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Zürich 1856-1890

An Lina Duncker

Gattin des Berliner Verlegers Franz Duncker.

Liebe Frau Duncker!

Da ich das Buch für Herrn Duncker noch nicht fertig habe, so will ich einstweilen noch an Sie schreiben und zu Händen Ihres werten Hauses Ihnen anzeigen, daß ich mich schon seit vier Wochen zu Hause befinde und meine liebe Mutter und Schwester wohl und munter angetroffen habe. Erstere ist sehr dauerhaft und hat sich in den sieben Jahren fast gar nicht verändert, sie macht alles selbst und läßt niemand dreinreden; auch klettert sie auf alle Kommoden und Schränke hinauf, um Schachteln herunterzuholen und Ofenklappen zuzumachen. Ich mußte mir eine Serviette zum Essen förmlich erkämpfen, und da gab sie mir endlich ein ungeheures Eßtuch aus den neunziger Jahren, von dem sie behauptete, daß es wenigstens vierzehn Tage ausreichen müsse! Ich kann es wie einen Pudermantel um mich herumschlagen beim Essen. Meine Schwester ist eine vortreffliche Person und viel besser als ich; als ich eines Tages wieder melancholisch war und die Mutter in der Zerstreuung etwas anfuhr, ohne es zu wissen, rückte mir Regula auf das Zimmer und hielt mir eine so scharfe Predigt, daß ich ganz kleinlaut und verblüfft wurde. Beide hatten große Freude, als ich kam, aber ich habe ihnen auch nicht im mindesten imponiert!...

Hier in Zürich geht es mir bis dato gut, ich habe die beste Gesellschaft und sehe vielerlei Leute, wie sie in Berlin nicht so hübsch beisammen sind. Auch eine rheinische Familie Wesendonck ist hier, ursprünglich aus Düsseldorf, die aber eine Zeitlang in Neuyork waren. Sie ist eine sehr hübsche Frau, namens Mathilde Luckemeier, und machen diese Leute ein elegantes Haus, bauen auch eine prächtige Villa in der Nähe der Stadt, diese haben mich freundlich aufgenommen. Dann gibt es bei einem eleganten Regierungsrat feine Soupers, wo Richard Wagner, Semper, der das Dresdner Theater und Museum baute, der Tübinger Vischer und einige Züricher zusammenkommen und wo man morgens zwei Uhr nach genugsamem Schwelgen eine Tasse heißen Tee und eine Havannazigarre bekommt. Wagner selbst verabreicht zuweilen einen soliden Mittagstisch, wo tapfer pokuliert wird, so daß ich, der ich glaubte aus dem Berliner Materialismus heraus zu sein, vom Regen in die Traufe gekommen bin: An diversen züricherischen Zweckessen bin ich auch schon gewesen; man kocht sehr gut hier, und an Raffiniertheiten ist durchaus kein Mangel, so daß es hohe Zeit war, daß ich heimkehrte, um meinen Landsleuten Moral und Mäßigung zu predigen, zu welchem Zweck ich aber erst alles aufmerksam durchkosten muß, um den Gegenstand recht kennen zu lernen, den ich befehden will...

Wir wohnen parterre in einem Garten, am Fuß eines Berges, der von Gärten und Gehölzen bedeckt ist, so daß der Frühling wieder einmal sehr schön für mich werden wird, es ist aber auch Zeit dazu. Nur soll es eine Menge Spinnen geben, die im Sommer aus dem Garten in die Stuben kommen.

Berlin habe ich schon gänzlich vergessen, was sich erwarten ließ. Dennoch sind nicht üble Leute dort, wenigstens zeitweise, und ich danke Ihnen auch besonders für alle mir erwiesene Freundlichkeit...

Darf ich Sie bitten, inliegendes Briefchen etwan auf die Stadtpost werfen zu lassen? Herrn Duncker werde ich bald schreiben und bitte mich bis dahin empfohlen sein zu lassen.

Ihr ergebenster
Gottfried Keller.
Zürich-Hottingen, Gemeindegasse, den 13. Januar 1856.

An Ludmilla Assing

Nichte Varnhagens von Ense, in dessen Haus Keller in Berlin verkehrt hatte.

Zürich, 8. Juni 1870.

Verehrtes Fräulein Assing!

In einer langweiligen Regierungssitzung, in welcher stundenlang debattiert wird, finde ich endlich die Gelegenheit, meiner Sünden zu denken, und da fällt mir vor allem meine beinahe zweijährige Briefschuld aufs Gewissen, die mich Ihnen gegenüber drückt. Wie Sie an diesem Eingang sowie am Papier wahrnehmen können, befinde ich mich ungeachtet der vorübergegangenen Staatsveränderung unseres Republikwesens immer noch in meinem Amte; ich sitze zur Stunde an meinem alten Platz auf dem Rathause; aber seit einem Jahre sieben neue Regierungsmänner um mich her, da alle alten, meine Freunde, durch Volkswahl beseitigt wurden...

Neulich habe ich einen im Herbst 1868 für Sie angefangenen Brief aufgefunden, der unter Schichten von Akten, die sich in diesen stürmischen zwei Jahren gesammelt, vergraben und meinem Gesichte entzogen worden war. Er beginnt, wie alle meine Episteln an Sie, mit Dankesvariationen über die literarischen Zusendungen, Fortsetzungen der Tagebücher und so weiter; ich kann jetzt, da ich mich nicht zu Hause befinde, gar nicht alles aufzählen und mich auch nicht in eine nähere Betrachtung und Würdigung des einzelnen einlassen. Empfangen Sie also mit altem Wohlwollen meinen kurzen Dank für alles...

Verfolgen Sie auch noch ein bißchen die deutsche Literatur? Es ist alles aus Rand und Band, und hundert Talente und Talentchen treiben sich auf offener See herum; aber ich glaube, es wird sich etwa in den nächsten zwanzig Jahren wieder etwas Besseres kristallisieren, da dann doch etwa hundert Jahre seit dem letzten Mal verflogen sind...

In neuerer Zeit lebe ich endlich wieder einmal mehr für meine Person, lese viel und schreibe allmählich wieder. Ich durchgehe alte Manuskripte, mache sogar Verse, kurz, ich übe mich vorsichtiglich, aber behaglich ein, heut oder morgen wieder ein freier Schriftbeflissener zu werden, da mich die Jahre doch zu dauern anfangen, die so dahingehen.

Die Diskussion über eine praktische Steuerschraube, welche meine VII Tyrannen soeben fabrizieren, geht nun zu Ende und damit auch die Zeit, welche ich für diese wenigen Zeilen fand, welche nichts Interessantes oder Schönes enthalten werden, aber Sie wenigstens überzeugen sollen, daß ich schon länger auf einen Augenblick gelauert habe, meiner Pflicht zu genügen...

Leben Sie nun bis auf weiteres wohl, verehrtestes Fräulein, und bleiben Sie nicht ungewogen

Ihrem ergebenen
G. Keller.

NB. Fast hätt ich vergessen: Sie können mir auf der Adresse Doktor schreiben, da ich letztes Jahr, als ich 50 Jahr! alt wurde, einen solchen Spitznamen bekommen habe.

An Regula Keller

Keller hatte in Österreich seine Wiener Freunde, die Exners besucht.

Liebe Schwester!

Nachdem ich zwei Tage in Salzburg gewesen, bin ich seit gestern an einem abgelegenen kleinen Bergsee, welcher der Mondsee genannt wird, und wo ein Rudel Wiener, Herren und Frauenzimmer, in Bauernwirtschaften leben. Wenn es etwas zum Schreiben geben sollte, so ist meine Adresse: G. Keller in See bei Unterach in Oberösterreich.

Heute regnet es unausgesetzt. Du mußt doch sehen, daß Du Äpfel kaufst; wenn sie auch zwanzig oder mehr Franken kosten, so ist es doch besser, man macht diese Ausgabe, als daß man bis zum nächsten Herbst gar nichts dergleichen hat.

Mit besten Grüßen
Dein Bruder
G. Keller.
See, den 16. September 1873.

An Marie Erner

Zürich, den 19. April 1874.

Mit Ihnen will ich nun das Geschäftliche wegen meines Hinkommens besprechen, da Sie doch das Hausmütterchen sind und für die Sachen aufkommen müssen. Also das Schlössel ist mir das beste in jedem Fall, vorausgesetzt, daß es nicht gerade eine Ausspannung für Fuhrleute ist. Wenn ich dann dort bin, so komme ich jeden Tag ein paar Mal zu Euch. Die Hauptsache ist, daß ich am Abend gut versorgt und nicht der Kneipwildnis von Wien überlassen bin oder wenigstens in guter Kompanie ausrücke. Was nun die Zeit betrifft, so schickt es sich für mich im Juli auch am besten; ich würde es dann so einrichten, daß ich etwa zehn Tage in Wien wäre und dann mit Euch an den Mondsee reiste, was ich mir als lustig vorstelle; dann aber nach ein paar Tagen mich seitwärts in die Büsche schlüge. Ich soll noch mit einem andern Wiener, der in Meran hockt, diesen Sommer irgendwo zusammentreffen, was alsdann am besten um jene Zeit geschähe. Wenn Ihnen meine Zusendung wirklich einiges Vergnügen gemacht hat, so bin ich über Verdienen belohnt. Ich würde am liebsten gleich wieder ein Bildchen anfangen, wenn es nicht zu weichlich wäre, zuviel für sein Vergnügen zu tun (husten Sie nicht!)...

Was für eine Teufelei beabsichtigen Sie mir anzutun, daß Sie sich jetzt schon Straflosigkeit sichern wollen? Nun ich werde mir jedenfalls den Schaden besehen, ehe ich amnestiere. Eigentlich werde ich doch nicht viel machen können; es guckt mir soeben ein blühender Kirsch- oder eigentlich Zwetschgenbaum mit der Abendsonne ins Fenster und stimmt mich mild und gnädig, und so sei es Ihnen denn zugesagt! Nur beißen Sie mir nicht geradezu den Kopf ab! Behüt Sie der Himmel auch mit allen Ihren sieben Sachen. Also im Juli werde ich im Hotel Schlössel einziehen, vorher aber nochmals schreiben und fragen, wie die Gestirne stehen.

Ihr ergebener
G. Keller.

An Adolf Exner

Telegramm aus Lammbach vom 7. Juli 1874.
Professor Exner, Wien, Josefstädterstr. 17.

Das Fassel rollt heran.
Keller.

An Marie Exner

Zürich, den 20. August 1874.

Schönste Fräulein Exner!
Verehrteste Anwesende!

Endlich kann ich von meiner neu angetretenen Arbeit ein bißchen verschnaufen, um etwas Nachricht über mein ferneres Schicksal aufzusetzen.

Das erste Abenteuer nach meiner Abreise von Brixlegg war ein Floh vom Hund Haxel, der in meinem rechten Strumpf herumkroch und mich dort unaufhörlich kitzelte. Glücklicherweise war es ein Hebräer, denn er hörte, da es Freitag war, genau mit Sonnenuntergang auf. Nun stand aber zwischen Kufstein und Rosenheim der Zug fast eine Stunde still, so daß ich erst nach elf Uhr in München ankam. Im Hotel Detzer mit einem anderen Reisenden eintretend, wurden wir treppauf in unsere Zimmer geführt, vier, fünf, sechs Treppen, so daß ich kaum mehr schnaufen konnte; endlich wurde der Gefährte in ein Kämmerchen gestoßen, ich aber noch eine Treppe hoher kommandiert, mußte dort unter dem Dach durchkriechen und nun gings eine Hintertreppe wieder hinunter, fünf, sechs, sieben Treppen, bis auf den ersten Stock, wo ich ein schönes großes, wohlausgestattetes Zimmer erhielt und atemlos in einen Fauteuil sank. Ich erhielt nun die Aufklärung, daß man mir vor den anderen Fremden nicht diesen Vorzug habe einräumen dürfen, mich aber noch wohl gekannt und wegen meiner Artigkeit und guten Sitten noch günstig im Gedächtnis bewahrt habe. Seht Ihr, so bin ich angeschrieben im Hotel Detzer! ...

Dann fand ich in München am sechsten oder siebenten Tag das Markenkästchen in meinem Überzieher, nachdem ich denselben auf der Eisenbahn und in München nach allen Richtungen herumgeworfen, verkehrt auf dem Arm getragen usw.; es ist also gern bei mir geblieben und steht deshalb jetzt auf meinem Schreibtisch ...

Nun fließt mein Leben wieder vergnüglich dahin, abwechselnd in holder Leidenschaft und stiller Beschaulichkeit, womit ich verbleibe

Ihr und Euer dankbarer
G. Keller.

An Jakob Baechtold

Germanist und Literarhistoriker, Gymnasiallehrer in Solothurn, der spätere Biograph Kellers. In Luzern waren die beiden Freunde auf der Versammlung der Schweizer Historiker gewesen; mit ›des Schaden buoch‹ ist O. Schades Altdeutsches Lesebuch gemeint.

Trut Wingeselle unde Friunt.

Sit von Lucerne nah Huz geriten, han ih dick an iuwer Profezei gedaht, so ir frilich zevor wizzen kunt, unde han michel Fröide enphachen durh iuwer botschaft, dazz iuwer wirdeklich wirtinne sige eins magetlins genesen. Dizerem wünschen ih ain fruotig wahstum, unz dazz es grozz genuog sin wurd for ain rehten man, sam sin Vater ist.

Hierbi volget des Schaden buoch zurück, uf dazz diu Schuol nit still stat.

Unde han i noch ze berihten, dazz ir ze Lucerne versumt habent den win St. Georgen uz Burgunden ald Sainschors, sam die Franzose sagent. Dizeren Win hant mir unde etlich ander och ze Zurih endachet unde zimelih genozzen.

Zurih, am VI. Tag nah Bettag 1875.

Gotefrid der Schriber,
och Cellerarius.

An Marie von Frisch geb. Exner

Zürich, den 20. Dez. 1875.

Höchst verehrungswürdige Frau Professorin und Mama!

Ich beglückwünsche Sie nachträglich noch eifrigst wegen Ihres Söhnleins in der Hoffnung, es stehe noch alles gut mit demselben, die Gesundheit vortrefflich, die Schönheit unvergleichlich, die Gescheitheit über jeden Vergleich erhaben.

Um aber auf dem Pfade der Tugend eine rechtzeitige Einwirkung zu erzielen und das junge Männlein zu einem männlich tüchtigen Kumpan heranbilden zu helfen, übersende ich Ihnen hiermit ein erstes Trinkgeschirrchen; er wird es freilich noch nicht regieren können. Bis dahin müssen wir einen Notbehelf erfinden. Dazu dienen die Baseler Leckerli, welche Sie in altem Rotwein einweichen, in Lutschbeutel (schweizerisch: Nüggi) packen und auf diese Weise dem Sprößling ins Mäulchen stecken müssen, damit er sich an den Wein gewöhnt.

Hiemit wünsche ich Euch insgesamt fröhliche Weihnacht und ein glückseliges Neujahr!

Herrn Adolphus werde ich bald einmal schreiben; inzwischen danke ich ihm für den Brief aus Gödöllö und namentlich für die Photographie der schönen Dame. Für die wiederholten Geschenke dieser Art (er schickt mir nämlich immer Photographieen von Schönheiten, die er kennen und lieben gelernt hat) werde ich ihm die Stöpsel der Champagnerflaschen sammeln und schicken, die ich habe trinken helfen, um nur einigermaßen das Gegengewicht zu halten.

Befolgen Sie meinen Rat mit den Lutschbeuteln, damit keine Zeit verloren geht und, bis Sie ein zierliches Matrönlein mit weißen Haaren sind, der Sohn ein tapferer ältlicher Weinzapf mit purpurner Nase geworden sein wird, der das Mütterchen ehrt und schätzt und immer noch eins trinkt, wenn er sie nur ansieht. Ich selber saufe leider nicht mehr viel; bleibe wochenlang in meinem Hochsitz abends zu Hause und trinke Tee. Nächstes Jahr habe ich vorläufig vor, meine Schreiberstelle zu quittieren und ganz den sogenannten Musen zu leben. Ich bin nun so alt, daß es nicht mehr so schlimm gehen kann ohne eine solche Philisterversorgung, und die schönen langen Tage und Wochen fangen mich doch an zu schmerzen, wenn ich immer vom Zeug weg ans Geschäft laufen muß.

Wenn ich dann schön Geld verdiene mit meinen herrlichen Werken, so reise ich öfter herum und komme ab und zu nach Wien und schleppe den filium in die Konditoreien und wo es schön ist.

Bis dahin tausend Grüße an alle Empfänglichen und meine Empfehlung dem Herrn Professor consort.

Ihr
G. Keller.

An Adolf Exner

Zürich (Enge), 19. August 1876.

Lieber Freund!

... Mit meiner Demokratenregierung bin ich leidlich auseinandergekommen oder vielmehr lustig, was ich Ihnen glaub ich noch nicht erzählt habe. Sie veranstalteten mir ein Abschiedsessen im Hotel Bellevue, an dem ausschließlich die Mitglieder der Regierung und ich waren, und überreichten mir einen silbernen Becher. Die Sache begann um sechs Uhr nachmittags. Um neun Uhr schien es mir einschlafen zu wollen, ich verfiel auf die verrückte Idee, ich müsse nun meinerseits etwas leisten und den Becher einweihen. Ich lief hinaus und machte ganz tolle Weinbestellungen in Bordeaux, Champagner und so fort in der Meinung, dieselben selbst zu bezahlen. Die Herren aber wußten, daß alles aus der Staatskasse bezahlt werden müsse, und um den Schaden wenigstens erträglich zu machen, fingen sie krampfhaft an mitzusaufen und soffen verzweifelt bis morgens um fünf Uhr, so daß wir am hellen Tage auseinandergehen mußten. Sieber wurde in einer Droschke nach Hause gebracht; ich wurde in einer Droschke nach dem Bürgli gefuhrwerkt: ich hatte drei Tage Kopfweh. Das Tollste ist, daß ich die Herren, je mehr wir soffen, um so reichlicher mit Offenherzigkeiten regaliert habe in diesem letzten Augenblick, mit meinen Ansichten über die Verdienstlichkeit ihres Regiments und dergleichen, was mich nachher geärgert hat, denn es war doch kommun undankbar. Sie machten jedoch geduldige Mienen dazu; ich glaube aber, sie gäben mir jetzt den Becher nicht mehr. Die bestellten Weine wollte ich am andern Tage oder vielmehr am Nachmittage desselben Tages bezahlen; es wurde mir aber richtig nichts abgenommen.

Alles wird sorgfältig verschwiegen; nur das Rechnungsbelege wird als stummer Zeuge in den Archiven liegen bleiben.

Besten Gruß

Ihr
G. Keller.

An Paul Heyse

Den Maximiliansorden, zu dem der Dichter von Heyse vorgeschlagen worden war, hatte Keller zunächst abgelehnt. Erst als Heyse ihn zum zweiten Male eingab, glaubte Keller aus Rücksicht auf den Freund die Annahme nicht länger verweigern zu dürfen.

Zürich, 9. Dezember 1876.

Lieber Freund!

Wenn die Augsburger Allgemeine Zeitung nicht lügt, so haben Sie die Minen nun doch angezündet, die Sie mir gelegt haben! Mögen Sie dafür im Dies- oder Jenseits den Lohn empfangen, der Ihnen gebührt!

Für den Fall, daß die Sache wirklich und unwiderrufen ist, bitte ich Sie (das haben Sie sich selbst zugezogen) um eine gütige Anleitung, was man nach Empfang der bezüglichen Anzeige oder Zustellung zu tun hat, ob man z. B. an den König selbst schreiben muß, ob man das Wort Dank gebraucht oder welches, und wie lang das Schreiben sein darf, ohne unschicklich zu sein. Ich denke, es wird nur das Notwendigste in möglichst wenig Zeilen zu sagen sein. Was mich zu diesen pedantischen Informationen bewegt, ist der Wunsch, dem armen Herrn, der auf so unfreiwillige Weise mit einem Unbekannten in Berührung kommt, nicht auffällig zu werden durch Verletzung der Form, Verspätung usw.

Empfehlen Sie mich der gnädigen Frau Gemahlin, den Fräulein Töchtern und dem kleinen Telemach, der hoffentlich schön im Plato liest und nie nach seinem Papa ausreisen muß!

Ihr alter Esel
G. Keller.

An Theodor Storm

Storm hatte Keller brieflich seine Freude über die ›Züricher Novellen‹ ausgedrückt und ihm seine Freundschaft angetragen. Von Angesicht gesehen haben sich die beiden Dichter niemals.

Zürich, 30. März 1877.

Sie haben mir das schönste Ostergeschenk gemacht, das ich je in meinem Leben bekommen; es ist freilich seit der Kinderzeit lange her; aber um so mehr braucht es, um jene durch das Ferneblau vergrößerten Wunder in den Schatten zu stellen. Ich ergreife mit Dank und Freuden Ihre Hand und Ihr Geschenk und will trachten zu erwidern, was an meinem geringen Orte möglich ist. Denn es ist mir nun ja alles Liebe und Schöne, was ich von Ihnen kenne, zum zweiten Male und gewissermaßen speziell wieder geschenkt.

Die treuliche und freundliche Vermahnung, die Sie mir wegen Hadlaub und Fides geben, befremdet mich nicht, weil die Geschichte gegen den Schluß wirklich überhastet und nicht recht ausgewachsen ist. Das Liebeswesen jedoch für sich betrachtet, so halte ich es für das vorgerücktere Alter nicht mehr recht angemessen, auf dergleichen eingehend zu verweilen, und jene Form der Novelle für besser, wo die Dinge herbeigeführt und alsdann sich selbst überlassen werden, vorausgesetzt, daß dann genugsam zwischen den Zeilen zu lesen sei. Immerhin will ich den Handel noch überlegen; denn die Tatsache, daß ein lutherischer Richter in Husum, der erwachsene Söhne hat, einen alten Kanzellaren helvetischer Konfession zu größerem Fleiß in erotischer Schilderei auffordert, und zwar auf dem Wege der kaiserlichen Reichspost, ist gewiß bedeutsam genug! Im Herbst werde ich Ihnen die Separatausgabe der Züricher Novellen schicken, wo Sie dann auch das Fähnlein der sieben Aufrechten wiederfinden wer« den ...

Jetzt will ich aber für diesmal schließen, da die Nachmittagssonne und Amsel, Finken und andere Musikanten auf den Bäumen vor dem Fenster mich Hinausrufen, wo der Winter gottsjämmerlich abgemörd't wird.

Bald hoffe ich Ihnen in der Rundschau oder so wo wieder zu begegnen und mich dort mit Ihnen zu unterhalten; man ist da immer sicher, gute Musik zu hören und seine Weinlein zu trinken.

Ihr dankbar ergebener
Gottfr. Keller.

An Theodor Storm

Zürich, den 31. Dezember 1877.

Ich wollte Ihnen, lieber Freund, am morgigen Neujahrstag schreiben, um Ihnen durch die gewählte Stunde eine rechte Ehre zu erweisen; zu rechter Zeit fällt mir aber ein, daß mich die Silvesternacht und das germanische Laster entweder untauglich machen oder mit schnöden Jammerpossen anfüllen könnten à la Johann Jakob Wendehals von Mörike, und da wollen wirs lieber heute noch vornehmen.

Die Züricher Novellen‹ werden Ihnen durch den Verleger zukommen... Um nochmals auf jene Figura Leu zurückzukommen, so hat sie wohl unverheiratet bleiben können; denn ich habe erst seither in Ihrem ›Sonnenschein‹ gesehen an der dortigen Fränzchen, wie man ein lustiges und liebliches Rokokofräulein machen muß, und die hat ja auch ledig sterben müssen. Es ist mir übrigens, wenn ich von dergleichen an Sie schreibe, nicht zu Mute, als ob ich von literarischen Dingen spräche, sondern eher wie einem ältlichen Klosterherrn, der einem Freunde in einer anderen Abtei von den gesprenkelten Nelkenstöcken schreibt, die sie jeder an seinem Orte züchten. Und Sie sind ja wieder rüstig dabei an Ihrem Orte; ich habs zwar noch nicht gelesen, sondern warte auf die Buchausgaben. Also ich wünsche Ihnen alles Beste zum neuen Jahre, hochgeachteter Landvogt von Husum, sowie Ihrem ganzen Hause ...

Ihr getreuer
G. Keller.

An Theodor Storm

Zürich, den 26. Februar 1879.

Ihr Brief, liebster Freund, so willkommen er mir ist, hat mich doch in ärgerlicher Weise an meiner Saumseligkeit ertappt, mit welcher ich seit Monaten mit einem Briefe an Sie laborierte. Der Winter ist mir zum ersten Mal fast unerträglich geworden und hat fast alle Schreiberei lahmgelegt. Immer grau und lichtlos, dabei ungewöhnlich kalt und schneereich, nach vorangegangenem Regenjahr, hat er mir fast täglich namentlich die Morgenstunden vereitelt. Ein einziges Mal hatte ich neulich ein Frühvergnügen, als ich eines Kaminfegers wegen um vier Uhr aufstehen mußte, der den Ofen zu reinigen hatte. Da sah ich das ganze Alpengebirge im Süden, auf acht bis zwölf Meilen Entfernung, im hellen Mondscheine liegen, wie einen Traum, durch die vom Föhnwinde verdünnte Luft. Am Tage war natürlich alles wieder Nebel und Düsternis ... Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrem Landkaufe und Baumpflanzen; wer die Mutter noch hat, darf wohl noch Bäume setzen; warten Sie aber womöglich nicht zu lange, bis Sie bauen. Die Gesetzänderungen, welche Ihnen so mal à propos noch auf den Hals fallen, soll auch der Teufel holen, so zweckmäßig sie sein mögen. Ich habe vor zehn Jahren etwas Ähnliches erfahren: Gerade als ich in mein Amt so voll eingeschossen war, daß ich Aussicht hatte, etwas Muße zu gewinnen, gabs eine trockene, aber radikale Staatsumwälzung, eine neue Verfassung wurde gemacht, infolgedessen eine Reihe neuer Gesetze, so daß ich neben den laufenden Geschäften zwei Jahre lang fast Tag und Nacht Schwatzprotokolle zu schreiben hatte, die nachher zur Interpretation dienen sollen, wenn die Esel nicht mehr wissen, was sie gewollt haben. Da war es denn mit der Dichterei wieder fertig, besonders da die zweite Staatsschreiberstelle auch abgeschafft wurde und ich als einziger und unteilbarer Skribar dastand, weshalb Ihre Adressen auch nicht mehr richtig sind. Ich möchte Ihnen bei diesem Anlasse auch belieben, fragliche Titulatur überhaupt abzuschaffen, sintemalen dieselbe in der knauserigen Republik keine Pension einträgt ...

... Da wir an Geldsachen sind, will ich gleich noch einen wichtigen Punkt zur Sprache bringen. Sie haben nämlich schon einige Male Ihre Briefe mit Zehnpfennigmarken frankiert, während es nach außerhalb des Reiches zwanzig sein müssen. Nun habe ich eine Schwester und säuerliche alte Jungfer bei mir, die jedesmal, wenn sie das Strafporto von vierzig Pfennigen in das Körbchen legt, das sie dem Briefträger an einer Schnur vom Fenster des dritten Stockes hinunter läßt, das Zetergeschrei erhebt: »Da hat wieder einer nicht genug frankiert!« Der Briefträger, dem das Spaß macht, zetert unten im Garten ebenfalls und schon von weitem: »Jungfer Keller, es hat wieder einer nicht frankiert!« Dann wälzt sich der Spektakel in mein Zimmer: »Wer ist denn da wieder?« (An Ihren Beraubungen haben Sie nämlich Konkurrenz in den österreichischen Backfischen, die an alle Dichter der letzten jeweiligen Weihnachtsanthologie um Autographen schreiben, sofern der Wohnort des betreffenden Klassikers aus dem Buche ersichtlich ist.) »Den nächsten Brief dieser Art«, schreit die Schwester fort, »wird man sicherlich nicht mehr annehmen!« - »Du wirst nicht des Teufels sein!« schrei ich entgegen. Dann sucht sie die Brille, um Adresse und Poststempel zu studieren, verfällt aber, da sie meine offenstehende warme Ofenröhre bemerkt, darauf, die Erbssuppe von gestern zu holen und in die Wärme zu stellen, so daß ich den schönsten Küchengeruch in mein Studierzimmer bekäme, was sonderlich für den Fall eines Besuches angenehm ist. »Raus mit der Suppe!« heißts jetzt, »und stell sie in deinen Ofen!« »Dort steht schon ein Topf, mehr hat nicht Platz, weil der Boden abschüssig ist!« Neuer Wortkampf über die Renovation des Bodens, endlich aber segelt die Suppe ab, und die Portofrage ist darüber für einmal wieder vergessen; denn mit der Suppe hat Angriff und Verteidigung, Sieg und Niederlage gewechselt. - Haben Sie also die Güte, der Quelle dieser Kriegsläufte nachzugehen und sie zu verstopfen ...

Ich danke für Ihre Jahreswünsche gar herzlich und hoffe, daß ich in der Tat einen Ruck vorwärts tue mit meinen Lebensrestanzen; denn der Handel fängt doch an, unsicher zu werden, lind ein Altersgenosse nach dem anderen wird kampfunfähig oder segelt gar von dannen. Ihnen wünsche ich gleichfalls das Beste. Mögen Ihre Bäume lustig gedeihen und zugleich die Mama noch gute Frist gewinnen, daß Sie nicht wegziehen; so ist die richtige Spannung vorhanden, wie mir scheint.

Ihr
G.Keller.

An Eduard Münch in Neuyork

Münch, von Beruf Kupferdrucker, ein Jugendfreund Kellers, war 1854 nach Amerika ausgewandert.

Enge-Zürich, den 12. Oktober 1879.

Lieber alter Freund!

Immer mit Buchschreiben beschäftigt (das ich aber nicht mit Dampf betreibe), bin ich dies Jahr mit allen meinen Briefen in Rückstand geraten und habe auch Dich über Gebühr warten lassen, obgleich die Schwester oft genug gemahnt hat. Deine Briefe und Photographieen haben wir jedesmal mit Dank erhalten, und das um so herzlicher, als uns allmählich alles entschwindet, was wir in der Jugend gekannt haben. Wir haben auch mit Befriedigung erfahren, daß es Dir mit den Deinigen wohl ergeht und Du gesund und munter bist.

Unsere Mutter ist im Jahre 1864. gestorben, siebenundsiebzig Jahr alt, in der Zürcher Staatskanzlei, wo wir unsere Wohnung hatten. Im Jahr 1876 habe ich nach fünfzehnjähriger Besorgung des Amtes die Stelle aufgegeben, um noch einige Jahre lediglich der Literatur widmen zu können, die uns jetzt bequem erhält. Leider werden wir den vollen Nutzen des ›Gewerbes‹ kaum noch selbst genießen können. Doch wenn ich vor der Regula sterbe, so kann sie jedenfalls existieren, solange sie noch lebt, sei es durch den Gesamtverkauf meiner Sachen oder durch eine zu stipulierende Jahresrente. An Verlegern fehlt es mir nicht. Längst hätte ich Dir einige meiner Bücher geschickt, wenn ich nicht gedacht hätte, der Zoll würde Dich mehr kosten, als sie wert sind. Jüngst habe ich aber gelesen, daß eine Erleichterung eingetreten sei durch den Weltpostvertrag und in Amerika Bücher als Kreuzbandsendungen gleich den übrigen Sendungen dieser Art zollfrei sein sollen. Sobald ich dessen sicher bin, werde ich Dir die Sachen stückweise so zuschicken. Ein verschlossenes Paket müßte immer noch verzollt werden.

Ich bin leider dick und rund, sonst aber gesund; Regula dagegen ist nicht am stärksten. Sie leidet etwas an Blutarmut und infolge früheren dicken Halses, der sich nach innen gezogen hat, an zunehmender Verengerung der Halsröhre, was ihr jetzt beim Treppensteigen schon Atemnot verursacht und noch gefährlicher werden kann.

Die Mutter ist auch an diesem Übel gestorben. Ich selbst werde meiner Komplexion nach die Wassersucht bekommen oder ein Schläglein erwischen. Übrigens besorgt die Schwester noch alle Hausgeschäfte und läuft auch selbst auf den Markt. Wir wohnen auf einer Anhöhe, dem sogenannten Bürgli, in Enge, zwanzig Minuten von der Stadt, ganz allein in einer geräumigen Wohnung von sechs Zimmern mit prächtiger Aussicht ringsum. Ich habe an meinem Arbeitstische den ganzen See mit Gebirge vor mir, sehe über die Stadt hinweg. Gegen Baden hinunter, in das Sihltal und an den Ütliberg hinüber sieht man von den andern Fenstern aus. Wir zanken zuweilen über die Häuslichkeiten. Regula will keine Dienstboten leiden, und doch ermüdet sie die Sache zu sehr, und kann es jedenfalls nicht lange mehr so fortgehen. Neulich hatte sie ein schönes Stück Arbeit. Meine Freunde hatten zur Feier meines sechzigsten Geburtstages ein üppiges Mittagessen in einem Gasthause veranstaltet, das von zwei Uhr bis um zehn Uhr abends dauerte. Die ganze Gesellschaft, jung und alt, achtzehn Mann, war schließlich besoffen. Ich fuhr als der allerletzte nach Haus und verschmähte jede Begleitung. Als ich aber am Fuße unseres Hügels ausstieg, regnete es in Strömen, und ich purzelte auf dem kurzen Wege bis zum Haus drei- oder viermal in den Dreck, so daß die Regula den Rock auswaschen und herstellen mußte und fortwährend schimpfte: ich hätte nicht den besten anzuziehen gebraucht. Da hast Du ein kleines Bildchen unserer Lebensart ...

So viel für einmal. Wenn ich die Bücher schicke, will ich wieder schreiben, was Du auch tun kannst. Die Briefe sind jetzt ja wohlfeil. Regula grüßt bestens; sie schreibt so wenig als möglich, da sie's nie so recht gelernt hat.

Also sei mit den Deinen gegrüßt von

G.Keller.

An Marie von Frisch

Zürich, Weihnacht 1879.

Verehrte Frau Professorin!

Ich will diesmal Ihnen a tempo antworten, damit es überhaupt geschieht; denn seit einem Jahr habe ich einen förmlichen Briefbankerott gemacht und wickle mich nur langsam aus demselben heraus. Es würde vielleicht auch jetzt noch nicht besser, wenn die Briefe auf diese Art schließlich nicht auch ausbleiben, das heißt die, welche ich bekommen soll, und das würde mir nicht konvenieren. Es ist daher artig von Ihnen, daß Sie mich dennoch mit einem Ihrer Schwalbenschwänze bedacht haben, wie Dilthey Ihre Briefchen nennt, und ich will das Beste versprechen, vorläufig Ihnen und Euch allen anwünschen auf den Jahreswechsel. Dem Adolf will ich schreiben, sobald ich die Zeichnung fertig habe, die ich ihm versprochen. Einige Stunden werden sich wohl endlich finden, sobald ich den dämonischen Simpel, den ›Grünen Heinrich‹ aus dem Hause habe, der mich seit einem Jahr bald melancholisch macht mit der Überarbeitung. Wenn ich auch so eine Menge Zeit verliere, so mag ich doch aus Gewissenhaftigkeit das Malzeug nicht hervorkramen, solang eine verakkordierte Arbeit nicht fertig ist; es ist eine Marotte, aber es ist so; denn ich hätte dabei ein Dutzend Zeichnungen machen können.

Mit Vergnügen vernehme ich, daß Sie mit Mann und Kindern wohlauf sind. Zu demjenigen, was das Adolfsche Paar aufgebracht hat, lasse ich nachträglich Glück wünschen; mein Segen bleibt ihm aufgehoben.

Was mich betrifft, so habe ich einen schlechten Winter zu bestehen seit bald vier Wochen, da unsere Wohnung bei der ungewöhnlichen Kälte, zum ersten Mal seit fünf Jahren, sich als unträtabel erweist und zudem meine Schwester glauben würde, die Welt ginge unter, wenn wir das schone Holz, das im Sommer schon zu diesem Behuf zugefahren wurde, jetzt wirklich aufbrauchen würden. Dafür ist ihr ein Fäßchen Sauerkraut, das sie im Herbste eingemacht hat, zugrunde gegangen, was sie gestern entdeckte, als sie in den Keller ging, um auf heute am Weihnachtstag zum ersten Mal davon zu lochen. Es sei ganz schwarz, sagte sie, und nicht zu brauchen. Ich riet ihr, es im Sommer auf die Bleiche zu legen, vielleicht könne man es spinnen und nachher weben! ...

Sempers Tod wird Euch auch betrübt haben; ich kann mich jetzt noch nicht recht darein finden, wenn ich daran denke, wie oft er einem so unbefangen und anspruchslos nahe gewesen ist, inmitten einer aufgeblasenen Welt.

Leben Sie, versehen mit meinen besten Wünschen, samt Haus und Hof wohl und glücklich ins neue Jahr hinüber, und behalten Sie die wohlwollende Gesinnung gegen Ihren alten

G.Keller.

An Paul Heyse

Am 19. Juli 1879 war Kellers 60. Geburtstag von den Züricher Freunden mit einem auserlesenen Festessen gefeiert worden.

Zürich, den 16. März 1880.

Liebster Freund!

Als sich nach meinem letztjährigen Geburtstagsschwindel das Kopfweh allmählich verzogen hatte und ich Dein freundliches Telegramm zum Angedenken weglegte (nebst einigen Flaschenetiketten, so meine sauberen Freunde mit Zitaten aus meinen ungesammelten Werken geziert hatten), sah ich in meinem Nachschlagewerk nach, wann eigentlich Dein Geburtstag sich abzuspielen pflege. Ich fand den 15. März. Als ich einige Zeit später herausklügelte, daß der diesjährige Tag, der dem Cäsar den Tod gebracht, Dich mildiglich um die Ecke des halben Jahrhunderts herumschiebe, und als ich bald darauf eines Abends spät aus dem Wirtshaus kam, machte ich in vorsichtiger Begeisterung nachstehenden Vierzeiler auf Vorrat, um ganz sicher Dich telegraphisch damit überfallen zu können. Eine etwas geistreichere Ausgestaltung behielt ich mir vor. Bis vor acht Tagen behielt ich beides im Auge, dann – kurz, heute, den 16. März, gewahre ich, daß gestern der 15. gewesen ist!

Genug! Du verstehst mich! Doch sollst Du nicht ganz darum herumkommen; das Telegramm würde so gelautet haben, wenn ichs nicht verschlafen hätte:

Hier auch ein Blättlein Deines Kranzes!
Ein halb Jahrhundert ist kein ganzes;
Ein Doppelbecher sei Dein Leben.
Wend um, trink fort, gieß nicht daneben!

Dein überall zu spät kommender Freund und Bruder

Gottfr. Keller.

An Wilhelm Petersen

Regierungsrat in Schleswig; begeisterter Verehrer Kellers.

Zürich, den 21. Oktober 1880.

Verehrter Freund!

Ich gebe heut endlich den ›Grünen‹ auf die Post und wünsche ihm glückliche Reise und nachsichtigen Empfang. Daß die Judith am Schlusse noch jung genug auftritt, statt als Matrone, wie beabsichtigt war, hat sie Ihren derselben so gewogenen Worten zu danken. Ich wollte mich selbst am Jugendglanz dieses unschuldigen, von keiner Wirklichkeit getrübten Phantasiegebildes erlustieren. Gern hätte ich sie noch einige Szenen hindurch leben lassen; allein es drängte zum Ende, und das Buch wäre allzu dick geworden. Jetzt mach ich Novellen, die im Januarheft der ›Deutschen Rundschau‹ beginnen sollen. Auf den i. April 1881 habe ich die jetzige Wohnung gekündigt und werde Sie in einer andern empfangen müssen, die noch nicht gewählt ist. Die Lage war meiner Schwester zu beschwerlich, und ich selbst habe manches versäumt, da ich mich immer nur ungern zum Gange in die Stadt entschloß. Es hat etwas Unbequemes, in diesen Jahren so herumwandern zu müssen; allein das Ganze ist ja doch nur ein Bummel, und am Ende kommt die Ruhe. Ich habe mich einem Leichenverbrennungsverein angeschlossen; es will aber nichts daraus werden. Ich glaube, die Lumpen fürchten am Ende, es mache zu heiß, daß sie's noch verspüren könnten!

Leben Sie mit den Ihrigen einen guten Winter, wozu ich hübsche Morgenröte und warme Abendstunden wünsche! Was mich betrifft, so gedenke ich etliche vergnügte Schoppen bei biederem Gespräche auszustechen!

Paul Heyse ist jüngst mit seiner schönen und feinen Frau zweimal durchgereist; wir brachten jedesmal einige Stunden miteinander zu und gedachten auch eines gewissen Regierungsrates im Norden. Seien Sie herzlichst gegrüßt und bleiben gewogen

Ihrem ergebenen
Gottfr. Keller.

An Marie von Frisch

Zürich, den 21. November 1880.

Verehrte Frau Professorin!

Mit einer Zigarre bewaffnet, am dunkelsten Sonntagmorgen, mache ich mich endlich daran, Ihre große Freundlichkeit, die gar nie daneben trifft, mit einem schwachen Versuch der Dankbarkeit zu beantworten. Es ist sehr schön von Ihnen, daß Sie sich durch meine Schreibfaulheit nicht davon abhalten lassen, meiner zu gedenken, und Sie können sicher sein, daß ich es im stillen stets verdiene, soweit ein alter Schlingel, der noch allwöchentlich einmal die Nacht durchkneipt, überhaupt etwas verdienen kann. Die Blümchen, die Sie mir letzte Weihnachten gesandt, standen den ganzen Januar auf meinem Schreibtische, und das grüne Regenbogenkrügelchen beherbergte seither einmal drei schöne Narzissen, ein ander Mal eine Levkoje und so weiter. Ich danke Ihnen auch schönstens für die zierliche Photographie Ihrer Vermummung mit dem allerliebsten Läusemützchen; das Profil ist noch ganz so sein wie vor acht oder weiß Gott wieviel Jahren, beinah noch jünger; es tut aber nichts, der Totenkopf wird schon noch kommen, eh wirs uns versehen ...

Es tut mir sänftlich wohl, daß Ihnen der ›Grüne Heinrich‹ nicht mißfällt in seiner jetzigen Gestalt, nachdem ich ihn mühsam genug gestriegelt und gewaschen habe. Sonst scheint mir nicht viel Vergnügen daraus zu erwachsen, denn nun kommen die sogenannten Kritiker, und, anstatt das jetzige Buch aus sich heraus zu beurteilen, vergleichen sie es in philologischer Weise mit dem alten, um ihre Methode zu zeigen und zerren so das Abgestorbene herum und lassen das Lebendige liegen; denn das verstehen sie ja einmal. Es ist ungefähr die Situation, wie wenn man im Garten einen alten Mops begräbt, und es kommen nächtlicherweile die Nachbarn, graben ihn wieder aus und legen das arme Scheusal einem vor die Haustür und so weiter.

Dagegen entnehme ich mit Vergnügen Ihrem Briefe, daß der Herr Professor und die Kinder gesund und frisch sind. Ich gebe den Gedanken nicht auf, nochmals im Sommer einen Gebirgsaufenthalt mit Euch zu machen. Jagen kann ich zwar immer noch nicht; auch das Kegelschieben geht nicht besser. Ich bin aber inzwischen Ehrenmitglied einer uralten Gesellschaft von Artillerieoffizieren geworden, die jeden Sommer ein feierliches Bombenschießen abhalten. Da muß ich auch meinen Schuß tun, den Mörser ausputzen, Pulver hinein und dann die Bombe wie ein Kindskopf draufsetzen und anzünden. Das erste Mal, wo sie mir das Geschütz sorgfältig richteten, gewann ich die erste Ehrengabe; das zweite Mal, wo ich meinen Mörser, den ›Iltis‹, selbst richtete, bekam ich nichts als einen Katzenjammer vom nachfolgenden Bankett! So wickelt sich das Leben in verschiedentlich dankbarer Tätigkeit ab, wobei wir es bis auf weiteres wollen bewenden lassen. Leben Sie recht froh und gesund mit allen Ihrigen, die ich herzlich grüße, und bleiben Sie stets gewogen

Ihrem
G. Keller.

An Marie Melos

Schwägerin von Ferd. Freiligrath.

Zürich, den 29. Dezember 1880.

Hochverehrte Fräulein und teuerste Freundin!

... Herr Weibert hat mir geschrieben, er werde Ihnen ein Exemplar des ›Grünen Heinrichs‹ senden, der erst im Spätherbst fertig geworden. Das Buch ist von der Mitte des dritten Bandes an neu geschrieben; Sie brauchen also das frühere nicht zu lesen. Ich habe allerlei hineingeflunkert, um es deutlicher zum Roman zu machen; denn noch immer gibt es Esel, die es für bare biographische Münze nehmen. Das Tollste ist, daß jetzt, nachdem ich ein Jahr redlich daran gearbeitet habe, um allerlei Ungeschmack auszumerzen, und nachdem fünfundzwanzig Jahre lang die Leute sagten, der Tod des Heinrich sei unmotiviert und gewaltsam, Kritiker kommen und behaupten, er müsse tot bleiben, und die alte Ausgabe sei besser. So geht es mir wie dem Bauern in der Fabel, der mit seinem Sohn und seinem Esel zu Markt ging und zuletzt dazu kam, mit dem Sohne den Esel zu tragen.

Ich bin jetzt etwas fleißiger als vorigen Winter. Ich schmiere frische Novellen in die ›Deutsche Rundschau‹, die vom Januar bis April oder Mai monatlich fortgesetzt werden. Da es ein Buch daraus gibt, so werden Sie das Zeugs auch noch zu lesen bekommen, wenn Sie mir bis dahin gewogen bleiben. Haben Sie einen schönen Sommer und Herbst gehabt?

Es dunkelt, und ich muß in die Stadt, um eine kalte Pastete und eine Torte für die nächsten Tage zu bestellen, sowie Konfekt für zwei Patenkinder. Denken Sie sich die Schändlichkeit: erst in den letzten Jahren bin ich wiederholt zu Gevatter gebeten worden; ich mußte in der Kirche herumstehen, Knickse machen und jetzt alljährlich auf Geschenke denken, Schaumünzen oder Sparbüchsengeld einwechseln und so weiter, kurz, was einen armen alten Kerl nur ärgern kann.

Verleben Sie ein friedliches und süßes Neujahr, und verdienen Sie sich ferner den Himmel an mir, als

Ihrem treu ergebenen
Gottfr. Keller.

An Wilhelm Petersen

Zürich, den 21. April 1881.

Mein lieber Herr und bester Freund!

Da Sie nicht nur die Fische des Meeres, sondern auch die Vögel der Luft gegen mich absenden, so muß ich den Vorsatz, an Sie zu schreiben, endlich zur Tat werden lassen. Seit Neujahr habe ich alles Briefschreiben und Privat- und Freundschaftssachen wieder einmal müssen liegen lassen, nicht weil ich nicht manche müßige Stunden und Tage dazu gefunden hätte, sondern weil gerade das Briefschreiben con amore mit dem Schriftstellern zu nah verwandt ist, wenigstens wie ich dieses treibe, und daher ein Allotrion zu sein scheint, wenn die Setzer auf Manuskript lauern. Der eigentliche Müßiggang aber, bestehe er in Lektüre oder in irgend einer anderen eigensinnigen heterogenen Übung, trägt immer seine göttliche Berechtigung des Daseins ›an sich‹ in sich. Und so scheut man sich, Briefe zu schreiben, indessen man sich nicht entblödet, plötzlich ein historisches Kapitel zu studieren oder ein paar Tage zu zeichnen und dergleichen.

Also die zierlichen Kiebitzeier sind glücklich angekommen und in ihrer ganzen Schmackhaftigkeit verzehrt worden, nicht ohne einiges Mitgefühl an den Hervorbringern, denen so räuberisch zu Nest gestiegen wird. Mit der Adresse meines herzlichen Dankes bin ich etwas verlegen; denn eine auf dem Kistchen haften gebliebene Adresse zeigt an, daß die Nordfrüchte rechtmäßig zuerst der Frau Gemahlin angehört haben. Ich kann nicht untersuchen, ob eine Gewalttat in Form einer Besteuerung oder einer einfachen Wegnahme, Konfiskation, oder einer Überredung, eine gütliche Transaktion stattgefunden hat, und bitte nur, meinen Dank nach dem Gebote Ihres Gewissens ausrichten und verteilen zu wollen! -

Ihre und Freund Storms Weihnachtsfreuden habe ich voll Teilnahme aus der Ferne mitgetan; dergleichen scheint blühender und intensiver zu werden, je weiter hinauf es nach Norden geht, und der goldene Märchenzweig schimmert gar feierlich herüber, nur weiß ich nicht, auf welche Art die Lärchennadeln vergoldet sind. Ein bloßes Anwerfen von Goldschaum wird schwerlich genügen. Ihr Treiben mit den Kindern am Neujahrsmorgen hat mich wieder recht erbaut. Sie sammeln ihnen den schönsten Schatz von Erinnerungen, der fast notwendig spät noch Früchte tragen muß ...

Ihre Äußerungen wegen des pathologischen Zuges, der Ihnen eigen sei, berühren schmerzlich, weil Sie einen Zug, den viele unbewußt haben, mehr fühlen als die anderen. Mehr oder weniger traurig sind am Ende alle, die über die Brotfrage hinaus noch etwas kennen und sind; aber wer wollte am Ende ohne diese stille Grundtrauer leben, ohne die es keine rechte Freude gibt? Selbst wenn sie der Reflex eines körperlichen Leidens ist, kann sie eher vielleicht eine Wohltat als ein Übel sein, eine Schutzwehr gegen triviale Ruchlosigkeit ...

... Die Sinngedichtsnovellchen, deren Anfang Sie gelesen, gehen im Maiheft der ›Rundschau‹ zu Ende. Ich bin jetzt an der Sammlung und Korrektur meiner sämtlichen lyrischen Sünden begriffen, ein bedenkliches Unterfangen; doch kann ich nicht mehr warten, sonst bring ich nichts mehr zustande. Dann denke ich auf einen kleineren Roman, von dem ich aber noch nicht viel zu sagen weiß.

Nochmals Dank also für alle Ihre Güte und Freundlichkeit und eine schöne Empfehlung an die verehrte beraubte Frau Regierungsrat.

Ihr alter
G.Keller.

An Wilhelm Petersen

Zürich, den 21. November 1881.

Verehrter Freund!

Jetzt wird Ihr geliebter Winter bald da sein, wo Sie mit den Kindern die Abenteuer in dem Schneewald wieder aufnehmen können. Hier haben wir schon mehrere Wochen jeden Tag Nebel und Sonnenschein und warmes Wetter; ich selbst aber war lange von Katarrh und fliegenden Rheumatismen geplagt, so daß ich beinah ängstlich geworden wäre, da die alten Kerle bei solchen Gelegenheiten gern etwa eine tödliche Lungenentzündung und dergleichen erwischen. Allein gerade die sehen es ja nie kommen und wissen kaum, wie sie dazu gelangten, und so hat sich die Sache unversehens verzogen.

Ihre Fischlein sind seinerzeit schönstens angelangt und wir danken Ihnen, die Schwester und ich, neuerdings herzlichst für die unerschöpfliche Güte und Freundlichkeit ...

Bei den neulichen Nachrichten von der Wassersnot in Schleswig-Holstein habe ich sogleich an Sie und Storm gedacht. Sie werden jedenfalls amtlich zu tun bekommen haben ...

Das ›Geteilte Herz‹ hat mir auch sehr gefallen; es ist eine sehr gute Novelle in ihrer Art, obgleich ich für das Problem derselben nicht gerade schwärme. Indessen verstehe ich als ›lediger Geist‹ davon nichts. Ich war immer nur einspännig und ausschließlich verliebt in jungen Jahren und kann durchaus nicht sagen, wie es gegangen wäre im Falle einer Verheiratung.

Ob ich noch einmal Berlin besuche, weiß ich nicht, so sehr es lockt. Wenn man nur nicht das Handwerk dort grüßen müßte, welches zum Teil von einem albernen Weltstadtdünkel erfüllt ist, obgleich die einzelnen die alten Kleinbürger sind, die sie vorher gewesen. Die Menge tuts eben nicht immer.

Empfehlen Sie mich freundlich der Frau Gemahlin und leben Sie recht con amore, wenn die Geschäfte vorbei sind!

Ihr getreuer
G. Keller.

An Marie von Frisch

Am 9. Dezember war in Wien das Ringtheater niedergebrannt.

Zürich, den 16. Dezember 1881.

Verehrte Frau Professorin!

Ich bin ungewiß, ob ich Ihnen in diesem Augenblick beiliegende leichte Ware auch zusenden soll und darf, da Sie durch die unerträgliche Katastrophe vom 9. Dezember ohne Zweifel mit den Ihrigen nicht minder in Aufregung und Trauer versetzt worden sind, als alle andern. Dazu steht die Unglücksstätte, wenn ich nicht irre, ziemlich in der Nähe der Josefstädterstraße.

Allein das Buch liegt so schon seit Wochen bereit, und wenn ich noch länger zögere, so verliert es noch sein bißchen Reiz der Neuheit, und für Sie ist es kein Zeichen freundlicher Aufmerksamkeit mehr.

Wenn Sie also irgend nicht gestimmt sind, dergleichen Zeug zu lesen, so lassen Sie es ruhig liegen, bis es besser kommt.

Ich hoffe indessen, Sie seien an dem Unglücke nicht durch Familien- oder Freundeskreise näher beteiligt. Auch sonst vermute ich, daß Sie, Herr Professor und die Knaben gesund und munter seien, und wünsche Euch allen jetzt schon ein glückliches Neujahr, da ich die Gratulationen auf den Tag abgeschafft habe, indem ich einem Verein zur Erleichterung der geplagten Postbeamten beigetreten bin.

Wie geht es Ihnen im übrigen? Meinerseits habe ich das Alter meiner Gesellschaftsfreunde um dreißig Jahre reduziert, lasse die Siebziger und Sechziger sitzen und gehe mit fünfunddreißigjährigen jungen Gelehrten und so weiter um, oder dulde höchstens etwa einen Vierziger darunter. Samstags nachts ist der Hauptsabbat, da wird bis zwei oder drei Uhr aufgeblieben und gelacht oder diskutiert, wobei ich das Neuste höre. Letzten Sommer ging ich immer in der Sonntagsfrühe mit dem Vögelgesang nach Hause, was sehr lustig war. Oft aber vergehen drei Tage, ohne daß ich vor die Türe komme. Ihre Herren Söhne, deren glaub ich zwei oder drei sind, werden vermutlich begonnen haben, das Aprikosenbäumchen im Garten zu besteigen; die Zeit vergeht doch rasch mit solch lebendigen Uhrmännchen. Drum muß man sich oben halten, sonst ist man verloren. Bleiben Sie nur recht frohherzig und lassen sich nichts abgehen. Wir wollen auch noch einmal an den Mondsee gehen, wo man das Geld kann im offenen Kasten liegen lassen, ohne daß es angerührt wird. Tausend Grüße also dem ›Herren und der Frau‹, wie man hierzulande sagt, von dem alten Mummelgreischen

Gottfried K.

An Theodor Storm

Zürich, den 29. Dezember 1881.

Lieber Freund und Mann zu Hademarschen!

Ihrem frohgemuten Briefe vom 27. November sind bald die beiden Doppelbände der Gesamtwerke nachgefolgt, und ich habe die einzelnen mir schon bekannten Kleinode aufmerksam gezählt und beguckt, eh ich sie zu den übrigen in den Schrein stellte. Die Erinnerungen an Mörike las ich freilich vorher durch, da sie mir so gut wie neu waren. Wie gewohnt, wenn die Rede von ihm ist, lief ich wiederholt nach seinen Bänden, um mich dieser und jener Stelle gleich zu versichern und halbe Stunden lang fortzulesen ...

Ihre Weihnachtsfreuden haben Sie nun hinter sich und das behagliche Wohlleben der Neujahrstage und so fort noch vor sich, wozu ich meine Glückwünsche rück- und vorwärts beitrage ...

Auch zu dem Herrn Pastor, Ihrem Schwiegersohn, gratuliere ich schönstens. Ein solch stattliches Familienstück gehört unter die Johann Heinrich Voßschen Himmelsstriche.

Was Sie mir als Menschenmangel anmerken wollen, versteh ich nicht recht. Ich lebe gesellschaftlich mit allerlei Leuten alten und neueren Datums. Das sogenannte Handwerk allerdings vermeide ich, wenn es nicht mit der erforderlichen einfachen und loyalen Menschennatur verbunden ist. So war ich in Verlegenheit, mit welcher der gelehrten und ungelehrten Gesellschaften Zürichs ich den üblichen Neujahrsschmaus einnehmen wolle, und habe mich für das Artilleriekollegium entschieden, jene zweihundertjährige Gesellschaft, die im Eingang der ›Zürcher Novellen‹ geschildert ist und mich dafür zu ihrem Mitglied ernannt hat. Ich habe auch schon zweimal im Juni mit den Herren aus Mörsern (Kruppschen) nach der Scheibe geschossen und ein paar gute Schüsse abgegeben, die man mir natürlich gerichtet hat. Da werde ich am 2. Januar, dem Berchtoldstage, der ein uralter Freudentag hier ist, mitten unter alten und jungen Artillerieoffizieren sitzen und Rheinwein aus silbernen Pokalen trinken. Heut abend soll ich zu einer großen Liedertafel gehen, die ihren vierzigjährigen Bestand feiert, und so ist immer was los, wenn man Lust hat ...

Leben Sie glücklich in das neue Jahr hinein mit allen Ihrigen.

Der alte
G. Keller.

An Adolf Erner

Zürich, den 15. Januar 1882.

Verehrter Freund!

Der Kartonkasten, den Sie mir gesendet, ist so praktisch, daß ich gleich die Briefhaufen der letzten paar Jahre, die meine Tische belästigten, aufgeräumt und hineingepackt habe, so daß ich die Bescherung zu den andern alten Schachteln und Kartons rangieren konnte. Hieraus können Sie entnehmen, wie dankbar ich erst für den Inhalt war und bin; denn wenn Sie glaubten, daß ich die Schachtel zurückgebe, so waren Sie im Irrtum. Um so fröhlicher danke ich Ihnen für das Licht, das Sie mir aufgesteckt haben; es steht artig genug auf dem Rauchtischchen und ist wirklich hübsch gemacht. Die luxuriöse Mappe wandle ich in einem Briefe an die Frau Schwester gleichzeitig ab und lasse die Begeisterung auch noch über diesem Briefe abträufeln. Das dicke schöne Papier darin werde ich mit irgend etwas mir noch Unbekanntem beschreiben, anstatt es als Löschpapier zu benutzen, und zwar mit Bleistift.

Mit dem italienischen Schwindel ist es dies Jahr für mich noch nichts; es würde mich zu stark von der Arbeit abziehen und das Ende unsicher machen. Ich mache nämlich vorher einen einbändigen kleinen Roman fertig und bin am Redigieren der Sammlung dessen, was ich in Versen gehudelt habe, was unter allen Umständen dies Jahr getan sein muß.

Eher könnte ich wahrscheinlich im Spätsommer auf den alten steinigen Wegen Oberöstreichs und so weiter wieder einmal herumstolpern ...

Mit dem ›Sinngedicht‹ geht es gar nicht übel, es wird soeben die dritte Auflage gedruckt; am Ende geht mir noch die Sonne des Geldprotzentums auf, und ich werde fromm und scheinheilig.

Daß von der löblichen Ernerei niemand durch den sel. Offenbach in die Hölle des brennenden Ringtheaters gelockt worden sei, habe ich mir eigentlich vorher gedacht, und so mögt Ihr ferner gesund und fröhlich auf dem rechten Pfade dahinwandeln!

Mit allen Grüßen
Ihr
G. Keller.

An Marie von Frisch

Zürich, den 20. Mai 1882.

Verehrtestes gnädiges Frauchen!

Wegen der Mappe haben Sie mich nun etwas beruhigt und meinen Schlaf, der sich um eine Viertelstunde verkürzt hatte, wieder hergestellt, so daß ich bereits über das Ziel hinausschieße und länger schlafe als vorher.

Aber mit der Sommerfrische hat es mir auf die Flinte geschneit, so daß ich nicht schießen kann. Meine Schwester ist seit dem Winter kränklich, und wenn es augenblicklich etwas besser ist, so kann ich sie doch nicht allein lassen, da man nie weiß, wann es wieder schlimmer wird. Sie hat nämlich gewisse Zerbrechlichkeiten in den Pumpschläuchen, die vom Herzen ausgehen, ist blutärmlich und atmungsnotdürftig und so weiter, dazu noch am Halse dick und will noch immer alles selbst machen. Auf den Herbst muß ich ernstlich nach einer näher an der Stadt und nicht so hoch gelegenen Wohnung umsehen; wir laborieren schon zwei Jahre daran; ich habe mich zu nichts entschließen können, weil ich nicht gern etwas nehme, wo man voraussichtlich das Leben auch wieder nicht beschließen kann. Finde ich aber etwas, so geht der Teufel mit den Vorarbeiten des Umzuges an, kurz, es ist nicht geraten, daß ich weggehe. Sie können sich denken, daß ich Eueren lockend freundlichen Vorschlag mit sehr betrübten Augen ansehe und, um ihn zu einer sauren Traube umzuwandeln, mir sage: ›Ei was, am Ende regnets wieder die ganze Zeit in jenen Kalkwänden um den Schafberg herum!‹

Sie Ärmste dauern mich sehr, daß Sie die Diphtheritis in den Kindern hatten, es ist gut, daß es so gut ablief. Ich leide hier auch daran, indem ich einige Befreundete besitze, die noch kleine Kinder haben und wo immer etwas los ist in der schönsten Abwechslung und auch gleichzeitig. Da ist man immer geniert, von einem Haus ins andere zu gehen, um das Gift nicht zu verschleppen und sich argwöhnisch befragen zu lassen. Zuletzt geht man gar nicht mehr in solche Fabriken.

Sonst geht es mir gut, ich bin ganz produktionslustig und habe ordentlich Berg an der Kunkel, altes und neues.

Nun leben Sie recht vergnügt und zufrieden im Gebirge, wenns losgeht. Sollte es im August schön Wetter und die Schwester leidlich gesund sein, wir auch nicht umziehen, so käme ich vielleicht doch auf acht Tage hingeschossen, wobei ich aber einfach ins nächste Wirtshaus ginge und durchaus nichts für mich bereitgehalten werden müßte oder dürfte.

Grüßen Sie alle bestens.

Ihr
G.Keller.

An Wilhelm Petersen

Zürich, den 21. September 1882.

Verehrter Freund!

Sie sehen, wie weit es kommt durch die Schreibverbote, die Sie den Freunden anlegen! Mißbrauch und Müßiggang sind aller Laster Anfang. Glücklicherweise steht jetzt der Umzugstrubel vor der Türe, und zum Aufräumen gehört auch das Abtragen der Briefschulden, damit die belasteten Gedanken frei werden und der nächsten Zukunft beispringen können ...

Sie haben auch vollkommen recht, wenn Sie bei mir Verständnis und Mitgenuß der Sommerherrlichkeit Ihres Landes voraussetzen, wie Sie dieselbe schildern, und ebenso recht haben Sie, wenn Sie weislich zur guten Jahreszeit dort bleiben, statt sich auf Bahnhöfen und in engen Berghotelzimmern herumzutreiben. Es will niemand mehr bei sich zu Hause im Sommer ›aufs Land‹ gehen und genießt so bald gar nichts mehr von der Natur.

Hier haben wir einen kompletten Regensommer; es sieht betrübt aus. Die Bauern sind vergrämt und wählen Leute in die Behörden, die den unreifen Trauben entsprechen, verwerfen alle Gesetze, die man vorlegt, und werden wahrscheinlich nächstens verlangen, daß die jährliche Festsetzung der Witterung jeweilig der Volksabstimmung unterbreitet werde, durch besondern Gesetzentwurf ...

Meine Schwester befindet sich seit dem Frühjahr wieder besser, was das Einzelbefinden angeht; sie bewegt sich herum und läßt niemand was machen. Allein die allgemeine Schwäche und Gebrechlichkeit ist geblieben und wird schwerlich mehr weichen. Sie hat eben den Teufel im Leib und will weder ruhen noch ›abgeben‹, aus dem falschen Instinkt, es würde dann fertig sein, und so kommen diese armen Geschöpfe aus dem circulus vitiosus nicht heraus. Trotzdem dankt sie bestens für Ihre freundlichen Grüße und erwidert dieselben geziemendlichst. Ich ersorge aus obigen Gründen die Umzugsgeschichte, da sie keine Idee davon hat, den ganzen Krempel jemandem zu übergeben und ihn ruhig machen zu lassen. Nachher, wenn ich erst im neuen Arbeitszimmer angesiedelt und eingerichtet bin, denke ich fest zu arbeiten und vor Torschluß noch etwas vor mich zu bringen. Nun will ich Sie, verehrter Freund, wieder Ihrem schönen musengesegneten Treiben überlassen und bitte Sie, mich Ihrer Frau Gemahlin samt Kindern in empfehlende Erinnerung zu bringen. Die Briefpausen sollen auch wieder kürzer werden.

Ihr grüßender
G. Keller.

An Theodor Storm

Zürich, den 22. September 1882.

Sie haben es, trefflicher Freundesmann, nicht gut gemacht mit Ihrem Unwohlsein; hoffentlich haben Sie noch einen Teil des Sommers gerettet, der nach einem Briefe unseres Petersen so schön war in dortigen Landen. Hier ist nichts als Regen und Regen seit Monaten; man bedauert nur die armen Touristen, die nicht so gescheit sind, wie Sie und Petersen, und in ihren idyllischen Heimatslandschaften fein zu Haus bleiben. Es kriecht übrigens alles durch das Gotthardloch nach jenseits, wo sie nun auch Überschwemmung haben. Ihren ›Hans und Heinz‹ werde ich mir sogleich zu Gemüt führen, sobald das Heft kommt. Es ist jetzt jedesmal eine Art Lebensfrage bei einer neuen Novelle. Was ists? Wie ists? und so weiter wegen der maßlosen Produktion, die sich jetzt breit macht. Die Quelle originaler Anschauung und Erfahrung, das lebendige Blut fließt zwar nach wie vor selten genug; aber den Duktum hantieren sie bald alle gleichmäßig und schneiden einem dazu noch allerhand Knöpfe vom Rocke, die sie unverfroren auf ihren Kittel nähen. Da fragt man sich oft, ob es noch eine Aufgabe sei, den Kopf aus dieser Sündflut emporstrecken zu wollen. Nun, ich hoffe, mich an Ihrem Novum wieder zu kräftigen und zu erbauen ...

Ihr Erich Schmidt ist ein geistiger und liebenswürdiger Gesell. Er gehört zwar zu der Schererschen Germanistenschule, welche auch bei den Lebenden das Gras wachsen hört und besser wissen will, woher und wie sie leben und schaffen, als diese selbst. Allein die gleichen Leute haben ein frisches, unparteiisches und doch wohlwollendes Wesen; sie sagen ihr Sprüchlein, ohne sich im mindesten um Dank und Gegendienste zu kümmern, und am Ende haben sie wenigstens einen sicheren Standpunkt und eine Methode, welche besser ist als gar nichts, was bei den meisten Rezensenten der Fall ist ...

Mit den drei Auflagen des ›Sinngedichts‹ während des ersten halben Jahres, und zwar zu fünfzehnhundert die Auflage, hat es seine Richtigkeit, scheint aber jetzt genug zu sein. Der Verleger versteht jedenfalls den Handel und betreibt ihn auch gehörig. Er wird auch die Gedichte drucken. Leider muß ich jetzt mein armes Manuskript auf Wochen hinaus sistieren, da der Wohnungswechsel vor der Türe steht und schwerfällig genug ausfallen wird für uns zwei alte Leutchen. Die gute Schwester nimmt alles viel zu schwer und zu disputierlich. Sie befindet sich besser als im Frühjahr; allein sie ist eben im allgemeinen schwächlich geworden und ist puncto alte Jungfer auf die unglücklichere Seite dieser Nation zu stehen gekommen. Ihre freundlichen Grüße tun ihr gut und sie erwidert dieselben höflichst. Ich muß sie aber jedesmal mit einer gewissen Trockenheit anbringen, wenn sie wirken sollen.

Nun gehaben Sie sich wohl und seien Sie schönstens bedankt für Ihre Teilnahme.

Ihr
Gottfr. Keller.

An Wilhelm Petersen

Zürich, den 21. November 1882.

Da es dieser Tage bei uns zu schneien begann, so werden Sie, bester Freund, in Ihrem Norden jetzt wohl mitten in dem ersehnten schön duftenden Schnee sitzen, wozu ich alles Vergnügen wünsche. Wenn er in der Landschaft ganz und nicht fleckweise liegen bleibt, wie es bei uns der Fall ist, sobald ein bißchen West- oder Südwind kommt, so ist es auch eine schöne Sache.

Die kleine Arche umgekehrter Art, welche Fische aufs Trockene bringt, ist auch dies Jahr mit ihrer Besatzung glänzender Sprotten glücklich angekommen und mit dankbarem Herzen von dem alten Geschwisterpaar beim Abendtee vertilgt worden, worüber Sie uns den angemessenen Gefühlsausdruck gestatten wollen. Wir wohnen jetzt in der dem ›Bürgli‹ gegenüberliegenden Gegend, Zeltweg-Hottingen, in einer bebauten Vorstadtstraße mit Vorgärtchen, so daß die Häuser nicht zusammenhängend gebaut sind. Allein Ausficht und Himmel sind dennoch flöten gegangen und ich bin gewärtig, ob ich noch ein Wohnsitzchen im Grünen erlangen kann. Etwas Landhausartiges war für das Geld, das ich verwenden kann, nicht zu kriegen; alles Neugebaute, das nicht eben für reiche Leute bestimmt ist, hat zu kleine Räume, und wo etwas gutes Älteres frei wird, kommt man immer zu spät, da unser Nest zu den langweiligen Vergrößerungspunkten gehört, wo von allen Seiten, trotz aller Krisen, stets neue Horden müßiger und unmüßiger Menschen zulaufen.

Der Umzug war eine große Peinlichkeit für mich, und ich verlor fast zwei Monate darüber. Zum Überfluß stürzte ich beim Einpacken von der Bücherleiter, aus der Nähe der Zimmerdecke, auf den Boden den Kopf aufschlagend, herunter, so daß mir leicht das Lichtlein hätte ausgeblasen werden können. Doch ging die Wunde zwar bis auf den Knochen, letzterer aber blieb ganz, und die Geschichte war in zehn Tagen zugeheilt ...

Meine Gedichte sind schon zu einem ansehnlichen Manuskript angewachsen, dessen Wachstum aber durch den Wohnungswechsel unterbrochen worden. Sie werden im Frühjahr, wahrscheinlich in Berlin, an den Tag kommen. Wenn Sie indessen etwas Schöneres lesen wollen, so lassen Sie sich die Gedichte meines Landsmannes Conrad Ferdinand Meyer (Leipzig bei Hässel) kommen; es ist seit Jahren nichts so Gutes in Lyrischem erschienen.

Leben Sie mit den Ihrigen glücklich den geliebten Weihnachtstagen entgegen. Ihrem guten Julbruder Storm will ich heute auch noch schreiben und Euch dann Euerer goldenen Kindheit überlassen.

Ihr schönstens grüßender
Gottfr. Keller.

An Theodor Storm

Zürich, den 21. November 1882.

Liebwertester Freund und Storm!

Endlich fließt mein durch allerlei Trubel gestörtes Wässerlein wieder so ruhig, daß auch die leichten Briefblätter darauf schwimmen können, wie üblich. Mein Wohnungswechsel verlief widerwärtig und mühevoll. Das Gerümpel eines seit 1817 bestehenden Haushaltes mit noch dreißig Jahre älteren Nichtswürdigkeiten, die sich immer mitschleppen, war wie verhext und von Bosheit besessen. Beim Öffnen einer alten Schachtel fand ich unser ehemaliges Taufhäubchen von rotem Sammet, worin vermutlich die sechs ›gehabten‹ Kinder der Mutter getauft worden sind. Eine dabei liegende dicke seidene Fallmütze in Form einer Kaiserkrone war mir bekannt, und ich wußte, daß ich sie selbst getragen hatte. Nun gut, eine Stunde später purzelte ich von der Bücherleiter mit einem Arm voll Bücher hinunter und schlug den Schädel beinahe zuschanden; man mußte mir die Schramme zunähen. Es war Sonntags am 1. Oktober, nachdem ich, wie gesagt, vorher meine Kinderfallmütze in der Hand gehabt von Anno 1820 oder 21. In diese Ironie des Schicksals mischte sich noch ein Tropfen Selbstverachtung; denn die Schuld des Sturzes lag in einer meiner Charakterschwächen. Ich war in den Laden eines Schusters gegangen, um ein Paar warme Pantoffeln für den Winter zu kaufen; da er keine passenden von der verlangten Art hatte, ließ ich mir mit offenen Augen ein Paar aufschwatzen, das für meinen Fuß anderthalb Zoll zu lang war, eben weil ich nie den Mut habe, aus einem Laden wegzugehen, ohne zu kaufen. In diesen Pantoffeln blieb, wenn ich darin stand, vorn vor den Zehen ein leerer Raum, und auf diesen trat ich, als ich, von der Leiter heruntersteigend, die untere Stufe suchte.

Derlei Ärgernis hat mich denn auch verhindert, vor Mitte Oktober auf das Museum zu gehen und Ihre ›Kirchs‹ aufzusuchen. Und als ich die Hälfte gelesen und nach einigen Tagen wieder hinging, war der ›Westermann‹ des Monats verschwunden und ein neuer an der Stelle, ganz ausnahmsweise; denn gewöhnlich kommt das Heft immer zu spät. So habe ich einstweilen nur sehen können, daß Sie mit kräftiger Hand, wie immer, geschrieben oder vielmehr geschafft haben, und obgleich ich die harten Köpfe, die ihre Söhne quälen, sonst nicht liebe (als poetische Gestalten), so habe ich doch schon gesehen, daß die Sache hier so sein muß, um die neue Schöpfung Ihrer Resignationspoesie organisch zu gestalten. Ich habe das Ende der Novelle schnell angesehen und muß nun noch das Zwischenschicksal des Sohnes erfahren. Die Wendung mit dem unfrankierten Brief ist ebenso schauerlich als verhängnisvoll. Man fühlt mit, wie wenn der alte Geldtropf ein Schiff voll lebendiger Menschen in die brandende See zurückstieße. Ich werde mir das Heft nächstens mit Beschlag legen, sobald es der fortschlepperische Verehrer wieder abgeliefert hat.

Nun sind auch die Gedichte von Conrad Ferdinand Meyer erschienen. Sie sollten sich den Band ansehen oder vielmehr fest anschaffen; es würde Sie nicht gereuen, und Sie werden an diesen langen Winterabenden auch Ihre Damen mit mehr als einer guten Vorlesung regalieren können. Auch dem Herrn Sohn, dem Juristen, würden die Sachen Freude machen.

Übrigens wünsche ich Ihnen, wie Freund Petersen, ein ausgiebig genießliches, feierlich geschäftiges Herannahen der Jultage mit hundert Vorschmäcken, namentlich einen gelungenen Märchenzweig, und hoffe, daß das Notwendigste, eine gute Gesundheit, dermalen reichlich vorhanden ist. Schönste Grüße von

Ihrem
G.Keller.

An Maria Knopf

Maria Knopf hatte im August 1883 Keller eine Sendung Kirschwasser aus der Besitzung ihres Vaters im Schwarzwald gesandt. Ihr Vater war Senator der Stadt Frankfurt a. M.

22. Januar 1884.

Verehrtes Fräulein!

In Ihrem gütigen Briefe vom 16. November haben Sie eine so liebenswürdige und anmutige Schilderung von sich selbst gemacht, daß ich mich nicht sympathischer erweisen zu können glaubte, als wenn ich meiner Trägheit den Zügel schießen ließ, um die holde Bequemlichkeit, deren Sie sich so artig beschuldigen, zu überbieten. Das hatte ich zwar nicht einmal nötig; denn von meiner Faulheit zeugt ja schon der kleine Katalog meiner Ihnen bekannten Werke, den Sie mir mitteilten und der trotz seiner Kürze so vollständig ist, daß ich Ihnen nicht ein noch ungelesenes Buch senden konnte, das aus meiner Fabrik hervorgegangen!

Ich habe zwar immer vor, mich noch recht fleißig zu erweisen, wobei ich auf die Langeweile, Geiz, Eigensinn und andere Übel rechne, welche manchen alten Leuten anhaften und sie zur Tätigkeit anspornen; allein ich bin noch keineswegs sicher, ob die Torheiten bei mir einen so günstigen Verlauf nehmen werden.

Nun danke ich Ihnen aber auch allerschönstens für die neuste Güte und den freundlichen blumigen Weihnachtsgruß! Sie sind ja eine stete reizende Wandelbarkeit in aller Ruhe, deren Sie sich erfreuen! Aus einer würdigen Matrone, die ich mir vorstellte, ist ein Fräulein, sogar eine Senatorstochter geworden, aus der Gärtnerin vom Schwarzwald eine Zuckerbeckin (wie man hier zu sagen pflegt); denn ich bin schon so vorwitzig, mir einzubilden, daß das süße Hausgebäck unter Ihrer eigenen Aufsicht entstanden sei.

Die Vorstellung solchen Fleißes hätte mich fast verleitet, an einem kleinen Roman, den ich jetzt schreibe, rascher zu arbeiten und das tägliche Pensum zu vergrößern; jedoch fürchtete ich bei reiflicher Überlegung, Ihnen durch ein so tobsüchtiges Gebaren zu mißfallen, was ich nicht wünschte.

Soeben fällt mir ein, daß im letzten Spätjahr ›Gesammelte Gedichte‹ von mir erschienen sind, die zwar kein Damenbuch genannt werden können und zum guten Teil Ihnen schon bekannt sind. Ich werde mir daher erlauben, Ihnen den unförmlichen und sehr problematischen Band gelegentlich doch zu senden und Sie zu bitten, die alten, noch kruden Wildlinge, die Sie haben, dafür zu verbrennen.

Da der Januar noch nicht vorbei ist, so schließe ich meine herzlichsten Wünsche für gegenwärtiges Schaltjahr an. Möge dasselbe Ihnen seine 366 Sonnen wenigstens in der Seele schon und gleichmäßig heiter aufgehen lassen und über Ihrem und des Kaisers Reich freundlich hinweggehen.

Ihr mit größter Hochachtung ergebener

Gottfr. Keller.

An Ferdinand Weibert

Kellers Stuttgarter Verleger.

Zürich, den 12. Februar 1884.

Hochgeehrter Herr!

... Die Idee einer illustrierten Ausgabe von ›Romeo und Julie‹ trifft merkwürdig mit einem ganz gleichen Angebote des Friedrich Bruckmannschen Verlags in München zusammen, welches mir neulich gemacht wurde, eventuell mit dem Ersuchen um meine Vermittlung Ihrer Einwilligung. Ein Künstler, hieß es, sei bereits für die Sache gewonnen. Ich habe jedoch für meinen Teil die Zusage abgelehnt, um meine Vertragsverhältnisse nicht zu sehr zu komplizieren; wie ich denn überhaupt für die Zeitrichtung, die Literatur immer mehr an das Schlepptau der Illustration zu hängen, nicht gerade begeistert bin. Ich fürchte, das große Lesepublikum werde zuletzt das selbsttätige innere Anschauen poetischer Gestaltung ganz verlernen und nichts mehr zu sehen imstande sein, wenn nicht ein Holzschnitt daneben gedruckt ist ...

Mit vorzüglichster Hochachtung

Ihr ergebenster
G. Keller.

An Marie von Frisch

Zürich, 15. Februar 1884.

Verehrte Frau Professor!

Es ist sehr gescheit von Ihnen, daß Sie die saubere Aufführung nicht länger dulden wollen, der ich anheimgefallen, und so hab ich endlich, abends zehn Uhr, mir ein Glas Rotwein zurechtgestellt, eine gute Zigarre angesteckt und fange an zu schreiben. Allein freilich merke ich bereits, daß es mit der Zigarre nicht geht, und schwanke einen Augenblick, ob ich mich nicht lieber wieder hinsetzen und rauchen will; doch die Tugend und Freundschaft siegt, und so bleibt es dabei, daß ich schreibe.

Haben Sie also tausendmal Dank für das Christkindchen, die pompöse Türkenschere, die so spitzig ist, daß man zwei schöne Dolche davon machen könnte. Sie schmückt herrlich meinen Tisch neben dem Falzbeinsäbel Ihres tapfern Bruders. Ich erhielt die Sachen pünktlich am Neujahrsmorgen, als ich beim Frühstück saß und mich freute, daß es kein Spätstück sei; denn ich war in aller Mäßigkeit um zwei Uhr nach Haus gekommen.

Auch für die geschmackvolle Idee, mir ein Tanagrawesen zu schenken, bin ich herzlich dankbar; wenn Sie's aber auch fertig bemalen sollten, so müssen Sie es doch nicht schicken, da dergleichen bei mir nicht fortkommt. Die ›abstaubenden‹ Weibspersonen demolieren dergleichen unerbittlich und brechen alles, was vom Leibe absteht, so daß die armen seinen Ärmchen, Händchen und Füßchen überall in Schächtelchen und Schälchen herumliegen, weil sie mich wegzuwerfen dauern, während die verstümmelten Figuren sich nicht einmal mehr kratzen können, wenn sie's beißt.

Der Grund meines Schweigens war ein schändlicher Haufen von Briefen, die sich zur Beantwortung angesammelt und mich melancholisch machten, so daß ich einfach zu streiken anfing und die Gerechten mit leiden ließ. Ich laboriere jetzt noch daran. Es gibt Leute, die einen gar nichts angehen und sich förmliche Korrespondenzen erzwingen wollen. Das Schönste war vor Weihnachten eine Anzahl Exemplare meiner eigenen Gedichte, die mir zukamen, um je eine Dedikation hineinzuschreiben für die Frau, den Mann, den Onkel und so weiter. Das mußte ich dann wieder verpacken und auf die Post befördern. Einer schickte ein extra schön gebundenes Buch, das ich seiner Frau freundlich widmen sollte, die ich so wenig kannte als ihn selbst. Ich war auf dem Punkte, es Ihnen zu schicken, es war sehr hübsch aussehend, schrieb aber doch eine undeutliche Redensart hinein. Ein anderer hatte die Sache selbst besorgt und mit meinem Namen versehen, es als meine Handschrift ausgebend. Nachher bekam er Furcht, es möchte auskommen und der Friede gestört werden. Er kaufte ein neues Exemplar, und ein Dritter mußte es mir senden und mir den Kasus anvertrauen, damit ich die Sache gutmachte ...

Ihre und des Bruders Exemplare liegen längst bereit, und Sie wissen jetzt, warum mir das Packen verleidet war. Ihr habt aber nicht viel verloren, da es unmöglich ist, in dem monotonen Zeuge lang hintereinander zu lesen. Wenn ich wieder auf die Welt komme, will ich es besser machen, wie ich auch normalere Ohrläppchen mitbringen werde. Ein Bildhauer, der neulich meinen Kopf modellierte, kam der Sache auch auf die Spur und behandelte sie mit großer Aufmerksamkeit, mir mit der Nase immer um die Ohren herumschnaufend. Er ist der erste, der nach Ihnen davon sprach. Allein ich habe auch seit Jahren einen Mondschein hinten auf dem Schädel, den man mir so konsequent verschwiegen hat, daß erst vor einem halben Jahre die Schwester mich darauf brachte, indem sie sagte: »Deine Tonsur fängt nicht übel an, sich auszubreiten.« »Ich weiß ja gar nicht, daß überhaupt ein Anfang da ist!« rief ich. »Ha, schon lang!« Ich nahm zwei Spiegel und erblickte wirklich das Entsetzen.

Sie haben recht, daß Sie sich des Lebens freuen, bleiben Sie gesund mit Mann und Kindern und mir freundlich gesinnt. Wenn ich etwas weiß, schreib ich schon einmal wieder.

Ihr
G. K.

An Marie von Frisch

Zürich, den 13. Januar 1885.

Verehrte Frau Professor und Gönnerin!

Ehe die erlaubte Frist zu sehr überschritten wird, muß ich mich nun doch daran machen, Ihnen für die weihnachtliche kosmopolitische Fraß- und Trinkbarkeitskiste meinen tiefgefühltesten Dank oder vielmehr tiefstgefühlten Dank abzustatten. Es ist alles so rührend und gut gedacht und verpackt, daß die getreuliche Mühe so gut schmeckt wie die Sachen selbst, und das hübsche Glas wie die grünen Tannenzweige lassen tröstlich hoffen, daß Ihr mir neben der Wein-, Käse- und Pumpernickelgesinnung auch noch etwas Höheres zutraut, etwas platonisch Transzendentales.

So schön und gut nun aber alles ist, muß ich Euch doch ernstlich ermahnen, aus Eurer Güte nicht eine beschwerliche Servitut erwachsen zu lassen. Auf diese Weise kommt das Übel in die Welt, und ich möchte doch nicht so einen alten Leviten oder Baalspfaffen abgeben, der das Volk mit Steuern, Zehenten und Brandopfern belastet, die er selber frißt!

In Ihrem letzten Briefchen vom vergangenen Sommer erwähnten Sie einer schweren Krankheit, welche Sie im Jahr 1883 erlitten. Ich habe in der Tat nichts davon gewußt. Adolf kam bei dem etwas tumultuarischen Anlaß seines Hierseins und den stets unterbrochenen Unterhaltungen nicht darauf zu sprechen. Um so fröhlicher wünsche ich Ihnen nachträglich Glück zur guten Genesung, als Sie und die lieben Ihrigen sich nun vortrefflich befinden!

Ihre drei Junkerleins reichen Ihnen gewiß schon über den Kopf und dem Herrn Professor an den Bart, und die Stiefel allein kosten wohl ein artiges Geld jährlich, was mich schadenfröhlich erheitert. Wie lange wirds gehen, so werden Sie ihnen die Militärmäntel im Hofe aufhängen, wie einst dem Bruder Serasin.

Regieren Sie nur immer froh und gesund mit Ihren leichten Händen, und tanzen Sie nicht zu heftig im beginnenden Fasching, sondern grüßen Ihr ganzes Haus, den Herren an der Spitze (und den Herrn Hofrat nicht zu vergessen, wenn er noch leben tut), recht herzlich von mir.

Ihr alter
Gottfr. K.

mit'm Rheumathisl am Rücken.

An Marie Melos

Zürich, den 19. Juli 1885.

Hochverehrte Freundin!

Im Trubel dieser vergangenen Woche (es war ein dreitägiges Bach- Händel- Fest hier)habe ich richtig versäumt, rechtzeitig an unsern alljährlichen Notenaustausch zu denken; als es mir gestern nachmittag endlich einfiel, war es zu spät, und ich hatte schon ein Telegramm geschrieben, um es heute früh abgehen lassen zu können, als Ihre und Ihrer guten Schwester freundliche Botschaft eintraf, Mrs. Kroeker nicht zu vergessen, so daß ich dreifach beschämt mich ans Lesen machen konnte.

Seien Sie höchlich bedankt und möge Ihnen Ihr lieber himmlischer Herr Vater es im neuen Jahre an nichts fehlen lassen, was zu Ihrem Heile dient, worunter ich indessen nicht etwa Zahnschmerzen oder andere körperliche oder moralische Heilsmaßregeln dieser Art mit verstanden haben möchte. Ich selbst bekomme leider kein Zahnweh mehr, dafür aber allerlei rheumatische Anzüglichkeiten und weiß aus Erfahrung, daß ich dadurch nicht mehr gebessert werde.

Das Telegramm ging heute dennoch erst um halb elf Uhr ab, da ich um zwölfeinhalb Uhr nachts noch in einer Gesellschaft gesessen und, weil der glorreiche 19. Julius einmal angebrochen war, gleich noch auf Ihr Wohl den bewußten Pokal getrunken hatte. Die Freunde glaubten, ich sei ein Verehrer irgendwelcher alter Götter, die längst heimgegangen. Ihren letztjährigen Champagnerstöpsel habe ich seinerzeit richtig erhalten und mit Rührung von allen Seiten betrachtet.

Meine liebe Schwester, der es nicht gut geht, war mit mir über Euere schönen Gaben erfreut und überrascht. Sie dankt sehr und wird das weiße Gestricke beim nächsten kühlen Luftzuge umtun, wenn sie ihre langsamen Spaziergänge auf der benachbarten Promenade macht.

Auf welche Dame Ihre Anspielung geht, wird mir deutlich durch den Namen Maria, den Sie ihr zu geben scheinen und der von einer Fräulein Knopf in Frankfurt a. M. geführt wird. Diese ist allerdings eine wohlwollende Gönnerin meiner Wenigkeit und originelle Korrespondentin; denn sie bringt in ihren Briefen nie mehr als zehn Zeilen zustande, wie sie behauptet, aus Dummheit; es ist aber reine Klugheit, lieber lesen als schreiben zu wollen. Letztes Jahr war eine Frau aus München oder Stuttgart hier, die mit großem Spektakel bei mir einrückte und verkündete, sie habe ein Vierteljahr krank im Bette gelegen und endlich sich an meinem vierbändigen ›Grünen Heinrich‹ gesund gelesen! Worauf sie behende weiter kugelte. Ich stand da, und war versucht, mich einen Augenblick neben Christum zu stellen, der mit einem Sälbchen von Kot den Blinden geheilt hat. Die Sache schien mir aber nicht geheuer zu sein mit meiner Wundertätigkeit, und ich ließ sie auf sich beruhen, ohne mich beim Heiligen Vater um die Seligsprechung zu bewerben. So viel von der Damenverehrung, deren ich, selten genug, teilhaftig werde.

Nun aber gehen Sie gesund und munter in Ihre Sommerfrischen hinaus und stärken sich gründlich für das Jahr 85/86.

Ihr getreulich ergebener
G. Keller.

An I. Schweizer-Labhart

Der Adressat hatte den Dichter um ein Urteil über die Gedichte seines Sohnes gebeten.

Zürich, den 4. November 1885.

Hochgeehrter Herr!

Ich kann Ihnen mit wenig Worten meine Ansicht von der Angelegenheit Ihres Sohnes nicht tiefer begründen, was auch nicht notwendig ist; so gut möglich, will ich Ihnen wiederholen, was ich ihm heute, als er seine Gedichtbände abholte, gesagt habe.

Die Gedichte verraten ein entschiedenes Talent, sich in poetischen Formen zu bewegen, und die in großer Zahl in so kurzer Zeit hervorgebrachten Gedichte beurkunden einen warmen Trieb, eine gewisse Leidenschaftlichkeit, es zu tun.

Das Alter jedoch, in welchem der Jüngling steht, läßt über seine Zukunft nur so viel sagen, daß er sich für eine wissenschaftliche oder literarische Laufbahn eignen wird; der Inhalt der Gedichte aber ist noch so beschränkt und dürftig, wie es bei dem Mangel an Erfahrung und Anschauung nicht anders sein kann, daß sich Bestimmteres gar nicht sagen läßt. Es ist möglich, daß er selbst in wenigen Jahren über seine poetischen Versuche hinwegsieht.

In allen Fällen aber kann er in seiner Lage nichts Besseres tun, als seine Gymnasialbildung gründlich vollenden, und wenn er ein Dichter werden, das heißt als ein solcher seine Lebenshoffnung erfüllen will, so hat er es doppelt notwendig.

Wenn er jetzt aus der Schule wegläuft, so verhindert er sich selbst, später, wenn seine Einsicht sich geändert hat, das Examen zur Aufnahme in eine Hochschule zu bestehen. Und wenn er zugleich auch in kein Bureau oder Werkstatt eintritt, so lernt er überhaupt nicht geregelt arbeiten, und daraus entstehen nicht Dichter, sondern literarische unglückliche Bummler. Nur etwa dann und wann ein Genie überwindet das. Und über das Vorhandensein von wirklichem Genie auf fraglichem Gebiet wage ich keinen Ausspruch zu tun. Aber wäre es vorhanden, auch dann heißt es vor allem auslernen und wieder lernen, und zwar nicht nur Verse machen, sondern alles, was die Welt zu lernen heischt und gibt.

Es ist hiebei nicht genug zu wiederholen, daß es in dem Alter von achtzehn Jahren mit dem Ausüben der Dichtkunst keine Eile hat und daß alle wirklichen Dichter zu vertilgen pflegen, was sie in diesem Alter gemacht haben, - daß anderseits dies das Alter ist, wo am meisten Unwiederbringliches versäumt oder verdorben wird.

Bei alledem muß ich darauf hinweisen, daß ich im übrigen die psychischen respektive moralischen inneren Eigenschaften Ihres Sohnes, welche diese oder jene Ausnahme begründen mögen, nicht kenne.

Ihr ergebenster
G.Keller.

An Maria Knopf

Zürich, den 30. Dezember 1885.

Verehrtes Fräulein Marie K.!

Ihre Weihnachtsgüte hat diesmal ein Stückchen Romantik veranlaßt. Ein guter Freund in Frankfurt, den ich letzten Sommer durch Paul Heyse kennen gelernt, ist von Ihrer Gebelaune ergriffen worden und hat mir am Weihnachtsabend ein Kistchen zukommen lassen, das durch einen am Vormittag eingetroffenen Brief angezeigt war. Der gleiche Postbote brachte abends die Kiste mit Ihrem Orangenbäumchen, das ich natürlich ebenfalls dem Herrn zuschrieb. Als ich am Weihnachtstage früh auspackte, wurde ich durch das schöne Bäumchen, das bis auf das letzte Blatt wohl erhalten ist, und seine siebzehn Goldfrüchte so begeistert, daß ich dem Absender die schönsten Komplimente über seinen feinen Geschmack schrieb und darüber vielleicht die schönen Dinge, die er selbst mir geschickt, vernachlässigte, so daß es ohne Zweifel eine Verwirrung absetzte, während das schalkhafte Bäumlein zierlich auf unserm Büfett steht. Einen Tag später kam dann die Schachtel mit Ihrem Brief und Gebäck an meine liebe Schwester und setzte wiederum mich in Verwirrung. Wir danken Ihnen schönstens für alles; die Schwester schreibt außer Waschzetteln und dergleichen nichts mehr, da es ihr nicht mehr recht aus der Feder will, sonst würde sie Ihnen selbst geziemend ihre Gefühle mitteilen, und so muß ich gewohnterweise auch hier wieder den Schreibknecht machen, was ich gern und von Herzen tue. Die Lebensregeln für das Bäumchen wollen wir so gut als möglich befolgen und hoffen, es so alt werden zu lassen, als wir selbst noch ausdauern, besonders, da es nur Wasser und keinen Wein trinkt. Wir wünschen nun Ihnen, dem Herrn Papa und Fräulein B. einen fröhlichen Jahreswechsel und Glück und Heil zum kommenden Jahr. Für den Fall, daß Sie die ›Deutsche Rundschau‹ noch nicht zu Hause haben, schicke ich Ihnen einen Separatabdruck des Anfangs meines Romans, der mir aber mager vorkommt. Es sollte besser kommen, wenn möglich.

Ihr dankbar ergebener
G. Keller.

An Ida Freiligrath

Hochverehrte Frau und Gönnerin!

Vor Jahr und Tag hab ich in schmählicher Weise Ihren freundlichen Brief unbeantwortet gelassen, obgleich er bis neulich auf dem Tische bei andern Leidensgefährten lag. Ich danke Ihnen für die nichtsdestoweniger am 19. Juli dieses Jahres eingetroffene Freundlichkeit Ihres guten Herzens nun doppelt heftig und erwidere alle Ihre wohltuenden Wünsche mit dem Ausdrucke meiner Hoffnung, daß Sie Ihren Kindern und Enkeln noch lange mögen so frisch und beweglich, die alte See befahrend, erhalten bleiben! Amen!

Meine Schwester läßt Sie vielmals grüßen. Sie ist immer gleich schwächlich und doch immer auf den langsamen Beinen. Ich selbst kann ihr freilich auch keine Tänze vormachen, da ich durch den langen Winter wieder steif geworden bin. Ich bin eben im Begriff, nach Ragaz ins Bad zu gehen, und lese nun, daß zwei Maharadjas mit je fünfzig Personen Gefolge dort angekommen sind und sonst eine unendliche Krapüle versammelt ist, namentlich auch aus Frankfurt und Berlin. Da ist mir nun der Spaß versalzen und heißt es warten oder anderswo hingehen, wo es vielleicht nicht besser ist. Am Ende versuche ich wieder einmal die alte Methode und lasse das Übel sich langweilen durch Nichtbeachtung, Frühaufstehen und dergleichen Schnurrpfeifereien, bis es von selbst abzieht. Jedenfalls kann es nicht ausgehen mit mir, wie das Hornberger Schießen, da ich noch Vorrat habe aus besseren Jahren, der aufgearbeitet werden sollte.

Meinen sogenannten Roman ??? Mattin Salander. habe ich Ihrer Fräulein Schwester geschickt. Es ist freilich mehr ein trockenes Predigtbuch als ein Roman und zudem leider nicht fertig. In meinem Lande ist es wohl verstanden und unter großem Gebrumme gelesen worden. Draußen aber haben nur wenige gemerkt, was es sein soll und daß es sie auch etwas angeht. So geht es, wenn man tendenziös und lehrhaft sein will. Ich bin froh, mich wieder an die ›zwecklose Kunst‹ halten zu können, wenn es eine gibt.

Noch habe ich ein Anliegen, welches an obigen Begriff erinnert. Als Sie mit dem bewußten Verewigten im Jahr 1846 von Zürich nach England reisten, schenkte mir Ferdinand unter anderem eine hübsche Radierung, Klemens Brentano darstellend, und ein von dem berühmten Kupferstecher Keller gestochenes Bild von Immermann. Beide hatten in seinem Studierzimmer gehangen und sind an sich beide von innerem Wert und jetzt seltene Blätter geworden oder gar nicht mehr zu bekommen. Da dünkte es mich nun artig, wenn sie, da ich nur noch beschränkte Zeit zu leben habe, wieder den Rhein hinunterzögen, wo sie herkamen, und wo sie geschätzt würden. Ich werde sie gelegentlich hinter den alten Gläsern hervornehmen und ein Poströllchen daraus machen. Mit tausend Grüßen

Ihr ergebener
G. Keller.
Zürich, den 9. August 1887.

An Marie von Frisch

Zürich, 7. Juni 1889.

Verehrte brave Frau Professorin!

Sie haben mich wieder sehr erfreut mit Ihrem Brief vom 3. März, für den ich schönstens danke. Ihre vier Haimonskinder stehen derweil mit andern Freundessachen auf meinem Schreibtisch und sehen zu. Ich wünsche zu allem, was Sie von dem rüstigen Leben der Ihrigen melden, Glück und Fortsetzung!

Daß ich meinem Siebzigertag aus dem Wege gehen will, haben Sie richtig vermutet. Ich gedenke, nachdem ich den Juni in Baden an der Limmat zugebracht haben werde, an einen Kurort am Vierwaldstätter See zu gehen und Luft nebst Wasserkünsten weiter zu genießen und mich dort still zu halten. Ich leide schon an dem Schwindel, indem es Lumpe gibt, die solche Unglückskandidaten schon Monate vorher um Material brandschatzen wollen. Ihr Wolfgangsee wäre ein schöner Schlupfwinkel, aber ich kann nicht so weit reisen, ehe ich von dem permanenten Hexenschuß im Kreuz hergestellt bin, wenn das überhaupt nochgeschieht. Die letzten zwei Jahre konnte ich nichts dagegen tun, weil ich die stets leidende Schwester nicht ganz allein in fremden Händen lassen konnte. Sie starb auf schreckliche Weise an einem Herzklappenfehler. Die letzten acht Tage konnte sie weder liegen noch sitzen noch irgend anlehnen und fand keine Luft mehr. Ich mußte auch lange Nächte aufpassen und in der letzten die ganze Nacht mit der Wärterin dabei stehen und mit den Händen bereit sein, wenn sie in einer Art Verlies, das wir gebaut, mit dem Kopf nach vorn oder seitwärts fallen wollte. Das kam mir kurios vor. Und doch mußte ich später lachen, als sie zur Ruhe war und die Weiber erzählten, wie sie eines Nachts, als die Wärterin, die sie an einer langen Schnur am Beine zu ziehen pflegte, wenn sie etwas bedurfte, im Nebenzimmer eingeschlafen war, mit dem Stock in der Hand sich hinschleppte, sah, daß sie schlief und das Licht ausblies, das sie natürlich bereit hielt. Ein wahrer Holbein! Und sehr liebenswürdig! Ich habe über die Zeit immer mit Heulen zu kämpfen gehabt. Ein Fläschchen Tokayer, das sich bei den schönen Weinflaschen fand, die Ihr mir vor einem Jahre oder so geschenkt, lieferte ihr die letzten Erquickungstropfen aus einem winzigen Gläschen. Von meinem jetzigen Leben will ich jetzt nichts sagen, ich glaub, ich bin reingefallen durch wohltätige Frauen, die alte Mägde gut versorgen wollen.

Sie haben mir, ehe der ›Martin Salander‹ noch fertig war, ein sehr schmeichelhaftes Briefchen geschrieben. Das Bücherbällchen, welches die Freiexemplare der Buchausgabe enthielt, habe ich, nachdem es seit Weihnacht 1886 in einem Winkel gelegen, erst dies Jahr aufgemacht. Sie und Adolf haben die Eurigen auch noch zu beziehen.

Ich weiß nicht, ob Sie schon hinter dem Schafberg sind; jedenfalls wird der Herr Gemahl, den ich schönstens und ehrerbietig grüße, noch in der Josefstädterstraße weilen. Ich hoffe dies Jahr wieder mobiler zu werden im Briefschreiben. 10000 Grüße

Gottfr. Keller.


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