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1
Der Leichnam des jungen Heinz war nach Berlin gebracht worden. An einem hellen Frühlingstag wurde er in die Erde gebettet. Die Kampfstaffel hatte den jungen Meerheim mit einem Kranz geschickt. Der Trauerzug war nur klein. Ohne eine Träne im Auge folgte die Majorin Sterne-Dönhoff dem Sarge ihres Sohnes, die Schwestern weinten leise und schüchtern. Etwas hinter dem kurzen Trauerzug, dicht verschleiert und schwarzgekleidet wie eine Witwe, ging Klara, deren schmale Schultern von einem ununterbrochenen Schluchzen geschüttelt wurden. Heinzens Freunde, Schüler, Knaben, sangen des Gefallenen Lieblingslied: Deutschland, Deutschland über alles. Die Majorin hatte es gewünscht. Sie selbst stimmte in das Lied ein, während sie mit verklärtem Lächeln in die Weite des Frühlingshimmels blickte.
Der junge Meerheim sprach einen kurzen Nachruf, mit unbewegter, soldatisch scharfer Stimme; acht Tage später wurde er selbst im Luftkampf getötet.
Noch nicht neunzehn Jahre alt, war Heinz gefallen.
Klara preßte das zusammengerollte Taschentuch zwischen die Zähne.
Sonderbar, und nicht die leiseste Ahnung! Am Abend vorher hatte noch ihr Stern so herrlich und verheißungsvoll gefunkelt.
Es war an dem Morgen nach Doras Fest geschehen – gerade in der Stunde, da sie einschlief. Meerheim sah die Maschine stürzen.
Einige Tage vorher – sie erinnerte sich dessen – hatte sie von Heinz geträumt. Er stand auf dem Flugplatz, die grüne Wollmütze auf dem Kopf, und auf seiner Brust glitzerte in der Sonne das Medaillon. Er spielte mit einem kleinen Dachshund, und Schwärme von furchtbar anzusehenden Flugzeugen, mit barbarischen Farben bemalt, rasten über ihn hin. Aber er sah sie gar nicht, spielte mit dem Hunde – man konnte diesen Traum wohl nicht eine Ahnung nennen?
Ohne jede Sorge, ja, mehr, mit dem Gefühl der Sicherheit, war sie nach Doras Fest schlafen gegangen, glücklich und voller Hoffnungen.
Vor wenigen Tagen aber fuhr sie in die Stadt. Nach ihrer Gewohnheit kaufte sie in einem Kiosk der Untergrundbahn wahllos einen Stoß Zeitungen. Wie viele Menschen, war sie zu einer fanatischen Zeitungsleserin geworden, es war eine förmliche Krankheit bei ihr. Plötzlich war es ihr, als ob sie seinen Namen gelesen habe! Unglaublich zwar – aber hatte er ihr nicht oft gesagt: gib acht, eines Tages wirst du plötzlich meinen Namen in den Zeitungen lesen, und wie überrascht wirst du sein! Sie blätterte, und richtig – da stand sein Name: Heinz Sterne-Dönhoff. Sie las, und sie begriff zuerst nicht. Nachdem vor knapp einem Jahre sein Vater, der Major Sterne-Dönhoff, den Heldentod … Sie las die Unterschriften, und plötzlich begriff sie.
Sie warf ihre Zeitungen auf den Sitz, daß sie umherflatterten, und rannte durch den Wagen.
»Er ist tot,« schrie sie, »ich will hinaus!«
»Aber Sie sehen doch, daß der Zug fährt, Sie können doch nicht aussteigen«, sagten die Herren, die die Türe verbarrikadierten. »Sie zerschmettern sich den Kopf, liebes Fräulein.«
Da fuhr der Zug in einen Bahnhof ein, und Klara stürzte hinaus.
»Es ist schrecklich, jeden Tag erlebt man jetzt derartige Szenen. Gestern sprang eine Frau auf dem Bahnhof Spittelmarkt vor den Zug und ließ sich überfahren. Ich sage Ihnen, es war entsetzlich – dieser Schrei!«
»Hören Sie auf, ich kann von solchen Dingen schon gar nichts mehr hören –«
Arme, kleine Klara, sie begriff es noch heute nicht. –
Ja, nun wollte sie es wagen. In Gottes Namen!
Sie drückte auf die Klingel und gab ihre Karte ab. Diese Karte war schwarz umrändert. Klara war so tief und dicht verschleiert, daß man kaum noch einen Schimmer des Gesichts sah.
Das Mädchen kam nach auffallend langer Zeit zurück und forderte sie auf, einzutreten. Die Majorin Sterne-Dönhoff und die beiden Schwestern waren im Zimmer. Ach, ihre Gesichter, überall Heinz, in allen Linien. –
»Was verschafft uns die Ehre?« fragte die Majorin Dönhoff mit einem prüfenden Blick aus ihrem gelblichen, langen Gesicht.
»Ich bin –« stammelte Klara, »ich wollte gern –«
»Ich verstehe Sie nicht!« sagte Frau v. Sterne-Dönhoff leise. »Wollen Sie bitte Platz nehmen!«
Die Schwestern starrten verlegen.
»Ich wollte nur,« begann Klara wieder, »Sie besuchen«, und plötzlich fing sie an zu schluchzen.
»Was haben Sie nur, mein liebes Fräulein?«
Stille.
»Ich bin seine Verlobte!« stammelte Klara.
Wiederum Stille.
Da niemand etwas sagte, fuhr Klara fort: »Ich war seine Geliebte.«
Die Majorin fiel ihr ins Wort. Kühl und förmlich sagte sie: »Mein Sohn hatte keinerlei Geheimnisse vor mir. – Geht hinaus!« herrschte sie die beiden Schwestern an, und sie verließen sofort gehorsam das Zimmer.
»Wie sagten Sie? Seine Geliebte?« Die Majorin dämpfte die Stimme.
»Ja. Ich bin seine Geliebte.«
»Aber wissen Sie auch, was Sie sagen?«
»Sie wollen also sagen« – die Majorin stockte – »Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie mit Heinz in Gemeinschaft gelebt haben?«
Klara zuckte zusammen und hob den hilflosen, wunden Blick zu den graublauen Augen empor. Sie errötete. »Nein, nicht das –« stotterte sie. »Das wollte ich nicht sagen.«
Auch über das gelbe, lange Gesicht der Majorin huschte ein dünnes Rot. Erleichtert und etwas freundlicher sagte sie: »Nun, dann danke ich Ihnen herzlich für Ihren Besuch, mein liebes Fräulein!« Sie versuchte, ihrer Stimme sogar einen warmen und aufrichtigen Klang zu geben. Aber als Klara sie mit fassungslosen Augen ansah, fügte sie flüsternd hinzu: »Sollten Sie vielleicht irgendwelche Ansprüche zu stellen haben?«
Fassungslos waren die wunden Mädchenaugen auf sie gerichtet.
Da lächelte die Majorin und streckte Klara die Hand hin. »Herzlichen Dank, mein Kind. Wie heißen Sie?«
Aber Klara antwortete nicht, ihr Blick glühte. Sie berührte diese lange, gelbe, entsetzliche Hand nicht. Sie wich zurück, verbeugte sich tief, sehr tief, und ging hinaus. Die beiden Schwestern lugten durch die Türspalte. »Von ihr ist die Locke, die er in dem Medaillon trug«, flüsterte die eine, und die Stimme der Majorin rief: »Emma, Bertha.« Klara befand sich wieder auf der Treppe.
Ach, und die kleine, törichte Klara hatte sich zu Hause ausgedacht, daß sie vor der Majorin und den Schwestern in die Knie fallen werde, um ihnen zu sagen, daß sie gekommen sei, den Schmerz mit ihnen zu teilen. Sie wollte ihnen die Hände küssen und mit ihnen weinen.
Sie war ein Kind und wußte nichts um die Eifersucht einer Mutter.
Betäubt und völlig fassungslos stieg sie die Treppe hinab. Es war die Treppe, über die sein Schritt eilte. Sie berührte sie liebkosend mit den Fingerspitzen. Sie wollte diese Treppe auch küssen – aber in diesem Moment wurde ein Kinderwagen aus einer Türe geschoben, und sie entfloh.
Aber sie kam wieder, als die Damen Sterne-Dönhoff ausgegangen waren, und sie küßte die Treppenstufen und kniete auf ihnen. Dreimal kam sie im Laufe der nächsten Wochen und schlich wie ein Dieb durch das Treppenhaus. Einmal war es schon ganz finster. Dann kam sie nicht mehr.
Das Paradies war versunken, nichts blieb als Finsternis, unendlich – und inmitten dieser finsteren Unendlichkeit stand sie, Klara, die Hände auf ihr zuckendes Herz gepreßt.
Solange Papa zu Hause war, mußte sie die Trauerkleider ablegen. Sie wollte Papas Fragen vermeiden. Zuweilen schon streifte sie bei Tische sein Blick – ihre Augen waren gerötet, ohne Glanz, ihre Wangen ohne Farbe. Papa, ihr armer Papa, der ohnehin in den letzten Tagen so auffallend erregt, ja verstört war. Mehr, als er es sich merken ließ, schien ihm Hedis Rücksichtslosigkeit nahe zu gehen.
Ja, diese Hedi hatte es tatsächlich übers Herz gebracht, das Haus zu verlassen. Anfangs war sie nur selten und sehr unregelmäßig gekommen, sandte immer Boten mit Briefen – Arbeit, unerwartete Vorkommnisse. Schließlich kam sie gar nicht mehr. Ganz unmöglich, dieser Weg – und Arbeit, Tag und Nacht mußte man zur Stelle sein.
Der Geheime Rat – nie hätte es Klara für denkbar gehalten, fügte sich, ohne den Versuch eines Widerstandes.
Er ging wohl etwas erregt hin und her und knackte mit den Fingern, zupfte an seinen dünnen Barthaaren. Er hatte Bedenken ohne Zweifel, schwere Bedenken! Ein Herr Ströbel oder Herr v. Ströbel – ein während des Krieges reich gewordener Mann – hm! Aber schließlich: er besaß kein Vermögen, und da er kein Vermögen besaß, so war auch seine Karriere so gut wie abgeschlossen – derselbe Schreibtisch, derselbe Aktenständer, derselbe Spucknapf – bis zur Pensionierung.
Ja, was war da zu tun? Wieder knackte er mit den Fingern.
Bei dem heutigen Geldwert konnte er seinen Töchtern nichts mehr bieten, gar nichts mehr. Sie mußten selbst sehen –
Es war gar nichts zu tun, mit einem Wort.
Und übrigens hatte er gerade jetzt, gerade in diesen Tagen, ganz andere Sorgen! Schlaflos verbrachte er die Nächte. Ein ungeheures Mißgeschick, wenn man so sagen darf, war ihm widerfahren: es gehörte zu seiner Tätigkeit im Auswärtigen Amt, die deutschen Interessen in drei fernen exotischen Ländern zu vertreten. Zu diesem Behufe veröffentlichte er mit Unterstützung eines Universitätslehrers jeden Monat ein Korrespondenzblatt, dessen sich die Presse allerdings nur wenig, ja, man kann getrost sagen, gar nicht bediente, leider. Nun aber hatte eines der exotischen Länder an Deutschland den Krieg erklärt – und ihm, ihm war es völlig entgangen! Das letzte Korrespondenzblatt hatte sogar noch einen lobenden, beruhigenden Aufsatz aus der Feder seines geschätzten Mitarbeiters enthalten, und doch lebte man mit jenem Lande schon seit drei Wochen im Krieg! Welches Mißgeschick! Wenn der Minister es, bemerken sollte –? Allerdings waren ja schon drei Wochen vergangen, und niemand hatte bis jetzt etwas bemerkt, vielleicht ging der Kelch noch einmal an ihm vorüber!
Das waren die Sorgen des Geheimen Rats, und es war ihm natürlich zurzeit gänzlich unmöglich, sich viel um seine Töchter zu bekümmern. Es war ja schließlich keine Schande, wenn Hedi Schreibmaschine schrieb und Briefe abfaßte – und sie bekam mehr Gehalt sogar als er. – Es schien ihr gut zu gehen, hatte sie doch kürzlich sogar eine Gänsekeule in Gelee geschickt. Im übrigen war ihm der Charakter Hedis Bürgschaft genug …
Der wilde Schmerz trieb Klara in diesen Tagen sogar zu Hedi, obschon sie sich vorgenommen hatte, die Schwester in Zukunft zu ignorieren.
Aber Hedi hatte wenig Verständnis für ihr Leid. Sie war gerade mit dem Einrichten ihrer Wohnung beschäftigt. Im Salon sollte eine Decke eingezogen werden – mit goldenen Kassetten zwischen ultramarinblauen Balken – nein, Hedi hatte gar kein Verständnis. Sie wollte ihr einen Frühlingshut schenken. Sie heuchelte ja Teilnahme, aber Klara fühlte nur zu deutlich –
Sie kam auf den Gedanken, Ruth zu besuchen. Ruth? Weshalb Ruth? Sie hatte sie nur einigemal gesprochen – kannte sie kaum, aber instinktiv suchte sie bei ihr Zuflucht.
Indessen Ruth war nicht da! Der General trat zufällig in die Diele. »Meine Tochter ist nie zu Hause!« sagte er – wie es Klara schien – mit Bitterkeit in der Stimme. Feierlich und prunkend – diese Diele. Dunkle Gemälde in breiten Rahmen, ein riesiger Spiegel und davor zwei Neger aus Bronze oder Eisenguß, die hohe Kerzen trugen. Voller Mißtrauen schien der General sie zu betrachten, sein Blick war prüfend und unbehaglich, ganz wie der Blick von Frau v. Sterne-Dönhoff. Die sie haßte und verachtete.
Ja, wohin?
Schließlich kam sie auf den Gedanken, Dora aufzusuchen. Sie beichtete Dora alles! Aber Dora hatte ebenfalls kein Verständnis für ihren Schmerz. Sie küßte sie, nahm sie in die Arme und drückte sie an ihr Herz. Sie versuchte sie zu trösten – sagte, es sei ein Verbrechen, Kinder, wie Heinz, in diese Metzelei zu schicken – aber sie hatte gerade die Schneiderin im Hause, und ihr Kopf war erfüllt von Frühjahrs- und Sommertoiletten, man mußte ja jetzt schon an den Sommer denken. Schließlich kam Otto dazu, und Otto betrachtete sie mit neugierigen Blicken, die Klara unangenehm waren.
Sie ging.
Allein, ganz allein mußte die kleine Witwe ihren Schmerz tragen. Sie wußte noch nicht, daß der Mensch in seinem Schmerz immer allein steht.
Wie eine Verzweifelte irrte sie Tag für Tag, bis in die späte Nacht hinein, durch die Straßen. Für ihn die Flaggen – mein Geliebter, mein Held! – für ihn das feierliche Geläute der Glocken! Niemals würde sie auch nur die Hand eines andern Mannes berühren! Sie war seine Witwe.
Sie war freundlich zu den Menschen gewesen und selbst freundlich zu den Hunden auf der Straße. Nun ging sie dahin, ohne den Blick zu erheben.
Zeitungen, Extrablätter, die Menschen rannten, stürmten, rissen gierig die Blätter in Stücke – was kümmerte es sie? Selbst die Wagen der Untergrundbahn waren überschwemmt mit Zeitungen. Man hatte den Faustkampf um den Platz in diesen Tagen etwas gemildert – es war ja nicht unmöglich, daß bald alles wieder anders würde. Siege, Siege! Jeden Tag! In der Ecke des Wagens starb eine kleine Stenotypistin – still, ohne einen Laut von sich zu geben. Von der Station Kaiserhof an wurde sie bleicher und bleicher, als der Zug am Spittelmarkt einlief, war sie schon tot. Man trug sie hinaus.
Tot? Ja, vielleicht war es das beste?
Klara wurde nicht müde in diesen schrecklichen Tagen, obschon sie nachts kein Auge zutat. Denn nachts flossen die Tränen ganz von selbst und brachten Linderung. Kreuz und quer irrte sie durch die dunkeln Straßen. Schatten taumelten gegen sie, Schatten krochen vor ihr, Schatten stürzten hinter ihr her. Plötzlich erschrak Klara: ein alter, haariger Schimmel stand mitten auf dem Trottoir.
Sie stand an einem stillen Kanal, in einer ihr völlig fremden Gegend. Aus dem schwarzen Wasser blinzelte winkend ein Licht, tief unten. Die dunkeln Häuser hinter ihr begannen allmählich zu rücken und zu wandern. Leichen von Firmenschildern, Leichen von Riesenbuchstaben wanderten langsam, unendlich langsam vorüber. Kein Mensch weit und breit. Verlassene Wagen, verlassene Bretterhaufen, verlassene Kähne, die Pest hatte die Menschen mitten aus der Arbeit weggeholt.
Da erscholl über dem schweigenden, schwarzen Wasser ein fürchterliches Gelächter – ein unheimliches Lachen, das Lachen des Wahnwitzes – Klara erschauerte. Sie befand sich hinter dem alten Schloß, und es schien ihr, als käme das Gelächter aus der finstern Burg. Ein Eishauch ging von dem stillen, toten Schloß aus. Es schien verlassen, bewohnt einzig von einem Gespenst, das diese fürchterliche Kälte aushauchte. Starrte es nicht durch die schwarzen Fenster auf sie? Und da – seine eisige Hand griff durch die Mauern und berührte ihr Herz.
Klara entfloh. Das wahnwitzige Gelächter scholl hinter ihr her.
Endlich Licht. Ein Kino. Eine dicke Zeitungsfrau rannte an den grellen Plakaten vorüber und krächzte heiser und ununterbrochen: »Zwanzigtausend Gefangene – die Schlacht geht weiter –«
2
Nebel.
Sonderbar, den ganzen Tag über Regen, gegen Abend etwas Sonne und ein feuchter Wind und nun, in der Nacht, Nebel.
Herr Herbst bog um die Ecke und nieste. Er war erkältet. In dieser Straße stand der Nebel noch dichter. Ein unheimlicher Riese kam ihm entgegengestampft, in einige Lagen von Pelzen eingehüllt, eine hohe Pelzmütze auf dem dicken Schädel, aber er schrumpfte mehr und mehr zusammen, und schließlich ging nur ein kleiner harmloser Mann an ihm vorüber. Ein qualmendes Feuer mitten in der Straße und tanzende Kannibalen um das Feuer: keine Angst, es sind Straßenbahnarbeiter, die das Geleise ausbessern.
Wie ein lehmiges Meer wälzte sich der Nebel dahin und schob Geröll vor sich her – Häuser, Straßen, Häuserviertel, Stadtviertel, Vorstädte, immer weiter, bis hinaus zum flachen Land, wo es nichts gibt als Kartoffeläcker und Telegraphenstangen.
Auch ihn schob das lehmige Meer willenlos vor sich her, ganz wie die Häuser und Stadtviertel mit all ihren Bewohnern. Seine Nase tropfte, er ging rasch, die Knie etwas eingeknickt, die Arme herabhängend. Müde war er, todmüde. Den ganzen Tag war er unterwegs.
Er hatte einen neuen Plan ausgedacht – teuflisch!
Ja, teuflisch!
Wo er ging und fuhr, sollte er ihn sehen – immer, zu jeder Stunde des Tages sollte er erinnert werden – daran!
Als er aber wieder niesen mußte, zerflatterte die dichte schmutzige Nebelwolke, und – wer hätte das gedacht? – er erblickte einen kleinen üppigen Garten in praller Sonne! Er selbst ging in diesem Garten spazieren, in einem weißen Kittel, die goldene Uhrkette auf der Weste, einen breiten sonnenverbrannten Panama auf dem Kopfe. So deutlich! Es roch nach Kaffee, es war Sonntag, er roch sogar die Frische des Stärkhemdes, das er trug. Bald würde Muttchen – dasselbe Muttchen, das später, viel später, wer hätte es ahnen können –? – bald würde Muttchen kommen mit dem Kaffeekuchen, die Fingerspitzen etwas fett, die Lippen etwas glänzend von Fett …
In diesem Augenblick stieß Herr Herbst mit jemand zusammen, der unwillig »Achtung!« rief. Der Garten verschwand, und der Nebel brodelte wieder. Der Zusammenstoß war so heftig, daß ihm der steife Hut über die Ohren getrieben wurde und er ins Taumeln geriet. Aber dieses ärgerliche schroffe »Achtung!« – diese trockene Stimme, wie?
Scheu wandte er sich um: sofort fiel ihm das grüne Plüschhütchen auf und der enge, zugeknöpfte Überzieher! Im gelben Dunst einer Laterne stand der schmächtige junge Mann im Gespräch mit zwei Männern mit Knotenstöcken. Das Plüschhütchen wackelte hin und her, die dünnen Arme gestikulierten aufgeregt – aber da verschwanden sie schon aus dem Lichtschein der Laterne, der Nebel verschlang sie.
Herbsts Herz pochte.
Also schon waren sie bis hierher gekommen, bis hierher?
Er zitterte und duckte sich zusammen.
Düster lag das graue Haus, umbrodelt vom Nebel, und wie in jeder Nacht war nur das eine gleiche Fenster erleuchtet.
Leise wie immer stahl sich Herr Herbst in sein Zimmer.
Gottlob, daß er hier war! So müde –!
Frau Hähnlein in ihrer Kammer betete. Mit schluchzender, verzweifelter Stimme – aber leise, um die Kinder nicht zu wecken, flehte sie um Gottes Beistand, rief sie den Himmel um Hilfe an, ja, um Hilfe –
Grundlos wie das tiefe Meer war das Elend dieser Stadt, in allen Straßen, allen Häusern. Überall Unglückliche, Verzweifelte, Weinende, Schlaflose. Aus allen Häusern glühten die Augen von Wahnsinnigen in den Nebel.
Der bucklige Wirt hatte recht: die Zeit der großen Heimsuchung war über die Welt gekommen. Die Menschen waren Sünder. Sünde! Sünde! Bodenlos wie das tiefe Meer! Und auch er, ja, auch er hatte Sünde auf Sünde gehäuft in seinem Leben! Er büßte – schon büßte er, hatte er den steinigen Pfad der Sühne betreten.
Daran dachte der kleine Herr Herbst, als er geschüttelt vom Frost in sein Bett kroch. Sein Gesicht brannte wie Feuer, und funkensprühend kreiste die Dunkelheit um ihn. Wieder quälte ihn der Husten, und er steckte den Kopf unter die Decke, um keinen Lärm zu machen. Als er wieder Atem schöpfte, hörte er Stimmen in Ackermanns Zimmer.
Diese Stimmen brodelten, ganz wie der Nebel an seinem Fenster, auf und ab, eine heisere, keuchende und eine tiefe klare, die zu beruhigen suchte. Dazwischen ein belustigtes, ein etwas angeheitertes Lachen.
Die klare beruhigende Stimme, das war Ackermann, aber die heisere, keuchende, die zuweilen so sonderbar belustigt lachte? Es war Hähnlein! Ja, niemand sonst – lachte also, während seine Frau Gott um Hilfe anflehte, um Erbarmen für ihre armen Kinderchen wenigstens.
»Morgen schon?« fragte Ackermann.
»Ja, morgen um zehn Uhr!« Und wieder das angeheiterte Lachen.
Ohne Unterbrechung brodelten die Stimmen.
Der kleine Herr Herbst dampfte vor Hitze. Sein Kopf rauchte, seine Hände, ja, wie gesagt, er war erkältet. Mit geneigtem Kopf saß er im Bett, wie betäubt, ohne jeden Gedanken. Er mußte dem Brodeln der Stimmen lauschen, das ihn wie ein Zauber bannte, obwohl ihn nicht im geringsten interessierte, was die beiden zu besprechen hatten.
»Wie ist es nur denkbar?« rief Ackermann aus.
Und mit einem heiseren Auflachen erwiderte Hähnlein: »Ja, wie ist es nur denkbar, hahaha!«
Trotzdem das Blut in seinem Kopfe wie Dampf zischte, begriff er bald, was Hähnlein so erregt hatte. Man hatte ihn wieder gemustert, und morgen ging der Transport zur Front. Die »Mordkommission« war in der Kaserne gewesen. Zurück, zur Front, abermals – ja, der Granatsplitter, der ihm die Schädeldecke zertrümmert hatte, so daß er keine Treppe steigen konnte, ohne sich am Geländer festzuhalten – er zählte gar nicht. Und der Brustschuß, den er in Serbien erhielt – auch er zählte nicht. Und dreimal in Frankreich, zweimal in Rußland, in Serbien – all das zählte überhaupt nicht. Seine Frau – seine Kinder –?! Nichts zählte!
Man würde ihn wieder in einen Viehwagen packen, er mußte wieder hinaus.
Ackermann versuchte zu beruhigen.
»Hahaha!« lachte Hähnlein. Seine Ratschläge machten wenig Eindruck auf ihn.
»Ja, vor die Füße, vor die Füße, wirf es ihnen vor die Füße!« schrie Ackermann laut und wütend.
»Aber, was dann, Ackermann, hörst du?« fragt Hähnlein. »Gefängnis – frage Kamerad Schmitt, der dem Gefreiten eine Ohrfeige gab. Lieber den Heldentod als das Gefängnis! Hunger und Prügel.«
»Die Verruchten!« schrie Ackermann.
Hähnlein lachte wieder laut und heiter. Und obwohl Herbst vom Fieber glühte, erschauerte er bei diesem sonderbaren Lachen.
Aber, ob er, Ackermann, die Strafkompanie vergessen habe? Teufel von Vorgesetzten – Verbrecher – Zuchthäuslerkleidung – die ehrlichen Kameraden spucken dich an – Sträflingsarbeit im Feuer, Hunger, Prügel, Läuse, Krankheiten –
Also fort mußt du? dachte Herr Herbst. Gut, gut, daß du fort kommst!
Er fürchtete sich vor Hähnlein in der letzten Zeit. Gestern traf er ihn auf der Treppe: ohne Regung stand er, erstarrt, den Kopf gesenkt, einen Fuß in der Luft, die stechenden, glitzernden Augen auf den Boden gerichtet. Er hatte es nicht gewagt, an ihm vorbeizugehen und war umgekehrt.
So, ja, genau so hatte auch sie gestanden – seinerzeit – immer in den Ecken, zuerst mitten in den Zimmern, endlich nur noch in den Ecken und unter den Türrahmen – bevor sie, hm, bevor sie …
Gut, daß du aus dem Hause kommst –
Nun aber hätte er beinahe laut herausgelacht! Hähnlein sprach von der Musterung, den Skeletten, Krüppeln, Krummen und Lahmen, und er, in seinem Bett, sah alles deutlich und wunderbar klar vor sich. Wie sie humpelten, wie sie krochen, wie die Knochen spitz durch ihre Haut stachen! Nur einer aber war frei gekommen, er fiel in Krämpfe und wurde hinausgetragen.
Nun kam also jener, ein Riese von Gestalt, der Blut in die offene Hand spuckte und es dem Arzt zeigte. Aber der Arzt, o nein, er war nicht um eine Antwort verlegen. Er sagte, der Arzt: Die Luft im Felde ist besser als in Berlin, solange einer nicht den Kopf unter dem Arm trägt, muß er hinaus. Fertig! Und da kam dieser andere, der eine offene Wunde am Rücken hatte, man konnte den ganzen Finger hineinstecken – aber auch das half nichts. Immer vorwärts, sagt der Arzt, bei so jungen Leuten heilt das rasch. Nein, er war nie um eine Antwort verlegen, man muß es ihm lassen. – Nun aber, nun also kam Hähnlein, unser Hähnlein an die Reihe. Es half ihm alles nichts, was er vorbrachte. Sein Lungenschuß, seine Atemnot – prächtig geheilt, sagte der Arzt, die Bureauluft ist nicht gut für Sie. Aber auch die Schwindelanfälle, die von dem Granatsplitter im Kopf herrührten, das Zittern – auch das half Hähnlein nichts. Sollen denn nur gesunde Leute totgeschossen werden? fragte der Arzt. Hahaha! Richtig, weshalb nur gesunde?
Ja, also Hähnlein saß in der Patsche und konnte es noch immer nicht begreifen.
Und wieder brodelten die Stimmen. Lange Zeit. Kein Wort zu verstehen. Dann aber lachte Hähnlein wieder laut heraus, und die Stimmen verloren sich auf dem Korridor.
»Mut, Kamerad!« rief Ackermanns Stimme.
Hähnlein lachte und sagte irgend etwas. Er schlich draußen an der Türe vorüber und pfiff leise vor sich hin.
Augenblicklich hörte Frau Hähnlein auf zu beten. Sie stellte sich schlafend, schnarchte sogar ein wenig. Nach einer Weile fragte sie: »Was tust du?«
»Ich rauche eine Zigarre«, antwortete Hähnlein mit ruhiger Stimme.
Und nun wurde es still, ganz still. Nun war die Zeit gekommen für ihn, Herrn Herbst, seinen Triumph auszukosten!
Sanft glitt sein Bett dahin, eine angenehme Hitze kochte in seinem Körper, heiß fuhr der Atem aus seinem Munde. Prachtvoll, berauschend, rot funkelte die Finsternis. Am Fenster wallte der Nebel, auf und ab, drückte sich gegen die Scheiben. Und drunten: horch! Ja, deutlich hörte er ihren Schritt, dumpf wie der Schlag seines Herzens in der Brust. Da gingen sie auf und ab, die Männer mit den Knotenstöcken, das grüne Hütchen eilte durch den Nebel die Straße herauf, nachzusehen, zu kontrollieren.
Und er, nebenan, ahnte nichts! Raschelte mit Papieren, zerriß sie, klapperte auf seiner Schreibmaschine, ahnungslos. Sah er nicht das grüne Hütchen eilen? Nein, nein, blind war er, taub war er.
Nun rasselte er mit dem Ofen, es roch nach verbranntem Papier. Und schon gingen die Schritte auf und ab, lauter, immer lauter ….
Sollte er an die Türe pochen und ihm zurufen: Horch, horch! Öffne das Fenster und sieh es eilen –!
Aber nein, nun war ja die Stunde gekommen, die wonnige, seinen Triumph auszukosten!
Heute – hoho – heute hatte er es gewagt! Den Hut gezogen, ganz dicht vor ihm, ganz dicht! Vor dem Hause in der Lessingallee hatte er gewartet, bis die graue Limousine kam. Und dann – den Hut gezogen, wie gesagt. Mitten in den Lichtschein der Automobillampen war er getreten, in den blendenden Lichtkegel der Lampen!
Und der General? Er war erschrocken – erschrocken, sollte man es glauben, vor ihm, einem alten ohnmächtigen Mann, ohne Rang und Würde, einem Trinker, mit dem es bergab ging, täglich mehr und mehr bergab, erschrak er – der Gewaltige! Fuhr zurück, und seine Augen waren voller Schrecken …
Ja, keine Nachsicht mehr, nicht die geringste! Tag und Nacht wollte er vor ihm auftauchen, keinen Schritt sollte er künftig tun – er war da!
Und wie er erschrak! Wie er zurückfuhr! Deutlich sah er es vor sich. Das breite starre Gesicht wankte, nicht Schrecken, nein Entsetzen spiegelte sich in den Zügen. Der General taumelte einen Schritt zurück – zwei – er lief! Und er, den Hut in der Hand, lief hinter ihm her. Wie schnell er doch lief! In seinem Mantel mit den roten Aufschlägen. In seinen Hosen mit den roten Streifen! Wie das Entsetzen ihn vorwärts peitschte – und doch war es spielend leicht, ihm zu folgen. Rascher, immer rascher rannten sie beide in die rotfunkelnde Finsternis hinein. Und der Nebel donnerte! Ballen von Qualm warf die schwarze Stadt aus, wie ein Vulkan, Ballen um Ballen, himmelhoch donnerten die Wolken von Qualm.
3
Der Nebel brodelte über Berlin. Über dem Nebel funkelten die ewigen Sterne, aber die Stadt, versunken im gelben Meer von Lehm, sah sie nicht.
Schrill heulten die Züge, in düstere Glutwolken gehüllt, tasteten sie sich langsam vorwärts. Die Bogenlampen fieberten in den dunstigen Bahnhöfen, Schattenriesen stießen mit den Köpfen gegen die Glasdächer der Hallen. Die Krankenwagen krochen in das gelbe Nebelmeer hinaus, und zuweilen stutzten die Chauffeure: klaffende Abgründe schienen plötzlich die Straßen zu spalten. Schlaff und schmutzig hingen Flaggen aus den Nebelwolken herab.
In nebligen Höfen wurden die Wagen entladen, und voller Erlösung starrten die Fieberaugen der Verwundeten in das Licht der Korridore, durch deren Karboldunst die Bahren schwankten.
Und die Züge heulten und winselten, wie seit mehr als tausend Nächten. Aber in dieser Zeit der großen Offensive kamen sie ohne jede Unterbrechung. Die Ärzte wechselten Blicke. – –
Zur gleichen Stunde saß der General, den der kleine Herr Herbst im Fieberwahn verfolgte, mit zufriedener Miene in dem bequemen Arbeitssessel vor seinem Schreibtisch und beugte sich über eine große Generalstabskarte.
Er hatte neben sich ein Näpfchen mit blauer Farbe und ein Glas Wasser stehen und malte auf die Generalstabskarte blaue Linien. Hin und wieder suchte er mit der Lupe eine Ortschaft, die der letzte telephonische Bericht genannt hatte.
Unfaßbar! Flogen sie? War es nicht ganz wie seinerzeit beim Vormarsch 1914?
Schon wurde das strategische Bild klarer – kristallklar. Der General beugte sich! Seine Ansichten hatten nicht immer mit jenen dieser hohen Stelle harmoniert, zugegeben, es war ihm unmöglich gewesen, den bedingungslosen Glauben der Allgemeinheit zu teilen, er vermißte kühne, strategische Gedanken, vermißte den genialen Blick, nun aber beugte er sich. Ja! Ohne Vorbehalt.
Und der General starrte in die weiße Karte, während draußen der Nebel zog. Bald beugte er sich dicht darüber, den Kneifer auf der Nase, bald lehnte er sich nachdenklich in den Sessel zurück, und wieder starrte er regungslos in die weiße Karte. Was sah er? Er sah Brigaden, Divisionen, Armeekorps, den Gürtel der Artillerie. Er sah wie Brigaden, Divisionen, Armeekorps sich vorwärts fraßen, die Kolonnen auf den Straßen, die schwere Artillerie wird nachgezogen, die Fliegerschwärme in der Luft, die Stäbe, all das sah er auf der weißen Karte.
Seine Hand schob die blaue Linie vorwärts – ja, schon erblickte er in der rechten Flanke das Meer – den Kanal, in der linken Flanke aber wurde die fadendünne Silhouette des Eiffelturms am Horizont sichtbar.
Heute schon fielen die Granaten auf die französische Hauptstadt, furchtbare Mahner, furchtbar pochte die Geschichte an die Tore von Paris – und London, bald würde die Geschichte auch an die Tore Londons pochen! Das Reich des großen Alexander, wo war es hin? Die Stunde schlug, und es sank in Trümmer. Das Weltreich der Römer und Spanier? Schutt! Unaufhörlich brauste der Strom der Geschichte, und neue Reiche stiegen aus der Flut empor.
Der General versank in Träumereien. Seine strengen Züge hatten sich gelöst. Schon heute stand fest, daß die feindlichen Reservearmeen aufgerieben waren. Sie hatten nichts mehr, fürchterliche Perspektive …
Nur durch einen Korridor vom General getrennt, durch ein paar dünne Mauern, saß Ruth über ihren geliebten Büchern, die das Evangelium für sie bedeuteten, und las mit fiebernden Wangen, während an den Fenstern sich der Nebel ballte. Es war schon tief in der Nacht, sie schrieb, machte Notizen, ihre Augen glänzten. Ja, diese Bücher, diese Broschüren, sie sprachen die Wahrheit! Sie allein zeigten den rechten Weg. Untergehen mußte diese heute herrschende Gesellschaft, die sich nur durch Sklaverei, Plünderung und Tyrannei aufrechterhielt. Dieser Krieg war der fürchterlich logische Abschluß ihres Werkes – welch ein Abschluß! Heraufsteigen würde eine neue Gesellschaft, besser, reiner, edler. Schon waren ihre Boten unterwegs. Hier aber erschauerte Ruth.
Ja, schon! Ihr Blick glitt zum Fenster, das der Nebel verhüllte, ihr Blick füllte sich mit Unruhe und Qual. Ungewiß lag die Zukunft. Lange würde sie ihn nicht sehen, vielleicht Jahre! Aber es mußte sein, es mußte Mutige geben, die alles einsetzten für Idee und Glauben! Sie liebte ihn, sie bewunderte ihn! Auch sie würde ihm nachfolgen. Auf alles würde sie verzichten, auf Geld, Bequemlichkeit, gesellschaftliche Stellung. Nichts wollte sie. Wie Millionen von Frauen, die ihr Brot verdienten, wollte sie sein, nicht anders. Langsam hatte sie sich zu diesem Entschluß durchgerungen. Tausend beglückende Gespräche gaben Helligkeit, Klarheit und Ziel!
Wenn sie Papa kränkte, sie konnte nicht anders, Otto, ihre Verwandtschaft – nein, es stand unabänderlich fest! Welche Albernheit, Oberflächlichkeit, welcher Dünkel, welcher Wahn – nein, fort fort.
Und doch, das Herz schmerzte. Sie erhob sich und begann auf und ab zu wandern, die Hände an den Hüften, immer hin und her, den Blick voller Qual – immer hin und her, die ganze Nacht. –
Und Dora, was tat Dora in dieser undurchdringlichen Nebelnacht? Sie schlief und lächelte im Schlaf. Auch Klara, die kleine unglückliche Klara, schlief, aber sie weinte im Schlaf, ihre Wangen waren ganz naß.
Hedi aber war noch wach in dieser Nebelnacht, sie war heiter und guter Dinge. Sie tanzte Tango mit Weißbach, in der Bibliothek, nebenan saß eine kleine Gesellschaft beim Spiel. Der Phonograph war kaum zu hören, da sie ihn geschlossen hatte, aber so fand Hedi es am stimmungsvollsten. Ströbel hatte ihr eben gesagt, er sei einer der wenigen Männer in Europa, die alles vertragen könnten – und so tanzte sie Tango mit Weißbach, ganz allein, und Weißbach, der heute wenig trank, hatte ihr erklärt, daß er sie liebe und sie auf der Stelle heiraten würde. Das belustigte Hedi, und zuweilen erlaubte sie seinem Blicke, in ihre Augen einzudringen, ganz tief. Sie hatte sich vorgenommen, den kleinen schwarzen Artilleriehauptmann völlig rasend zu machen. Und dann? Nun, wer weiß –?
Und Otto? In seinem Zimmer im Westen saß er, eine kleine anmutige Verkäuferin, die er auf der Straße kennengelernt hatte, auf den Knien, eine Flasche Wein neben sich. Er küßte den vollen, bläulichweißen Nacken der Kleinen, und sie fragte ihn, wie das knallt, wenn eine Granate einschlägt. Ihr Bräutigam war ebenfalls im Felde. Otto lachte – herrlich diese Naivität. Er unterhielt sich ausgezeichnet. Was kümmerte es ihn, daß der Nebel um das Haus wallte?
4
Immer noch rannte der kleine Herr Herbst hinter dem Mantel mit den roten Aufschlägen einher, immer noch durch purpurne Finsternis.
Allmählich aber ging die Dunkelheit in Zwielicht über, er rannte nicht mehr, er ging langsam – und der General? Es war gar nicht der General, es war sein Zimmernachbar Hähnlein. An seinem abgenutzten Soldatenmantel, seinen abstehenden weißen Ohren, dem dünnen Hals erkannte er ihn. Er ging langsam, immer einige Schritte voraus, kreuz und quer durch die Straßen. Offenbar suchte er etwas. Endlich aber – ah, nun hatte er es gefunden.
Vor einem Laden mit Messern machte er halt. Messer, nichts als Messer, funkelnd und blitzend, ein Gebiß. Dieses Geschäft umkreiste Hähnlein, er las die Aufschrift, runzelte die Stirn. Dann trat er zurück an den Rinnstein, einen Fuß auf dem Fahrdamm, einen auf dem Bürgersteig, zog den Geldbeutel heraus und blickte aufmerksam hinein. Entschlossen betrat er den Laden. Aber bevor er die Türe schloß, warf er noch einen Blick auf die Straße, einen suchenden, kranken und traurigen Blick. Wonach sah er sich um? Nach Hilfe?
Wie, hier, zwischen den eilenden Menschen, die alle vor dem eigenen Elend dahinjagten, hier, wie? Nun, er sah es ja auch ein, daß es sinnlos war, gerade hier nach Hilfe auszuspähen und schloß die Türe hinter sich. (Herbst spähte durch die Scheibe!) Er wählte ein langes solides Bratenmesser, lang, spitzig und scharf und verließ den Laden, ein schmales, langes Paketchen unter dem Arm. Rasch strebte er nun seinem Hause zu, zuweilen lief er sogar eine Strecke, rasch eilte er die Treppe hinauf.
Aber was nun? Es war wieder dunkel im Zimmer nebenan, wieder war es plötzlich Nacht geworden, und nur Hähnleins Schatten war zu sehen, seine weißen abstehenden Ohren und seine böse glitzernden Augen. Er, Herbst, lag nun wieder in seinem Bett, schlief, hatte die Augen geschlossen, trotzdem sah er durch die Mauer hindurch alles, was Hähnlein nebenan tat. Nun beugte sich Hähnleins Schatten über die schlafenden Kinder, lange Zeit, dann über die schlafende Frau. Da blitzte plötzlich das lange Messer. Furchtbar blitzte es in der Dunkelheit. Die Frau regte sich, und Hähnlein versteckte hastig die Klinge unter seinem Rock. Lange stand er ohne jede Bewegung.
Dann aber, dann beugte er sich wieder über die schlafenden Kinder, das Messer funkelte – nun zeigte die Klinge dunkle Flecken. Lautlos stand er und atmete. Dann beugte er sich über die Frau, und abermals funkelte das Messer. Endlich richtete er sich auf. Kein Laut.
Plötzlich aber beschäftigte ihn etwas. Er heftete seine glitzernden tückischen Augen auf ihn, Herbst, der nebenan in seinem Bett lag und schlief. Sah er ihn? Es war ja unmöglich, die Wand war dazwischen. Aber doch schien er ihn zu sehen. Er tastete mit der Hand gegen die Wand – runzelte enttäuscht und zornig die Stirn. Da begann Herbst (weshalb eigentlich?) spöttisch zu kichern. Hähnlein lächelte verächtlich, wollüstig – und tastete sich an der Wand entlang zur Türe.
Herbst setzte sich plötzlich aufrecht, und sein Herz stand still vor Entsetzen. Wild schrie er auf.
Er kam! Er sah ihn kommen, das Messer zwischen den Lippen.
Schon öffnete sich langsam die Türe, seine Hand wurde sichtbar – wieder schrie Herbst auf – und er trat ein.
Aber er trug kein Messer, sondern eine Kerze. Und es war gar nicht Hähnlein, sondern – Ackermann.
»Sind Sie krank? Weshalb schreien Sie?« fragte Ackermann und kam näher, den Leuchter mit einer kleinen Kerze in der Hand.
Herbst versuchte zu sprechen, doch die Zunge klebte am Gaumen.
Ackermann ging und kam mit einem Glas Wasser zurück.
»Trinken Sie. Sie fiebern ja. Sie glühen!«
»Ich friere«, entgegnete Herbst, und seine Zähne klapperten. »Ich fühle mich eiskalt. Gewiß bin ich schneeweiß.«
»Sie glühen. Trinken Sie! Weshalb schrien Sie so?«
»Ich habe von Toten geträumt.«
Ackermann lächelte. »Vor Toten brauchen Sie keine Angst zu haben.«
Herbst zitterte und heftete die fiebernden Augen auf Ackermann.
»Und die Schritte,« flüsterte er, »die ganze Nacht. Vor dem Hause. Haben Sie das grüne Hütchen nicht gesehen?«
»Trinken Sie noch etwas!«
»Fliehen Sie! Sie sind da!«
Frisch und jung erschien ihm Ackermann, eine Erscheinung aus einer andern Welt. Die finsteren Mächte, die diese Erde bevölkern, konnten ihm nichts anhaben. Seine Augen glänzten, sein Mund blühte tiefrot, er schien weder müde noch schläfrig, obschon es tief in der Nacht war. Er lächelte heiter, als er von den Schritten vor dem Hause hörte, nein, auch sie konnten ihm nichts anhaben. Er schwebte auf Wolken wie ein Engel. Er war ein Gesandter Gottes, der zu ihm gekommen war, um ihm zu trinken zu geben.
Die Kerze verschwand. Schon war es wieder dunkel.
Ja, ein Traum hatte ihn gefoltert, ein Traum voller Unheil und Schrecken. Hatte er von den verschütteten Soldaten geträumt, die sich aus den Lehmbergen auswühlen, oder von Robert, aus dessen Wunden das Blut in Strömen floß? Noch jetzt schüttelte ihn das Entsetzen.
Ohne Zweifel, dieses Haus war ein Haus des Unglücks, ein verfluchtes Haus. Seine Mauern waren zermorscht von Jammer und Tränen. Selbst die Toten fanden hier keine Ruhe. Jede Nacht glitt der tote Briefträger durch das Treppenhaus und verbreitete seinen häßlichen Geruch. Er war gestorben, dieser alte Briefträger, ein Veteran mit den Denkmünzen des glorreichen Siebziger Krieges, ohne daß jemand es wußte. Erst als ein scharfer, süßlicher Geruch das Haus erfüllte, hatte man ihn aufgefunden, ausgestreckt auf dem Boden. Jede Nacht kroch er nun durch das Stiegenhaus, und zuweilen zog er die Klingeln, dann schrien die Frauen.
Ja, ein verfluchtes Haus.
Aber, gottlob, die entsetzliche Kälte hatte aufgehört. Schon begann er sich zu erwärmen, schon begann er wieder wohlig zu glühen. Ruhig atmete das Haus, deutlich hörte er hinter der Wand die Familie Hähnlein im Schlafe atmen. Feuer stieg in seine Augen. Sie wurden größer und größer, und mit feurigen Augen, so groß wie Wagenräder, saß er in der rauschenden Finsternis.
Plötzlich hörte er deutlich eine Orgel brausen, feierlich und tief. Und durch das volle Orgelbrausen rief eine Stimme:
»Heilig ist der Mensch! Sinn der Erde, unantastbar!«
»Heilig ist das Menschenleben, unantastbar!«
Und wieder brauste die Orgel.
Dann schrie die gleiche Stimme, laut und hell:
»Die Menschenwürde ist das oberste Gesetz!«
»Unantastbar ist die Würde des Menschen!«
»Heilig sein Gedanke, heilig sein Leib!«
»Liebet einander!«
Die Orgeltöne verbrausten in der Ferne.
Und der Nebel brodelte über den Dächern der Stadt.
Immer noch ertönte gedämpft der Phonograph in Ströbels Bibliothek. Aber Hedi tanzte nicht mehr. Sie saß am Spieltisch und setzte eifrig. Rote Flecken fieberten auf ihren Wangen, ihre Augen sprühten. Sie gewann. Zuweilen liebkoste Ströbel sie mit einem Blick, sie liebte ihn in diesem Augenblick. Weißbach, der nach ihren Blicken tastete, hatte sie ganz vergessen.
Ottos Mädchen war eingeschlafen. Zwei Tränen glänzten wie Tau unter ihren langen hellen Wimpern. Otto saß beim letzten Glas Wein und rauchte voller Behagen eine Zigarre. Er brauchte keinen Schlaf, obgleich er von früh bis abends im Bureau arbeitete.
Immer noch ging Ruth ruhelos auf und ab, den Blick voller Qual. Sie schwankte, so müde war sie, aber sie konnte sich nicht entschließen, zu Bett zu gehen.
Der General aber schlief. Er schnarchte und murmelte zuweilen unverständliche Worte im Traum. Wangel und Jakob packten in aller Eile die Koffer, und er gab ihnen Befehle. Soeben hatte ihn das Telegramm erreicht, in vierzig Minuten ging der Zug zur Front …
Und der Nebel wallte draußen. Über ganz Deutschland dampfte der Nebel, undurchdringlich. Oben funkelten die ewigen Sterne, aber Deutschland sah sie nicht. Die Züge winselten durch die Nebelnacht, durch ganz Deutschland liefen die Transporte mit den zerschossenen Menschen, durch Wälder, Felder, über Brücken und Flüsse, ohne Zahl, ohne Pause.
Über Europa dampfte der Nebel, undurchdringlich. Oben funkelten die ewigen Sterne, aber Europa sah sie nicht. Blutrot wallte das Nebelmeer, Europas Ströme wälzten Blut.
Die Greise, die die Geschicke der Völker lenkten, schlummerten in ihren Betten.
Schon aber wurde der Nebel lichter. Der Tag war nahe. –
Ackermann hatte seine Papiere in dieser Nacht in Ordnung gebracht und verbrannt, was verschwinden mußte. Der Ofen qualmte, und Rauch erfüllte das kleine Zimmer.
Er öffnete das Fenster. Da wälzte sich der Nebel herein, deutlich sah man ihn um die kleine Kerze kreisen. Schon aber begannen die Dunstballen sich aufzuhellen, es tagte. Stille, kein Schritt, kein Laut. Die Stadt war völlig tot.
Ackermann blies die Kerze aus und legte sich zur Ruhe.
Aber der Nebel folgte ihm in seine Träume: Da sah er einen Feldgrauen, so wie er ihn hunderttausendfach gesehen hatte. Der Feldgraue, in einen weiten Soldatenmantel gehüllt, eine kleine verknüllte Grabenmütze auf dem Kopf, arbeitete still für sich, inmitten eines weiten, rauchenden Ackers.
Es war so düster, daß zuweilen kaum die Umrisse des Feldgrauen zu erkennen waren. Er war groß, sein knochiges Gesicht von einem kurzen Stoppelbart eingerahmt. Ohne Unterbrechung, ohne aufzublicken hob er mit einem Spaten die Erde aus. Ein riesiger, in der Erde vergrabener Stein kam zum Vorschein, und allmählich bekam man eine Vorstellung von der Größe des Steins. Er war etwa so groß wie die Drehscheiben, auf denen man Lokomotiven bewegt. Manchmal schien er auch etwas kleiner, manchmal größer zu sein. Jedenfalls war er ungeheuer groß, und man wußte ja auch nicht, wie tief er in der Erde stak.
Der Feldgraue nahm nunmehr ein Stemmeisen zur Hand, eine schwere Deichsel mit einem Eisenschuh, rammte sie unter den Stein und warf sich mit aller Wucht dagegen. Der Stein rührte sich nicht. Unverdrossen nahm der Feldgraue wiederum Pike und Spaten in die Hand und grub das Loch um den Stein herum tiefer. Ein ganzes Gebirge von Erde warf er aus, und es war wunderbar zu sehen, wie gleichmäßig, ruhig und hingegeben er arbeitete. Wiederum setzte er das schwere Stemmeisen an, und siehst du, nun bewegte sich der Stein eine Idee! Am Rande des Steins zeigte sich ein feiner Riß im Boden. Es war also kein Zweifel, der riesige Stein hatte sich bewegt! Abermals warf sich der Feldgraue mit voller Wucht gegen das Stemmeisen. Zum ersten Male wandte er Ackermann voll das Gesicht zu. Deutlich war zu sehen, daß es in Schweiß gebadet war, in den Augen hatte sich der Schweiß angesammelt, so daß sie schneeweiß erschienen. Mit einer ungeheuren Anstrengung drückte der Feldgraue das Stemmeisen nieder, die Adern an seinen Schläfen schwollen an – ah, schon bewegte sich der Stein deutlicher. Unmerklich war er auf der einen Seite eingesunken und auf der andern Seite in die Höhe gestiegen.
Der Feldgraue wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht, und mutig nahm er die scheinbar aussichtslose Arbeit wieder auf.
Doch was ist das? Er hält im Schaufeln inne und berührt seine Backe. Eine blutige Schramme ist entstanden, und das Blut rieselt in einem dünnen Faden herab über seinen Hals. Verwundert schüttelt der Feldgraue den Kopf. Es ist ganz merkwürdig, was geht vor? Plötzlich wird ein Stück von dem grauen Mantel abgerissen: ah, er ist im Feuer, er arbeitet im Feuer, dachte Ackermann, er wird beschossen. Deutlich sieht er, wie einen Augenblick später auf seiner Stirn eine klaffende Wunde entsteht. Das Blut stürzt heraus, und rasch ist die eine Hälfte des ganzen Gesichts vom Blut überzogen. Der Feldgraue aber arbeitet ruhig weiter. Er legt sich mit ganzer Gewalt gegen das Stemmeisen, und nur zuweilen fährt er mit dem Ärmel übers Gesicht, wenn das Blut ihn stört.
Es geschieht das Unglaubliche: es ist ihm gelungen, den riesigen Stein in eine schräge Lage zu bringen. Voller Raserei wirft er sich nun mit dem Rücken dagegen und versucht, den Steinriesen vollends in die Höhe zu heben. Es geht – ein wenig – aber da fällt der Stein wieder in die frühere Lage zurück.
Erneut beginnt der Feldgraue sein Werk, unverdrossen. Seine Hände und sein Gesicht sind von Blut und Schweiß überzogen, aber er kümmert sich nicht darum. Plötzlich zerreißt sein Waffenrock an der Brust, er hält einen Augenblick inne, legt die große Hand auf die Brust, und schon stürzt ihm das Blut aus dem Mund. Aber gleich darauf nimmt er wieder die Arbeit auf. Wiederum stemmt er sich mit dem Rücken gegen den Stein, und siehe da, er hebt ihn hoch, so unmöglich es auch erschien. Nun steht er schräg wie ein Dach, aber alle weiteren Anstrengungen sind umsonst. Der Feldgraue streicht um den Stein herum, schüttelt den Kopf, wischt sich das Blut aus dem Gesicht und vom blutigen Mantel, schaufelt und macht von neuem verzweifelte Versuche, aber der Stein bewegt sich nicht mehr.
Aber nun, was geschieht? Jemand kommt, jemand ist hinzugetreten. Es ist ein kleiner Mann, ebenfalls ein Soldat, mit raschen, herrischen Bewegungen. Offenbar ein Vorgesetzter. Er gestikuliert heftig, treibt den Feldgrauen zur Arbeit an. Und plötzlich erinnert sich Ackermann, daß dieser kleine Mann mit den herrischen Bewegungen schon vorher einmal im Nebel sichtbar geworden war. Nur für einen Augenblick.
Wiederum stemmt sich der Feldgraue mit aller Gewalt gegen den riesigen Stein, aber es geht nicht. Wieder wendet er Ackermann das Gesicht zu. Es ist von Blut übergossen, ebenso wie seine Brust, die Augen sind blutunterlaufen, und bei der ungeheuren Anstrengung quillt das Blut zwischen seinen Lippen hervor. Plötzlich – plötzlich springt der kleine Mann mit den herrischen Bewegungen zornig hinzu, schwingt eine kurze Riemenpeitsche und – ah – schlägt damit den Feldgrauen übers Gesicht. Er schlägt wieder und wieder und gerät in förmliche Raserei. Der Feldgraue aber verdoppelt, verdreifacht seine Anstrengungen. Er schwankt, taumelt ein paar Schritte und fällt zu Boden. Ohne Bewegung, ohne Zeichen von Leben liegt er da.
Ist er ohnmächtig geworden? Ist er tot?
Der kleine Mann mit den herrischen Bewegungen geht näher an den Feldgrauen heran. Er stößt mit dem Stiefel gegen die Schulter des Regungslosen. Er ist nun plötzlich um vieles kleiner geworden, und der Feldgraue um vieles größer. Wie ein Zwerg zu einem Riesen verhält der kleine Herrische sich zu dem Feldgrauen. Er klettert auf den Regungslosen hinauf, um ihm ins Gesicht blicken zu können. Er steht auf seiner Brust, schwingt die Peitsche und schreit …
Aber der Regungslose, Blutüberströmte, antwortet nicht. Seine Zähne blinken im Nebel. Da ist sein Spaten, sein Hebebaum, dort der Stein, der halb aufgerichtet in den Nebel ragt. Aber er regt sich nicht mehr, er antwortet auch nicht.
Sein Stillschweigen versetzt den Kleinen mit den raschen, herrischen Bewegungen abermals in rasenden Zorn. Er klettert höher auf der Brust des Riesen, hält sich an seinem Mantelkragen fest und hebt den Stiefel, um damit nach dem regungslosen, blutüberströmten Gesicht mit den blinkenden Zähnen zu stoßen …
Da erwachte Ackermann.
Es wurde nun in der Tat deutlich lichter. Gelb wie Lehmwasser floß das Morgenlicht am Fenster.
Schon ratterte ein Wagen auf der Straße.
Der kleine Herr Herbst hatte, seit ihn Ackermann verließ, die Nacht zwischen Schlaf und Wachen verbracht. Vielleicht hatte er auch geschlafen, er wußte es nicht. Sein Körper war mit Schweiß bedeckt, aber das Fieber schien gebrochen zu sein.
Still lag das Haus.
Diese kurze Stille vor dem Morgen liebte er. Wie oft hatte er in dieser Stille in seinem Bette gesessen, und die Hände gerungen und das befreiende Weinen geweint, das ihn beruhigte.
Deutlich hörte er, wie Ackermann sich in seiner Bettstelle hin und her wälzte, aber nun war es still bei ihm. Auch bei Hähnlein war es still, ganz still.
Der tote Briefträger, der Veteran von Siebzig, mußte in sein Reich zurückweichen vor dem Licht, alle Nachtgespenster mußten weichen. Lieblich war der sanfte Morgen.
Schon aber begann das mit Menschen vollgestopfte Haus zu erwachen. Die Haustüre ächzte und krachte, und der Hausmeister streckte seinen graugelben Pudelkopf in den Morgennebel. Türen schlugen, und Tritte eilten die Treppe hinab. Es wurde geklopft, gerufen, Wasser plätscherte.
Bei Hähnlein – Stille!
Noch vor kurzem hatte er das Atmen hinter der Wand gehört, aber nun war es ganz still geworden.
Kein Laut!
Herbst erhob sich und machte in aller Eile Toilette, es dauerte nicht lange bei ihm. Aber während er sich wusch, nieste er mehrmals und hob die kleine Nase in die Luft. Gas, wie? Ja, es roch nach Gas.
Deutlich, deutlich spürte er den Gasgeruch.
Auf dem Korridor war der Geruch noch stärker. Ängstlich schlich er sich zur Türe.
In diesem Augenblick öffnete Ackermann die Türe und streckte den Kopf heraus. Auch er zog die Luft ein.
»Es riecht so stark nach Gas hier?« sagte er.
»Ja, stark nach Gas!«
Hm. Ackermann trat halb angekleidet auf den Korridor heraus.
»Haben Sie den Gashahn offen gelassen?«
»Ich? Nein, nein«, erwiderte Herbst, die Hand schon am Drücker der Türe.
»Vielleicht Hähnlein –?« fragte Ackermann leise, stockend, und sein erschrockener Blick wandte sich auf Herbst.
»Wir wollen nachsehen –«
Aber Herr Herbst hatte keine Lust nachzusehen, nein, nicht die mindeste – diese Stille – er rannte die Treppe hinab. Schon polterten Ackermanns Fäuste gegen Hähnleins Türe.
Furchtsam eilte er die neblige Fabriciusstraße entlang. Deutlich entsann er sich nun, daß er von Hähnlein geträumt hatte. Deutlich! Ganz deutlich! Hähnlein war mit einem Messer in der Hand die Treppe hinabgestürzt, ja deutlich erinnerte er sich jetzt daran – er hatte sich gegen die Wand geworfen, um ihm aus dem Wege zu gehen.
Schon verlor sich der Havelock im Labyrinth der Straßen wie jeden Tag.
6
Siehe, deine Welt, Langmütiger!
Hunderte und Tausende flüchten täglich voller Verzweiflung aus diesem Leben.
Öffne die Augen und sieh: Jammer!
Öffne die Augen und sieh: Schande!
Lausche! Das Geschrei der Folterknechte, das Geschrei der Gemarterten, das Jammern der Witwen und Waisen. Ströme von Tränen rauschen dahin, Flüche verfinstern das Licht.
Siehe deine Völker: Mörder!
Die Heere der betörten Sklaven, vorwärtsgepeitscht von ihren Verführern, zerfleischen sich noch immer. Noch immer gibt es Granaten, Torpedos, Gas, Flammenwerfer, noch immer werden Männer und Frauen füsiliert, noch immer werden täglich Gefangene – welches Wort! – zu Tausenden wie Sklaven verschleppt. Schiffe sinken in die Tiefe, Kathedralen gehen in Flammen auf, Tausende von unschuldigen Kindern verhungern an jedem Tag. Aber auf den Kirchen Europas funkeln golden die Kreuze! Und wie lange willst du noch zögern?
Die Nebelfetzen zerflatterten, schon glänzte ein rotes Dach. Riesige Firmenschilder blinkten oben an den Nebelburgen, Fensterreihen blitzten. Die Häuser wurden farbig, rote Gesichter erschienen in den Türen. Plötzlich strahlte die Sonne. Und die bunten Flaggen flatterten wieder heiter im Morgenwind.
Dampfend und glitzernd stieg die Stadt aus dem Nebel empor. Tau lag auf den Straßen, tropfte von den Bäumen, die Dächer glänzten naß. Die Brillen der Straßenbahnführer waren beschlagen, Tau hing an ihren Schnurrbärten. Die Tritte hinterließen Spuren auf den feuchten Bürgersteigen.
Langsam wanderte Ackermann durch die Straßen, bald dahin, bald dorthin ließ er sich treiben – nicht mehr sein ungeduldiger, stürmischer Schritt. Wozu Eile? Er war am Ziel.
Heute abend würde er nicht mehr in sein Zimmer zurückkehren – Gott allein wußte es, was mit ihm geschah …
Beglückt sog er die frische Morgenluft ein, wie Dampf kam der Atem aus seinem Munde. Tau hing an seinen Wimpern. In der letzten Zeit hatte er sein Äußeres vernachlässigt, aber heute morgen hatte er sich rasieren und die etwas langgewordenen Haare stutzen lassen.
Schwach ging der Pulsschlag der sterbenden Stadt. Nicht mehr das Brausen und Donnern des Friedens, wenn sie erwachte. Frauen, Kinder und Greise besorgten die Geschäfte, kutschierten die Gespanne, zogen Karren und Wagen. Vor den Geschäften standen, wie jeden Morgen, die langen Reihen der Weiber mit Töpfen und Markttaschen. Hin und wieder rollten Heeresautomobile, schwer beladen, polternd vorüber.
Bald war Ackermann wieder in seine Gedanken versunken. Ja, so wird es sein! Sie, die Reinen, Gläubigen, Hoffenden, werden eine Gemeinschaft bilden, wie die Apostel, die das Christentum in allen Ländern verbreiteten. Es wird genau sein wie seinerzeit.
In die Schulen werden sie gehen, die Apostel, und predigen: Die Würde des Menschen ist das oberste Gesetz! Heilig das Menschenleben und unantastbar! Alle Völker sind Brüder, und die Vernunft ist das Vaterland aller Menschen. Sie werden die Lüge aus den Schulbüchern verbannen, sie werden auf die Tugenden der Nachbarvölker hinweisen und nicht auf ihre Schwächen.
Dies und hundert anderes werden sie lehren, werden es in die Seelen der Jungen, der Keuschen und Unverdorbenen pflanzen. Bei ihnen werden sie beginnen. Fluchbeladen sinkt die alternde Generation dahin, erwürgt von Gram und Schande.
In die Kirchen werden sie gehen, die Apostel, und den Gläubigen die neue alte Lehre predigen – in die Fabriken, Kasernen, Gefängnisse, Dörfer – überall werden sie sein. Keine Landesgrenzen wird es für sie geben, sie gehen hin und her, wie sie wollen. Sie sprechen alle Sprachen, in allen Ländern, allen Kontinenten werden sie morgen die Arbeit beginnen. Arm werden sie sein, verachtet, die Liebeglühenden, arm wie Bettelmönche, geächtet und verfolgt.
Sie bereiten das Reich vor, das kommen wird! Glückliche, gütige Menschen, ohne Mißtrauen, ohne Neid, ohne Hochmut werden es bewohnen. Kein Mensch wird fortan der Unterdrücker eines andern sein, kein Volk der Unterdrücker eines andern Volkes, für immer ist die Zeit der Sklaverei dahin.
Freiheit, Freundschaft, Freude wird der Gruß des neuen Menschen lauten.
Und die Erde wird ein Garten sein! Alle Kräfte, dienstbar heute der Bewaffnung und dem Kriege, werden dem Frieden und der Wohlfahrt dienen. Die Wüsten werden blühen, der Sand selbst wird Früchte tragen. Ja, ein Garten die Erde.
Haubitzen, Bombenflugzeuge, Panzerkreuzer, Unterseeboote, wo sind sie hin? Wie ein Spuk werden sie sein, ein Spuk aus einer finstern, unbegreiflichen Zeit.
Deinen Glanz sehe ich, den Glanz deines Friedens und deines Glückes, ich sehe ihn schimmern – Reich der Zukunft, Reich der Freude, Reich des Menschen, ich betrete dich …
Da hielt Ackermann den Schritt an. Eine Stimme rief in seinem Innern und mahnte. Erschrocken fuhr er aus seinen Träumereien auf, bereit, der Stimme zu gehorchen, die aus seinem Innern drang.
Schritte kamen, trappelten. Er wandte den Kopf. Um die Straßenecke bog ein Trupp von Männern in abgetragenen, zum Teil zerlumpten Zivilkleidern, die von einem Unteroffizier geführt wurden. Nicht viel waren es, kaum hundert. Sie trugen Pappschachteln, es war Ersatz für die Kasernen. Nein, nicht das Reich des kommenden Menschen, nicht sein Schimmer, sein Glanz, armselige, trostlose Gegenwart.
Stumpf trotteten die Männer dahin, teilnahmslos, geduckt unter ihr Schicksal, bereit zu sterben, wenn man es forderte, bereit zu töten, wenn man es verlangte, bereit zu allem. Alte Männer, eisgrau, einige plattfüßige aufgeschwemmte Dickbäuche, ein paar spindeldürre Bebrillte, schwindsüchtige Kaufleute und Studenten, freche Burschen mit Diebesgesichtern, ein Zwerg in großen Stiefeln, ein Kranker mit zerfressener Nase, ein Buckliger, ein Hagerer mit nur einem Auge. Und ein Bleicher, ganz Bleicher, der den Blick voller Scham zu Boden richtete, bildete den Schluß. Die Stiefel schlürften, schallten, die Knie bewegten sich automatisch, die Pappschachteln schaukelten hin und her.
Die in Lumpen gehüllten Weiber, die die Straße reinigten, lachten und schrien.
»Ihr werdet es schaffen! Immer rasch!«
Eines der Weiber sprang auf den Kehrichthaufen und tanzte mit dem Besen, daß die schmutzigen Röcke flogen.
»Hahaha! Die Garde kommt!«
»Hohoho!«
Teilnahmslose Blicke, Gelächter, Grimassen. Eine Reihe von Elektrischen hielt den Zug der Ausgemusterten auf. Menschen sammelten sich an, Fuhrwerke stauten sich.
Blitzschnell trat Ackermann einige Schritte vor. Sein glühender Blick flog über die Menschen, die Wagen, den Zug der Armseligen mit den Pappschachteln.
Jetzt? Jetzt?
Gesetzt den Fall – jetzt!
Die Hände in die Luft werfen, schreien, diesen Menschen, die sich hier angesammelt hatten, es zuschreien, diesen armen Krüppeln und Kranken mit ihren Pappschachteln, laut, über den ganzen Platz, so laut, daß Hunderte es hören, Tausende und Zehntausende es am Abend wußten –?
Er erbleichte. Angst schnürte seine Kehle zusammen, nicht eine Silbe hätte er hervorbringen können. Er schwankte – schon bei dem Gedanken. Jetzt würden sie über ihn herfallen, der Unteroffizier, wahrscheinlich sogar die Männer mit den Pappschachteln und der Schutzmann dort, er würde herbeieilen und ihn zu Boden schlagen.
Aus einem Straßenbahnwagen starrten ihn erschrocken ein Paar große Augen an, eine alte, zitronengelbe Frau.
Er hatte in der Erregung eine unwillkürliche Bewegung mit den Armen gemacht, und diese Bewegung hatte den Blick der Frau auf ihn gelenkt.
Die Straßenbahnwagen klingelten und rollten weiter. Wieder bewegten sich die Knie der Männer mit den Pappschachteln, ihre Rücken drängten sich zusammen. Die Menschenknäuel lösten sich, zerrannen. Die Wagen fuhren. Der Schutzmann betrachtete interessiert eine geschminkte Dame, die ihm zulächelte.
Ackermann stand allein auf dem Trottoir, müde plötzlich, ein leises Beben in den Gliedern. Allmählich erst kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück. Langsam, die Pupillen geweitet, ging er weiter.
Hier? Wie unsinnig wäre es gewesen! Sinnlos, ohne jeden Widerhall. Menschenmassen mußten es sein, wimmelnde Menschen, aufhorchend, in deren Ohren sein Schrei weitergellte, so daß ihr Herz erbebte. Die seinen Schrei durch Berlin trugen in alle Häuser: über die ganze Stadt mußte sein Schrei hingellen.
Nein, nicht einen Augenblick hatte er ernsthaft daran gedacht. Aber wie war es möglich, daß ihn der Gedanke allein schon so tief erschreckte, daß sein Herz stehenblieb?
Neben einem Pumpbrunnen, wo ein Droschkenkutscher sein Pferd tränkte, stand eine Bank. Darauf setzte sich Ackermann. Er streckte die Beine aus, die noch ein leises Zittern schwächte. Die Sonne blendete in sein Gesicht. Es war weiß, durchsichtig, und Spuren von Sommersprossen waren im grellen Licht zu erkennen.
Schrecken erfüllte ihn.
Entsetzen!
War er das? Nach allem –?
Mit geweiteten Augen sah er zu, wie die grauhaarige Pferdeschnauze gierig ins Wasser tauchte.
Was für einen Sinn sollte es haben, daß einer sich vor die dahinrasende Maschine warf und sich von ihr zerfleischen ließ? Und weshalb gerade er? Vielleicht hatte ihn die innere Stimme nur genarrt, ihn bis zu diesem Punkte geführt, damit er seine Schwäche und Ohnmacht erkenne.
Wie?
Vielleicht, vielleicht.
Er saß wie gelähmt. Das alte Pferd bleckte die gelben Zähne nach ihm.
Leise schloß Ruth die Türe ihres Zimmers hinter sich.
Sie war voller Unruhe.
Abermals hatte sie den großen, beobachtenden Blick Papas auf sich gefühlt. Wie schon seit Tagen. Gestern abend sah sie ihn im Spiegel: groß, hell, lauernd und drohend.
War er argwöhnisch geworden, Papa?
Vielleicht hatte die Zigarrenspitze, die sie neulich in ihrem Zimmer fand, doch etwas zu bedeuten?
Plötzlich errötete sie. Und der Brief? In einem Buch lag ja ein Brief von Karl! Schnell, wo ist er? Am Ende war er fort? Am Ende hatte Papa diesen Brief gefunden, gelesen. War er nicht einmal ganz plötzlich in ihr Zimmer gekommen, als Dora bei ihr Tee trank? Sie hatte diesem Vorfall ja nicht die geringste Bedeutung beigelegt, gar nicht weiter darüber nachgedacht. Ach, sie haßte Papa! Ja, wahrlich, sie haßte ihn! Man kannte nie seine Gedanken. Sein Blick prüfte, tadelte, sein Blick entmutigte, sein Blick erstickte jede harmlose Freude.
Nein, sie haßte Papa natürlich nicht, er hatte gewiß seine guten Eigenschaften, er war charaktervoll, wie wenige Menschen, pflichtgetreu, stolz, verschlossen, ehrenhaft vom Scheitel bis zur Sohle, nein, nein, sie wollte gar nichts sagen. Er war verbittert, unglücklich vielleicht, trug sein Leben ohne zu klagen. Nie hatte sie eine Klage von ihm gehört. Er schwieg. Aber wie gerne hätte sie doch Zutrauen zu ihm gehabt, volles Vertrauen, wie zu einem erfahrenen, erprobten Freund. Ja, so sollte es sein! Aber es war gerade umgekehrt: anstatt sich ihm anvertrauen zu können, mußte sie sich vor ihm verbergen. Es war natürlich auch sein Verhalten Mama gegenüber, das sie gegen ihn einnahm. Nie konnte sie ihm verzeihen, daß er jahrelang mit solcher Erbitterung gegen die Arme prozessierte. Aber sie war ja jetzt reifer, sie verstand das Leben jetzt besser und wußte, daß es viele unglückliche Ehen gab, und doch beide Teile ehrenhafte und gütige Menschen sein konnten. Nicht das war es, es war – undefinierbar. Seine Nähe bedrückte, sie verwandelte, das Leben erschien plötzlich so schwer und ernst.
Sie fand es überaus häßlich, daß er in ihr Zimmer gekommen war, seinerzeit. Und die Zigarrenspitze? Papa rauchte die Zigarren in Papierspitzen mit Gänsekielen. Eines Tages hatte sie eine solche Papierspitze auf ihrem Schreibtisch gefunden. Sie hatte sie achtlos zum Fenster hinausgeworfen. Vielleicht war sie auch von einem der Burschen hereingebracht worden?
Aber hier war ja Karls Brief. Gottlob, sie atmete auf.
Er lag noch an derselben Stelle, zwischen denselben Seiten des Buches, unberührt. Sie las den Brief, sie drückte ihn an die Lippen.
Ja, Karl war einer von den Kommenden, nicht einer der Vergehenden. Er hatte Wille und Ziel. Und was er wollte, war gut. Alle Welt liebte ihn, seine Freunde beteten ihn an, er hatte keinen einzigen Feind. Sie, die sie selbst schwankte, klammerte sich an ihn, er gab ihr Halt. Glücklich würde sie mit ihm sein.
Aber weshalb war Papa in letzter Zeit so aufmerksam – fast zärtlich? Weshalb sagte er ihr so oft, daß sie bleich und nervös sei und nach Babenberg gehen solle? Einmal legte er sogar die Hand um ihre Taille – seit Jahren war es nicht mehr der Fall, oh, sie erinnerte sich deutlich dieser ihr (damals!) so schrecklich unangenehmen Liebkosung, sie lebte ganz dem Andenken Mamas. Er fragte, ob sie keine Wünsche habe, ob sie nicht etwa Lust zu einer Reise habe, vielleicht nach der Schweiz? Er habe eine gewisse Summe für sie bereitgelegt. Nein, sie brauchte nichts, gar nichts, hatte gar keine Wünsche.
Ach, wie häßlich sie doch war! Kümmerte Papa sich nicht um sie, so nannte sie ihn kalt und herzlos – kümmerte er sich um sie, so war sie sogleich argwöhnisch.
Ja, ganz unmöglich, den großen prüfenden Blick des Generals zu ergründen!
Er atmete Haß in diesen Wochen, er atmete Liebe.
Ja, er haßte Ruth zuweilen mit einem furchtbaren und grundlosen Haß, der ihm unerklärlich war, und den er bereute. Ihre Mutter, ganz ihre Mutter! Die gleichen hysterischen Augen, wie sie voller Geheimnisse, in die niemand eindringen durfte, wie sie eingesponnen in eine sonderbare, unerforschliche Welt. Wie sie rasch und ohne Überlegung Impulsen folgend. Wie sollte sie anders sein? Man bedenke, eine Dame, die sich von einem Offizier, den sie erst wenige Tage kannte, von einem Ball entführen ließ, die sich soweit vergessen konnte – nun, gewiß, ein häßlicher und unwürdiger Gedanke, aber trotzdem …
Es war das Blut der Sommerstorf, und unergründlich waren die Rätsel eines Tropfen Blutes.
Beziehungen zu einem schwärmerisch veranlagten jungen Manne – gebildet, zugegeben, aber jedenfalls ohne Rang, ohne Familie, arm – mochten diese Beziehungen noch so unschuldig sein, wie man ihm versicherte – noch so unschuldig –
In Dunkelheiten, voller Schrecken, unklare, verworrene, drohende Dunkelheiten verloren sich seine Gefühle – und dann haßte er Ruth.
Reue, Reue! Er war kein Unhold. Ja, schon bereute er seine Heftigkeit.
Sie war jung, sie dachte selbständig, und das war immerhin anerkennenswert, sie lebte ihr eigenes Leben, war nicht eines jener törichten oberflächlichen Geschöpfe, die nur an Putz und Vergnügen denken. Es war natürlich übertrieben, töricht und im höchsten Maße ungerecht, sie hysterisch zu nennen. Eine Bekanntschaft aus dem Lazarett, etwas Romantik, weshalb urteilte er so streng?
Nun liebte er sie plötzlich wieder, und er grübelte darüber nach, wie er ihr Vertrauen gewinnen könnte. Leider, leider hatte ihm der Dienst zu wenig Muße gelassen, sich mit seinen Kindern beschäftigen zu können. Das rächte sich jetzt. Etwas Vertrauen, und alles wäre in Ordnung! Heute abend wollte er mit ihr nochmals über die Reise nach der Schweiz sprechen. Es war ja eine Leichtigkeit, den Paß zu besorgen …
Nein, unmöglich den prüfenden großen Blick Papas zu ergründen! Ruth versank in die Betrachtung des Bildes der Mutter an der Wand: auch sie hatte diesen Blick gewiß nie ergründen können, nein.
Da klopfte es, und man meldete ihr ein Fräulein Westphal.
Ruth warf das Kinn in die Höhe. »Ich bedaure.«
Seht an! Trotzdem sie ganz die Mutter war, wie der General dachte, wenn er Ruth haßte, trotzdem die Linie der Hecht-Babenberg bei Ruth nicht im mindesten zum Ausdruck kam – die gleiche Stimme in diesem Augenblick, die gleiche, etwas hochmütige Bewegung des Kinns. Trotz allem, trotz allem. Ach, sie bebte vor Unruhe und Erregung heute.
Aber da ging schon die Türe, und eine ihr unbekannte dichtverschleierte Dame, ein schmächtiges, zartes Persönchen trat ein.
»Ich bitte tausendmal –« flüsterte diese tiefverschleierte Dame.
War so etwas überhaupt möglich? Sie hatte, Ruth, deutlich genug bestellen lassen, daß sie heute nicht zu sprechen sei. »Sie wünschen?« fragte sie, kühl, ohne jede Anteilnahme, abweisend, herzlos.
Aber die dichtverschleierte Dame streckte ihre dünnen Arme aus. »Nicht Sie! Nicht auch Sie!« Und schon fiel sie in die Knie.
Sofort aber fand Ruth sich selbst zurück.
»Um Gottes willen!« rief sie aus und hob diese kleine weinende zuckende Person auf, die sie gar nicht kannte. »Was tun Sie? Um Gottes willen! Ich bin sehr beunruhigt heute – ja, wer sind Sie eigentlich?« Und Ruth hob den Schleier der Dame hoch, sah ein blasses verweintes Kindergesicht mit hilflosen Augen – sie kannte es nicht – aber sie küßte es sofort. »Mein Liebling – mein Kleines – aber ich bitte Sie herzlich.«
Ja, nun begriff sie, wer der Besuch war, sie erinnerte sich.
Und Heinz? Sie hatte gehört davon. Ein lieber, frischer Junge.
»Herr v. Meerheim – sie flogen Sperre – er sah die Maschine taumeln – und dachte sich noch, was ist das? Und da stürzte die Maschine schon –«
Ruth preßte Klara an sich.
»Bleiben Sie hier bei mir! Erzählen Sie mir alles, alles. Wir sind Freundinnen. Geben Sie mir Ihre Hand.« Und Ruth führte diese kleine dünne Hand an die Lippen. »Ja, Freundinnen! Auch ich habe Sorgen, hören Sie! Gerade heute bin ich in schrecklicher Unruhe. Ich ertrage diese Stadt nicht mehr und gehe bald aufs Land. Haben Sie Lust mitzukommen, Sie sind eingeladen? Ja, in schrecklicher Unruhe bin ich, ich kann es Ihnen nicht sagen. Deshalb war ich auch so unhöflich! Verzeihen Sie – und nun plaudern Sie, plaudern Sie!«
8
Berlin – wer kennt es nicht? – ist die häßlichste Großstadt der Welt, ganz offen gestanden. Paris, London, Rom, Neuyork, Kioto, Moskau – sind sie von ihren Bewohnern ganz allmählich erbaut worden, Berlin wurde von Unternehmern errichtet, in aller Eile. Von ganz wenigen Gebäuden, einzelnen Straßen und Plätzen abgesehen, ist es als Stadt architektonisch ohne jeden Reiz, ohne Zauber – ein Steinhaufen ohne Grenzen, nichts sonst. Trotzdem besitzt es mehr Badewannen als zum Beispiel Paris, nicht zu unterschätzen, vor dem Kriege genoß es auch den Ruf, die reinlichste Großstadt zu sein. Also die häßlichste der großen Kokotten der Erde, aber am sorgfältigsten gewaschen, immerhin etwas. Die Theater haben ohne Zweifel die besten Spielpläne der Welt, die besten Konzerte – aber sonst, häßlich, nüchtern, ein steinernes Meer. Früher verschwand die Häßlichkeit im Gewimmel der Menschen, im Donner des Verkehrs, im Gegleiße und Geglitzer von hunderttausend Volt, aber heute? Nackt und schmutzig lag die häßlichste aller großen Kokotten vor allen Augen da.
Als die schönste Straße Berlins gelten die Linden. Sie beginnen mit dem Brandenburger Tor und enden mit dem Schloß. Eine Enttäuschung für jeden. Aber vom strategischen Standpunkt aus sind sie ganz ausgezeichnet. Das Schloß liegt auf einer Halbinsel, die Verteidigung gegen das Wasser zu ist ein Kinderspiel, die Linden selbst aber sind wie ein Lineal, breit und gerade – eine Salve Kartätschen, und schon sind alle Schwierigkeiten beseitigt.
Im Jahre 1848 wurde hier gekämpft. Barrikaden – aber, wie gesagt, einige Kartätschen genügten.
Nein, die Linden sind auch nicht die Hauptsache von Berlin, sie sind nichts als ein geschickt kaschierter Festungswall, mit Linden bepflanzt, mit Reitwegen versehen, mit Cafés und Hotels besiedelt – wenig anheimelnd. Eine einzige Kanone, die vor dem Schloß auffährt, und sämtliche Café- und Hotelgäste müssen sofort das Trottoir räumen.
Überall, wo Könige hausen oder hausten, finden sich derartig angelegte Straßen, man braucht nur darauf zu achten. Die Könige lieben einen freien Blick.
In den kalten Schluchten dieser endlosen versteinerten Häßlichkeit treiben die Menschen dahin, Geschäftige und Spaziergänger, und dazwischen lauern die Augen der Verbrecher und Diebe, dazwischen lächeln die Augen der geschminkten Damen, dazwischen funkelt zuweilen ein Auge, das Auge eines Wahnsinnigen oder eines Dichters. Wie in allen Großstädten stehen die Schutzleute und blasen auf ihrer Flöte und bestimmen Ebbe und Flut des Verkehrs. Heute allerdings, die Straßengewaltigen – sie gähnten vor Langeweile und hatten nur noch das eine Bestreben, nicht vor Erschöpfung auf das Pflaster zu stürzen.
In den Steinschluchten dieses endlosen Meeres wanderte Ackermann seit dem frühen Morgen dahin. Er überquerte den windigen Alexanderplatz, den staubigen Spittelmarkt, und schlenderte langsam durch die Schlucht der endlosen Leipziger Straße, die ihre Größe dem Fleiße der Bürger verdankt. Er suchte nur noch belebte Stadtteile auf. Selbst diese Straße, in der der schwache Verkehr der sterbenden Stadt zusammenfloß, früher glattgeschliffen von den Nägeln der Pneus und Tag und Nacht blank gehalten wie ein Matschbillard, selbst sie war heute voller Schmutz. Voller Schmutz waren die verwahrlosten Häuser, die schief hängenden Firmenschilder, die elektrischen Wagen, die verbeult und abgekämpft aussahen wie Tanks, die aus der Schlacht kamen. Obwohl es erst anfing, warm zu werden, strömte die Stadt schon einen übeln Geruch aus. Was für ein Geruch war es doch? Wenn du ihn nicht kennst, besser für dich – es war der Geruch der Verwesung. Genau wie die verlassenen Schlachtfelder roch Berlin.
Hierauf überquerte Ackermann den Potsdamer Platz und bog in die Königgrätzer Straße ein, wo die Bahnhöfe liegen.
Er suchte Menschen, Menschen, Massen von Menschen, und in dieser aussterbenden Stadt würden sie wohl noch am ehesten auf den Plätzen der Bahnhöfe zu finden sein.
Langsam schlenderte er dahin. Die Sonne blendete ihm ins Gesicht. Auf dem Spittelmarkt hatte er einen Teller Suppe zu sich genommen, in aller Ruhe, denn Gewißheit erfüllte ihn, daß alles vollendet sein würde, bevor die Sonne sank. Er hatte sogar geschwankt, ob er nicht in die Dorotheenstraße gehen solle, um Ruth noch einmal zu sehen. Aber er war doch nicht gegangen. Nein, nun war er unterwegs ...
Da! Horch!
Schon?
Trommeln, beim Anhalter Bahnhof – Augenblicklich beflügelte sich sein Schritt. Von plötzlicher Erregung erfaßt, ging er dahin. Deutlich, dumpf noch, aber ganz deutlich.
Trommeln, ohne Zweifel.
Sonderbar wirkt der dumpfe Laut der Trommel auf den Menschen. Er wirft ihn ohne jede Übertreibung um einige Jahrtausende zurück, in Zeiten, wo die Menschen noch mit den Tieren der Wildnis kämpften, zu den Negern am Kongo. Augenblicklich stürmten die Menschen wie in Hypnose über den Anhalter Platz, dem Laut der Trommeln entgegen.
Plötzlich schwiegen die Trommeln, und die Blechinstrumente setzten mit barbarischem Lärm ein.
Ein Menschenhaufe quoll aus der Straße auf den Platz. Waffen blitzten, gleichmäßig schwankende Reihen wurden im Strom der Köpfe sichtbar. Offenbar wurde ein Bataillon zur Bahn gebracht.
Ohne zu überlegen, bebend vor Erregung, nahm Ackermann augenblicklich Aufstellung. Ein alter mürrischer Mann lud an der Straße Pflastersteine ab, und auf eine Reihe solcher Steine stellte er sich.
Der Strom von Köpfen wälzte sich heran, umbrandet vom Tosen der Blechinstrumente, die in der Sonne funkelten. Scharen von Neugierigen drängten hinzu. Dicht neben Ackermann nahmen sie auf der Schicht von Pflastersteinen Platz und reckten sich auf den Zehen. Sogar der alte Mann, der die Steine ablud, hob das mürrische Gesicht.
Im Takt der Musikkapelle zog der Menschenhaufe dem Bataillon voran. Zerlumpte Weiber und verwahrloste Kinder, alte Männer, frühreife Mädchen, bleich, verhungert, das Mal des letzten Elends auf der Stirn – – und doch: Freude glänzte auf allen Gesichtern!
Ackermanns Blick wurde dunkel.
Wirst du bereit sein?
Wird dich die Stunde bereit finden?
Volk, mein Volk, meine Liebe, meine Sehnsucht?
Wie wird dich die große Stunde finden? Ausgehöhlt vom Hunger, ausgeblutet von den Schlachten, ausgefront – wirst du die Kraft haben? Betäubt von Lüge, krank von dumpfer Sehnsucht – wirst du? Die Völker der Erde blicken auf dich! Du bist geächtet, bespien, die Dornenkrone ist auf dein Haupt gedrückt, dein Weg führt durch Tränen, führt durch Hunger und Wahnsinn – zitterst du?
Wirst du straucheln? Wanken? Dahinsinken zu den Unwürdigen? Wirst du auserwählt und berufen sein unter den Völkern, das Reich zu bereiten, das Reich des neuen Menschen?
Grell blitzten die Trompeten, grell schmetterten sie, die roten Backen barsten.
Vorwärts, fort, fort, beeile dich! Meine Liebe und Sehnsucht fliegen vor dir her! Der Ruf erschallt! Lüge, Hoffart, Wahn – wirf ab, wirf ab! Tauche nieder in deine reinen Quellen. Sieh, wie sie funkeln, am Firmament des Gedankens, deine großen Geister! Sie blicken auf dich.
Fort, fort, beeile dich! Die Stunde ist nahe! Laß dein Herz wieder leuchten, das immer aufglühte, wenn die Dunkelheit am tiefsten war. Mehre den Schatz der Völker!
Ich sehe dich auferstehen, ich sehe dich erblühen, sehe dich umringt von brüderlichen Nationen …
Schon wälzte sich der Haufe dicht heran.
Die Musikanten setzten mit einem Ruck die Instrumente ab. Im Zickzack fuhr der Stock des Musikmeisters durch die Luft, und die Trommeln wirbelten wieder.
Reihen von Gewehren, Reihen von Helmen schwankten heran, vorwärts getrieben von einer unverständlichen Kraft, von einem unverständlichen Willen zusammengeballt. Das Bataillon Hähnleins, des Unglücklichen –
Junge Männer, rosige, arglose Kindergesichter, die noch nicht ahnten, daß morgen schon der Tod ringsum war. Wie oft hatte er, Ackermann, den Marsch zum Bahnhof erlebt! Alte Feldsoldaten, mit Auszeichnungen auf der Brust – nein, sie gaben sich keinerlei Illusionen mehr hin – stumpf marschierten sie, genau wie er früher marschierte: stumpf, schweißtriefend, bepackt, zitternd unter dem Blick der Vorgesetzten. Hundertmal mochten sie ihr Leben in die Schanze geschlagen haben, sie blieben trotzdem Tiere, hier wie bei allen kriegführenden Völkern war der gemeine Mann ein Tier, nicht mehr. Einige Frauen marschierten in den Reihen der Soldaten, Bräute, Mütter, Gattinnen, bleich, schwankend, weinend. So zogen sie dahin.
Plötzlich aber –
Plötzlich erscholl eine Stimme!
Woher kam sie?
Niemand wußte es.
Eine Stimme – hell, metallen, durchdringend – sie dröhnte über das marschierende Bataillon, übertönte die Trommeln, den Schritt der Arglosen und Erfahrenen – scholl über den weiten Platz und wurde als Echo von den hohen Häusern zurückgeworfen – die Stimme eines Riesen, eines – ja, bei Gott, was für eine Stimme war es doch?
Und diese Stimme rief, gellend, dröhnend, sie scholl über das summende, brausende Berlin – in alle Ohren gellte diese Stimme.
Diese Stimme rief:
»Es lebe die Kameradschaft zwischen den Völkern!« – Pause, der Platz gellte, Widerhall, Trommeln – »Nieder mit dem Krieg!« – Stille, Gellen, Trommeln – »Alle Menschen sind Brüder …«
Auf einem Haufen von Pflastersteinen stand ein Mensch, ein Soldat in einem weiten grauen Mantel, der flatterte, die Arme wild emporgeworfen, totenbleich, mit rasenden, fanatisch glühenden Augen – seine Hände zuckten – seine Stimme gellte, gellte. Plötzlich aber brach diese rasende gellende Stimme ab.
Der Soldat war verschwunden.
Er lag auf dem Pflaster, ein Knäuel Menschen um ihn herum. Ein grüner Plüschhut rollte über den Bürgersteig.
Eine Sekunde später wurde dieser Mensch im weiten grauen Mantel über das Pflaster geschleift.
Das Bataillon zog weiter. Wieder setzte die Kapelle ein. Die meisten hatten gar nichts gesehen – aber gehört – ja, eine Stimme aus der Luft!
Diese Stimme krallte sich in ihr Herz, zerriß es, daß es zu bluten begann vor Qual und Sehnsucht.
Eine Stimme … Was für eine Stimme –?
Die Stimme des Menschen hatten sie vernommen … Die letzten des Bataillons sahen noch einen Menschenhaufen, der sich den Bürgersteig hinabwälzte.
Der grüne Plüschhut hörte auf zu rollen. Ein schmächtiger junger Mann ergriff ihn, überzeugte sich mit einem raschen Blick, daß der Mensch im grauen Mantel in sicheren Händen war, bürstete den Hut eilig ab – ja, und nun – der Kneifer – er war verlorengegangen. Und der schmächtige junge Mann suchte eilig den Kneifer.
Da hob der alte Mann, man erinnert sich, er lud Pflastersteine ab, dieser Mürrische, den Kopf und sagte:
»Wartet nur noch eine Weile – ihr Halunken!« Und er spie aus.
Der junge Mann geriet sofort in äußerste Erregung, sein Blick glitt suchend über das Pflaster, sein Blick bohrte sich messerscharf in die Augen des Mürrischen.
Aber der alte Mann hob einen Pflasterstein in die Höhe, er lächelte – aber wie! – und der junge Mann wich zurück, und nun lief er rasch, rasch, ohne den Kneifer, zu dem Militärauto, um das der Menschenknäuel sich ballte.
In dieses Militärauto hatte man den Menschen im grauen Mantel gezerrt. Er blutete im Gesicht, aber er wehrte sich nicht. Jede seiner Bewegungen, das Lächeln auf seinen fahlen Lippen, sagte deutlich, daß er nicht gesonnen sei, irgendwelchen Widerstand zu leisten.
Aber unerklärlich – plötzlich, ohne jeden Grund, schlug einer der beiden schnauzbärtigen Männer, die ihn ins Auto schleiften, sinnlos, völlig sinnlos, vielleicht um sich für die Anstrengung zu rächen, mit dem Knotenstock auf den Menschen im grauen Mantel ein.
»Halt, halt!« schrie der schmächtige junge Mann mit dem grünen Plüschhut, der herangeeilt kam.
Aber es war zu spät.
Der Mensch im grauen Mantel – jede Bewegung, ihr seht, ich leiste keinen Widerstand – schlug mit einem furchtbaren Hieb nach dem roten Gesicht des Schnauzbärtigen, stieß noch einigemal in die Luft und sprang aus dem Auto.
Der Schnauzbärtige blutete aus der Nase und war für einige Sekunden benommen, aber der andere Schnauzbärtige zog rasch entschlossen einen Revolver und schoß – sofort schrie eine Mädchenstimme auf, er hatte ein kleines Mädchen getroffen.
Der Mensch mit dem grauen Mantel aber war im Torbogen eines Hotels verschwunden.
Zuerst stürzte der grüne Plüschhut nach, dann der Schnauzbärtige, der geschossen hatte, dann der andere Schnauzbärtige, dessen Nase blutete.
Ein kleiner feister Herr telephonierte in bester Laune im Foyer des Hotels, behaglich das dicke Schenkelchen über das Knie geschlagen. »Höre, mein Kind – ja also nicht später als acht Uhr. Und vergiß nicht, süßes Puppchen –«
In diesem Augenblick erhielt er einen Stoß vor die Brust, und ein junger Mann entriß ihm ohne viele Umstände den Hörer. Militärpolizei.
Vor dem Hotel sammelten sich Scharen von Menschen an. Eine Verhaftung! Und man hatte ein junges Mädchen in das Bein geschossen, das ganz harmlos spazierenging. Heitere Zustände, das mußte man schon sagen. Nun, die Verwundung war ja nicht schlimm, ein Streifschuß, aber bedenken Sie doch – man geht über den Anhalter Platz und riskiert totgeschossen zu werden. Ganz als ob man an der Front sei.
Aber da gab es schon wieder eine neue Sensation. Die Menschen traten plötzlich vom Bürgersteig auf den Platz zurück. Sie starrten in die Höhe.
Unglaublich – dort, dort – aber, bitte, wo?
Ja, dort, dort! Sehen Sie denn nicht?
Ein Mensch!
Ein Mensch auf den Dächern!
Unglaublich!
Ja, in der Tat, zwischen den Schornsteinen und Ventilationsröhren erschien da oben ein Mensch. Ein Mensch in einem weiten Soldatenmantel, ein Soldat.
Die Häuser in der Gegend des Anhalter Bahnhofs sind unansehnlich und häßlich wie in andern Vierteln der Stadt, die Dächer mit Schiefer gedeckt, abgeflacht, dazwischen ein steileres Ziegeldach. Über die abgeflachten Ziegeldächer glitt der Mann da oben rasch dahin, über die steilen Satteldächer dagegen balancierte er vorsichtig von Kamin zu Kamin. Stellenweise schritt er, die Arme wagrecht haltend, wie ein Seiltänzer über den Dachfirst. Blitzschnell kletterte er von einem niedrigen Dach auf ein höheres am Giebel der Brandmauer empor.
Wieder balancierte er wie ein Seiltänzer – hoch oben, im stechenden Sonnenlicht, kreidig Gesicht und Hände, der flatternde Mantel bestaubt. Diesmal schwankte er, die Leute auf dem Platz schrien auf, aber schon hatte er Halt an einer Tonröhre gefunden. Er holte Atem, gegen die Tonröhre gelehnt, blickte mit seinem kreidigen Gesicht, das blutete, auf den Platz herunter, schrie etwas mit gellender Stimme, aber unverständlich hier unten, dann eilte er zum nächsten Kamin. Deutlich sah man, daß er hinkte.
Unten auf der Straße hatte er sich ruhig festnehmen lassen, aber nun, seitdem man mit einem Knotenstock völlig sinnlos auf ihn eingeschlagen hatte, schien er entschlossen zu sein, zu flüchten.
Nun glitt er zur Hälfte über ein Ziegeldach und kroch in eine Dachluke.
Die Zuschauer atmeten auf. »Er ist verschwunden!«
Aber schon nach einigen Sekunden erschien er wieder in der Dachluke. Er glitt bis zur Dachrinne herab und lief, wie eine Katze, buchstäblich, auf der Dachrinne dahin. Die Ausrufe erstarben auf den Lippen, die kleinen Verkäuferinnen preßten die Hand aufs Herz.
Gleich darauf tauchte in der Dachluke die Mütze eines Schutzmannes auf, begrüßt vom Gelächter der Zuschauer. Der Mann im grauen Mantel kletterte abermals den Giebel der Brandmauer empor und lief über das Dach des Eckhauses.
Tausende von Neugierigen hatten sich angesammelt. Es waren Züge angekommen, und die Reisenden standen gaffend und blinzelnd auf dem Platze. Das war Berlin, siehst du! Kaum kam man an, so gab es schon etwas zu sehen. Man hatte ja gelesen, daß zurzeit in Berlin häufig Deserteure auf dem Transport entflohen, sogar Passanten waren bei diesen Vorfällen schon erschossen worden. Brich das Genick, du Spitzbube! Ja, das war Berlin, man konnte wenigstens etwas erzählen. Ein Haar, und er wäre abgestürzt.
Rote Gesichter reckten sich aus den Wagen der Straßenbahn, aus allen Fenstern der umliegenden Häuser. Die Kutscher verdrehten den Hals, Kellner, Friseure, Verkäuferinnen stürzten aus Läden und Türen. Messinggelb blendeten die Häuser in der Sonne.
Schutzleute, Soldaten.
Schon stockte der Verkehr. Nur langsam konnten sich die elektrischen Wagen durch die Menschenmenge schieben.
Scharen von Kindern rannten dahin, deuteten zu den Dächern empor und schrien wie besessen: »Dort läuft er! Dort!« Das ganze Stadtviertel war auf den Beinen.
Von der Bahnhofshalle her drang der schmetternde Marsch der Regimentskapelle. Nun gellte auch noch die Glocke der Feuerwehr – ein Löschzug!
Hedis Auto war mitten in die Menschenmenge geraten und konnte sich nur schrittweise, ohne Pause tutend, mit seinen Pneus den Weg bahnen.
Der Chauffeur wagte die Vertraulichkeit, sie durch eine Kopfbewegung auf die Ursache der Menschenansammlung aufmerksam zu machen. Da sah sie zu ihrem Schrecken hoch oben – in einer Dunstwolke von rostbraunem Staub – einen Menschen, staubig und kalkweiß, über den Dachfirst laufen.
Hedi kam vom Einkauf: Gardinen, Stoffe, Antiquitäten, es war schwer, etwas Ordentliches zu finden. In allen Geschäften und Magazinen jagte sie umher. Ihr Wagen lag voller Pakete, und neben dem Chauffeur blitzte aus dem Papier ein silberner Spiegel – spanischer Barock, etwas beschädigt, aber, nach ihrer Ansicht, zauberhaft, ein Traum!
Hedis Herz pochte. Bei Gott, es war die gleiche Querstraße, wo sie einst, im Sommer, Otto das Abschiedssouper gegeben hatte.
»Fahren Sie!«
Eine schweißtriefende Zeitungsfrau drängte sich in diesem Moment, einen Pack noch nasser Zeitungen unter dem Arm, am Auto vorüber und schrie mit gellender Stimme dicht an Hedis Ohr:
»Die Marne abermals überschritten!«
»Die Marne abermals überschritten!«
Hundert gierige Hände streckten sich ihr gleichzeitig entgegen. Sie drehte sich im Kreise, wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel von der Stirn.
»Hier, bitte, geben Sie!«
»Die Marne – sofort, junge Frau – abermals überschritten.« Ihre gellende Stimme übertönte den Marsch der Kapelle auf dem Bahnhof.
Das Auto rückte an. Hedi konnte gerade noch das Blatt ergreifen.
Sie warf noch einen flüchtigen Blick in die Höhe – da sah sie gerade, wie der Mann auf dem Dachfirst plötzlich schwankte – hatte man geschossen? – schwankte – mit den Händen in die Luft griff und über das steile Dach herabstürzte. Eine Sekunde wurde der Körper von der Dachrinne aufgehalten, dann fiel er … Hedi bedeckte die Augen mit der Hand.
Die schweißtriefende Zeitungsfrau raste dem Bahnhof zu und schrie gellend:
»Die Marne abermals überschritten! Die Marne abermals – –«
9
Vorgestern nicht, gestern nicht – aber jetzt, jetzt kam sie die Fabriciusstraße herauf.
Sie hielt zuweilen inne, als zögere sie, blickte sich um, aber sie kam doch immer näher.
Herr Herbst kletterte die Treppe empor, bis zur Türe. Er wohnte nicht mehr hier, hatte das Quartier in diesem Unglückshause geräumt. Er wohnte jetzt in einer kleinen Kammer im »Löwen von Antwerpen«. In einem ganz winzigen Raum, aber doch zog er ihn diesem Zimmer vor.
Schon hörte er ihren Schritt, das leichte Keuchen ihres Atems. Sie ging ganz anders als alle Frauen, die diese Treppe auf und ab stiegen. Die Sohlen ihrer Schuhe waren dünner, sie vermied jeden Lärm und hielt sich nie am Geländer fest.
Herr Herbst trat vor, beugte sich über das Geländer. Sie sah ihn an, hielt inne, leise keuchte ihr Atem.
Herr Herbst lüftete den steifen Hut: »Sie suchen gewiß Herrn Ackermann?« fragte er.
»Ja«, hauchte sie.
»Er wurde verhaftet –«
»Vorgestern verhaftet –«
Nun berührte sie plötzlich mit den Fingerspitzen das schmutzige Stiegengeländer, und das Blut wich aus ihren Wangen. Ganz langsam. Zuerst wurde sie fahl, dann weiß wie Mehl. Dann verloren ihre Augen die Farbe, auch sie wurden weiß.
Schwere Kämpfe, außerordentlich schwere Kämpfe!
Fleisch von seinem Fleisch. Blut von seinem Blut …
Herr Herbst beugte sich über das Geländer und sah ihr tief in die Augen. Immer noch wurde sie weißer – ihre Hand griff zu.
Und bald, bald würde man auch sie – der Magere, Schmächtige hatte es ihm zugesagt. Und diese Schande für die Familie ...
Heute abend, es war Sonnabend, würde er den Munitionsarbeiterinnen im »Löwen von Antwerpen« etwas zum besten geben. Und auch er würde ein Fläschchen trinken. Er besaß ja immer noch Geld, Gott sei Dank, zwei Brieftaschen, eine kleine für die laufenden Ausgaben und eine große, in der sich die blauen Scheine befanden, noch immer eine ganze Anzahl. Heute abend sollte ihm nichts zuviel sein.
Dabei hielt er den Hut gelüftet, und sein Blick versank in diese Augen, die die Farbe verloren, den Blick.
»Hier?« hauchte eine zitternde Stimme.
»In der Stadt. Beim Anhalter Bahnhof.«
»Haben Sie es gesehen?«
»Ein Bekannter hat es mir erzählt.«
Sie wandte sich ab, ging, Schritt für Schritt, und immer noch ganz leise und lautlos.
Er beugte sich weit über das Geländer und sah ihren kleinen braunen Hut um die Ecke biegen.
Plötzlich lief er mit den Bewegungen eines Hampelmannes hinter ihr her.
»Hören Sie, noch etwas.«
Sie wandte ihm ihr mehlig weißes Gesicht zu.
Herr Herbst beugte sich über das Geländer. Und nun stieß er ihr das Messer ins Herz!
»Er ist tot!« flüsterte er, ganz leise, aber so deutlich.
Das mehlige, weiße Gesicht verschwand – und plötzlich eilte ein lauter, harter Schritt, blitzschnell die Treppe hinab. Immer rings um das Treppengeländer.
Aber dies war zuviel für Herrn Herbst. Dieses rasende Klappern der Schuhe vertrug er nicht. Im Nu stürzte ihm das Wasser aus den Augen.
Was ging hier vor? Er wollte ja gar nicht –
Rasch, so rasch seine zitternden Beine es zuließen – immer war es ihm beim Hinabsteigen der Treppe, als stürze er in einen Abgrund – folgte er den harten, raschen Schritten, die im Stiegenhaus herumgingen.
»Halt, halt – hören Sie –«
»Hören Sie – es war ein unglückseliger Zufall –«
»Hören Sie, pst – einen Augenblick – fliehen Sie aus Berlin – auch Sie will man –«
Aber er vermochte sie nicht mehr einzuholen.
Wie ein Hampelmann eilte er.
»Ich warne Sie – wünsche Ihnen nichts Böses –«
Vergebens.
Die Haustüre fiel ins Schloß, und als er sie wieder geöffnet hatte, da war sie schon, unglaublich, unfaßbar, mindestens sechs Häuser weit entfernt.
Keine Möglichkeit, nicht die geringste Möglichkeit.