenträger ist vorzüglich informiert über die Meinungen aller Persönlichkeiten, die eine Rolle im öffentlichen Leben spielen. Sein Lächeln ist – tödlich. Ein anerkennendes Wort seiner schmalen Lippen mehr wert als eine gewonnene Schlacht. Sehr wohl weiß der General, daß man dort nur einen gesunden Optimismus liebt.

Butzi ringelte sich resigniert auf dem warmen Schoß der Herrin zusammen.

Reserven, ungeheure Reserven. Gestaffelt bis Frankfurt, Mainz, selbst Münster ist Etappe. Alles was in Rußland war – die neuen Mannschaften – eine Millionenarmee, furchtbar und stark wie am Anfang des Krieges. Wie eine unheimliche Flutwelle wird die Armee vorrollen, alles niederwerfend –

Eine andere, etwas hellere und weniger trockene Stimme sprach nunmehr. Es war der Mann mit den Krücken. Die Augen der Majorin Sterne-Dönhoff leuchteten. Die Gräfin schlürfte blinzelnd den Tee.

Ja, das Gas! Das Gas wird der Armee den Weg bereiten! Das fürchterliche Gelbkreuz und Blaukreuz. Es zerfrißt die Gasmasken, selbst Leder, jede Berührung, auch die kleinste, ist tödlich.

Die Gesichter strahlten, schon röteten sich die Wangen der Schwestern Sterne-Dönhoff und des jungen Heinz wie im Fieber. Der General blickte mißtrauisch zum gelbseidenen Vorhang. Ob nicht ein Lauscher in der Nähe sei, ein Dienstbote vielleicht. Er fand es im höchsten Grade unvorsichtig von Hauptmann Wunderlich, über diese geheimen Dinge so unumwunden zu sprechen – obschon man ja, gewissermaßen, unter sich war.

Butzi war endlich eingeschlafen.

»Gebe Gott, daß es zu Ende geht«, sagte Gräfin Heller mit einem tiefen Seufzer. »Ich möchte reisen!«

»Aber Sie können doch, Liebste? Sie reisen ja ununterbrochen!«

»Ich möchte nach Paris reisen!«

»Nach Paris!«

Aber augenblicklich hatte der General seine Fassung wieder gefunden. Er beugte sich vor. »Sie werden nach Paris reisen, Gräfin!« versichert er mit Feierlichkeit in der Stimme. »Ich gebe Ihnen mein Wort!«

»Ich werde – Herr General?«

»Ja«, fuhr der General mit derselben Feierlichkeit fort. »Paris und Calais werden fallen, Gräfin, die Trümmer der englischen Armee werden ins Meer geworfen – im Sommer werden wir in Paris den Frieden diktieren. Dies ist meine heilige Überzeugung!«

»Gott segne Sie, General!« Gräfin Heller zog die kleine Hand aus dem Muff und streckte sie lachend dem General entgegen.

Diese kleine Unterbrechung – während sich der graue Scheitel über die kleine Hand beugte – benutzte Otto. Er erhob sich rasch, und auch Heinz schnellte in die Höhe. Die beiden jungen Offiziere verabschiedeten sich.

Butzi erwachte, überzeugte sich, gegen den General schielend, daß er noch blieb, und ringelte sich, ergeben in sein Schicksal, wieder zusammen.


Otto beugte sich über Doras Hand, die wie eine Koralle blühte, und seine hellen verwegenen Augen – doch Dora wehrte lächelnd seinen Blick ab.

»Leben Sie wohl, Otto – auf gesunde Wiederkehr!« sagte sie, und ihre Grübchen schimmerten. –

»Ich hatte noch gar nicht Gelegenheit, Gräfin – mich nach dem Befinden Seiner Exzellenz zu erkundigen – ich darf doch hoffen, daß Seine Exzellenz –« Die Stimme des Generals sank zu einem ehrfurchtsvollen Raunen herab.

»Seine Exzellenz waren vor kurzem in ernster Lebensgefahr. Der Hofzug, wissen Sie – und ein feindlicher Flieger – eine Bombe – aber Gott sei Dank passierte nichts. Die Bombe traf, leider, einen Lazarettzug – die Armen –.« Die Gräfin aber hatte alles gefühlt. Zur selben Stunde erwachte sie, im Traum erschreckt durch einen Feuerschein. So geheimnisvoll innig war die Verbindung zwischen ihr und ihrem Bruder.

Das Gesicht des Generals zeigte äußerste Bestürzung.

»Ist es möglich – eine Bombe – und man erfährt es jetzt erst –? Wann?«

»Vor etwa zehn Tagen.«

»Vor zehn Tagen! Und man – haben Sie gehört, Dora?«

Der General konnte es gar nicht fassen.

 

4

Die beiden jungen Offiziere eilten mit raschen Schritten die nasse dunkele Straße entlang. Beide waren verabredet, mit den Schwestern Klara und Hedi Westphal, die zu Doras Kreis gehörten. Übrigens wußte keiner von des andern Rendezvous. Das ganz nebenbei.

Otto schlug den Kragen des Mantels hoch und fluchte.

»Furchtbar, entsetzlich!«

»Wie beliebt?«

»Einfach entsetzlich!«

»Sie meinen, Otto?«

»Dieses Geschwätz! Diese Teegesellschaft! – Ich gehe übrigens links, Heinz. Ich muß zum Kaiserhof.« Otto machte erneut den Versuch, Heinz abzuschütteln, weil er allein sein wollte. Was ahnte dieser Knabe –?

Aber Heinz verstand ihn nicht. »Es ist einerlei, wo ich einsteige. Das heißt natürlich, wenn ich lästig bin?«

Heinz hatte Mühe mitzukommen, denn Otto machte rasende Fahrt. Mit Genuß atmete er die feuchte Luft ein, die aus dem Tiergarten in alle Straßen dieses Viertels strömte. Welcher Qualm bei Frau v. Dönhoff! Dora rauchte englische, etwas parfümierte Zigaretten, sie bekam sie jetzt noch – woher, das war rätselhaft, aber sie bekam sie jedenfalls. Auch Heinz war glücklich, Doras Salon entronnen zu sein. Die Nähe des Generals hatte ihn bedrückt. Er hatte auch nicht den Mund aufgetan und war sich albern, kindisch und ungeheuer dumm vorgekommen. Die Ordenssterne des Generals und besonders der gestickte Kragen (war ein Komet darauf gestickt oder was sonst für eine sonderbare Sache?) hatten seine Phantasie verwirrt. Glücklicherweise, ja, es war in der Tat ein Glück, hatte ihn der General gar nicht beachtet. Nur bei der Begrüßung hatte er ihm flüchtig die Hand gereicht und ihn mit jenem raschen Blick gestreift, mit dem hohe Offiziere Untergebene in Gesellschaft begrüßen: kameradschaftlich, verstehst du, aber welche Distanz! Übrigens, diese Hand des Generals, sie war stählern und – eisig kalt. Nie würde er diesen Händedruck vergessen. Schon aber kehrte seine alte Sorge zurück.

»Glaubt Ihr Herr Vater wirklich, daß wir im Sommer in Paris sein werden?« wandte er sich hastig an Otto.

Otto fuhr aus seinen Gedanken auf. Er war so zerstreut, daß er einen Augenblick stehenblieb. Dampfsäulen fuhren aus seinem Mund, so schnell atmete er, es war kalt geworden. Er blickte Heinz in die Augen, verstand erst jetzt und lachte plötzlich.

»Natürlich glaubt er es. Er glaubt es schon seit über drei Jahren. Schon im August 1914 hat er mir Lehren mitgegeben, wie ich mich in Paris zu benehmen hätte. Er war übrigens nie in seinem Leben in Paris!«

»Also, er glaubt es?« sagte Heinz nachdenklich.

»Ja, ja, und er wird es glauben und wenn die Franzosen in Hannover stünden. Er würde es auch dann noch glauben. Er ist so.«

»Aber glauben auch Sie es?«

Wieder lachte Otto kurz auf. »Ich?« sagte er, knurrte er. »Ich bin doch kein Narr!« Nein, er, Otto glaubte nicht mehr an den Sieg der deutschen Waffen, wie viele Frontoffiziere.

Kein Narr?

»Aber Ihr Herr Vater, Otto, der General –?«

Otto lachte nun laut und belustigt. »Die Generale haben ihre eigene Meinung, lieber Heinz! Sie können das ja noch nicht verstehen, es ist ein Kapitel für sich. Ich habe einmal bei Langemarck dreißig Prozent meiner Leute liegenlassen, und mein General sagte: Na, das ging ja noch gelinde ab. Wörtlich! Mein alter Herr, übrigens – er will das Reich Karls des Großen wieder errichten.«

»Sie glauben also nicht daran?« Heinz atmete erleichtert auf. »Es wäre ja auch zu fatal,« fügte er hinzu, »jetzt, da ich eben Feldpilot geworden bin.«,

Fast vier Jahre Krieg und immer noch dieselbe Geschichte, dachte Otto. Da er aber schwieg, versuchte Heinz, ihm seinen Seelenzustand deutlicher zu machen.

»Sie können mich nicht begreifen«, rief er aus. »Sie Glücklicher! Sie fahren ja morgen zurück zur Front!«

Otto knöpfte den Mantel fester zu. Plötzlich fror er. Der Gedanke an die Front benahm ihm für einen Augenblick den Atem. Die ganze Grausigkeit der Zone des Todes, in der es nur zerschossene Gräben, eingeäscherte Dörfer, zersplitterte Wälder gab, legte sich wie ein Alp auf seine Brust. Weshalb auch, zum Teufel, mußte er jede Minute daran erinnert werden, daß er morgen wieder zur Front zurück sollte? Jeder Mensch, der die Front nicht kannte, tat so, als fahre er zu einer Hochzeit. Ja, tatsächlich man beglückwünschte ihn! Die Leute allerdings, die sie kannten – nun, die sagten gar nichts – höchstens ein verstehendes, etwas schadenfrohes Lächeln.

Die Kälte in der halbdunkeln Straße kroch an ihm empor, in seine Uniform hinein. Er erinnerte sich voller Grauen an die Erdlöcher, in denen er, völlig unverständlich, Jahre seines Lebens verbracht hatte, an den eisigen Hauch, der von den Gräben ausging. Und plötzlich, ganz unvermutet, schnürte ihm eine sonderbare Empfindung die Brust zusammen – Angst. Ja, Angst! Gleichzeitig sah er einen Feuerschein vor seinen Augen, der ihn erschreckte: den kurzen hellen Blitz des explodierenden Geschosses. Er erbleichte. Das Geräusch einer um die Ecke fahrenden elektrischen Bahn hatte ihm das schleifende Fauchen einer Granate vorgetäuscht.

Immer noch war er schneeweiß im Gesicht und sein Herz zuckte – genau wie draußen, wenn sie heranzischten.

»Hören Sie, Heinz,« sagte er, »wie diese Elektrische um die Kurve fährt? Genau so kreischen und fauchen die Granaten. Sie werden noch bald genug hinauskommen.«

Heinz beschleunigte unwillkürlich den Schritt. »Ich freue mich unbändig«, rief er aus, indem er die strahlenden Knabenaugen zu Otto hob. »Denken Sie, ich war fünfzehn, als der Krieg ausbrach, und ich konnte ja nicht hoffen, noch mitkämpfen zu dürfen.«

»Auch wir, wir haben uns unbändig gefreut, als die ersten Granaten einschlugen«, entgegnete Otto und gab seiner Stimme einen leichteren und heiteren Klang. Immer noch pochte und zuckte sein Herz. Er wollte Heinz auch nicht ahnen lassen, was in ihm vorging. Dieser Junge! Sollte er ihm sagen, daß er in Angstschweiß gebadet – betete? So unglaublich es klingt. Betete! Er! Übrigens – das ging ihm durch den Kopf – bei Souchez – die Toten lagen mit ihren genagelten Stiefeln in Scharen draußen – sie hatten schwere Verluste, ein abgeschlagener Angriff – da kam ein bayrischer Priester. Der stieg auf den Graben – im Feuer! – das Kreuz erhoben und segnete die Gefallenen ein. Die Franzosen schossen – aber er, er stand – mit dem Kreuz in der Hand. Friede sei mit Euch! Schrecklicher, herrlicher Augenblick! Er glaubte, glaubte! Die Kugeln waren Wind für ihn. Aber er, Otto, er betete – ohne zu glauben, das ist etwas ganz anderes. Sollte er Heinz erzählen, wie sie liefen – wie Ratten, auf die geschossen wird – hin und her – wie Ratten – von Unterstand zu Unterstand – und zwar jeden Abend? Hohoho! Es wurde Scheibe geschossen.

»Ja, auch wir haben gelacht, als die ersten Granaten einschlugen. Ich erinnere mich deutlich. Es war beim Vormarsch. Plötzlich aber hing ein Bein auf einem Obstbaum –«

»Wie? Ein Bein?«

»Ja, ein Bein. Mit dem Stiefel. Es hing im Kniegelenk auf einem Ast.«

»Brr!«

»Ja, und in diesem Augenblick hörten wir auf zu lachen und Hurra zu schreien, denn wir hatten ja jeden Einschlag mit Hurra begrüßt. – Übrigens ist es natürlich für Sie sehr interessant, da Sie die Scherze noch nicht kennen – für Sie als Flieger ganz besonders.«

»Sind Sie jemals im Felde geflogen? Nein? Ich stelle es mir wunderbar vor. Ich habe Tausende von Fliegeraufnahmen gesehen, und ich glaube, daß ich gleich vertraut sein werde mit allem. Nur das Warten ist schrecklich.«

»Vergessen Sie nur nicht, wie gesagt, daß da draußen scharf geschossen wird.«

Der junge Sterne-Dönhoff brach in ein heiteres Lachen aus. »Aber natürlich, das ist ja gerade das Interessante bei der ganzen Sache,« rief er aus, »im Feuer fliegen!«

Plötzlich, ganz unvermittelt, blieb Otto stehen und streckte Heinz die Hand hin. »Ich muß jetzt – Sie verzeihen, Heinz – ich muß gehen!« Immer noch war er etwas bleich.

»Auf Wiedersehen, Otto. Und hoffentlich im Felde!«

»Hoffentlich!«

Er hat auch seinen Knacks weg! dachte Heinz. Nein, wie nervös er ist! Und doch soll er zum Pour le mérite vorgeschlagen sein!


Wie ein Rasender stürzte Otto die halbdunkle Straße hinab. Heinz sah ihm verwundert nach.

Gerechter Gott, sollte man es für möglich halten? Auf gesunde Wiederkehr! Er war gekommen, um ein paar Worte mit ihr zu sprechen. Ein Lächeln, eine gepuderte Hand. Alles? Und eine ganze Gesellschaft saß da, zu allem Unheil kam noch der Alte dazu –!

Da droben gab es keinen Stern, kein Licht, keine Wolken, nichts. Nur eine dicke fettige Schicht von Ruß, aus der zuweilen flimmernde Tropfen fielen, lag auf den häßlichen dunkeln Häusern, die vor Feuchtigkeit schwitzten. Und schon war Otto in einem Blumengeschäft verschwunden.

Tulpen, Flammen und Glut, hellrote Rosen.

»Das Stück kostet –«

»Ich möchte alle.«

»Alle?« Sie kosteten ein Vermögen.

»Einen letzten Gruß!« schrieb Otto. Der neugierige Blick der kleinen rothaarigen Verkäuferin, die ihn durch die Blumensträuße beobachtete, verwirrte ihn. Er wurde abwechselnd bleich und rot, während er die paar banalen Worte und die Adresse schrieb. Es mußte ja ganz unverfänglich sein, jeder Mensch, dieser Petersen und diese Frida, die herumspionierten, mußten die Karte lesen können. Ohne diese Rücksichtnahme hätte er wohl gewußt, was er schreiben sollte.

Er hätte schreiben können: Ich werde Dich vor mir sehen – und wieder erbleichte er.

Die Liebe ist Gift, dachte der rothaarige Irrwisch und lächelte spöttisch hinter dem Offizier her.

Ruhiger schritt Otto dahin. Plötzlich, sonderbar, hatte er Zeit! Morgen früh um sieben Uhr ging der Zug. Nun wohl, das waren immerhin noch gute zwölf Stunden. Der Abend lag vor ihm – und die ganze Nacht.

Unangenehm nur war die Verabredung mit jener Dame im Kaiserhof. Sehen wir zu, daß wir die Sache hinter uns bringen! Indessen – keine Eile – mochte sie getrost noch etwas warten. Er hatte es gewiß nicht an Deutlichkeit fehlen lassen, oder? Schluß, zu Ende, sei ein tapferes Mädchen usw. usw. Wie man in solchen Fällen zu schreiben pflegt. Nein, nach diesem Brief gab es ein Zurück nicht mehr. Und doch hatte sie ihn wieder beschwätzt. Sie begriff, sie war völlig einverstanden, zu Ende, natürlich, aber sie wollte ihn vor seiner Abreise noch einmal kurz sehen, wenn auch nur für einen Augenblick. Sie schrieb, daß sie von 5 bis 9 Uhr im Kaiserhof auf ihn warten werde. Er würde gewiß eine Minute finden. Von 5 bis 9 Uhr! Es war natürlich ganz unmöglich, eine junge Dame vier Stunden lang vergebens warten zu lassen, das sah er wohl ein.

Aber sie soll wenigstens etwas zappeln, dachte er und zündete sich gemächlich eine Zigarette an. Er machte sogar noch einen unnötigen Umweg.

»Diese Hedi!« Verächtlich stieß er die Luft durch die Nase.

Wie der General verachtete auch Otto im Grunde seines Herzens die Frauen.

Er kaufte eine Abendzeitung und durchflog sie unter einer Laterne.

 

5

Heinz war, so schnell ihn die Füße trugen, zur Station der Untergrundbahn geeilt. Er hatte ja Klara benachrichtigt, daß es etwas später werden könnte, trotzdem …

Es war die Stunde des Geschäftsschlusses.

Berlin war wie ein schmutziger Schwamm, der ausgedrückt wird. Ströme von Schmutz flossen aus dem finsteren Himmel, von den Dächern und den tausendfenstrigen Hauswänden. Der Schmutz wälzte sich über die Straßen und stieg in den durchlöcherten Stiefelsohlen bis an die Knöchel. Die Menschen in ihren abgeschabten, dünnen Kleidern, blau vor Kälte und Hunger, quollen aus den frostigen Häusern und stürzten hinab in die windigen Kamine, die zur Untergrundbahn führen. Sie stauten sich auf den Bahnhöfen, geballt zu einer Wolke von Bitterkeit und Wut. Die überfüllten Züge fegten, triefend von Dunst und Schmutz, mitten hinein in die Menschenknäuel, die sich rasend gegen Türen und Scheiben warfen, um nicht auf den finstern, feuchten Perrons zurückbleiben zu müssen.

Die Schaffnerinnen – ihre Männer waren im Feld, faulten längst in den Massengräbern, verbluteten in dieser Minute, die Kinder hungerten zu Hause in einer kalten Stube – die Schaffnerinnen, gepeinigt bis aufs Blut von den jagenden Zügen, klirrenden Scheiben und kämpfenden Menschenmassen, schrien mit schrillen, gellenden Stimmen, als ob sie erdolcht würden. (Und ach, sie wurden erdolcht, jede Minute stieß ihnen unbarmherzig das Messer ins Herz.)

Zu Blöcken zusammengepreßt, flogen die Menschen durch die dunkeln Tunnels voll stummer gegenseitiger Raserei. Sie schwiegen. Sie fürchteten Spione und Agenten. Sie fürchteten den Terror der Albernheit. Sie lächelten und lachten nicht mehr. Sie fühlten das Verhängnis dicht vor sich, um sich, über sich, wo am Dach des Wagens sich all die Dünste der zusammengedrängten Menschenmassen stauten. Dieses Verhängnis, dessen Widerschein in allen Augen glänzte, begleitete sie durch die finsteren Tunnels, über die klirrenden Brücken und flutete mit ihnen über die menschenwimmelnden Perrons. Flogen die Züge in die Stollen hinab, so war es für viele, als ginge es in die Hölle mit ihnen, und der kalte Schweiß trat auf ihre Stirn.

Dunkelheit, Kälte und Hunger drohten aus den Straßenschluchten. Diese drei Gespenster ergriffen Besitz von Berlin, das sich drei Kriegswinter hindurch tapfer verteidigt hatte, um im vierten zu kapitulieren. Täglich breiteten sie sich mehr über die Stadt aus. Sie eroberten Häuserblock um Häuserblock, Straßenzüge um Straßenzüge, Stadtviertel um Stadtviertel, und drangen langsam zum Herzen der Stadt vor. Als ein viertes Gespenst war noch die Grippe dazugekommen. Dieses Gespenst war überall, wo sich Menschen ansammelten. Es machte alle Fahrten auf den überfüllten Untergrundzügen mit. Die Passagiere husteten sich gegenseitig den Tod ins Gesicht. Viele von ihnen machten heute ihre letzte Fahrt. Mit Vorliebe suchte dieses vierte Gespenst sich junge Exemplare aus, es liebte zartes Fleisch. Sie starben von der Berührung. Die Alten brachte es nur um eine gute Strecke der Grube näher, in die sie eines Tages, entkräftet vor Hunger und zermürbt von der Verzweiflung, ganz von selbst stürzen würden.

Heinz mußte einen überfüllten Zug vorbei lassen. Ein Paar grober Fäuste schleuderte ihn zurück. Selbst beim nächsten Zug verdankte er es nur seinem freundlichen Knabengesicht und dem Lächeln auf den roten Lippen, daß man ihn mitnahm.

Augenblicklich dachte er an die grüne Mütze. In wenigen Minuten würde er sie sehen!

Eine grüne Wollmütze, flott nach hinten gerückt, grasgrün, mit einer ebensolchen grasgrünen Seidenquaste in der Mitte, gewiß ist sie nichts, aber sie kann im Herzen eines Menschen soviel sein wie der Christus in der Kirche. Zuweilen, wenn die Züge seiner Dame in seinem Gedächtnis verblaßten, sehr selten geschah es – die grüne Wollmütze blieb zurück, keine Macht konnte sie ihm entreißen. Und allmählich, wie durch einen Zauber, fügten sich dann wieder Haar, Wangen, Ohr – alles daran.

Diese grüne Wollmütze leuchtete über den Wittenbergplatz, als er den Bahnhof verließ – weithin, wie ein Scheinwerfer. Und doch war es nur ein handgroßer Fleck von Grün, nicht einmal sehr deutlich im Schein einer Laterne. Durch das Gewimmel von Menschen hindurch drang Heinzens Blick, als ob die Menschen transparent wären, er sah seine Dame von den Schuhen bis zur Wollmütze, in ihrer ganzen Figur, obschon sie mitten in einem Knäuel von Wartenden bei der Haltestelle der Elektrischen stand. Das war jedenfalls ganz wunderbar. Er erkannte die Linie ihres anliegenden Jacketts, er sah sogar, daß sie ein Päckchen am Finger trug.

Plötzlich traf eine Stimme Klaras Ohr! Aber Heinz hatte gar nicht gerufen. Sie blickte im gleichen Augenblick auf ihn, ihre Blicke begegneten sich durch das Gewimmel. Sie lächelte, ihr Lächeln kam näher, es wurde leuchtender und strahlender, überblendete Menschenschatten, Finsternis und schmutzige Straße, und endlich glänzte es dicht vor ihm. Es hatte sich nun wiederum auf seine Quelle zurückgezogen. Es leuchtete aus ihren Augen, aus ihren Lippen, weißen Zähnen, aus ihren Wangen und selbst aus ihren blonden Haaren, auf denen einige Regentropfen wie Tau glitzerten.

Beide erröteten und fingen gleichzeitig an zu reden. Es war völlig einerlei, was sie sagten. Sie freuten sich an dem Klang ihrer Stimmen, die durcheinander klangen.

»Sie haben – du hast –«

»– tausendmal Verzeihung jedenfalls – meine Cousine wollte mich Hauptmann Wunderlich vorstellen, der eine Kampfstaffel führt –«

Die grüne Wollmütze glitt die Straße hinab, die seidene grüne Quaste baumelte hin und her.

Wie wunderbar frisch ihre Halskrause ist, dachte Heinz und wie fest ihr Jackett um die Hüfte schließt. Sie aber bewunderte den Schnitt seines Mantels, der nahezu bis zur Erde reichte und viel zu weit war, und seine seidene Mütze, die eine kecke Beule aufwies.

»Du trägst ja nun das Abzeichen!« rief die junge Dame plötzlich überrascht aus. Mit einem raschen Blick hatte sie, als er nur einen Augenblick den Mantel aufknöpfte, sofort das Fliegerabzeichen entdeckt.

»Ich habe es gestern bekommen.«

»Ich gratuliere.« Das war wohl eine Gelegenheit, ihr die Hand zu geben. Heinz berührte die Spitzen ihrer zarten, ach so zarten und unbegreiflich dünnen Finger.

»Gestern flog ich über Berlin«, erzählte er lebhaft. »Ich flog über den Wittenbergplatz und den Kurfürstendamm entlang. Bei der Gedächtniskirche drosselte ich den Motor und ging auf fünfhundert Meter herunter. Ich sah das Treiben der Menschen und dachte, vielleicht geht auch Klara Westphal da unten.«

Nein, Klara Westphal war zu Hause.

Klara streifte ihren jungen Helden mit einem bewundernden Blick. Sie konnte wohl beobachten, daß die Damen den schlanken Offizier anblickten, und manche drehten sich sogar um, so schön und frisch war er. Er ging sorglos und strahlend, die Mütze etwas keck aufs Ohr geschoben, und er hatte eine besonders flotte Art zu grüßen, als gebe es Vorgesetzte für ihn nicht. Sein Gruß hatte zuweilen sogar etwas Herablassendes und Gönnerhaftes. Jetzt, da er neben Klara ging, war er völlig frei von seiner kindischen Ehrfurcht vor allem, was Achselstücke mit Sternen trug.

»Und dein Kommando?«

»Leider ist es noch nichts damit. Nun aber hat Hauptmann Wunderlich mir versprochen, mich für seine Kampfstaffel anzufordern, sobald es möglich ist.«

Nichts fürchtete Klara mehr als diesen schrecklichen Augenblick, wo das Kommando kam. Schon jetzt klopfte ihr das Herz.

»Wohin wollen wir gehen?«

»Es ist ganz gleichgültig.«

Es war in der Tat völlig gleichgültig. Wenn sie nur nebeneinander hergehen durften, verstrickt durch das Unergründliche, unbegreiflich Süße, Geheimnisvolle – Blicke, Gesten, Lachen, Worte, das war ja das allerwenigste.

Die Menschen, die aus Elektrischen sprangen und in Restaurants eilten, die Unverschämten, die sie anblickten und Bemerkungen austauschten – sie sahen sie gar nicht.

Sie bogen in eine dunkele Straße ein, und sofort strahlten Klaras Augen wie Feuer, ihr blondes Haar flammte unter der grünen Mütze und ihre etwas vollen Wangen begannen geheimnisvoll zu schimmern. Ihr kleiner Mund aber glänzte naß und tiefrot.

Wunderbar! Hier in der Dunkelheit sah Heinz, daß sie atmete, was er früher nie beobachtet hatte. Ihre Brust bewegte sich, ergreifend, unter dem enganliegenden Jackett gleichmäßig auf und ab. Zum ersten Male hörte er auch ihren Atem, den er nie gehört hatte.

Klaras Lippen wurden durch ein Lächeln geöffnet, und im gleichen Augenblick rief sie jauchzend aus: »Es schneit, Heinz! Es schneit!« Und schon flog die grüne Mütze mit der baumelnden Quaste davon.

»Komm, komm!« Sie streckte ihm die Hand hin.

Nun liefen sie beide in den wirbelnden Schnee hinein.

Unterdessen wartete Hedi Westphal in der Halle des »Kaiserhofs«. Und Otto las unter einer Laterne gemächlich die Abendzeitung.

 

6

Hedi hatte längst den Tee ausgetrunken. Sie hätte gern eine zweite Portion bestellt, aber sie mußte sparen. Ewig diese Geldmisere!

Ihr Vater war Geheimer Rat im Auswärtigen Amt. Da schlich er täglich in Gamaschen und Seidenhut an den beiden Sphinxfiguren des Vestibüls vorüber, die immer so eigentümlich lächelten. Dann knackte er in seinem Bureau mit den Fingern, zupfte an seinem dünnen Chinesenbart und vertiefte sich in die Zeitungen. Diese Tätigkeit war nicht besonders aufreibend, aber sie war schlecht bezahlt und die Westphals ohne Vermögen.

Trotz des lächerlich geringen Taschengeldes war Hedi ganz Lady – von den tadellosen Stiefelchen an bis hinauf zu dem kleinen Reiher auf dem silbergrauen Seidenhütchen. Sie trug einen weißen Schleier mit silbergrauer Stickerei. Sie war noch blonder als Klara, nahezu weißblond.

Den weißen Schleier mit den silbergrauen Ornamenten schob sie zuweilen über das Näschen und nippte, die Hand graziös geformt, an der leeren Teetasse.

Würdevoll war ihre Haltung, etwas lässig. Die Umwelt existierte nicht für sie. In vollkommenem Gleichgewicht schwebend saß sie da.

Die Musik wehte. Butterfly.

Ein älterer Offizier mit einer mächtig funkelnden Glatze beobachtete sie in auffallender Weise. Hedi wandte das Gesicht mit einem gelangweilten Blinzeln in eine andere Richtung. Nun aber hatte sich ein junger Herr in einem Klubsessel am Mittelgang niedergelassen. Er trug einen weiten Mantel von auffallend heller Farbe, tadellose braune Stiefel, nagelneu, eine Sehenswürdigkeit in diesen Tagen. Eine Zigarette im Mundwinkel saß er da und stieß mit einem dünnen Stöckchen im Takte der Musik auf den Teppich. Zuweilen ließ er seinen Blick über Hedi gleiten, aber in gänzlich unauffälliger Weise, so daß sie ihn niemals dabei ertappen konnte. Im letzten Moment huschte der Blick stets über sie in die Höhe zur Decke. Vielleicht hatte sie ihn schon gesehen? Er kam ihr irgendwie bekannt vor. Nun brachte ihm ein Kellner ein kleines Glas und goß eine rote Flüssigkeit ein. Der junge Mann nahm aus seiner Manteltasche einen Pack Papiergeld und reichte dem Kellner eine Note, um gleich darauf wegzublicken. Der Kellner verneigte sich tief. Hedi blickte auf die Armbanduhr, und ihre Miene sah enttäuscht aus. Es war einhalb sieben Uhr. Die Musik spielte einen Tango. Der Herr in dem weiten Mantel hatte die rote Flüssigkeit ausgetrunken, stand auf und ging. Aber nach wenigen Minuten kam er wieder zurück. Er trug einen Strauß weißer Rosen in der Hand, den er vor sich auf den Tisch legte. Er wartet, auch er! Wieder schwebte Hedi in vollkommenem Gleichgewicht.

Dann saßen da noch einige Damen, mit Brillanten, Perlen, Pelzen, Puppen mit einem Wort – Hedi sah sie überhaupt nicht.

Schon begann der Saal sich zu leeren. Die Kellner räumten die Teetische ab. Im Speisesaal flammten Lichter auf, und die Kellner gingen hinter den Spiegelscheiben zwischen den weißgedeckten, mit Blumen geschmückten Tischen hin und her und legten die Kuverts auf. Der Herr im hellen weiten Mantel saß immer noch in seinem Klubsessel. Glattrasiert, blau ums Kinn, die gescheitelten Haare pechschwarz, sah er – wie es Hedi schien – wie ein Spanier aus. Er hatte sich bequem zurückgelehnt und starrte sinnend zur Decke empor, während seine Fußspitze im Takte der Musik wippte. Nur zuweilen, wenn er die Asche von seiner Zigarette streifte, glitt sein Blick über Hedi hin. Unbeachtet lagen die weißen Rosen vor ihm auf dem Tisch.

Hedi schob trotzig die Oberlippe in die Höhe gegen den Schleier – sie wurde ungeduldig. Aber in diesem Augenblick sah sie Otto hereinkommen. Er trat schnell durch den Mittelgang. Das Blut stieg ihr in den Kopf, und plötzlich schlug ihr Herz im Halse. Sein braunes Gesicht glänzte von der frischen Luft, und aus diesem braunen, glänzenden Erzgesicht, das sie geliebt hatte, sprühten wild und verwegen die hellgrauen Augen der Hecht-Babenberg.

Welche Träume starben dahin, welche Träume versanken! Während der Tango kollerte, gurrte, kleine wollüstige Schreie ausstieß.

Sie krachten zusammen mit Donnergepolter wie Riesenschlösser, deren Fundament nachgibt, sie zersprangen wie Paläste aus Glas – in nichts!

Babenberg und Rothwasser, die Familiengüter der Hecht-Babenberg – mit den hundertjährigen Bäumen, dem Sommergeruch auf den endlosen Kornfeldern, dem Ziegelwerk, den brüllenden Viehherden bei den Weihern – die Erde verschlang sie! Der Besuch ihres kleinen Papas, den die Bureauluft zur Mumie ausgetrocknet hatte – dahin! Die Berühmtheiten, Feldherrn und Minister, die ihren Hausball besuchten – in Staub zerfielen sie. Ihre Audienz beim Kaiser, ihr Kniefall vor Seiner Majestät, wegen irgendeiner Sache – ein Nebelfetzen! Und all die Phantasien, gesehen in den Augenblicken, da der Blick bricht in Verzückung – nichts!

Während der Tango unter ihren Schuhsohlen im Parkett klopfte.

Er war entschlossen, an seinem Blick konnte sie es sehen –

Nichts blieb als die bescheidene Behausung in der Schaperstraße, wo Papa mit seiner dicken Mappe aus dem Amt kam und nicht gestört werden durfte. Wo man in Pfennigen dachte, wo Klara wie eine Närrin schwätzte –

Chaos umgab Hedi. Sie saß in der Staubwolke ihrer zusammengestürzten Paläste, auf dem Schutt ihrer Reichtümer, eine Bettlerin. Sie saß wie eine Lady, in idealem Gleichgewicht, und ihr Blick flog lächelnd Otto entgegen.


Der Herr im hellen Mantel, der Spanier, rief Otto an.

»Ich darf Sie doch heute abend erwarten, Otto?«

»Es kann allerdings etwas später werden.«

»Sie wissen, mein Lokal ist die ganze Nacht offen!«

Otto streifte die Handschuhe ab.

»Es schneit wohl wieder?«

»Ja, es schneit, ich bin etwas spät, verzeihe –«

Hedi lachte. »Ich bin vor kaum zehn Minuten gekommen.«

Schon kam der Kellner und brachte Tee.

»Ich habe dem Kellner gesagt, sofort Tee zu bringen, wenn du kommst«, sagte Hedi. »Du hast es gewiß sehr eilig.« Schon errötete Otto und runzelte die Stirn. Etwas gefiel ihm nicht.

Die Musiker packten ihre Instrumente ein und klappten den Flügel zu.

»Es ist lieb von dir, daß du gekommen bist,« fuhr Hedi fort, »wir sehen uns nun vielleicht lange nicht, vielleicht nie mehr. Und ich wollte gerne …« Sie sprach leichthin – ganz Dame.

Ottos blanke, graue Augen waren fragend auf sie gerichtet.

»Ich reise wahrscheinlich.«

»Du reisest?«

»Ja. Nach Schweden. Es ist noch nicht ganz sicher. Man ist an Papa herangetreten.« (Welche Lüge, welch infame Lüge, aber sie war ihr plötzlich durch den Kopf geschossen!)

»So?« Ottos Neugierde war wach, aber er wagte nicht zu fragen.

»Ich werde der Mission attachiert. Wahrscheinlich muß ich nach Rußland. In besonderem Auftrag.«

»Ah!«

Der Herr im weiten hellen Mantel stand auf und grüßte. Er verneigte sich auch gegen Hedi, und während sie ihn kurz anblickte, lächelte sie unmerklich. Aber, sie konnte schwören, sie hätte nie, nimmermehr gelächelt, wäre ihr Herz in diesem Augenblick nicht so voller Bitterkeit gewesen. Der Spanier – er war übrigens nicht hübsch, eher häßlich – war ein Herr Ströbel oder ein Herr v. Ströbel, ein während des Krieges reich gewordener junger Mann. Sie erinnerte sich seines Namens. In seinem Hause, das wußte sie von Otto, fanden jene berüchtigten Spielabende statt, die die ganze Nacht hindurch dauerten.

Verlassen lag der Strauß weißer Rosen auf dem Tisch.

»Ich freue mich übrigens, Hedi –« begann Otto.

»Ich meine – du begreifst ja wohl meine Motive? Es ist mir ja –«

»Bitte, Otto!« unterbrach ihn Hedi. »Ich bin doch keine kleine Verkäuferin« – scherzte sie – »wir wollen gute Kameraden bleiben. Kein Wort weiter. Hast du Zigaretten?«

Der Kellner stürzte mit einem Streichholz herbei. Er störte. Nur um etwas zu sagen, warf Hedi hin, daß das letztemal, als er zur Front reiste, diese furchtbare Hitze in Berlin war. Es lag keinerlei Absicht darin, auf Ehre, allein der dumme Kellner war Schuld daran. Schon stieg ihr die Röte ins Gesicht, und auch Otto errötete plötzlich.

Das letztemal – da war Hedis berühmtes Abschiedssouper gewesen.

Otto war ihr Gast!

Das Auto fuhr und fuhr – damals war Berlin ja noch nicht tot – es fuhr bis zu einem gänzlich entlegenen Hotel am Schlesischen Bahnhof – und Otto mußte sich fügen.

Hedi aber hatte schon alles vorbereitet. Sie hatte dem Besitzer des Hotels mit einem Schwall von Worten erklärt, daß ihr Mann auf Urlaub, durchkäme, und daß sie aus der Provinz seien, kriegsgetraut, und daß er nur diese eine Nacht hier wäre, daß sie ihn am Bahnhof abholen und hierher bringen werde. Mit einem Schwall von Worten hatte sie, bebend vor Angst und Aufregung, die Zimmer ausgewählt und das Menü zusammengesetzt. Nichts war gut genug, und der Kellner bekam zwanzig Mark Trinkgeld im voraus, damit er wußte, mit wem er es zu tun hatte.

Die gesamten Ersparnisse eines vollen Jahres gingen darauf. Es gab Kerzen anstatt des elektrischen Lichts, obwohl Kerzen schwer aufzutreiben waren, es gab Rotwein, obwohl Rotwein für die Lazarette beschlagnahmt war, es gab Sekt, obwohl er Unsummen kostete. Die kleine Tafel, die sie selbst deckte, war mit Blumen geschmückt. Er sollte sehen, daß es unsinnig war, den letzten Abend in irgendeinem langweiligen Weinrestaurant zu verbringen. Man mußte nur wissen, wie man es anpackte. Es ging alles in Berlin, aber man mußte etwas Unternehmungsgeist haben.

Und Otto – staunte! Über die Kerzen, den Wein, die ganze Aufmachung, wie er es nannte.

Es war heiß, und die elektrischen Bahnen brausten drunten vorüber. Es war Juli. Ein Bataillon zog zum Bahnhof, singend. Die Musik schmetterte und die Leute schrien begeistert. Berlin, das Berlin des Hochsommers brauste – drunten, tief drunten.

Die Kerzen, der Wein. Er war ihr Gast!

Sie entzog sich ihm nicht, weshalb denn? Sie legte das Kleid ab, sie öffnete ihr Haar. Sie schlüpfte in das dünne Seidenkimono, das sie für diesen Abend geschneidert hatte. Er sollte sehen, daß sie ihn liebte, und daß sie nicht ein albernes Gänschen war. Sie trug ihre kleinen himbeerfarbenen Pantöffelchen.

Berlin, das Berlin des Hochsommers und des Lebens brauste drunten, tief da unten – irgendwo.

Dann kam die Nacht.

Er sollte wissen, daß sie ihn liebte und Mut hatte. Ja, es gehörte Mut dazu, denn Papa würde sie auf die Straße werfen, wenn etwas passierte.

Sie war völlig außer sich vor Raserei. Ja, und sie konnte schwören, daß sie nichts bereute, daß sie es niemals bereute – trotz der fürchterlichen Angst, die sie ausgestanden hatte.

Hunderte von Pferdehufen trappelten auf der Straße – sie hörte sie immer noch – jetzt in dieser Sekunde …

Die Zigarette brannte. »Danke«, sagte sie, und der Kellner ging.

»Wo liegt dein Regiment jetzt, Otto?« fragte sie, während die Röte ihrer Wangen langsam verflog.

»Ich weiß es nicht genau. Wohl an derselben Stelle.«

Einige Belanglosigkeiten – und plötzlich sieht Hedi auf die Armbanduhr und springt auf. Mein Himmel! Sie reicht dem Kellner eine Note, zehn Mark, das macht drei Mark Trinkgeld, aber sie kann nicht warten bis er herausgibt.

»Nun will ich dir gute Reise wünschen, Otto. Nein, bleibe sitzen. Ich will allein gehen. Ich habe es sehr eilig. Auf Wiedersehen!«

Ihr Aufbruch kam so rasch, daß Otto völlig verblüfft war. Hedi ging, und sie sah die weißen Rosen, die verlassen auf dem Nachbartisch lagen, nicht an. Ganz Lady, schritt sie über die Teppiche.

Ein Nicken, ein Lächeln an der Türe, der Groom verbeugte sich.

Es ging gelinde ab, dachte Otto, der den Kellner ungeduldig herbeiwinkte und es plötzlich ebenfalls sehr eilig hatte. Da fiel ihm ein, daß sein General seinerzeit den gleichen Ausdruck ihm gegenüber gebraucht hatte – damals, als er dreißig Prozent seiner Leute liegenließ. Er hatte die Geschichte erst vorhin Heinz erzählt. Nun, jedenfalls hatte sie sich wie eine Dame benommen. Er fürchtete nichts mehr als Szenen.

Aber ein unangenehmes Empfinden blieb in ihm zurück. Was war es doch?

Er haßte sie in diesem Augenblicke bitter.

 

7

»Schuft, Schuft!« Hedi lachte. Was für ein bodenloser Schuft war er doch!

Mit schnellen Schritten eilte sie an den Häusern entlang in das Schneetreiben hinein, den Hut mit dem kleinen Reiher dicht in den Schirm gedrückt.

Seine Motive – seine Motive kannte sie ganz genau! Seine Familie, seine Karriere – was für Ausflüchte! Hätte er doch den Mut gehabt ihr zu sagen, daß er sie nicht mehr liebte! Aber diese Männer sind Feiglinge, und wenn sie auch mitten in den Kugelregen hineingehen. Geld und Ordensauszeichnungen, das war alles, wonach diese Offiziere trachteten.

Die Lampen eines Automobils blendeten durch die finstere Straße, und die Schneeflocken jagten gleißend durch den Lichtkegel. Plötzlich aber stockte Hedis Schritt, in dem gleißenden Lichtkegel flatterte ein weiter, heller Mantel. Er mußte ihr gefolgt sein, sie umgangen haben, um plötzlich vor ihr erscheinen zu können, oder war es ein Zufall? Ihre Füße waren wie gelähmt, denn der Mantel kam näher, und sie bemerkte, daß er die Richtung seiner Bewegung änderte. Sie bog rasch ab und stürmte die Treppe zur Untergrundbahn hinunter. Mein Gott, sie war falsch gegangen, sie wollte nach dem Leipziger Platz, und nun war sie an der Friedrichstraße angelangt.

Der gelbe Mantel erschien auf der Treppe der Station. Er war nur einen Augenblick sichtbar, dann verschwand er, er kam nicht herunter.

Hedi atmete erleichtert auf.

Nein, sie brauchte Otto nicht, sie brauchte ja nur die Hand auszustrecken und soviel Finger sie hatte, soviel …

Der Zug fuhr in die Station. –

Otto hatte gleich hinter Hedi das Hotel verlassen. Als er sie mit den Blicken suchte, war sie schon verschwunden. Übrigens fesselte gerade eine Dame seine Aufmerksamkeit, die aus einer Droschke stieg und duftend und glitzernd die lichte Hotelhalle betrat. Otto eilte rasch nach Hause. Er warf sich in Zivilkleidung, in ganz unglaublich kurzer Zeit hatte er sich umgezogen. Er knöpfte noch den Mantel zu, als er wieder die Treppe herabsprang. Er hatte nicht die geringste Lust, den Abend zu Hause zu verbringen und alle möglichen Dinge über Siedelungsgebiete, Kolonien und strategische Sicherungen zu hören.

An der Türe des schmalen Vorgärtchens prallte er mit einem kleinen Herrn im Havelock zusammen. Aber der kleine Herr im Havelock war nicht im geringsten ungehalten. Im Gegenteil, er zog den Hut, stammelte Entschuldigungen.

»Herr Oberleutnant –« Offenbar kannte er ihn. Irgendein Hausmeister der Nachbarvillen.

Fort! Schon rauschte die Limousine des Generals heran.

In einem Tempo, als habe er auch nicht eine Sekunde Zeit zu versäumen, eilte Otto der Friedrichstadt zu.

 

8

Kälte schlug dem General entgegen, als er seine Wohnung betrat. Er bewohnte das Parterre eines einstöckigen grauen Hauses an der Tiergartenstraße, dicht am Kemperplatz, nicht weit von Doras Backsteinvilla entfernt. Kälte und Stille – die Wohnung war erfüllt von Winter, von Tod.

Die Generalin war einige Jahre vor dem Krieg in Davos gestorben, nachdem ... Die Ehe des Generals war in den späteren Jahren nicht glücklich gewesen, übrigens hatte die Generalin nie diese Wohnung in der Tiergartenstraße betreten, damals – wieviel Jahre sind es her! – wohnten sie in der Margaretenstraße.

Auch sein Sohn Kurt, der älteste – er war nicht mehr. Gefallen an der Somme.

Ein eigentümlicher Hauch strich durch die Wohnung – und augenblicklich versteinte das Gesicht des Generals wieder. Den Rest des Familienlebens hatte der Krieg vernichtet. Ruth und Otto gingen ihre eigenen Wege. Ruth arbeitete zurzeit in ihrer Küche, früher in einem Lazarett, und Otto, wenn er einmal auf Urlaub in Berlin war, war selten zu sehen – ein Leichtfuß … Es gibt in dieser Hinsicht keine Kompromisse: entweder lebt eine Familie glücklich, oder sie zerfällt.

Die Burschen rasselten in der Diele in die Höhe. Auch die Ordonnanz rasselte. Sie brachte die Mappe mit den Akten, die am Abend bearbeitet werden mußten. Nur Soldaten lebten im Hause des Generals – und eine Wirtschafterin, Therese, die irgendwo hinten in den Zimmern hauste, und die man nie sah. Soldaten gingen ein und aus, solange der General lebte. Sein Vater war als Oberst gestorben. Es rasselte von Waffen, und sie brachten den Geruch aus den Kasernen mit.

Der General ließ den Pelzmantel einfach fallen, irgend jemand stand schon da und fing ihn auf.

Ja, Kälte – trotzdem die Wohnung gut geheizt war. Durch einen dunkeln Spiegel sah er sein steinernes Gesicht gleiten. Alle Lampen schienen falsch oder ungeschickt angebracht. Anstatt Licht und Freundlichkeit zu verbreiten – wie warm war es doch bei Dora! – verbreiteten sie feindselige Grelle und haßerfüllte, pechschwarze Schatten. Dunkle Täfelungen, schwere Barockmöbel, Gold – die Parkettböden schrien, wenn man sie betrat, es war ein altes Haus.

In seinem Arbeitszimmer fiel der Frost von ihm. Hier allein war er zu Hause. Er atmete auf, seine Haltung wurde um etwas lässiger.

Mit raschen Schritten näherte er sich einem Vogelbauer, in dem ein kleiner gelber Kanarienvogel hauste.

»Nun, Niki – Niki!« Er steckte den Finger durch die Stäbe – er sprach mit dem Vogel genau so, wie er früher mit seinen Kindern gesprochen hatte, mit veränderter, komischer Stimme – als sie noch ganz klein waren, klein, lieblich und voller Vertrauen.

»Aber das Apfelschnitzchen – es ist ja heruntergefallen, nun wollen wir aber das Apfelschnitzchen – und das Wasserchen, wieder alles verspritzt – du Schlingelchen –«

Der Vogel piepte und sprang erregt von Stäbchen zu Stäbchen.

»Ja, siehst du – das Herrchen –«

Es klopfte. Eine laute Stimme rief: »Es ist serviert, Herr General!« Das war Jakob, der Ulan, Bursche und Kammerzofe des Generals. Es gab auch noch einen Wangel, der aber war mehr für den Dienst außerhalb des Hauses. Die Uhren schlugen. Es war acht.

Punkt acht – Punkt, immer Punkt! Der General war für peinlichste Pünktlichkeit. Zuweilen, erschöpft vom Dienst, legte er sich zur Ruhe – zehn Minuten, zwanzig Minuten – mit der Sekunde mußte er geweckt werden. Die Burschen konnten den ganzen Tag faulenzen oder mit Köchinnen klatschen, aber ihre Uhren mußten genau gerichtet sein. Punkt ein halb acht Uhr morgens erhob sich der General, Punkt ein viertel nach acht nahm er sein Frühstück, Punkt ein Uhr fuhr er zum Mittagessen (er aß in der Stadt), Punkt acht Uhr erschien er zum Abendessen. Auch im Felde hatte er die gleiche Einteilung des Tages eingehalten und wenn die Welt unterging. Zuweilen ging sie auch unter, aber den Tagesplan des Generals vermochte sie nicht zu verrücken.

Zeit, Zeit – jede Minute war kostbar – der Dienst –

Nun gut … Punkt acht Uhr begab sich der General ins Speisezimmer.


Ruth sagte »Guten Abend« und grüßte den Vater mit ihren hellbraunen Augen, die in der Tiefe warm und golden schimmerten. Sie war keine Hecht-Babenberg, sie war, heißt das, physisch nicht den Traditionen des Hecht-Babenbergschen Blutes gefolgt, das große, solide Knochen, breite Schädel mit etwas slawischen Backenknochen baute, sie war eine Sommerstorf, nach der Mutter geraten, die einer süddeutschen, fränkischen Familie entstammte. Sie war nicht groß, schmalschultrig, eher zierlich, ihr Haar dunkelblond, fast braun, und so weich, daß es sich schlecht frisierte und die Frisur häufig etwas nachlässig aussah. Zuweilen rügte der General diese Nachlässigkeit, mit einem raschen Blick. Ruth glättete dann verlegen mit den Händen die Haarwellen.

Der General goß sich Fachinger ein. Neben seinem Gedeck lagen die Abendzeitungen, die er durchflog, während er die Suppe schlürfte. Wann sollte er Zeit haben, die Zeitungen zu lesen? Er wußte kaum, was in der Welt vorging. Aber das war auch Nebensache, die Hauptsache war, daß diese Burschen geschlagen wurden, und es war nicht nötig, daraufhin die Zeitungen zu studieren. Auf Tag und Stunde würde er es wissen, wenn es so weit war. Noch war es allerdings nicht ganz so weit, auch das wußte er ganz genau.

»Na, da haben sie wieder mal –« murmelte der General.

»Wie Papa?«

Schweigen. Der General schlürft hastig und ungeniert die Suppe, die vom Löffel in den Teller tropft, und schielt in die Zeitung.

»Jakob? – Es zieht.«

Jakob tritt aus dem Schatten neben dem Danziger Barockbüfett, wo er sich gewöhnlich verbirgt, und geht zu sämtlichen Fenstern und Türen, auf den Fußspitzen, obwohl er weiß, daß alle ordentlich geschlossen sind. Jakob bedient auch bei Tisch. Der General liebt es, von einem Mann in Uniform auch zu Hause bedient zu werden – es ist wie im Felde. Er haßt weibliche Dienstboten.

Die silbernen Bestecke blinken kalt, die Tischdecke ist wie Schnee – und obgleich der Tisch nicht um vieles größer ist als ein gewöhnlicher Eßtisch, scheint dem General diese Tischdecke zuweilen ein endloses Schneefeld zu sein. Ganz am Rande dieses Schneefeldes weiß er seine Tochter, fern, klein – zuweilen scheint es dem General, als ob die Menschen mehr und mehr in die Ferne glitten, mehr und mehr, täglich mehr. Oft klingen ihre Stimmen fern und dünn, wie aus großer Entfernung. Oft hört er sie gar nicht mehr, so dünn klingen sie. Es kommt daher, daß er überarbeitet ist.

»Na, da haben sie wieder mal einige Tausend Tonnen heruntergeschossen.«

Jakob wechselte die Teller, geräuschlos.

Der General sah plötzlich auf. Jetzt erst bemerkte er, daß Otto bei Tisch fehlte.

»Otto ist eingeladen, Papa.«

»Am letzten Abend –?« Röte stieg in das Gesicht des Generals. Seine Wimpern hoben sich vorsichtig, und sein Blick tastete über Ruths Gesicht. Dieses Gesicht war zart, blaß und von einer ungewöhnlichen Reinheit des Teints. Es war voller Anmut, ohne irgendwie schön zu sein. Eine träumerische Zerstreutheit war über die weichen Züge gebreitet, und ein Lächeln lag auf den etwas zu vollen, tiefroten Lippen. Ruth fühlte den Blick, ihre Lider zitterten – aber schon war der Blick des Generals wieder zu seinem Teller zurückgekehrt. Der General liebte es nicht, dem Blick seiner Tochter zu begegnen – es hatte seinen Grund, seine Gründe, über die er niemand Aufklärung schuldig war.

»Viel Arbeit in der Küche?«

»Genug, Papa. Wir geben täglich achthundert Mahlzeiten aus.«

»Sapperlot!« Der General wischte sich den grauen, dünnen Schnurrbart ab und rückte den Stuhl zurück. Er bot Ruth die Wange zum Kusse. Sie berührte sie mit den weichen Lippen (wobei die stachlichen Bartstoppeln sie stets kitzelten) und legte einen Augenblick die Hand sanft an den grauen Kopf des Vaters. Diese Art des Gutenachtkusses hatte sich aus ihrer Mädchenzeit erhalten. Der General fühlte den sanften Druck ihrer Hand im Herzen. Jeden Abend. Jeden Abend erwachte bei dieser Berührung die Liebe zu seiner Tochter, die während des Tages verblaßte, schlief, ohne jede Spur erlosch. Am Tage dachte er fast nie an Ruth, und wenn sie ihm in den Sinn kam, zufällig und selten, so geschah es ohne jedes Gefühl, fast mit Kälte. Aber abends fing die Liebe unter dieser Berührung zu glimmen an. Oft dauerte diese Empfindung an, und einmal kam es sogar vor, daß der General spät abends an Ruths Türe lauschte, um zu hören, wie sie atmete. Da stand er im dunkeln Korridor, wie ein Dieb, das Ohr gegen ihre Türe gedrückt. Sein Herz brannte vor Liebe.

Am Tage aber – Gleichgültigkeit, Kälte. Sonderbar!

»Gute Nacht, Papa!« Weich und fein klang Ruths Stimme.

»Gute Nacht.«

Der General erhob sich geräuschvoll. Jakob klappte mit den Stiefeln. Plötzlich sagte der General im Befehlston: »Wenn mein Sohn nach Hause kommt, ich möchte ihn sprechen! Aber nach ein halb zwölf will ich nicht mehr gestört werden. Dann soll er früh in mein Zimmer kommen!«

»Jawohl, Herr General!« Und Jakob stürzte zur Türe. Er wußte, daß der Herr Oberleutnant erst gegen Morgen zurückkehren würde wie jede Nacht. Er hatte ihm schon befohlen, rücksichtslos kaltes Wasser anzuwenden, wenn er nicht wach werden sollte.

Ruth wünschte dem Burschen mit heiterer Stimme »Guten Abend« und schlüpfte in ihr Zimmer.


Ruths kleiner Salon war, ganz wie das anstoßende Schlafzimmer, immer etwas in Unordnung und – sowohl am Tage wie am Abend – in Dämmerung gehüllt. Kleidungsstücke, Bücher und Schreibpapier lagen verstreut umher. Der kleine Salon, der auf den Tiergarten hinausging, war in blauen und weißen Farben gehalten. Die niedrigen, mit einem Seidenbrokat von senkrechten blauen und weißen Streifen überzogenen Fauteuils, zeigten schon allenthalben feine Risse und waren gelblich geworden. In die Rücklehnen dieser Fauteuils war ein Medaillon mit dem Wappen der Sommerstorf eingestickt: eine Hand, die eine rote Rose hielt. (Diese rote Rose spielte bei den Sommerstorf überhaupt eine große Rolle.)

Über dem kleinen Sofa, auf dem gewöhnlich Ruths Mantel und Hut lagen, hing in einem ovalen weißen Rahmen das Porträt einer jungen Dame: Margarete v. Sommerstorf, spätere Hecht-Babenberg. Das Aquarell, in der Manier Kaulbachs gehalten, stellte Ruths Mutter im Alter von etwa zwanzig Jahren dar, zur Zeit, da sie sich verheiratete: ein junges Mädchen, die schmalen Schultern in ein weißes Spitzentuch eingehüllt, einen Fächer in der Hand und eine brennendrote Rose im Haar. Das Haar hatte in den Reflexen den gleichen Schimmer wie Ruths Haar, das manchmal braun und manchmal blond erschien, je nachdem das Licht darauf fiel. Das Bild hatte eine besondere Eigentümlichkeit. Die großen hellbraunen Augen, die der Künstler besonders hervorgehoben hatte, verfolgten den Beschauer überallhin, wo immer im Zimmer er stehen mochte. Sie ließen ihn nicht aus den Augen und lächelten.

Ruth hatte nur eine blasse Erinnerung an die Mutter bewahrt. Etwas Scheues, unendlich Warmes, Flüchtiges und Huschendes. Weiche Lippen, unendlich zart und unendlich warm – die sie geküßt hatten, als sie ein kleines Mädchen war, und Therese hatte gerufen: »Grüße die Dame, es ist Mama.« Ruth erinnerte sich genau an diese Worte Thereses, aber zu ihrem Schmerz erinnerte sie sich nicht mehr an das, was diese blasse, scheue, unbekannte Dame sprach.

Sie besaß übrigens das weiße Spitzentuch, in dem die Mutter porträtiert worden war. Zuweilen, sehr selten, legte sie es um die Schultern, sie steckte sich eine rote Rose von demselben prangenden Rot in das Haar: dann lächelten diese beiden Frauen, die ganz gleich aussahen, einander zu.

Eilig schlüpfte Ruth in den Mantel und sang leise vor sich hin, während sie die Handschuhe suchte, die sie, wie gewöhnlich, verlegt hatte:

Die Rose, die Lilie, die Taube, die Sonne,

die liebt ich einst alle in Liebeswonne.

Ich lieb’ sie nicht mehr, ich liebe alleine

die Kleine, die Feine, die Reine, die Eine. –

Ruth vergötterte Schumann.

Aber da hatte sie auch schon die Handschuhe gefunden. Sie waren in eine leere Blumenvase geraten.

 

9

»He, Kutscher, sind Sie frei?«

Otto sprang in den Wagen. »Paradies-Bar!« Es war eine alte, in allen Fugen klaffende Droschke. Das Pferd lahmte und schnellte in merkwürdigen Sprüngen vorwärts. Mein Himmel, was haben sie aus dieser Stadt gemacht, dachte Otto, mit einem Gefühl von Schadenfreude im Herzen. Er war zuletzt im vorigen Sommer einige Wochen hier gewesen, um sich von einer Gasvergiftung zu erholen – damals erschien ihm der Verfall noch nicht so furchtbar.

Einsam klapperten die Hufe des Pferdes in der finstern Straßenschlucht. Es hatte aufgehört zu schneien, Schmutz floß in den Rinnsteinen. Ohne Aufhören ging ein schwarzer Aschenregen nieder auf die tote, verkohlte Stadt.

Und früher, ein wogendes Meer von Licht! Schimmernde Perlenketten, blitzende Diademe auf den Dächern, rasende Feuerräder am geröteten Himmel, geschmolzenes Blei quillt aus den Fugen der Häuser. Die Scheinwerfer der brüllenden Autoherden, die gleißenden Lichtblöcke der Schaufenster – und fröhliche Menschen treiben im Licht, Damen, die Augen leuchten, und die Zähne blitzen. Lachen …

Da hielt die Droschke plötzlich. Das Pferdeskelett stand in seinem abgeschabten Fell und zitterte.

Erschauernd entfloh Otto diesen drohenden Finsternissen, wie alle Welt, die sich nach den Lichtinseln der verkohlten Stadt flüchtete, den Theatern und Konzertsälen, um vor den Schatten und Gespenstern der Dunkelheit zu fliehen. Wie Tiere bei einer Sintflut, die entsetzt dahinjagen …

Schon in der magisch beleuchteten Tropfsteinhöhle, die als Garderobe diente, fühlte Otto sich geborgen. Die Luft, die er liebte, schlug ihm entgegen – Parfüms, Lachen, Licht, Musik … Es war nicht das allerfeinste Parfüm, es war dick, legte sich mehlig auf den Gaumen, aber darauf kam es schließlich nicht an.

Trotz der frühen Abendstunde war die Rotunde der Paradies-Bar schon überfüllt. Aber Otto hatte Glück, ein kleines Tischchen an der Balustrade zu erobern – dicht neben dem giftgrünen und himbeerroten Jüngling, der die Gipsarme emporstreckte und von den farbigen Strahlen eines Springbrunnens umsprudelt wurde. Lackrot und Gold waren die Farben der Paradies-Bar. Bunte Blütenkelche hingen von der goldenen Decke herab und strahlten Begierde und Wollust aus. Giftgrüne Insekten schabten die Instrumente, hämmerten mit Klöppeln. Einer der Giftgrünen glitt zwischen den Tischen hindurch und spielte den Gästen ins Ohr.

Otto klemmte die Scherbe vors Auge, damit alle Welt sehen konnte, daß er Offizier war – und nicht etwa einer von den vielen hier, den vielen, die sich von den Kadavern auf den Schlachtfeldern nährten. Stimmen schwirrten ringsum.

»Vor zwei Jahren lieh ich ihm fünfzig Mark, er kam zu mir – seine Stiefel – überhaupt – Kellner!«

»Heute hat er Millionen. Ich schätze ihn auf vier Millionen.«

»Kaufen Sie Ware, Ware – einerlei – eine Pleite, nicht auszudenken. –«

»Rudi ist immer gleich bekneipt.«

Zwischen einer Glatze und einem Blumenstrauß hatte Otto ein schwarzes schlankes Dämchen mit entblößten, entzückend runden Schultern entdeckt, das seine Blicke erwiderte. Unter ihm, etwas tiefer, neben dem Springbrunnen, saßen zwei befrackte Herren, mit zwei wie Fürstinnen gekleideten Damen in kostbaren Roben, mit Brillanten und Blumen geschmückt. Er roch den Puder, der von ihren entblößten Büsten aufstieg und die Essenzen ihrer duftigen kunstvollen Frisuren. Wie rosig, dieses kleine Ohr – Kokotten natürlich – aber immerhin Fleisch, Atem, Leben.

Am Nachbartisch hatten zwei Herren im Smoking Platz genommen. Ihre dicken, glattgeschorenen Schädel und schwammigen Trinkergesichter kamen Otto bekannt vor. Es waren zwei Rittmeister, die er immer in Stifters Diele Unter den Linden gesehen hatte, wenn er mit Papa dort zu Mittag speiste. Sie hatten sich zwei reizende kleine Damen mitgebracht, allerdings nicht erster Klasse, vielleicht Verkäuferinnen, die schon jetzt zu kreischen begannen.

Bunte Papierschlangen zischten durch die Luft.

Ja, hier war in der Tat das Paradies, und da draußen in der finsteren Straße nichts als die nackte Wirklichkeit. Ein paar blaugefrorene Kinder mit Streichhölzern, ein altes Weib mit nassen Zeitungen – und der Portier der Bar steht wie ein Erzengel in seinem grünen Mantel! Berlin war im Aschenregen begraben, aber hier hatte sich, in einer Höhle, durch ein Wunder, ein letzter Tropfen seines geilen Blutes erhalten. Mit allen Sinnen sog Otto Gerüche, Stimmen, Fleisch in sich, er sammelte auf Vorrat, für die langen Monate, wo er nichts sehen würde als verrosteten Stacheldraht und Schrapnellwolken.

»Reformen – Sie glauben also nicht daran?«

»Schwindel, alles Schwindel. Eher wird der Himmel einstürzen –«

»Aber das wäre ja Betrug!«

»Betrug? Was sonst? Wissen Sie, wie man den neuen Mann nennt, der uns regiert? Den Fünfminutenbrenner! Er kann nur fünf Minuten wachbleiben, dann schläft er wieder ein.«

»Gott sei uns gnädig und barmherzig!«

Die Damen mit den Brillanten lachten laut auf. Er sagte es auch zu drollig, ergeben in sein Schicksal, und dabei stieß er mit der Zunge an.

Die schmachtende Geige des giftgrünen Primgeigers sang in Ottos Ohr.

Was sah er? Was hörte er?

Doras strahlende Augen? Hedis helles Haar hinter dem Schleier mit Silberstickerei? Hörte er Doras Lachen? Nicht im geringsten.

Er sah: Nacht, Grausen, eine Kraterlandschaft, die Zone des Todes. Geschützfeuer geistert und die Granaten heulen. Durch die Dunkelheit schleppen keuchende Männer einen Verwundeten auf einer Zeltbahn. Beim Schein des Geschützfeuers erkennt er plötzlich – ja, er, er, er selbst ist es, den die keuchenden Männer schleppen. Sein Gesicht ist überströmt von Blut, und deutlich hört er den keuchenden Atem der Männer, die ihn tragen …

Sofort schlug Otto erbleichend die Augen auf. Seine Pupillen erweiterten sich, seine Augen wurden zu gähnenden Kratern voller Grauen – das also war es, was er sah und hörte, während der giftgrüne Primgeiger ihm ins Ohr spielte. Die grausige Vision verblaßte, und augenblicklich kehrte er wieder in die Paradies-Bar zurück. Nur ein leiser Schrecken zitterte in ihm weiter.

Mit bebender Hand füllte er das Glas und trank dem schwarzen, schlanken Dämchen mit den entblößten, entzückend runden Schultern zu. Seine Dame lächelte huldvoll – und augenblicklich drehte sich die Glatze um.

Die Schultern dieses schlanken Dämchens erinnerten ihn an Hedi. Und während er sein Glas auf das Wohl der Schlanken leerte, gedachte er Hedi, mit der nun, Gott sei Dank, alles zu Ende war. Er dachte an sie ohne Haß, aber mit leiser Verachtung. Eine Dame – tut eine Dame so etwas – damals im Sommer, das Abschiedssouper –? Und doch war er gerade in diesem Augenblick, wo sich eine rote Papierschlange, von der schwarzen Schlanken geworfen, um seinen Kopf ringelte, geneigt, großmütig zu vergeben. Jeder Mensch hatte schwache Stunden.

»Nun also – diese Hedi, sie würde wohl schlecht schlafen diese Nacht?«

»Vielleicht weint sie auch?«

»So ein bißchen? – He, Kellner, Herr Ober –!«


Wie eitel diese Männer, wie töricht!

Es fiel Hedi gar nicht ein zu weinen. Sie dachte nicht einmal an ihn.

Sie dachte an den gelben Mantel! Ein Herr will einer Dame eine Huldigung darbringen. Nun wohl. Er kauft weiße Rosen, obschon sie ein Vermögen kosten, und läßt sie auf dem Tisch liegen. Kein Wort, kein Blick: ein Gentleman!

Ihre Paläste waren in Schutt zerfallen, die Paläste mit dem Wappenschild der Hecht-Babenberg: das rote Pferd im blauen Feld. Dahin! Schon aber baute Hedi neue Paläste! Weitaus herrlichere, kühnere!

Ach, sie hatte ihre Jugend vergeudet! Drei Jahre lang hatte sie auf Ottos Brief gewartet und selbst einige hundert Briefe ins Feld geschrieben. Und dieser Krieg endete ja nie, sie hätte alt werden können dabei. Wie töricht! Und diese Familie der Hecht-Babenberg, dieser hochmütige General, in dessen Augen ein Geheimer Rat ein Kanzlist war, nichts sonst. Er hätte sie stets als ein Geschöpf zweiter Klasse betrachtet, ohne Ahnenreihe wie die der Babenbergs, die bis auf die Kreuzzüge zurückging.

Ja, morgen würde sie vielleicht wieder in den Kaiserhof gehen zum Tee. Erstens gefiel es ihr dort, die Musik, die Eleganz, die Sorglosigkeit – und zweitens konnte es ja sein, daß dieser Herr Ströbel oder Herr v. Ströbel …

Da richtete sich Klara leise in ihrem Bett auf. Die beiden Schwestern schliefen zusammen in einem kleinen Hofzimmer. »Schläfst du, Hedi?« flüsterte Klara. »Guck’ doch mal den Mond an, wie er fliegt.« Hedi antwortete nicht, und Klara beugte sich über ihr Bett. »Ah, du schläfst ja doch nicht«, sagte sie lachend. Ganz unerwartet erhielt sie eine klatschende Ohrfeige, denn Hedi war gar nicht in Laune, auf Klaras Geschwätz einzugehen. Die Kleine ahnte ja nicht, daß sie, Hedi, soeben in einem fünfzigpferdigen Tourenwagen dahinraste, eine Staubbrille vor den Augen, Ströbel steuerte – wenn ein Pneu platzte, konnte es eine Katastrophe geben.

Klara saß still und sah dem Mond zu. Ihr Gesicht war in Licht getaucht und ihre Augen gleißten. Schneeweiß und leuchtend war sie wie ein Gespenst. Sie atmete das Licht ein, sie war angefüllt vom Licht, und gleißendes Licht floß durch ihre Adern.

Das Paradies lag vor ihren Blicken ausgebreitet.

 

10

Otto wickelte sich fröstelnd in den Mantel.

Es war schon das beste, sich mit den Tatsachen abzufinden, nicht wahr? Sein Zug würde fahren, das stand fest! Er würde fahren, einerlei, was passierte. Kühle Gesichter, steife Verbeugungen, laute Unterhaltungen mit erkünstelt ruhigen Stimmen. Dann aber kommt der Augenblick, wo man plötzlich ein fernes Brummen hört. Die Front! Irgendwo in der Einöde hält der Zug, nur noch Männer, nur noch Soldaten. Autos, Wagen, Kommandostimmen, Dunkelheit, Schmutz, Regen, der Geruch einer öden Gegend. Geschütze poltern, Granaten winseln, es ist ganz wie früher. Die Kameraden kriechen aus den Unterständen, Hände strecken sich einem entgegen, man ist laut, man ist fröhlich, aber alles ist – Lüge.

Er wußte nicht einmal, ob er sie noch in der alten Stellung finden würde. Diese Stellung lag Tag und Nacht unter schwerem Feuer, aber doch war sie angenehm im Vergleich zu den flachen Gräben seinerzeit in Flandern, wo sie bis an die Brust im eisigen Wasser hockten und völlig gelähmt, an zwei Stöcken einherhumpelten.

Aber all das ist es nicht, nicht das Feuer, die Nässe, die Kälte, die Entbehrungen. Es ist das riesengroße Antlitz des Todes, das da draußen über den Trichterfeldern steht. Es ist nichts als die grauenhafte Furcht vor dem Tode, wenn man das Leben liebt, nichts sonst.

Das allein ist die Wahrheit! –

Ein freudiger Schreck lähmte seinen Schritt.

Stand nicht etwas Weißes am Fenster – das weiße Buch? Nein, nichts, der Reflex einer Gaslaterne. Finster das Haus. Das eiserne Gartentürchen war verschlossen. Otto berührte den Drücker, er war eisig kalt. Die kahlen Zweige der Büsche peitschten auf und ab, und Otto sah durch die brodelnde Efeuwand hindurch in Gängen und Zimmern die Heiligenfiguren in ihren grotesken Verrenkungen.

Sie schlief, fest und tief, aber ihr Blick glänzte über dem schwarzen Hause.

Quer durch den brausenden, finstern Tiergarten führte Ottos Weg. Ströbel wohnte bei den Zelten. Die Fröhlichkeit mußte jetzt in dieser Stunde ihren Höhepunkt erreicht haben – ja, schnell, schnell! Gierig erraffen von der Nacht, was noch zu erraffen ist. Fort!

Immer rascher ging er dahin, gepeitscht von Begierde und Qual. Die Zeit wanderte unter den Sohlen seiner Stiefel. Mit jedem Schritt wanderte ein Stückchen Zeit rückwärts, ein zertretenes Staubkorn Zeit floh mit rasender Schnelligkeit zurück in Nichts. Ja, Sand war die Zeit, rinnender Sand, rasend rinnender Sand, nichts sonst. Ein Meer, ein Sandmeer rinnt – und schon ist ein Jahrhundert vergangen – schon ein Jahrtausend. Ein Riesenkrater rinnt, und Städte, Völker, Kontinente kommen ins Gleiten und rinnen hinunter – ins Nichts. Zeit, welch entsetzlicher Begriff! Glücklich Tiere und Götter, die ihn nicht kennen.

In diesem Moment trat der Mond aus dem dunkeln Gewölk. Auch er raste dahin – wie alles auf dieser Welt, das vor dem sicheren Untergang floh – raste, obgleich einige Jahrtausende bei ihm keine Rolle spielten. Aber eines Tages würde seine langweilige Visage bersten und er, zusammen mit dem Staub dieser Erde, den Schwanzzipfel eines Kometen bilden, der zum großen Staunen der Astronomen plötzlich vor der Linse der Teleskope erscheint – irgendwo in undenkbarer Ferne.

Noch sieben Stunden! Rasend stürzte Otto vorwärts. Die Zweige des brausenden Parkes griffen nach ihm. Und plötzlich schrie Otto – wild, wie ein Tier. Er war jung und er liebte das Leben.

 

11

»Einen Augenblick nur!« Schon hatte der General die Mappe mit den Akten, die heute noch alle bearbeitet werden mußten, aufgeschlossen. Den einen Schlüssel besaß er, den andern hatte sein Bureauoffizier in Händen. Kein unbefugter Blick konnte in diese geheimen Aktenstücke dringen, es war alles bis ins Kleinste wohlorganisiert.

Er lehnte sich im Sessel zurück. Die Teegesellschaft bei Dora hatte ihn ermüdet. Nichts strengte ihn in letzter Zeit so an wie die Gespräche durcheinanderschwirrender Stimmen. Anders die Sitzungen, die er mit einem Zucken der Brauen lenkte! Aber in einer Gesellschaft, wo jeder glaubte sprechen zu können, wann und wie lange und wie laut es ihm beliebte, ja: wie laut, das war es – Einen Augenblick nur –

Reserven – ungeheure Heere – wie eine Sturmflut werden sie sich dahinwälzen … schon schlief der General.

Kaum aber hatte er die Augen geschlossen, kaum kam das erste tiefe Röcheln aus seiner Brust, da wurde er auch schon wieder geweckt. Etwas pickte am Fenster, wie ein Finger, ein Fingernagel. Er wandte den Kopf: durch die Scheibe starrte ein kleines, glänzendes, stahlblaues Gesicht. Eine faustgroße Larve von leuchtendem Blau – in der Tat, ein intensives Blau, wie eine Spiritusflamme in einem dunkeln Raum – und erloschene Fischaugen mit einem toten Glanz. Von diesem stahlblauen, aus sich selbst leuchtenden Gesicht ging Drohung und Hohn aus, obschon das Gesicht ohne jede Regung durch die Scheiben starrte.

Der Schrecken, den das Gesicht durch die Scheiben strahlte, war so stark, daß der General nun wirklich erwachte. Er hatte, wie er sofort konstatierte, eine volle Stunde verschlafen. Unwillkürlich wandte er den Blick zum Fenster – aber es war natürlich nichts zu sehen, die grünen Vorhänge waren dicht geschlossen. Er räusperte sich, laut und ungeniert, wie es seine Gewohnheit war, und warf einen Blick durch die Vorhänge hinaus auf die Straße. Nichts, natürlich. Regen, Dunkelheit, keine Seele weit und breit.

Plötzlich aber stand dieses Gesicht, das ihn aufgeschreckt hatte, wieder vor ihm – und zwar dicht vor ihm in der Luft des Zimmers – auch die Augen mit dem toten Glanz. Es ist, ja ja, es ist jener – von heute nachmittag, natürlich, dachte der General. Er hatte das Gesicht nachmittags kaum beachtet. Es ist jener kleine Alte, der den Brief überbracht hat.

Ein übrigens völlig wirrer Brief, den er nur überflogen hatte – wirres und törichtes Zeug, was dieser kleine Alte mit dem blauen Gesicht … Ja, wo steckte der Brief eigentlich. Hier, nun siehst du, schon dieser Umschlag –

Der General konnte aber nun nicht mehr widerstehen, obschon die Aktenmappe dickbäuchig dalag, eigentümlich. Er war neugierig geworden, mehr als das. Er entfaltete den Brief und las ihn – langsam, immer langsamer, immer aufmerksamer.

Wie heute abend unter der Lampe des Foyers, stieg Röte in sein Gesicht, aber nicht eine leichte Ziegelröte, sondern – Feuer. Die Stirn legte sich in tiefe Falten –

Wie –? Nein, in der Tat, er hatte den Brief nicht gelesen.

Aber –? Was wollte er – gefallen, auf der Höhe der Vier Winde, auf Quatre vents – nun, und – wie? – sogar von Ruth stand etwas hier, denn Ruth war wohl gemeint – wie? Nein – er hatte den Brief wirklich nur ganz flüchtig überflogen – er erinnerte sich nur, daß von der Bitte um eine Audienz die Rede war.

Wirr – mehr noch, viel mehr als wirr:

– untertänigst bitte ich um eine Audienz. Mein einziger Sohn, Robert, hat unter dem Befehl des Herrn Generals gekämpft. Er ist am 5. August beim Sturm auf Quatre vents gefallen. Er war begeisterter Soldat, Jäger, die einzige Hoffnung und der Stolz seiner Eltern. Ich bitte, mir gnädigst mitzuteilen, wo sein Grab sich befindet, und besonders, ob das Grab nicht den Granaten ausgesetzt ist! Dies beunruhigt mich sehr, so daß ich gänzlich schlaflos geworden bin –

Wie? Was meint er? Ob das Grab –?

Der General ist in ungeheure Erregung geraten. Seine Augen starren.

Die Höhe! Ja, der Brief hat die Erinnerung an die Höhe in seinem Blut geweckt.

Das dunkle, mit Borsten bestandene Ungeheuer qualmt plötzlich wieder vor den Augen des Generals: Quatre vents! Der 4., 5. und 6. August – am Abend des 6. war sie verloren!

Am 4., 5. und 6. ratterten die Lastautos vorüber, der Schmutz spritzte – behangen mit Schwärmen von Menschen. Rote Gesichter, schweißhelle Augen – sie schwangen die Helme: hurra – und der General, auf der Treppe seines Schlosses – salutierte. Welches Feuer! Die Erde bebte – jetzt hörte er es wieder! Die Hölle! Brennend stürzte ein französisches Flugzeug in den Schloßpark, mitten in den Rosengarten.

»Herr General, die Jägerbataillone!«

»Ich komme.«

Und die Autos schaukelten, rollten, rasten: hurra!

Die Höhe von Quatre vents war ein Friedhof von zwölf Stockwerken. Deutsche, Franzosen, Deutsche, Franzosen. Aber sie lagen nicht nach Nationen geschichtet, die Minen rissen ganze Stockwerke hoch und schleuderten die Toten durch die Luft. Der Spaten stieß auf den Schädel eines Franzosen, daneben traf er auf einen deutschen Infanteriestiefel. Auch auf Knochen stieß er, nicht auf frische, sondern auf alte gelbe Knochen und Skeletteile, denn auf der Höhe von Quatre vents hatte sich ein alter Friedhof befunden. Ein Dorf lag früher da oben – wo war es hin? In Atome zermalmt. Die Minen hatten die Kuppe der Höhe abgetragen. Zentnerweise wurde Dynamit in die Stollen gestopft – ganze Kompagnien und Bataillone flogen hoch – hoch Deutschland! – vive la France! Sie kehrten nicht wieder.

Der General hatte die Höhe nur zweimal betreten. Einmal in einer sternenklaren Nacht (wie unvergeßlich funkelten die Gestirne!), als es ganz ruhig war. Die Laufgräben hauchten eine eisige Kälte und fauligen Geruch aus, man trat auf Körper und wußte nicht, ob sie lebten oder tot waren – sonst hatte die Höhe, über die vereinzelte Kugeln zischten, nichts Furchtbares, und der General sagte sich im stillen, daß all die Geschichten von den Schrecken der Höhe von Quatre vents übertrieben wären. Das zweitemal zeigte die Höhe schon etwas mehr ihr wahres Gesicht. Der General kam am grauenden Morgen, und die Franzosen warfen schwere Flügelminen, die wie einstürzende Häuser krachten. Ganze Schwärme der langhälsigen, gierigen Raubvögel stießen auf die Kuppe herab. Zuweilen schob man ihn hastig in einen Unterstand oder einen Quergang, wenn der Schatten der Mine in der Nähe niederrauschte. Denn er, der General, hätte sich nicht von der Stelle gerührt. Angesichts seiner Offiziere und Leute, die aus den Stollen lugten, hätte er sich ohne Wimpernzucken in Stücke reißen lassen. Damals passierte ihm auch die – offen zugestanden – Albernheit mit jener ungeschickten Frage. Nun wohl, sein Gehirn hatte unter dem Eindruck der herabstoßenden Stahlvögel und des Lawinenkrachens einfach versagt. In einem eingeebneten Grabenstück lag ein blutgetränktes Tuch, etwas wie eine zerfetzte Unterhose, in einer Lache von Blut. Es war so viel Blut, daß der General keineswegs vermuten konnte – kurz und gut, er fragte: »Na, ihr habt wohl geschlachtet?« Welche unbegreifliche Albernheit. – Die Grabenoffiziere antworteten mit einem verlegenen Lächeln. Und plötzlich sah der General ein Stück von einem Menschen an der Grabenwand kleben, daneben ein Stück des Hinterkopfes mit kurzen Haaren. Wie peinlich war ihm die Frage! Noch heute erinnert er sich voller Scham deutlich des verlegenen Lächelns der übernächtigten, vom Grabendienst beschmutzten Offiziere.

Um acht Uhr saß er schon wieder in seinem Quartier beim Frühstück.

Ein drittes Mal betrat der General die Höhe nicht.

Er sah sie das letztemal, als sie verlorenging, das heißt er sah nicht die Höhe, sondern Nacht und ein Büschel roter Notsignale, die ohne Unterbrechung in der Nacht aufglühten – Hilfe! – und hoffnungslos sanken.

Das also war Quatre vents.

Schwer atmend ging der General hin und her.

Deutlich hörte er wieder die Stimme des Adjutanten. Die Jägerbataillone, Herr General! Also auf einem dieser Autos saß er – unter hundert andern – mit den roten Gesichtern und den schweißgleißenden Augen – er, jener – wie hieß er doch – Robert! Am 5.! Ja, am 5., da hatte er noch Hoffnung – am Mittag des 6. wurde er schwankend und befahl einen letzten Gegenangriff – am Abend, da waren nur noch die roten Leuchtkugeln …

Erst allmählich verflog die Erregung. Plötzlich lag die dickbäuchige Aktentasche wieder auf dem Schreibtisch.

Sonderbare Menschen gab es! Sein Grab? Daß man es wagen durfte, ihm solch einen Brief zu senden!

Und da – was schrieb er am Schluß:

– sollten Exzellenz geneigt sein, mir diese Audienz zu bewilligen, so könnte ich Mitteilungen über das gnädige Fräulein machen, die Exzellenz gewiß interessieren würden. Ein Unglücklicher. –

Ja, sonderbare Menschen …

Der General zerriß den Brief und warf die Fetzen in den Papierkorb. Schon war er in die Akten vertieft.

Aber noch nach einer Stunde zitterte seine Hand: Hätte man ihm damals die verlangte Unterstützung geschickt – noch heute wäre Quatre vents in seiner Hand!

 

12

»Sind Sie es, Otto?«

»Ich dachte schon, die Polizei kommt. Sie machen wieder einen solch furchtbaren Lärm.«

Ströbel öffnete seinen Gästen selbst. Er hatte nach zehn Uhr keine Dienstboten mehr im Hause, um gänzlich ungeniert sein zu können.

Wüster Lärm drang aus der Wohnung. Das ganze Haus bebte. Dieser Herr Ströbel – oder Herr v. Ströbel, niemand wußte es genau – besaß vor dem Kriege nichts als ein paar gutsitzende Anzüge, darunter einen schwarzweiß karierten Sommeranzug, der so auffallend war, daß man sich heute noch an ihn erinnerte, einen Zylinder und einige Paar sehr elegante, etwas dandyhafte Schuhe. Das war alles, was er besaß – dazu Beziehungen.

Heute war er reich, er hatte eine Motorenfabrik, und seine Beziehungen waren noch besser geworden.

Er war auch kurze Zeit im Felde – aber das war eine Geschichte für sich …

»Welch abscheuliches Wetter«, rief Otto aus und schüttelte sich. Seine Augen flackerten vor Unruhe.

»Das Wetter ist nicht das Schlimmste«, erwiderte Ströbel, der sich in einen Sessel der Diele geworfen hatte und die Lackschuhe gegeneinander klappte. »Es ist die Finsternis! Eine nordische Stadt ohne Licht – wie stellen Sie sich das vor? Es ist ein schlechter Scherz! Eine nordische Stadt ist der Finsternis abgerungen und das Produkt des Lichts. Das Licht gab ihr Inspiration, Energie, Laune. Im Süden – Sie waren nie im Süden? – da braucht man kein Licht – Himmel, Sterne. – Aber hier oben? Ohne Licht sinkt eine nordische Stadt wieder in Bedeutungslosigkeit zurück. Verdunkeln Sie London und es wird ein armseliger, kleiner Fischereihafen –.«

»Nennen Sie Berlin eine nordische Stadt?«

»Natürlich. Es fiel früher nur nicht auf. Jedenfalls aber – schlimm, Otto, schlimm! – geht diese Stadt vor die Hunde. Ja vielleicht ist es schon so weit – wir wissen es nicht mehr –«

Otto schrak zusammen: Drinnen fiel ein Schuß. Geschrei. Händeklatschen.

»Wird bei Ihnen geschossen?«

»Ja, die Feuerwalze ist hier, produziert sich als Kunstschütze. – Sie kennen ihn doch? Hauptmann Falk.«

Der Qualm, die Gesichter, der wilde Lärm – von Otto wich augenblicklich alle Unruhe. Jene unvergeßliche Szene glitt ihm durch den Sinn: in der Nacht, bevor das Regiment ins Feld rückte, hatte einer der Kameraden, ein Hauptmann Below – lange tot, und zwar als erster gefallen – der sich vom Liebesmahl früher zurückziehen wollte, eine Droschke ans Kasino bestellt. Man kaufte dem Kutscher höchst einfach die Droschke ab! Diese Droschke wurde bei der Steintreppe aufgestellt, die fünfundzwanzig Stufen tief vom Kasino in den Park hinunterführte. Freiwillige vor! Augenblicklich war die Droschke überfüllt. Wie ein Schwarm hingen die Kameraden auf dem Gefährt. Ein kleiner Schwung, und die Fahrt in die Tiefe begann. Die Droschke zersprang in tausend Stücke, aber nichts passierte.

Sie alle indessen – von allen Offizieren des Regiments lebten nur noch sechs, zwei davon waren Krüppel.

Mit strahlender Miene trat Otto ein, bereit, sich kopfüber in den Strudel der Fröhlichkeit zu stürzen und jede Ausgelassenheit mitzumachen. Wohltuend schlug ihm die Atmosphäre der Kameradschaftlichkeit entgegen. Hier kannte man ihn. Hier wußte man zum Beispiel, daß er 1915 einen französischen Offizier, der verwundet zwischen den Stellungen liegengeblieben war, trotz aller Knallerei in den Graben geschleppt hatte – nicht aus Barmherzigkeit, nein, nur um zu zeigen, was für ein Bursche dieser Hecht-Babenberg war!

Welche Gesellschaft! Fast alle ergraut, fahl und erschöpft. Hauptmann Wunderlichs helle Katzenaugen blinkten, die Krücken lehnten wie immer hinter seinem Sessel. Ein schwarzer Glacéhandschuh über der Holzhand. Ein junger, totenbleicher Leutnant mit schräggeneigtem, verbundenem Kopf, aus dem Lazarett entsprungen. Ein Herr im Smoking, blond und schön, den leeren Ärmel in die Tasche geschoben. Auch einige geschorene Billardkugelköpfe mit Knollen am Schädel waren da, Majore, Hauptleute. Aber sie waren in der Minorität. Ein grünes Gesicht, mit Monokel, selbst ein Blinder saß da, vergnügt ins Licht blinzelnd. Otto erblickte auch einige Offiziere seines Vaters: den Adjutanten Weißbach, den hünenhaften Major Wolff. Viele von ihnen waren dreimal, fünfmal verwundet gewesen, morgen konnte die Reihe wieder an sie kommen. Der Krieg zog sich hin.

Alle aber waren in angeregter Stimmung, und auf ihren fahlen, zerfurchten, verwüsteten Gesichtern lag ein leichtsinniger, kindlicher Ausdruck.

»Also hier ist er – hier kommt er!« schrie Hauptmann Falk Otto entgegen. Dieser Hauptmann Falk, mit dem sonderbaren Spitznamen »Feuerwalze«, war ein kleiner, klapperdürrer Mensch, rothaarig, mit staubgrauem Gesicht – nur um die Augen zogen kranke gelbe und olivgrüne Ringe. Er sprach hastig und mit einer hohen Kehlkopfstimme, die unangenehm und herausfordernd klang. Wie Hauptmann Wunderlich, der Menschenjäger, trug er den höchsten Kriegsorden. Er war ein verwegener Bursche, hatte die schlimmsten Tage an allen Fronten mitgemacht, und für die, die ihn kannten, war es unbegreiflich, daß er überhaupt noch lebte. Er selbst behauptete kugelsicher zu sein. Immer wieder tauchte er von Zeit zu Zeit in Berlin auf, um die wenigen Tage Urlaub zu durchschwärmen. Dann kam er drei, vier Tage nicht ins Bett, und erst auf der Rückreise zur Front schlief er sich aus.

»Rasch, Hecht!« schrie er und fuchtelte mit einer Pistole. »Sie können die Saharet gewinnen!«

Eben diese Saharet stürzte sich Otto mit einem kleinen Katzenschrei entgegen.

»Sie werden sehen,« rief sie, »ich kenne Otto –!«

Sie war ein kleiner schwarzhaariger Irrwisch mit runden Katzenaugen. Ihrer – sehr entfernten – Ähnlichkeit mit der Tänzerin Saharet verdankte sie ihren Namen. Früher hieß sie – ja, wer sollte es wissen? Ströbel hielt sie als eine Art Hauskatze. Sie räkelte sich auf den Sesseln, telephonierte, das war ihre ganze Beschäftigung. Sie sprach geziert wie eine Ausländerin, eine Russin, eine russische Fürstin, und spielte die große Dame. Mit einem Wort, sie war ungeheuer lächerlich. Welchen Grund hätte auch Ströbel sonst gehabt, die Saharet zu halten?

Ja, also die Sache war die: die Saharet sollte ausgeschossen werden, als Preis sozusagen. Sie wollte dem ein Schäferstündchen gewähren, mit oder ohne Publikum, der sich ein Glas vom Kopf schießen lassen würde. In irgendeinem Vorstadttheater hätte sie einmal Wilhelm Tell gesehen.

»Abgemacht, gut, abgemacht!« Hauptmann Feuerwalze hatte soeben zwei Likörgläschen auf fünf Meter Entfernung freihändig vom Büfett geschossen, er war zu allem bereit – ein Glas vom Kopf, schön – bitte nur zu befehlen.

Hier aber begannen die Schwierigkeiten. Niemand hatte Lust, seinen Kopf zu riskieren – schon war die Saharet gekränkt, daß man ihre Schäferstündchen so niedrig einschätzte, sie ließ die Katzenaugen im Kreise gehen, schmollte, bettelte – da kam Otto, und sie stürzte sich auf ihn.

Otto, der Retter, der Lohengrin der Saharet!

Die Augen der Kameraden, alle Blicke waren auf ihn gerichtet, das Gelächter, das flehende Schmeicheln der kleinen Saharet, Otto konnte nicht widerstehen. Ohne zu überlegen, beseelt vom Wunsche gleich in den Mittelpunkt der Gesellschaft zu treten – nein, was für ein toller Junge war doch dieser Otto! – erklärte er sich augenblicklich bereit. Ein Glas Sekt, und die Vorstellung kann beginnen.

»Wie? Sofort?« – Bravo! Ungeheurer Beifall!

Die Saharet tanzte vor Entzücken auf einem Bein und klatschte in die Händchen. »Ach, wie reizend, dieser Otto!« Höchst persönlich kredenzte sie das Glas Sekt.

»Also los, fertigmachen«, schrie Hauptmann Falk mit wilden Augen.

Unter Gelächter und Scherzen wurde Otto gegen eine Wand gestellt. Es zeigte sich indessen zur allgemeinen Verwunderung, daß ein Glas auf seinem Schädel nicht so ohne weiteres stand. Ein kleines Buch, bitte! Darauf also stellte der kleine aus dem Lazarett entsprungene Leutnant mit dem verbundenen Kopf ein Sektglas. Sofort aber protestierte die Saharet. Das Glas war zu groß. Was sollte das für ein Kunststück sein? Sie selbst suchte ein kleines Weinglas heraus, rückte einen Stuhl heran und stellte es eigenhändig auf Ottos Kopf. »Nein, wie reizend von Ihnen, Otto!«

»Nun, fertig, los,« schrie die Feuerwalze, »macht Platz.«

»Also – ein Schäferstündchen?«

»Wieso ein Schäferstündchen? Nein, nein –«

»Was also –?«

»Einen Kuß – Otto! Einen Kuß!«

»Schön – auch für ein Küßchen mache ich es.«

»Zurück! Sprechen Sie nicht, Hecht, sonst fällt das Glas herunter.«

»Es ist ein völliger Wahnsinn!« protestierte Major Wolff, der Hüne, der noch einigermaßen nüchtern war. »Sie sollten es verbieten, Ströbel!«

»Verbieten, wieso?« entgegnete Ströbel erstaunt. »Niemand hat weniger Rechte als der Wirt.«

Hauptmann Falk stärkte sich mit einem Kognak.

»Wenn Sie glauben, daß ich ewig hier stehenbleiben werde«, sagte Otto ungeduldig, und das Glas wackelte auf seinem Kopfe.

»Sofort, bitte – ich eröffne das Feuer«, schrie Hauptmann Falk.

»Achtung, meine Herren!« Hauptmann Falk schwang die Pistole. Aber in diesem Augenblick warf ihn der Rausch einige Schritte zur Seite. Er wandte sich empört um. »Ich bitte gehorsamst, mich nicht an den Rockschößen zu zerren –«

»Sie sollten lieber die Sache sein lassen«, sagte Major Wolff.

»Weshalb denn?« schrie Hauptmann Falk mit wütender Miene. »Sobald ich abdrücke, stehe ich wie eine Statue. Sie können sich auf mich verlassen. Also los, ich eröffne das Feuer.«

»Ruhe!« rief die Saharet und preßte die Hände auf das Herz. Wie spannend es doch war!

Der Lauf der Pistole war auf Otto gerichtet. Langsam bewegte sich das runde Loch an ihm in die Höhe. »Daß mir jetzt niemand ein Wort redet,« schrie Hauptmann Falk, »sonst schieße ich Hecht die Kugel in den Kopf.« Alles war mäuschenstill. Die Saharet stand mit gefalteten Händen. Ströbel betrachtete voll Interesse Otto, der unmerklich mit den Augen zwinkerte, als die Mündung der Pistole zwischen seine Augen gerichtet war.

Otto hatte eine ganz gleichmütige, etwas belustigte Miene aufgesetzt. Ich wünsche jetzt nur das eine, dachte er, daß mir die Kugel mitten in die Stirn fährt. Mitten in die Stirn und Schluß! So drücke doch ab! Er war ganz ruhig …

Da wanderte das Loch der Mündung um einen Millimeter höher. Hauptmann Falk hatte die Zähne zusammengebissen, so daß die Backenknochen aus seinem grauen, mageren Gesicht vorstanden. Dann hielt er den Atem an, und im gleichen Augenblick zersplitterte das Glas.

Welcher Beifall! Welche Ovationen!

Augenblicklich aber ergriff die Saharet, aus Koketterie, die Flucht. Gläser zerschellten, Stühle krachten. Sie riß eine Tischdecke mit allem, was darauf war, herunter. Aus Höflichkeit, aus gar keinem andern Grund, hatte Otto die Verfolgung aufgenommen. Dieser schmale, armselige Mund reizte ihn nicht. Endlich hatte sich die Saharet in der Ecke der Bibliothek verrannt. Sie konnte weder vorwärts noch rückwärts und versuchte, an den Bücherregalen in die Höhe zu klettern. Aber als auch das nicht gelang, ergab sie sich, um Hilfe schreiend, in ihr Schicksal.

Schon hatte Otto die Hände ausgestreckt – plötzlich aber schwankte er und wurde weiß wie eine Wand. Erregt von der Jagd, berauscht, hatte ihn plötzlich Schwindel ergriffen. Das Gesicht der Saharet verschwamm, ihre Augen – ein entsetzliches, halbverwestes Gesicht erschien, mit blinkenden Zähnen, ein Totenantlitz.

»Ich werde fallen!« fuhr es ihm durch den Sinn, mit der Gewißheit einer Erleuchtung, die keinen Zweifel zuläßt. Und dies war der Augenblick, wo er bleich wie eine Wand wurde.

Wieder erweiterten sich seine Pupillen, wieder wurden seine Augen zu Kratern voller Grauen. Ja, jetzt hatte er verstanden.


Schokolade knabbernd hockte die Saharet hoch oben auf dem Klubsessel, in dem der hünenhafte Major Wolff saß, der die Bank hielt. Die fahlen, verwüsteten Gesichter mit den grauen Schläfen drängten sich um den Tisch. Karten, Banknoten flatterten. Auch der Blinde spielte, er machte mit dem Einarmigen im Smoking ein Kompaniegeschäft. Nur Ströbel spielte nicht. Er füllte die Gläser.

Otto gewann – ganz im Gegensatz zu seinem sprichwörtlichen Pech beim Spiel. Im Augenblick hatte er, obschon er ohne jede Überlegung, völlig sinnlos spielte, dreitausend Mark gewonnen. Auch das war auffallend!

Und wenn ich falle, dachte er, was ist dabei? Viele Hunderttausend sind gefallen, weshalb sollte ich, gerade ich, verschont bleiben? Es ist schließlich völlig egal!

Noch einmal, einmal noch wollen wir das Schicksal befragen –

Die Bank war in eine Verlustserie geraten. Sie hatte sechsmal bezahlt, und es war völlig unwahrscheinlich, daß das Glück ein siebentes Mal gegen sie war.

»Dreitausend Mark Einsatz, Herr Major?« fragte Otto. Gewann er, gegen alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit, nun, so würde er es glauben, so war es sicher …

Die Bank verlor ein siebentes Mal.

»Ich werde fallen, gut!« – Otto zählte die Scheine, die man ihm zuschob, und steckte sie in die Tasche.

» Und ich werde sie nie wiedersehen!«

Er stand auf.

»Viertausenddreihundert – erstes Geschütz –!« kommandierte Hauptmann Weißbach, der in einem Sessel eingeschlafen war und mit offenem Munde dalag, die bleiche Stirn in Falten zerknittert.

 

13

Nacht, der Regen rieselte, schwarzer Regen.

Die Riesenstadt schlief, sie keuchte im Schlaf. Die Menschen schwitzten, in ihren Betten, trotz der eisigen Kälte der Wohnungen. Der kalte Schweiß stand auf ihren Stirnen, mit offenen Augen starrten sie in die Dunkelheit. Es war nicht mehr wie früher, da die Riesenstadt nachts aufschrie – weißt du noch, am Anfang des Krieges? In jeder Nacht gellten entsetzliche Schreie aus Häusern und Höfen, furchtbares Jammern und verzweifeltes Schluchzen – die Depeschen regneten herab auf die Riesenstadt: gefallen, gefallen, dein Sohn, dein Gatte, dein Geliebter, der Ernährer deiner Kinder, gefallen, gefallen – und die Riesenstadt schrie! Das Geläute der Glocken, die die Siege feierten, summte noch in der Luft, mit Blumen geschmückte Jünglinge und bärtige Männer stürzten sich hinaus –

Nun schrien sie nicht mehr, sie lagen still, die verkrallten Finger in die Brust geschlagen, sie setzten sich in den Betten auf und flüsterten – einen Namen.

Still lag die große Stadt und dunkel.

Erloschen die Feuersbrünste, die nächtlich aus den Bahnhöfen emporloderten und den Himmel röteten, früher, nur noch scheue Lichtnebel über der unendlichen Finsternis der verkohlten Stadt. Heulend und winselnd rollten die Züge zwischen den finstern Häusern. Es waren die Transporte, die des Nachts in die Stadt schlichen, in die halbdunkeln Bahnhöfe, und die blutenden Menschen von den Schlachtfeldern brachten. Dieselben, die mit Blumen geschmückt die Stadt verlassen hatten. Der Tag durfte sie nicht erblicken. Riesenschatten schwankten über die hohen, verstaubten Bahnhofsmauern, Tragbahren glitten hin und her, Automobile schlichen auf ihren Gummirädern verstohlen durch die Straßen, hin und zurück, hin und zurück. Dann erloschen die Bahnhöfe und versanken in die Dunkelheit, bis wieder ein Zug winselte und schrie: ich bringe sie … Und wieder schwankten die Riesenschatten über die verstaubten Backsteinwände, wieder glitten die Tragbahren hin und her, wieder schlichen die Automobile auf ihren Gummirädern verstohlen durch die Straßen, hin und zurück. Die ganze Nacht hindurch, jede Nacht.

Schon winselt ein neuer Zug – und viele sind noch unterwegs, weit draußen zwischen den Kartoffeläckern und Rübenfeldern, über die der Regen fegt. Viele, Abertausende –

In jeder Nacht schlägt die Flut des blutigen Ozeans bis ins Herz der Stadt.

Im Grauen des Tages aber fahren die stillen Wagen von den Lazaretten durch die Vorstädte, immer weiter, bis zu den Friedhöfen. Mit Kisten beladen. Darin liegen sie, die mit Blumen geschmückt hinauszogen, ohne Kleider, ohne Stiefel, ohne Wäsche, nackt, aber sie frieren nicht mehr. Es ist Anfang Februar des Jahres 1918 –

Stumm fließen die Straßen dahin, ohne Ende. Höhnische Gespenster die Laternen an den Ecken. An den ausgebrannten Häusern hängen windschief die Firmenschilder. Riesenbuchstaben, kalt, bleich, Leichen. Die Namen sind nicht mehr, die Firmen sind erloschen, die Magazine sind leer. In der finstern Nacht kommen die Schatten zurück, sitzen an den Schreibtischen der Bureaus, schleichen durch die leeren Magazine. Schatten wimmeln die Treppen herab, Boten, Briefträger, gefallen. Straßenkehrer fegen die finstern Straßen, gefallen. Schatten von Omnibussen huschen zwischen den Fluten treibender Schatten dahin, die die Straßen überschwemmen, ein Meer. Die Kutscher der Omnibusse gefallen, die flinken Pferde gefallen. In jeder Nacht kehren die Toten in die tote Riesenstadt zurück.

Ängstlich lugt der Wächter um die Ecke. Seine Zähne klappern vor Furcht, die leichenhaften Riesenbuchstaben an den Häuserwänden starren auf ihn, sie winken, sie lächeln so eigentümlich – ach!

Da erzittert die tote Straße! Ein Schritt dröhnt, rasch, eilig. Ein Sturmschritt, der Schritt eines Läufers, der dahinjagt. Eine Stimme ruft. Die schlaflosen Menschen in den kalten Betten richten sich auf: schauerlich hallt die Stimme durch die dunkle Stadt. Die schweißigen Haare sträuben sich – was ruft er? Wieder? Wie in jeder Nacht …

Ein weiter, feldgrauer Soldatenmantel flattert um die dunkle Ecke. Er jagt durch die Straßen! Hände, zum Fluch gestreckt, züngeln empor. Dröhnend rollt die Stimme über die schwarzen Häuser.

»Wehe, wehe denen, die auf der Erde wohnen!«

Sind es diese Worte?

Die Menschen, die in den Betten horchen, verstehen die Worte nicht. Es sind uralte Worte, tausendjährige, sie fühlen es, es sind Worte des Fluchs und des Untergangs.

Der Wächter entflieht. Ein Soldat! Flink sind sie heute mit dem Messer …

In der Ferne schon schallt die Stimme. Sie rollt die endlosen Straßen entlang, hinaus in die Vorstädte, hinaus auf das flache Feld. Lange noch hängt ihr Hall zwischen den schlafenden Häusern.

Die Hausecken sind finster. Aber sobald der weite Soldatenmantel an ihnen vorüberflattert, strahlt plötzlich Licht aus den dunkeln Wänden: die schwarzen Steine haben ein Auge aufgeschlagen. Ein Wort leuchtet aus der Dunkelheit:

» Alle Völker sind Brüder!«

Kalkweiß flattert der weite Soldatenmantel im Schein einer fernen Laterne – schon ist er verschwunden. –

Wieder ist es still, wieder liegt die Riesenstadt tot wie eine Stadt aus Asche.

Draußen aber, die Vorstädte gleißten. Um die Stadt aus Asche schwang ein Gürtel blendenden Lichts – die gleißenden Feenpaläste der Fabriken schwammen in der Nacht. Der rote Dampf zischte, aus den Schloten quollen Schatten, dick und schwarz wie bei Kriegsschiffen in voller Fahrt. Die Räder schwangen, der Boden zitterte. Abertausende standen an den Drehbänken, das Öl spritzte – Abertausende schleppten Granaten, schraubten, polierten. Abertausende von übernächtigen bleichen Arbeiterinnen saßen im grellen Licht der Bogenlampen an den Arbeitstischen, füllten, wogen, verschnürten.

Und die schweren Züge keuchten dahin, hinaus.

Das ganze Land arbeitete in dieser Nacht, in jeder Nacht, Millionen Hände – der Tod war ihr Besteller.

 

14

Der Tiergarten brauste, in seiner Tiefe grollte es wie die Brandung des Meeres. Die Wipfel mahlten in der Finsternis, und zuweilen peitschte ein Zweig ohne jeden Grund rasend den Himmel. Ohne Aufhören floß der Regen herab.

Finsternis, kein Licht weit und breit. Doch halt, im Hause des Generals wurde nun ein Fenster hell. Es war das Fenster gleich rechts vom Hauseingang, Ottos Zimmer.

Der Morgen war nahe.

Am Rande des Tiergartens stand ein Schutzmann in seinem Regenmantel. Er horchte. Ein Schuß –? Er schabte mit den schweren Stiefeln auf dem Pflaster und ging ein paar Schritte über die Straße. Er blickte hinüber zu den Gärten, hinter denen die Regierungsgebäude liegen. Vielleicht hat sich jemand in den Regierungsgebäuden erschossen? Ein Minister? Wie? Wie? Und doch ein Schuß, sagte der Schutzmann und zog sich tiefer in das Dunkel des Tiergartens zurück. Jede Nacht erschoß sich hier jemand – ein Soldat, ein Bankrotteur, ein Verschmähter. Der Schutzmann bohrte seine Augen in den finstern Park und versuchte mit seinem Polizistenblick das Dunkel zu schrecken.

Immer noch war Ottos Zimmer, gleich rechts vom Hauseingang, hell erleuchtet. Immer noch sang melancholisch der Regen.

Nun aber dämmerte Licht auch in den Gemächern links vom Hauseingang. Die Türe zum Schlafzimmer des Generals wurde geöffnet, und ein Schleier von Licht drang durch die Gardinen.

Da erschien die breite Gestalt des Generals in der lichten Türe. Der General war im Schlafrock und taumelte schlaftrunken. Er verlor immerzu die zinnoberroten Pantoffeln, während er sich in das Vorderzimmer tastete. Ein Schatten kroch vor ihm her.

»Wie sagst du –?« Er räusperte sich, seine Mundhöhle war ausgetrocknet, denn der General schlief mit offenem Munde und schnarchte. »Verletzt, sagst du –?« Er bemühte sich, die Schnur des Schlafrocks zuzuziehen, um sich nicht zu erkälten. Schon wieder hatte er einen Pantoffel verloren und tastete mit dem nackten Fuße danach.

»An der Hand – der Herr Oberleutnant –«

»Man sollte doch meinen, daß er mit Schußwaffen umzugehen versteht!« schrie der General den Burschen an. Eigentlich hätte er dies Otto sagen sollen, aber in derartigen Augenblicken wandte er sich mit Vorliebe an Untergebene.

»Mache Licht!«

Zornrot ragte der Kopf aus dem fleischfarbenen Schlafrock. Auch dieser Schlafrock zeigte karmesinrote Aufschläge, nicht so groß wie der Mantel, aber von der gleichen Farbe.

»Beim Packen also –? Was soll das Gestotter!«

»Der Herr Oberleutnant wollte den Revolver in die Kiste schieben, da ging er los – ganz von selbst. Er ist schon einmal losgegangen.«

Mit wütenden Schritten ging der General durch die Zimmer. Der fleischfarbene Schlafrock wehte. Plötzlich aber hielt er den Schritt an und tastete mit der Hand gegen einen Türrahmen. »Ein Glas Wasser, Jakob«, sagte er. »Und dann – hörst du – wecke meine Tochter, sofort – aber nicht du sollst sie wecken – sondern wecke Therese, und Therese soll meine Tochter wecken. Wangel soll sofort das Auto holen.«

Das Blut war aus seinem Kopf gewichen, er war totenbleich geworden. Er taumelte ein paar kleine Schrittchen rückwärts, bis seine Hand eine Stütze an einem Sessel fand. Der Atem pfiff in kurzen Stößen aus seiner Brust.

»Und nun also ein Glas Wasser!«

Der General hatte nur einen flüchtigen Blick durch Ottos halboffene Tür geworfen. Otto stand gestiefelt und gespornt, rasiert und frisiert, fix und fertig zur Abreise. Auf dem Boden lag die gepackte kleine graue Offizierskiste. Er sah völlig nüchtern aus, gesammelt, ohne jede Spur von Betrunkenheit.

Und dann ein Handtuch – zusammengerollt, wie ein blutiger Klumpen … Es war eine Schwäche des Generals, daß er kein Blut sehen konnte. Es war ihm immer peinlich gewesen – im Felde, wo es sich doch nicht vermeiden ließ – aber es war eine Schwäche, die er schon in der Kadettenzeit gehabt hatte. Es war ganz hoffnungslos, dagegen anzukämpfen.

Man hörte Therese an Ruths Türe pochen. Man hörte sie halblaut rufen. Dann ging die Türe. Therese verschwand in Ruths Zimmer und kam nicht wieder.

Nun?

Endlich – nach langer Zeit kam Therese wieder zum Vorschein. Ihre Miene war verstört. Hilflos blieb sie an der offenen Türe stehen. Therese – sie hieß gar nicht Therese, aber sie wurde, seit sie im Hause des Generals lebte, so genannt, sie hieß Ernestine – Therese war, wie häufig, von ihrer Angst vor dem General gelähmt. Sie fürchtete ihn für gewöhnlich, sie ließ sich nicht gerne in ein Gespräch mit ihm ein, lebte für sich in den hinteren Räumen und kam nur selten nach vorn. Aber bei besonderen Ereignissen steigerte sich ihre Furcht zum Entsetzen. Und in diesem Augenblick erschien ihr der General wahrhaft erschreckend – in seinem fleischfarbenen Schlafrock und den roten Pantoffeln. Ihre Augen zerrannen vor Ratlosigkeit, ganz wie seinerzeit, als sie vor dem Gericht aussagen sollte. Damals, als der General den Prozeß führte und man sie kreuz und quer über alles Mögliche ausforschte. Damals, als es keine Ruhe mehr im Hause des Generals gab, nur Tränen. Therese fühlte, daß wiederum etwas nicht in Ordnung war.

Der General aber starrte sie an, er begriff nicht. Sein Schnurrbart zitterte, und Therese, die dieses Anzeichen sehr gut kannte, machte eine verzweifelte Anstrengung zu sprechen. Ihr altes Gesicht legte sich in tausend Runzeln und kleine Falten, als ob sie weinen wollte. Die Finger zupften an den rasch übergeworfenen Kleidern.

»Ruth ist nicht hier.«

Der General hatte nicht recht gehört.

»Sie ist nicht in ihrem Zimmer.«

»Nicht hier –?«

Aber gerade in diesem Augenblick wurde seine Aufmerksamkeit auf ein Geräusch an der Türe gelenkt. In der Türe der Diele drehte sich ein Schlüssel, und er wartete voller Spannung, was nun geschehen würde. Zuerst erschien also eine kleine Hand, in grauen Handschuhen. Dann der braune Pelzbesatz eines Ärmels, und schließlich stand Ruth in voller Person mitten in der Türe. Auf ihrer kleinen, braunen Pelzmütze lagen Regentropfen. Ruth erschrak nicht. Ihre braunen Augen, die weichen, leuchtenden Augen der Sommerstorf, waren voller Erstaunen auf den General gerichtet.

Dann aber begannen ihre Blicke sich langsam mit Unruhe zu füllen. Das Leuchten erlosch, sie wurden dunkel.


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