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Thomas More

Von Karl Kautsky

1. Englands ökonomische Situation im Beginn des sechzehnten Jahrhunderts.

Wir haben am Schlusse eines früheren Buches, dessen Fortsetzung das vorliegende bildet, England zu Ende des vierzehnten Jahrhunderts geschildert, nach dem Bauernaufstand von 1381, der zwar nicht den Sieg der Bauern gebracht hatte, aber auch keine solche Niederlage derselben, welche die Feudalherren instand gesetzt hätte, ihnen das alte Joch wieder aufzuerlegen. Die Leibeigenschaft ging von da an in England rasch ihrem Ende entgegen, damit aber auch die alte feudale Landwirtschaft. Siehe Vorläufer des neueren Sozialismus. Internationale Bibliothek Band 47, S. 298.

Zwei Momente sind es, welche die Revolutionierung der englischen Landwirtschaft im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert kennzeichnen: das Aufkommen des kapitalistischen Pächters und die Zunahme der Weidewirtschaft.

Für die Grundherren wurde es eine zu große Last, ihre Güter selbst zu bewirtschaften, sobald sie der Arbeitskräfte dienstpflichtiger Bauern verlustig gingen und auf Lohnarbeiter angewiesen waren. Sie zogen es vor, ihre Güter zu verpachten; entweder sie zu zerstückeln und kleinen Pächtern zu überlassen, die sie selbst bebauten, oder sie ungeteilt kapitalkräftigen Unternehmern zu übergeben, welche das nötige Geld und die nötige Geschäftskenntnis besaßen, den Betrieb so profitabel als möglich zu gestalten. Hand in Hand damit ging eine andere Entwicklung. Wir haben bereits in der früheren oben erwähnten Schrift mehrfach Gelegenheit gehabt, auf die Wichtigkeit der englischen Schafzucht hinzuweisen, welche die beste Wolle in Europa lieferte. Je mehr sich die Tuchfabrikation allenthalben entwickelte und je besser die Mittel des Verkehrs, namentlich des Seeverkehrs wurden, desto mehr dehnte sich der Markt für die englische Wolle aus. Zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ging diese bereits bis nach Italien und Schweden. Man ersieht dies unter anderem aus zwei Handelsverträgen, die Heinrich VII. 1490 mit Dänemark und Florenz abschloß. Craik, The history of british commerce, I, S. 203, 204. Die Wollenpreise stiegen, und damit wuchs das Bestreben nach Ausdehnung der Schafzucht. Dies wurde noch vermehrt durch das Aufkommen der Lohnarbeit an Stelle der Dienstpflicht des hörigen Bauern. Arbeitskräfte heranzuziehen und zu fesseln, war die Losung der alten, feudalen Landwirtschaft gewesen. Die der neuen, kapitalistischen Landwirtschaft lautete: sparen, an Arbeitskräften sparen, Arbeiter überflüssig machen, wo nur möglich. Dazu war die Schafzucht, welche die Weidewirtschaft bedingte, höchst geeignet.

Mit der Ausdehnung der kapitalistischen Betriebsform und des Marktes für Wolle wuchs aber auch die Gier der Grundherren nach Land ins Maßlose; nicht mehr nach Land mit Leuten, sondern nach Weideland, nach menschenleerem Land.

Diese Gier entwickelte sich um so leichter, als gerade um diese Zeit der alte Adel fast ganz in dem furchtbaren Bürgerkrieg der weißen und roten Rose unterging, der zum Teil wohl auch in der Revolutionierung der englischen Landwirtschaft seinen Grund hatte. »Der neue Adel war ein Kind seiner Zeit, für welche Geld die Macht aller Mächte.« Marx, Kapital, I, 2. Auflage, S. 747. Keine feudalen Überlieferungen und Schrullen beengten seinen Geschäftsgeist. Wo er die Macht dazu hatte, und die fehlte ihm selten, stahl er seinen Bauern ihr Gemeindeland, ruinierte sie dadurch, ja er vertrieb sie schließlich direkt, um ihr Ackerland zur Viehweide umzugestalten. Man schätzt die Zahl der Bauernwirtschaften, die unter Heinrich VIII. eingingen, auf 50 000. Mit den Bauern gingen aber auch nicht wenige kleine Landstädte zugrunde, die zum großen Teil von der bäuerlichen Kundschaft gelebt hatten.

Die Folge von alledem war ein kolossales Anschwellen des Proletariats. Wie auf dem europäischen Festlande nahm auch in England seit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts das »goldene Zeitalter« der Bauernschaft, damit aber auch der arbeitenden Klassen überhaupt, sein Ende. Aber während auf dem Festland die Herabdrückung der Bauernschaft sich in erster Linie in der Vermehrung ihrer Lasten äußerte, und die Zunahme der landlosen Leute eine Erscheinung von sekundärer Bedeutung war, trat sie in England vor allem in der Vermehrung des Proletariats zutage.

Nirgends war zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts die Frage der Massenarmut eine so dringende wie in England. Und sie beschäftigte und erschreckte alle, die daraus nicht direkten Nutzen zogen. Denn noch war die Besitzlosigkeit der Massen nicht zur Grundlage des Nationalreichtums geworden, noch gab es keine kapitalistische Großindustrie, die großer Proletariermassen benötigte, und noch lag die kapitalistische Kolonialpolitik in ihren Anfängen, die bald für Englands wirtschaftlichen Aufschwung so wichtig werden sollte und die unmöglich war ohne eine große Anzahl verzweifelter, von der Scholle losgelöster Existenzen, die bereit waren, sich als Matrosen zu gefahrvollen jahrelangen Expeditionen zu verdingen. Die Gesellschaft war in keiner Weise auf die Armut der Massen eingerichtet, und in allen Klassen herrschte das Bestreben, ihr abzuhelfen.

Die Versuche in dieser Richtung waren der verschiedensten Art. Die beiden Gegenpole waren der ketzerische Kommunismus und die Blutgesetzgebung. Daß der erstere aus den geschilderten Verhältnissen Nahrung zog, daß die Lollhardie wieder auflebte und auch die Ideen der Wiedertäufer Anklang fanden, ist leicht begreiflich. Aber zu einer historischen Bedeutung gelangten sie zu Mores Zeit in England nicht. Es fehlte an großen, tiefgehenden Konflikten der herrschenden Klassen untereinander, die den Kommunisten erlaubt hätten, in die historische Entwicklung offen einzugreifen. Dazu kam es nicht unter den Königen aus dem Hause Tudor, sondern erst im folgenden Jahrhundert, als die Stuarts den englischen Thron bestiegen. Das Vorhandensein der Kommunisten tat sich nur kund in ihrem Martyrium. Namentlich in den späteren Jahren der Regierung Heinrichs VIII. häuften sich die Erlasse gegen die Wiedertäufer und die Hinrichtungen solcher Ketzer. 1535 und in den folgenden Jahren sind auffallend viel Holländer darunter. Th. Crosby, The history of the English Baptists, London 1738, I, S. 33, 39.

Aber nicht nur der Kommunismus wurde mit blutiger Hand niedergehalten. Es genügte, arbeitslos zu sein, um dem Henker zu verfallen. Die »Blutgesetzgebung gegen die Expropriierten« nahm zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts in England ihren Anfang. Marx, Kapital, I, Volksausgabe, S. 664. »Die Väter der jetzigen Arbeiterklasse«, sagt Marx weiter, »wurden zunächst gezüchtigt für die ihnen angetane Verwandlung in Vagabunden und Paupers. Die Gesetzgebung behandelte sie als ›freiwillige‹ Verbrecher und unterstellte, daß es von ihrem guten Willen abhänge, in den nicht mehr existierenden alten Verhältnissen fortzuarbeiten.«

Sie begann unter Heinrich VII., der 1485 bis 1509 regierte und die Dynastie der Tudors begründete. Aber besonders ausgebildet wurde sie unter seinem Sohne Heinrich VIII. (1509 bis 1547). Dieser bestimmte zum Beispiel 1530: »Alte, arbeitsunfähige Bettler erhalten eine Bettellizenz. Dagegen Auspeitschung und Einsperrung für handfeste Vagabunden. Sie sollen an einen Karren hinten angebunden und gegeißelt werden, bis das Blut von ihrem Körper strömt, dann einen Eid schwören, zu ihrem Geburtsplatz oder dorthin, wo sie die letzten drei Jahre gewohnt, zurückzukehren und ›sich an die Arbeit zu setzen‹. Welche grausame Ironie! 1536 wird das vorige Statut wiederholt, aber durch neue Zusätze verschärft. Bei zweiter Ertappung auf Vagabondage soll die Auspeitschung wiederholt und das halbe Ohr abgeschnitten, beim dritten Rückfall aber soll der Betroffene als schwerer Verbrecher und Feind des Gemeinwesens hingerichtet werden.« (Marx.)

Und wie wenig das Regime Heinrichs VIII. mit sich spaßen ließ, sieht man daraus, daß unter ihm »72 000 große und kleine Diebe« hingerichtet wurden, wie ein Chronist jener Zeit berichtet.

Zwischen diesen beiden Extremen, der Erklärung der Besitz- und Arbeitslosigkeit für ein todeswürdiges Verbrechen und der Sehnsucht nach Wiederbelebung des urchristlichen Kommunismus, bewegen sich alle damaligen Versuche, Bestrebungen, Vorschläge und Wünsche zur Lösung des sozialen Problems. Nur ein einziger Mann – einzig in jeder Beziehung – war kühn und weitsehend genug, über die Schranken des allgemeinen Denkens seiner Zeit hinauszuschreiten und als Lösung auf einen neuen Kommunismus hinzuweisen, der grundverschieden war von dem urchristlichen und dem ketzerischen, der nicht die Rückkehr zu den Zuständen der Vergangenheit bedeutete, sondern den Fortschritt zu einem neuen Gesellschaftszustand, welcher alle Kulturelemente in sich aufnahm, die das Zeitalter der Renaissance und der Reformation erzeugt hatte. Dieser Mann, der als der erste ein Bild dieses neuen, unerhörten Kommunismus, des modernen Kommunismus, entwarf, war Thomas More.


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