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Berlin 1850-1855

An Ferdinand Freiligrath

Berlin, den 22. September 1850.

Lieber Ferdinand!

... Ich bleibe über Winter noch allhier, um im Frühjahr über Wien nach Hause zu reisen. Wenn jedoch nicht meine Mutter in Gestalt einer alten müden Frau sehnlich auf mich harren würde, so bliebe ich noch lange in Deutschland, denn für den Augenblick zieht mich sonst nichts nach Zürich. Weiß der Teufel, was das Freundesgesindel alles daselbst durcheinander macht! Denn auf verschiedene Briefe bekam ich keine Antwort, und aus den Nachrichten meiner Mutter ersehe ich, daß keine Seele etwa sich um meinen jeweiligen Aufenthalt oder Adresse erkundigt...

Lenaus Leichenbegängnis habe ich um so stiller und ernster in meinem Herzen gefeiert, als ich weder in irgend einem ästhetischen Kränzchen noch sonst mit einer literarischen Seele ein Wort darüber wechseln konnte, da ich in einer totalen Abgeschiedenheit lebe, stumm und nüchtern, wie eine Schildkröte. ›Bringen Sie Wasser herein! Die Speisekarte! Ich habe keine Kerzen mehr! Ich wünschte ein Dutzend Zigarren!‹ sind so ziemlich die einzigen Worte, welche manchmal wochenlang über meine Lippen kommen. Ich spekuliere aber desto mehr innerlich und lache in die Faust, wenn meine Gönner glauben, ich sei eingeschlafen. Es wird ein schreckliches Erwachen sein für dieselben, wenn meine schwarzen Taten endlich das Licht erblicken.

›Der grüne Heinz‹ ist endlich unter der Presse, und ich habe die ersten acht Bogen korrigiert. Er wird, höre und zittere! drei Bände stark werden, aus Rücksicht für - die Leihbibliotheken, welche übrigens damit angeschmiert sind; denn der Stil des Buches ist noch ziemlich breit und willkürlich und der Inhalt monoton und trübselig. Um so mehr freue ich mich auf ein forsches lebensfrohes Schaffen, das nun beginnen soll, nachdem es allmählich in mir reif geworden ist. Das subjektive und eitle Geblümsel und Unsterblichkeitswesen, das pfuscherhafte Glücklichseinwollen und das impotente Poetenfieber haben mich lange genug befangen. Ich lobe nur mein Phlegma, welches mich nicht noch mehr Dummheiten begehen ließ, als ich schon begangen habe zum Gaudium der andern Esel...

Dichter gibts hier eine Menge, an jedem Tische einen, welche überlaut vom Handwerk sprechen, ohne zu ahnen, daß in meiner Person ein gefährlicher und ehrgeiziger Nebenbuhler aus der gleichen Schüssel ißt. Sie essen ungeheuer viel, erscheinen jedoch unregelmäßig bei Tische, da sie oft geladen sind und es den Tag nachher erzählen: ›Gestern bei Geheimerats‹ usw. Daher sieht man gegen ein Uhr eine Menge dieser Leute über die Gassen rennen, den wunderbaren Frack zugeknöpft, nur ein Endchen weißer Weste unten hervorragend, oft, wenn es warm ist, den Hut in der Hand tragend und die blonden Locken fliegen lassend. Als ich sie zum ersten Male sah, glaubte ich, es wären elegante Schneider, welche zu ihren Kunden gehen. Manchmal, wenn es noch nicht ganz die Stunde ist, treten sie schnell in eine Konditorei und durchfliegen geschwind die ›Europa‹ oder das ›Morgenblatt‹, um etwas Stoff mitzunehmen; dazu essen sie ein zierliches Baiser und wechseln den unabänderlichen Taler, den sie immer bei sich führen. Ihr Lieblingsgetränk ist das sogenannte Bayrische Bier, eine abscheuliche Brühe, welche krank macht. Ich habe es im Anfang auch getrunken, verspürte aber bald ein verdächtiges asiatisches Mouvement in meinen Eingeweiden und faste jetzt lieber so lange, bis der Betrag einer halben Flasche Rotwein erspart ist, wozu ich dann jedesmal aus der Privatschatulle meiner Liederlichkeit die andere Hälfte füge und still und vergnügt eine Ganze trinke. Dies gibt mir Veranlassung, bessere Gesellschaft zu sehen in den Weinstuben, wo vernünftige Weinländer mit dicken Bäuchen und jovialen Gesprächen zusammensitzen, denen ich gern zuhöre in einer Ecke, den heimatlichen Lauten besserer Zonen lauschend. Auf der Straße sieht man diese rheinischen Gestalten nur selten; ich glaube, die Racker sitzen am Ende den ganzen Tag in den Löchern, während ich zu Hause sitze und die Finger krumm schreibe ...

Ich schicke diesen Brief an deinen Verleger; solltest Du denselben nicht erhalten, so melde es mir sogleich! Denn ich befürchte, Du habest den letzten auch nicht bekommen. Nun schirm Dich Gott, Du deutscher Wald!

Dein getreuer
Gottfried Keller.

An Wilhelm Baumgartner

Berlin, September 1851

Lieber Freund!

...Ich ersehe aus Deinem Briefe, den ich wieder hervorgesucht, daß Du behaglich und sicher gestellt bist und lebst. Um so eher wünsche ich, daß nun auch bald die Erfüllung Deiner höheren Interessen hinzutritt... Ich habe in Berlin die Gelegenheit benutzt und habe viele Konzerte besucht, allein mein musikalisches Urteil ist noch ziemlich auf dem alten Punkte, da ich seither keinen Umgang mit Musikern hatte. Hingegen bildende Künstler lernte ich sehr tüchtige kennen, und erfreue mich ihres Umganges. Die Oper mußte ich leider vernachlässigen, da ich mein Geld auf den häufigen Besuch des Schauspieles verwenden muß, so habe ich weder den ›Propheten‹ Von Meyerbeer (1849) noch irgend ein anderes Stück der Neuzeit gesehen und beschränkte mich darauf, die berühmtesten alten Sachen von Gluck und Mozart kennen zu lernen. Im Schauspiel aber habe ich, begünstigt durch die Marotten der hiesigen Herren, der Reihe nach alle Dichtungen von Shakespeare, Goethe, Schiller und viel französisches Lustspiel aufführen gesehen, was meiner Erfahrung zugute kam, so wie ich ausgezeichnete Gäste sah, und mit der Rachel, die zweimal hier war, das französische Wesen und zugleich eine geniale Gestalt studieren konnte. Die Berliner Schauspieler sind ohne Genie und bewegen sich, mit seltenen Ausnahmen, in langweilig anständiger Mittelmäßigkeit. Doch sind sie in der Komödie noch ganz gut gebräuchlich. Es ist mir von der Intendanz aus erst jetzt ein Freibillett angeboten worden als einem strebenden Jüngling, allein ich nahm es nicht mehr an, da ich doch öfter hingehen müßte und ich gerade jetzt nicht mehr Zeit habe, und mit meinen eigenen Produkten zu sehr beschäftigt bin. Ich habe eine mäßige Reihe von Stoffen, sowohl komische wie tragische, die ich durchführen will. Doch sind diese Sachen nicht das, was ich für das Absolute, auch in Hinsicht meiner persönlichen Verhältnisse, halte, vielmehr betrachte ich sie für eine Übergangstätigkeit oder einen Anfang, da einerseits ich selbst noch nicht bei der höchsten Erfahrung, deren ich mich fähig glaube, angelangt bin, und man andrerseits nicht wissen kann, welche Forderungen die kommenden Jahre durch ihre geschichtliche wie wissenschaftliche Entwicklung, beide nicht vorauszusehen, aufstellen werden. Inzwischen habe ich mir die größte Einfachheit und Klarheit zum Prinzip gemacht; keine Intrige und Verwicklung, kein Zufall usf., sondern das reine Aufeinanderwirken menschlicher Leidenschaften und innerlich notwendige Konflikte; dabei möglichst vollkommene Übersicht und Voraussicht des Zuschauers alles dessen, was kommt und wie es kommt; denn nur hierin besteht ein wahrer und edler Genuß für ihn.

Berlin hat mir viel genützt, obgleich ich es nicht liebe; denn das Volk ist mir zuwider. Im Winter frequentierte ich einige Zirkel, z.B. den der Fanny Lewald; fand aber das Treiben und Gebaren der Leute so unangenehm und trivial, daß ich bald wieder wegblieb. Hingegen gibt es treffliche Leute, die im Stillen leben und nicht viel Geräusch machen, sowie auch überhaupt hier einem immer etwas anfliegt, was man in den kleinen Städten Deutschlands nicht hat. Ein reger geistiger Verkehr, mag er noch so verkehrt sein, regt den einzelnen immer vorteilhaft an. Doch sehne ich mich recht herzlich einmal nach Hause und wünsche Berlin zum Teufel. Besonders die vielen Festtage des vergangenen Sommers im Vaterlande haben mir oft Heimweh gemacht.

Ich würde bei dieser Gelegenheit gern meine Gedichte und Roman mitschicken, allein ich habe sie nicht und weiß nicht, warum der Verleger sie nicht schickt. Von letzterem besitze ich nur den ersten und zweiten Teil und will daher noch warten. Ich lege einige Fetzen der Gedichte bei, die gerade bei der Hand sind. Doch wie gesagt, es sind alte Sachen, und ich bin mit vielen Schmerzen ein ganz anderer Mensch und Literat geworden, als dort ersichtlich. Ich mußte die frühere Gedankenlosigkeit und Faulheit büßen, besonders die Zeit, die ich in Zürich verlümmelt habe. Doch war auch meine Isolierung viel schuld, denn es galt in Zürich nicht für guten Ton, literarische und poetische Bestrebungen gründlich und wohlwollend zu durchsprechen...

Grüße mir alle Bekannten...

Wenn Du trotz meiner Felonie mir doch wieder schreiben willst, so tue es bald, da ich nicht weiß, wie lange ich noch in meiner jetzigen Wohnung oder überhaupt in Berlin bleibe. Mit tausend Grüßen Dein alter

Gottfr. Keller.
Mohrenstr. 6.

An Mutter und Schwester

Berlin, den 18. Februar 1852.

Liebe Mutter und Schwester!

Dein Brief hat mir aus einer großen Verlegenheit geholfen, indem er mir einen guten Anlaß gab, endlich einmal Nachrichten von mir zu geben. Ich befürchtete nämlich, daß es schlimmer bei Euch stünde wegen meines langen Ausbleibens und meiner hinterlassenen Verwirrungen, und ich wußte nicht, was ich schreiben sollte. Nun sehe ich aber, daß Ihr Euch, dank dem treulichen Ausharren Regulas, noch so leidlich durchgeholfen bis dahin; auch sehe ich an dem Briefe, daß Du noch nicht gealtert und alle Munterkeit des Geistes beibehalten hast, was schon aus der Handschrift hervorgeht. So fällt es mir also etwas leichter, endlich zu schreiben...

Leider habe ich soeben zwei gute Monate verloren durch Krankheit. Ich muß mich irgendwo schändlich erkältet haben; denn vor Weihnacht bekam ich starke rheumatische Kopfschmerzen, Husten, wie ich ihn noch gar nie gehabt, und gleichzeitig eine starke Geschwulst in der rechten Leistengegend, welche ich anfangs nicht achtete und mit kalten Umschlägen vertreiben wollte, wodurch ich sie so verschlimmerte, daß ein befreundeter junger Arzt bis jetzt zu tun hatte, um sie nach und nach mit Schmieren und Salben wieder zu verteilen, und ich noch froh sein mußte, daß sie nicht aufgeschnitten werden mußte.

Es tut mir sehr leid, daß Du nicht nur immer Sorgen wegen meiner Schulden hast, sondern auch noch einen unangenehmen Briefwechsel zu führen. Dem Oberrichter Dößekel in Aarau brauchst Du gar nicht mehr zu antworten: ich werde ihm nächstens den Text lesen... Den Kutscher Guland in Heidelberg, bei welchem ich gewohnt habe, bezahlte ich absichtlich nicht, und er wird auch nichts bekommen, bis ich durch Heidelberg nach Hause reise. Er soll für seinen Schneider büßen, seinen Freund, den er mir zur Arbeit empfohlen hat. Dieser Kujon, nachdem er mir Verschiedenes gut gemacht hatte, fand es bei meiner Abreise für zweckdienlich, mich noch ein wenig zu bemogeln. Ich ließ einen schwarzen Frack bei ihm machen und wählte in der Musterkarte, die er mir vorlegte, Tuch zu zwei Krontalern die Elle. Der Frack erschien und sah sehr fein aus; als er aber in Berlin anfing abgetragen zu werden, da ich ihn oft trug, so stellte es sich heraus, daß der Hallunk Halbtuch oder sogenannten Zephir genommen hatte, und ich entdeckte nun erst, warum ich an kühlen Frühlingsabenden so sehr gefroren hatte in dem Frack. Ich werde es dem Herrn und der Madame Guland freundschaftlich erklären, daß sie das lange Warten ihrem Hausfreund zu danken haben. Doch soll nun all dies Elend bald ein Ende nehmen...

Ich mußte jüngsthin meine sämtlichen Winterstrümpfe »anlismen« Schweizerisch: anstricken lassen. Mit den Hemden bin ich in Verlegenheit; ich habe mir schon ein paar Mal einige baumwollene gekauft, da die leinenen, welche ich von Hause habe, teils des Schnittes, teils der Grobheit wegen in der Gesellschaft nicht zu tragen sind; denn es wird hier mit der Wäsche ein schändlicher Luxus getrieben. Feine leinene mochte ich nicht anschaffen, da die Hausfrau, welche mir wäscht, alles zusammenreißt und doch nicht schön wäscht; sie läßt um den Teufel keine fremde Wäscherin ins Haus, welche die Sachen doch weiß und glatt machen fürs Geld, wenn sie dieselben schon auch zerreißen. Einzig das Hemd, welches eine breite Brust ohne Falten hat, trage ich, auch wenn ich wohin eingeladen bin, da es wegen seines wunderbaren Schnittes Aufsehen erregt. Als mich ein Frauenzimmer befragte, ob man in der Schweiz solche Hemden trage, sagte ich: ja, es sei ein schweizerisches Nationalhemd, und als solches darf ich es in den vornehmsten Gesellschaften tragen, da das Fremdländische immer nobel ist.

Inliegende Briefe bitte ich in den Briefeinwurf zu tun. Ich weiß noch nicht, ob ich frankieren werde, da ich gegenwärtig nicht sehr viel Geld habe. Ich will mich über Nacht noch besinnen. Ich grüße Euch tausendmal bis auf weiteres.

Euer Sohn und Bruder
G. Keller.

Das Nationalhemp geht nun auch bergab, da ich hinten den Hemperstock verkürzen mußte, um Salblumpen zu gewinnen.

An die Mutter

Berlin, den 12. Juni 1852.

Liebe Mutter!

Mein Freund Baumgartner, welcher mir kürzlich geschrieben, bemerkte mir in seinem Briefe, daß Du mich nun täglich zu Hause erwartest und deshalb nicht auf das Land gehest. So sehr ich mich wieder einmal nach unserer alten Stube zurücksehne, so muß ich doch leider noch einmal absagen und melden, daß Du immerhin nach Glattfelden oder Eglisau oder wohin Du eingeladen bist, gehen sollst, denn meine Heimkehr ist noch nicht möglich, indem meine Affären noch nicht so stehen, daß ich zu Hause meine Schulden bezahlen und etwas in die Haushaltung liefern könnte. Ohne dieses könnte ich freilich jeden Augenblick nach Hause kommen; aber das will ich einmal nicht. Damit es aber leichter kleckt, habe ich bei der Regierung noch ein letztes Viatikum nachgesucht. Die Herren haben zwar saure Gesichter gemacht, sind aber doch noch mit sechshundert Franken neues Geld ausgerückt und haben mir dabei verdeutet, daß bis jetzt noch keine Person so viel vom Staate bezogen habe. Ich bin daher nun auch von dieser Seite gedrängt, bald etwas von mir hören zu lassen und mich hervorzutun, denn für die dreitausend Franken, die ich im ganzen bezogen habe, will man endlich etwas geleistet sehen. Übrigens werde ich dies auch nach meinen Kräften tun, wenn ich einmal erst anhaltende Ruhe habe und nicht immer zu gleicher Zeit an das Essen denken, spekulieren, lernen und arbeiten muß, und die Leute, welche etwa glauben (wie mir zu Ohren gekommen), ich sei eingeschlafen oder versimpelt, werden sich sehr getäuscht finden. Ich beneide diejenigen nicht, welche auf der Schnellbleiche ihr bißchen Weisheit und Erfahrung oder vielmehr ohne Erfahrung zusammenstoppeln, gleich etwas Geld verdienen, heiraten und sogenannte wohlgeratene Herren sind, um nach einigen Jahren erst unzufrieden und unruhig zu werden und erst im vierzigsten Jahre noch aus Unzufriedenheit und erfahrungsloser Dummheit plötzlich sich als verspätete liederliche Käuze darzustellen oder sonst verrückt zu werden, wie dies schon öfter vorgekommen ist, wo dann kein Mensch das Wunder begreifen kann. Ich hoffe noch ein' und andern, der jetzt ein wichtiges Gesicht macht und mich für einen Schlufi hält, der zu nichts kommt, zu überdauern. Freilich fällt es mir schwer aufs Herz, wenn ich denke, daß Du und Regula zugleich darunter leiden, und daß Euch beiden darüber die Jahre vergehen. Allein ich kann meine Natur nicht ändern, und wenn ich einst mir einige Ehre erwerbe, so habt Ihr den größten Anteil daran durch Euere stille Geduld. Ich will Euch übrigens nicht weiter mit schönen Worten abspeisen und nur bitten, noch ein klein wenig auszuharren und inzwischen bald zu schreiben, wie es jetzt geht, obgleich ich es mir ungefähr denken kann... Ich grüße Euch tausendmal, sowie jeden, der nach mir fragt, ohne die Nase zu rümpfen.

Euer Sohn und Bruder
Gottfried Keller.
Mohrenstraße 6.

An Hermann Hettner

Berlin, den 15. Oktober 1853.

Lieber Freund!

Ihre freundlich besorgte Nachfrage, welche mich wohltuend berührte, obschon ich als Unkraut in keinerlei Gefahr schwebe, veranlaßt mich, Ihnen endlich den schuldigen Brief zu entrichten.

Vor allem wünsche ich, daß sich die Gesundheitszustände in Ihrer lieben Familie gebessert haben... Daß es Ihnen am Meere gut erging und gut gefiel, freut mich; ich bin nur neugierig, ob ich auch noch den Tag erlebe, wo ich wieder in eine vernünftige Gegend komme und entweder Meer oder Gebirg sehe. Die märkische Landschaft hat zwar etwas recht Elegisches, aber im ganzen ist sie doch schwächend für den Geist; und dann kann man nicht einmal hinkommen, da man jedesmal einen schrecklichen Anlauf nehmen muß, um in den Sand hineinzuwaten. Ich bin fest überzeugt, daß es an der Landschaft liegt, daß die Leute hier unproduktiv werden. Ich sagte es schon hundertmal zu hiesigen Poeten, die sich domiziliert haben, und sie stimmen alle ein und schimpfen womöglich noch mehr als ich; aber keiner weicht vom Fleck, lieber sterben sie elendiglich auf dem Platze, ehe sie von dem verfluchten Klatschnest weggehen. Wie sehr werde ich mich sputen, wenn ich einmal kann! Denn ich fühle wohl, daß ich hier auch eintrocknen würde. Ein Hauptgrund zu der Impotenz ist auch die verfluchte Hohlheit und Charakterlosigkeit der hiesigen Menschen, die gar keinen ordentlichen fruchtbaren Gefühlswechsel und -ausdruck möglich macht. So kommen die Leute aus dem Rechten heraus, ohne zu wissen, wie es eigentlich zugegangen. Doch muß ich gestehen, daß für die eigentliche Gelehrtenwelt die Sache sich anders verhält und hier eine gute Luft zu sein scheint oder wenigstens einmal war.

Ein vorübergehender Aufenthalt hier hingegen ist jedenfalls auch für künstlerische und andere Seiltänzernaturen gut...

Ich kann jetzt endlich sagen, daß ich in ein kontinuierliches und ergiebiges Arbeiten hineingekommen bin und denke mich binnen einem Vierteljahre herauszufressen. Das Romanzerogedicht werde ich auf Weihnachten nun doch allein herausgeben, da es in dem Gedichtbändchen nicht mehr Platz hatte, ›weil die vorrätigen gepreßten und vergoldeten Pappdeckel zu eng seien‹. Das kommt von unserer Buchbinderpoesie. Man wird nächstens leere Einbände kaufen mit schönen Titeln. Vieweg hat vor zwei Jahren die starke Zahl von 1500 gedruckt mit der Bedingung, daß er nach einiger Zeit den Rest, der nicht verkauft sei, als zweite Auflage mit Vermehrung, die ich unentgeltlich liefern muß, versende. Die Auflagen der Geibel usw. sind nur 500 stark; Vieweg hat mir also drei Auflagen mit einer abgezwackt. Doch muß er mir nun den Romanzero erklecklich bezahlen...

Ein Bändchen Novellen ist ganz spielend entstanden, und Vieweg wird es wahrscheinlich mit dem vierten Band des Romans zusammen herausschicken. Nur fürchte ich, daß nun zuviel nacheinander kommt und ich den Anschein eines anmaßlichen Schmierers gewinne, da die Leute nicht wissen, wie langsam und jämmerlich es bei mir herging.

Ich werde Ihnen nächstens wegen des Romanes noch einmal schreiben und schließe daher für heute.

Mit tausend Grüßen Ihr
G. Keller.

An Hermann Hettner

Lieber Hettner!

Der Umstand, daß Sie Ihren Wohnort geändert und nach Dresden übergesiedelt sind, ohne mir etwas darüber zu schreiben, läßt mich fast befürchten, daß Ihnen entweder etwas zugestoßen sei oder daß Sie etwas gegen mich haben... Wenn Sie jedoch wohl sind, so bitte ich Sie, mich etwas hören zu lassen und vorzüglich, wenn Sie sich über mich zu beschweren haben, mir es deutlich zu sagen; denn zu allen Erfahrungen wäre mir dies die bitterste, alte Freunde zu verlieren nur aus dem Grunde, weil ich mich nicht rühren kann und weil mich die niederträchtige Gemeinheit der Leute solang als möglich in einem unseligen Bann eingeschnürt hält. Ich habe erst vor sechs Wochen das letzte Kapitel meines Romanes, und zwar am Palmsonntag, buchstäblich unter Tränen geschmiert und werde diesen Tag nie vergessen. Nachdem mich nun Vieweg vorher fast gefressen um das Manuskript, läßt er den vierten Band ruhig liegen und vorenthält mir jede Antwort und billige Abrechnung wahrscheinlich aus erbärmlicher Rachsucht, weil ich gezwungen war, mit Scheube einen Kontrakt einzugehen. Ich hatte mich so darauf gefreut, nun jeden Monat dieses Frühlings und Sommers einen alten Entwurf abzutun und mich bis zum Herbst in jeder Beziehung herauszumachen, und nun ruiniert mir dieser brutale Hund alle die schönen Tage und alle Hoffnungen. Denn abgesehen von der pekuniären Ausgleichung entzieht er mir durch die perfide Verschleppung oder gar Unterschlagung des vierten Bandes die notwendige Aufeinanderfolge meiner Produkte und den kleinen äußerlichen Erfolg, den ich gegenwärtig so wohl brauchen könnte.

Dazu kommt, daß ich gegenwärtig etwas erlebe, was einem heitern und schönen Sterne zu gleichen scheint und mir vielleicht nur durch diese Misere und Verbitterung verloren geht. Gemeint ist die Liebe zu Betty Tendering. Sie werden also wohl fühlen, daß ich meinerseits nicht zum Briefschreiben eingerichtet bin, da ich manchmal nicht weiß, wo mir der Kopf steht; und ich tue es jetzt nur, weil mich eine Unruhe plagt und eine schlimme Ahnung, als ob überall etwas gegen mich vorgehe.

Scheube wird einen Band Erzählungen von mir drucken unter dem Titel ›Die Leute von Seldwyla‹. Er ist auch selbst daran schuld, daß er ihn nicht schon hat; doch bin ich jetzt daran und werde ihn wohl diesen Monat fertig bringen.

Es nimmt mich wunder, wie Sie in Dresden leben, und was Ihre verehrte Frau und Ihre Kinder machen. Wenn Sie also immer können oder aufgelegt sind, so seien Sie so gut, mir ein paar Zeilen zukommen zu lassen! Ich wohne noch Bauhof Nr. 2.

Mit besten Grüßen an Sie und die Ihrigen

Gottfried Keller.
Berlin, den 9. Mai 1855.

Wird denn Ihre Literaturgeschichte nun herauskommen?


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