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Bei einem späteren Besuche sah ich flüchtig auch des Dichters Tochter. Er sprach jetzt behaglich über sein Haus und die Seinen, auch über die an ihn ergangene Einladung nach Weimar zu den Jagden des Großherzogs. Noch heute nach so langer, langer Zeit entsinne ich mich, daß mir bei dieser Rede unwillkürlich die herrliche Stelle aus »Siegfrieds Tod« einfiel, wo der junge Held das Lob des Weidwerks mit den Worten »O Jägerlust!« beginnt. Lächelnd erledigte der Dichter die Bitten meiner zudringlichen Freunde um seine Eigenschrift. Es befand sich darunter das Epigramm:
»Was den Menschen am meisten in Kunst und Leben zurückhält? Daß er auf Brücken sich gern ewige Wohnungen baut.«
Beim Abschied streckte er mir die Hand entgegen: »Also auf Wiedersehen in Wien!« Das waren leider die letzten Worte, die ich aus seinem Munde vernahm.
Im Sommer des folgenden Jahres 1863 erfuhr ich, daß Hebbel zwar wieder in seinem Gmundner Heim anwesend, aber sehr leidend sei. Und wieder klopfte mich am Seeplatz »der Elegante« zutraulich auf die Schulter und sagte: »Wissen Sie, mein Lieber, daß Hebbel hier ist?« Ich bejahte es. »Denken Sie,« fuhr er fort, »ich wollte zu ihm, wurde aber gar nicht vorgelassen.« Ich suchte ihn aufzuklären über die Ursache, aber er war in seiner Eitelkeit so blind, daß er sich von mir wegbewegte mit den Worten: »Es ist nichts mit ihm zu machen, er ist ein sonderbarer Mensch!«
Wenn ich eine Freude oder einen Schmerz im Innersten erlebt habe, so verwandelt sich diese Stimmung zu meiner Gebieterin. Erst, wenn sich beides beschwichtigt hat, überkommt mich die poetische Freiheit, und ich gestalte. In meiner ersten Sorge erkundigte ich mich näher um das Befinden des leidenden Dichters. Die Auskunft war keine tröstliche, obgleich wohl außer der Gattin kaum jemand den furchtbaren Ernst der Krankheit damals schon ahnen mochte.
In einer Stunde düsterster Begeisterung schrieb ich an den kranken Dichter einige Zeilen der schmerzlichsten Teilnahme mit der Versicherung, daß mich nur die Sorge um sein Befinden diesmal von seiner Schwelle gebieterisch zurückgehalten habe, um seine Ruhe nicht zu stören. Noch entsinne ich mich, daß der Brief bei meiner Phantastik sich in ein Gedicht verwandelte, dessen Schlußstrophen mir aus Vergessenheit allein in Erinnerung geblieben sind. Sie lauteten:
»Schenke mir kein Wiedersehen,
Genius, es ist genug!
Dieses Bild wird nie vergehen,
Das ich in der Seele trug.
Herrlich magst du weiterlenken
Deinen Lauf ins Weltgewühl, –
Bleibt mir ja doch, dein zu denken.
Das unendliche Gefühl!« –
Auf dieses Schreiben hin erhielt ich sofort einen Brief von Hebbels Hand, der bis zur Stunde in hundert bösen Lebenstagen mein Trost und meine stille Erbauung geblieben ist. Ich führe ihn an. Der Brief, den ein Bote aus dem Hebbelhaus überbrachte, trägt die Anschrift: »Sr. Wohlgeboren dem Herrn Stud. Fr. Xaver Keim in Gmunden« und lautet:
»Geehrtester Herr! Empfangen Sie meinen herzlichen Dank für das Gedicht, daß Sie die Güte hatten, mir zu senden, und für die Teilnahme, die Sie mir darin so warm und poetisch ausdrückten. Leider kann ich Sie nicht einladen, mich zu besuchen, denn mein körperliches Befinden, schon schlecht seit dem März-Monat, ist noch immer wechselnd wie das diesjährige Wetter und erlaubt mir nur selten, jemand zu sprechen. Aber ich hoffe, daß Sie mich im Herbst in Wien oder nächstes Jahr in Gmunden entschädigen werden. Ihr hochachtungsvoll ergebenster Hebbel.
Gmunden, den 30. July 1863.«
Das Schicksal hatte aber anders beschlossen. Traurige Familienverhältnisse, insbesonders eine lebensgefährliche Erkrankung und wenig nachhaltige Operation meiner vielgeliebten Mutter, Unzufriedenheit, Schwermut und innere Unrast quälten und verfolgten mich, machten mich völlig menschenscheu. Nur ein kurzer Lichtblick erfreute in jenem Herbste noch mein trübes Gemüt, die Erstaufführung des ersten Teiles von Hebbels Nibelungen: »Der gehörnte Siegfried« und »Siegfrieds Tod« im Wiener Hofburgtheater. Ein Dutzend guter Freunde und akademischer Kollegen hatten wir uns nach tapferer und geduldiger Ausdauer stundenlangen Harrens die ersten Plätze des zweiten Parterres des alten Kunsttempels erobert und genossen das gewaltige Werk in der besten Besetzung des Hauses mit Josef Wagner als Siegfried, Charlotte Wolter als Krimhild, Frau Rettich als Ute, Gabillon als Hagen, Lewinsky als Kaplan und – last not least Christine Hebbel als Brunhild. Der Beifall war ein titanischer. Die Nibelungen erhielten den ersten Schillerpreis. Laube hatte mit ihrer Aufführung eine alte Ehrenschuld eingelöst. An der Bahre Siegfrieds erklang der erste, nachher sprichwörtlich gewordene, berühmte »Wolterschrei«. Erst in den siebziger Jahren inszenierte Dingelstedt den letzten Teil »Krimhilds Rache« mit gleichem Erfolg und noch stimmungsvoller im Bühnenkolorit.
Im November dieses Jahres – ich hatte nur dunkle Kunde vom schweren Leiden des Dichters erhalten – saß ich auf der Freiung in einem Café, griff nach einem Zeitungsblatt und fuhr wie vom Blitz getroffen zurück: Friedrich Hebbel war tot!
Das war für meine junge Seele ein tiefer, ein schmerzlicher Verlust. Nur um so inniger versenkte ich mich in seine Werke. Ich ahnte nicht, daß ein dreißigjähriger Krieg nun erst entbrennen mußte, um das Unverständnis der Zeit, und den Widerstand der Berufsgenossen des Dichters, die Mattherzigkeit der Bühnen zu besiegen; ein Kampf, der, dank der Liebe und Treue seiner edlen Witwe, mit dem Triumphe der Muse Hebbels geendet hat. Mir aber war dieser Krieg ein geistiges Stahlbad.
Wohl dem, der so glücklich ist, einem der Unsterblichen auf seiner Lebensbahn durch Zufall oder freie Wahl zu begegnen! Doppelt glücklich, wenn es in der frühen Jugendzeit geschah, wo die Seele durstig nach dem Edlen begehrt, wo die Sehnsucht nach den höchsten Zielen strebt, wo die Kraft noch rein und ungebrochen ist. Mögen nachher noch so dunkle Jahre kommen – sie kamen über mich! – ich sagte mir in aller Finsternis der Zeiten: Nur zu! Ich habe meinen Stern gesehen!
Damit soll nicht gesagt sein, daß ich etwa den Mangel eines sonnenfreudigen Humors in Hebbels Werken nicht empfunden hätte. Seine erst spät bekannt gewordenen Tagebücher belehren uns über die dürftige, der härtesten Entbehrung, der peinlichsten Zurücksetzung preisgegebene Jugendzeit des Dichters, auf den sich des Vaters düsteres Gemüt vererbt hatte. Es war sein Schicksal, im Leben wie in der Kunst eine Kampfnatur zu werden, der schließlich die Waffe an die Hand wuchs.
Einseitigkeit war meinem Wesen fremd und so suchte ich bei ungeschwächter Pietät und Liebe für diesen reckenhaften Ernst das sonnige Element bei Meistern, wo ich es finden konnte. In der Entwicklungszeit des Geistes ergeht es dem Menschen ähnlich, wie in der des Körpers. Wenn er auch gewisse Speisen zurückweist, weil sie seinem Organismus widerstreben, so verschlingt er doch eine Fülle mannigfaltigster Art, um sich stofflich aufzubauen. Meine Natur hatte immer etwas vom Weidenbaum. Die Wirklichkeit weiß immer dafür zu sorgen, daß diesem unerbittlich Zweig um Zweig geraubt, seine Krone zerhackt wird. Selbst sein Stamm, durch rauhe Eingriffe verletzt oder gespalten, scheint nahezu dem Untergang geweiht. Aber Sonnenschein und Regen beleben und begrünen unbekümmert um jede Not, seinen Leib und stärken seine Wurzeln. Er verjüngt sich jedes Jahr, während hochgewipfelte Bäume oftmals sterben müssen.
Ein ergänzendes Gegenbild zu Hebbels Herbheit fand ich in Otto Ludwigs Werken. Auch diesem Dichter ist die Zeit erst nach Jahrzehnten gerecht geworden. Damals stand ich einsam mit meiner Begeisterung vor den ratlosen Gesichtern der Alleswissenden. Sie kannten ihn kaum. Ueber diese Unwissenheit spricht spät und bemerkenswert noch Heinrich Bulthaupt in seiner »Dramaturgie des Schauspiels«. Laube hatte dieses Dichters »Erbförster« und »Makkabäer« nicht so sehr aus »Wahlverwandtschaft«, als vielmehr als Trumpf gegen Hebbels Kunst ausgespielt. Aber wir haben Grund, ihm dafür dankbar zu sein. Weniger in Ludwigs Bühnendichtung, als vielmehr in seinen Meistererzählungen »Heitereitei« und »Zwischen Himmel und Erde« kommt jener sonnige, oft durch Tränen lächelnde Humor zu Tage, der den vollen, tiefen Blick in das Herz der Welt besitzt. Der Genuß dieser Werke ermunterte mich, in das Studium der dichterischen Technik mich zu versenken. Josef Lewinsky war es, der mich auf Otto Ludwigs »Shakespearestudien« wenige Jahre später hinwies.
Ich werde an anderem Orte Gelegenheit nehmen, die Bedeutung dieser Studien für meine künstlerische Entwicklung und meine Anschauung über die Natur des deutschen Dramas in zwei Abhandlungen, die ich einzeln veröffentlichte, darzutun.
Trotz aller Verdüsterung meines Daseins trat manchmal der wirkliche Lebenshumor von außen an mich heran.
So hatte ich im Jahre 1864 mit meinem Freunde Lux, dem Danziger, im Gasthause verabredet, zur dreihundertjährigen Geburtsfeier Shakespeares nach München zu fahren. Ein kleinstädtischer Ladenjüngling, der unser Gespräch vernahm und uns flüchtig bekannt war, erklärte, er wolle an unserm Vorhaben teilnehmen. Die Schicklichkeit verbot, ihn abzuweisen. Er blieb bei seinem Vorsatz, auch dann sogar, als ihm der sarkastische Danziger mitteilte, daß wir weniger die Gasthäuser als vielmehr das Hoftheater, die Pinakothek, die Kliptothek und die Bavaria besuchen würden. Der Jüngling hatte zwar von all diesen Dingen und ihrer Bedeutung nicht den leisesten Begriff, aber er bestand auf seiner Zulassung. Und so fuhren wir denn zu dreien, Lux, der sarkastische Buchhändler, ich, der phantastisch melancholische Poet und Herr Lindinger, der von keiner Kunstvorstellung angekränkelte Ladenjüngling, nach München, in den »Bambergerhof.«
Es war dem betreffenden Sohn Merkurs nicht zu verdenken, daß er mit der Vorstellung des Begriffes »München« absolut nichts anderes zu verbinden wußte, als die ungestörte Löschung des Durstes durch beliebige Krüge bayrischen Bieres. Das Lexikon seines Gehirnes wechselte nur immer mit der Frage, ob Hofbräu, Pschorr, Salvator oder Spaten. Was nicht gemalzt war, schien jeder Bedeutung zu entbehren. Es war daher auch kein Wunder, daß unser Verweilen in den Galerien vor den köstlichen Gemälden, unsre Pilgerschaft in die Residenz und in die Kirchen zu den großen Fresken, endlich gar unsre unerklärliche Andacht vor den stummen Steinbildern der Kliptothek anfänglich sein Staunen, dann seine Gelangweiltheit, endlich seine ausbrechende Ungeduld erweckte. Nur vor dem schlafenden Faun schien der Gemischtwarenjüngling eine Offenbarung des Geistes zu verspüren, indem er diesem Schlummer etwas kühn ein Motiv der eigenen Erfahrung unterschob mit dem lachenden Ausruf: »Schau'n S' an, der hat ja einen Schweigel!« Wenn wir auf solche Gedankenrichtung nicht eingingen und in diesen Räumen, die ihn zu gewaltigem Gähnen hinrissen, länger, als er für billig fand, verweilten, so erweckte uns aus unsrer Beschaulichkeit jedesmal der zornige Jammerschrei: »Geh'n wir zum Pschorr!«
Mit solchen Vorkenntnissen über Münchens Weltbedeutung ausgerüstet, hatte der Jüngling gewissermaßen ein Recht, unser Verhalten wunderlich, unsern Gesichtskreis beschränkt zu finden.
Ich hatte nun meine liebe Not mit dem Danziger, der nun bald seine böse Schnauze nicht länger bändigen konnte und auf die wunderlichsten Fragen des Jünglings die unglaublichsten Antworten erteilte. »Sie sollten sich photographieren lassen, Herr Lindinger,« sagte er. »Und zwar beim berühmtesten Lichtbildner, beim Hanfstängl, damit wir ein ewiges Andenken besitzen.« Gesagt, getan. Ich besitze bis heute noch das Bildchen. Ein ganz netter, freundlich blickender, junger Mann, der den Plaid, glattgestrichen, wie ein Brett oder ein Auslagemuster über die Schulter hängen hat. Warum glattgestrichen? Jeder Beruf hat eben auch seinen Geschmack. Und das kam also. Nach sorgfältigster Beschauung im Spiegel und Ordnung des wohlgescheitelten Haares, nach Anlegung der allerfreundlichsten Miene fügte sich der Auserkorene dem Gebote des Blitzmeisters »ich bitte, jetzt recht ruhig und freundlich zu blicken«. Alle hielten wir eben den Atem an, als Herr Lindinger plötzlich ausrief: »Aushalten! Der Plaid hat a Falten!«
Kühn geworden, als endlich das Experiment gelang, begehrte er unser weiteres Programm genau kennen zu lernen. Lux erläuterte: »Heute, zwei Uhr nach Tisch Droschke bestiegen und die Bavaria besichtigt. Hierauf zurück zur Jause in den Gasthof; abends sieben Uhr ins Hoftheater zur Festvorstellung.« Er war einverstanden. Alle drei bestiegen wir eine Droschke. Plötzlich fragte Lindinger: »Mit Verlaub, wer ist denn eigentlich diese Bablaria?« Lux lachte und sagte scharf: »Das wissen Sie nicht? Das weiß doch alle Welt. Sie war die Geliebte des alten Königs Ludwig.« Lindinger starrte ihn an. Lux fuhr fort: »Das Denkmal hat sie erhalten als große Erfinderin.« Lindinger fragte mit großen Augen: »Ja, was hat sie denn erfunden?« »Die Krinoline und das bayrische Bier!« donnerte Lux. Ich wand mich in Krämpfen. Der Jüngling murmelte: »A sakra!« Das Riesenbild wurde von außen und innen besichtigt. Als wir aus dem untersten gewölbten Räume uns entfernten, sagte der Jüngling zurückdeutend mit überzeugter Stimme zu mir: »Das war die Krinolin von der Bablaria.« Die Rückfahrt wollte er allein in einer Droschke absolvieren, weil es bequemer und nobler sei. Wir banden ihm auf die Seele, die verabredete Zeit einzuhalten und bestiegen zu zweien den nächsten Wagen. Es ward fünf Uhr. Die Jause im Gasthof war vorüber, aber kein Lindinger erschien. Es ward sechs Uhr. Noch kein Lindinger. Um dreiviertel auf sieben hinterlegten wir seinen Theatersitz beim Portier des Gasthofes und eilten ins Theater. Kein Lindinger hier. Die Vorstellung begann. Man gab ein wohlgemeintes, aber jeder dramatischen Spannung entbehrendes, kraftloses Schauspiel des alten Holtei »Shakespeare in der Heimat«, das mich gründlich enttäuschte und keine innere Teilnahme aufkommen ließ. Akademisch kindlich kalkuliert mit herbeigezogenen biographisch-literarischen Anspielungen. Als der erste Akt zu Ende war, kam plötzlich Lindinger, schwitzend und fauchend zu uns ins Parkett. »Wo steckten Sie denn, in Teufels Namen?« donnerte Lux. »Ich?« sagte der atemlose Jüngling, »ich hab' den Namen unseres Gasthofes vergessen. Wie heißt denn unser Gasthof?« Grimmig fletschte Lux: »Na – Bambergerhof! Sie Mensch, Sie!« – »A sakra! Ich hab' zum Kutscher g'sagt: Ich will zum Bramberger! Der hat mich vor alle Gasthäuser g'führt und ganz zuletzt wieder hinaus zu der Bablaria! Der Hundskerl! Und zahlen hab' ich müssen, daß es eine Schand ist! Gott sei Dank, jetzt bin ich da!«
Begreiflicherweise fand er sich schwer in das Stück hinein, das nur mit literarisch verwässerten Voraussetzungen arbeitete. Kein Wunder, daß ihm die Geduld riß. Kein Wunder, daß er, der Unbegreiflichkeiten müde, sich zuletzt an uns mit der heftigen Frage wendete: »Mit Verlaub, wer is denn eigentlich der Dichter, der »Scheangsbör?« »Was?« schrie Lux ohne Rücksicht auf das uns verdächtig messende Parkettpublikum, »was? Sie kennen diesen Mann gar nicht? Sehen Sie ihn denn dort nicht sitzen?« »Was? Er ist da?« schrie jetzt ganz in freudiger Neugier der Jüngling. »Wo sitzt er denn?« Mit eisiger Zeremonienmeistermiene deutete Lux in die Höhe und sagte weithin verständlich: »Dort sitzt er, in der Hofloge, in der Husaren-Uniform!« – Die Wirkung war unbeschreiblich. Aller Blicke aus nächster Nähe tangierten uns mit gräßlicher Verachtung. Ich wünschte in die Erde zu versinken. Herr Lindinger aber rief vor Erstaunen: »A sakra!« – Andern Tags floh ich aus München. Als ich nach vielen, vielen Jahren wieder mit meiner Frau fast auf derselben Stelle inmitten des Parketts jenes Hoftheaters saß, um Sudermanns »Drei Reiherfedern« zu genießen, dachte ich mit Wehmut an jene ferne, heitere Jugendepisode. Beide Männer sind mir längst entschwunden. Lux nach England und Amerika. Ob beide noch leben, ich weiß es nicht. Aber ich bin der Erinnerung dankbar, sie leben in mir.
Auch der Schweiz stattete ich einen wanderfrohen Besuch ab. Ich befuhr den Vierwaldstättersee, sah die Tellskapelle und den Löwen von Luzern. Ich verweilte in Zürich, bestieg den Uetli und besuchte die Insel Ufnau, um Ulrich von Huttens Grab zu sehen. Ein grünes Blatt vom steinernen Kreuze habe ich mir mitgenommen und wieder – verloren. Umso andächtiger studierte ich später die Lebensgeschichte dieses armen »Ritters vom Geiste« aus dem Buche von David Strauß. Damals dozierte der berühmte Aesthetiker Professor Dr. Theodor Friedrich Vischer am Politechnikum von Zürich. Ich hatte mich bereits in seine »kritischen Gänge« eingelesen; namentlich in jene geistvollen Probleme einer Fortsetzung des ersten Teiles der Goetheschen Faust-Dichtung. Neues, morgenhelles Licht strömte mir da entgegen. Was ich aber damals nicht wußte, und erst später erfuhr, das war die Tatsache, daß Zürich damals einen zweiten berühmten Hochschullehrer besaß, einen genialen Theologen, dessen Werke »Leben Jesu« und »Rom und das Christentum« nicht minder hoch bewertet wurden, als die weltbekannten Arbeiten des Franzosen Renan. Dieser gelehrte Theologe trug meinen Familiennamen; er hieß Professor Dr. Theodor Keim. Meine Sehnsucht trieb mich aber zu Theodor Vischer. Ich erbat mir die Erlaubnis, seinem Kollegium (über Ferdinand Raimund usw.) anwohnen zu dürfen. Ich lernte ihn auch aus der Nähe kennen. Er stand damals ungefähr in den Fünfzigern und schien wohlerhalten. Getrennt von seiner Frau, lebte er einsam wie ein alter Junggesell. Er hatte eine Lieblingskatze, die mir sofort auf den Schoß sprang. Ich glaube, sie hieß Mäggi. Er sprach mit Anerkennung und Pietät von Hebbel. Er schien innerlich nicht glücklich. Ich entsinne mich, daß er einmal den Ausspruch tat: »Ich leide an einer unheilbaren Krankheit – ich werde alt.«