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Als Sozialist war More seinen Zeitgenossen weit voraus. Sie verstanden ihn nicht. Man darf jedoch nicht glauben, daß die »Utopia« deshalb zu denjenigen Schriften gehörte, die erst nach dem Tode ihres Verfassers Leser und Verständnis finden. Ihre volle Bedeutung könnte erst in unserem Jahrhundert klar werden, nachdem die Tendenzen des Sozialismus aufgehört haben, ein bloßer Traum zu sein und der Inhalt sehr realer Klassenkämpfe geworden sind. Aber die »Utopia« wurzelte so sehr in den Verhältnissen ihrer Zeit, verlieh dem allgemeinen Unbehagen dieser Übergangsperiode so kräftigen und entschiedenen Ausdruck und kam ihrem Bedürfen so sehr entgegen, daß sie, wenn auch weit entfernt davon, völlig verstanden zu werden, doch instinktmäßig als erhebender Trost im Elend mit Jubel begrüßt wurde. Das Buch fand reißenden Absatz. Die lateinischen Ausgaben folgten einander rasch. Die erste Ausgabe der »Utopia« erschien zu Löwen zu Ende des Jahres 1516. Bereits 1517 war eine zweite nötig. Es erschienen gleich zwei auf einmal, die eine in Paris, die andere, von More selbst besorgt, wurde in Basel von dem berühmten Buchdrucker Froben hergestellt. Der Titel ist ein nicht allzu bescheidener. Die Heuchelei war noch nicht so groß wie heutzutage, und jeder pries sein Buch selbst an, während man das Geschäft heute den guten Freunden überläßt, die es als »objektive Kritiker« besorgen.
Der Titel lautet: »Ein wahrhaft goldenes Büchlein vom besten Zustand des Gemeinwesens und von der neuen Insel Utopia, nicht minder heilsam als ergötzlich, verfaßt vom vortrefflichen und hochberedten Thomas Morus, Bürger und Untersheriff der weltbekannten Stadt London.De optimo reipublicae statu, deque nova insula Utopia, libellus vere aureus, nec minus salutaris quam festivus, clarissimi disertissimique viri Thomae Mori inclytae civitatis Londinensis civis et vice comitis. Am Schlusse heißt es: Basileae apud Johannem Frobenium Mense Novembri MDXVIII.
Außer diesen beiden Ausgaben haben wir noch (an lateinischen) gefunden: eine aus Paris 1520,1520 wird als das wahrscheinliche Datum des Erscheinens dieses Buches angegeben, das bei G. de Gourmont in Paris gedruckt wurde. Das Exemplar, das wir im britischen Museum gefunden, hat kein Titelblatt. Es beginnt mit einer Ansprache an den Leser: »Ad lectorem. Habes candide lector opusculum illud vere aureum Thomae Mori etc.« aus Löwen 1548, Köln 1555, Hannover 1613, Köln 1629, Amsterdam 1631, Oxford 1663, Glasgow 1750. Vortrefflich ist die neueste Ausgabe, veranstaltet von V. Michels und Theobald Ziegler, Berlin 1895, als 11. Bändchen der »Lateinischen Literaturdenkmäler des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts«.
Man sieht aus der raschen Folge der Auflagen, welches Aufsehen das Buch erregte.
Aber es blieb auf das Lateinisch sprechende Publikum nicht beschränkt, bald wurde es in alle Sprachen der zivilisierten Welt übersetzt.
Die erste englische Übersetzung, von der wir wissen, kam 1551 heraus; bereits 1556 erlebte diese eine zweite Auflage, eine dritte erschien 1597, eine vierte 1624. Sie rührte von Raphe Robynson herA frutefull pleasaunt and wittie worke of the beste state of a publique weale, and of the new yle, called Utopia: written in Latine by the right worthie and famous Syr Thomas More Knyght, and translated into Englishe by Raphe Robynson etc. und ist eine gewissenhafte, treffliche Arbeit. Der Übersetzer stand More der Zeit und dem Orte nach so nahe, daß er den Geist des Originals besser wiedergeben konnte als die meisten nach ihm. Mit Recht ist diese Übersetzung neuerdings, sogar in mehreren Ausgaben, wieder veröffentlicht worden. Besonders brauchbar ist unter diesen die der Pitt Press Series, die bereits die zweite Auflage erlebt hat; sie enthält auch Ropers »Life of Sir Thos. More«, sowie mitunter recht nützliche Noten und ein Glossar mit Erklärung altenglischer, nicht mehr gebräuchlicher Ausdrücke.
1684 erschien eine Übersetzung von G. Burnet, die unzählige Auflagen erlebte.
Es sind auch moderne englische Übersetzungen der »Utopia« vorhanden, die leichter zu verstehen sind,Am leichtesten zugänglich wohl die von H. Morley, »Ideal commonwealths«, 23. Bändchen von Morley´s Universal library. 1887 erschien die dritte Auflage des Bändchens. als die von Robynson, aber keinen Wert haben – soweit wir sie kennen.
Eine italienische Übersetzung erschien bereits 1548 in Venedig, eine spanische 1636 in Cordova. Die erste französische Übersetzung stammt aus dem Jahre 1550 von J. Le Blond. Ihr folgten zahlreiche andere (1643, 1650, 1715, 1730, 1789, 1842 usw.). Ein Auszug aus der »Utopia« war in Brissots de Warville »Bibliothèque philosophique«, 9. Band, 1782, enthalten, desselben Brissot, der das Wort aufbrachte: das Eigentum ist Diebstahl, und der in der französischen Revolution eine hervorragende Rolle spielte.
Eine niederdeutsche Übersetzung erschien 1562 zu Antwerpen.De Utopie ...nu eerst overgesett in need Duytsche. Thantwerpen.
Die erste Übersetzung der »Utopia« (ihres zweiten Buches) war aber eine deutsche. Sie erschien ein Jahr vor dem großen Bauernkrieg, besorgt von Claudius Cantiuncula. Ein Spiel des Zufalls will, daß der Drucker dieses ersten sozialistischen Werkes, das in deutscher Sprache erschienen ist, Bebel hieß.Der Titel des Buches lautet: »Von der wunderbarlichen Innsul Utopia genannt, das andre Buch, durch den wolgebornen, hochgelerten Herren Thomam Morum Fryherrn und des durchlüchtigsten großmechtigsten Künigs zu Engelland Schatzmeister, erstlich zu Latin gar kürtzlich beschriben und ußgelegt. In der löblichen Statt Basel vollendet.« Am Schlusse des Buches steht: »Gedruckt zu Basel durch Joannem Bebelium. Im MDXXIIII. Jar, am sechzehnten Tag des Brach-Mons.« Die Vorrede ist unterzeichnet Claudius Cantiuncula aus Metz. Sie ist gewidmet »denn Edlen, Strengen, Frommen, Besten, Fürsichtigen, Ersamen Wysenherrn, Adelberg Meyer, Burgermeister und dem Rat der loblichen Statt Basel minen gnedigen und günstigen Herren.« Den Zweck seiner Übersetzung legt er in folgenden Worten dar: »Diewyl nun dise policy der Innsel Utopia, wie oben angezeigt die bastgeordnete ältiste und bestendlichste yewelten gewesen und noch seyn soll, so von den mennschen ye angesehn worden, hab' ich darumb die histori sollicher Innsel Edlen, Strengen, Ersamen Wysenherrn als waren liebhabern aller recht uffgesetzten policyen und burgerlichen Regiments, zu einem pfand (der Dankbarkeit), wie obanzeygt, uß der latinischen in die tütsche sprach, so ich in diser loblichen Statt Basel gelernet, transferieren wöllen.«
Von weiteren deutschen Übersetzungen sind uns noch bekannt die von Leipzig 1612 und zwei von Frankfurt aus den Jahren 1704 und 1753 (»Des Englischen Canzlers Thomas Morus Utopien, in einer neuen und freyen Übersetzung von J. B. K.« Sehr frei und sehr naiv). Daneben ist noch zu nennen, die billigste von allen, die zuerst 1846 bei Reclam erschien und dann in dessen »Universalbibliothek« wieder abgedruckt wurde. Sie kostet nur 40 Pfennig, ist aber keinen Schuß Pulver wert. Immerhin ist es besser, man liest die »Utopia« in dieser Ausgabe, als gar nicht. So jämmerlich auch der Übersetzer, Herr Hermann Kothe, unseren More zugerichtet hat, dieser ist nicht zum Umbringen, und seine Größe selbst in der Verhunzung noch erkennbar.
Herr Kothe scheint keine Idee davon gehabt zu haben, in welcher Sprache die »Utopia« verfaßt worden, denn er übersetzte sie unzweifelhaft aus – dem Französischen!Wir haben allen Grund, anzunehmen, daß der Franzose sich auch nicht an das lateinische Original hielt, sondern an die englische Übersetzung von Burnet (von 1684). More berichtet (nach Amerigo Vespucci) von einem Kastell (castellum), in dem einige von Amerigos Gefährten an der Küste von Brasilien zurückblieben. Burnet übersetzt dies Kastell mit Neukastilien, und genau denselben sonderbaren Bock finden wir bei Kothe wieder. Sollte das nur Zufall sein? Oder sollte uns die Reclamsche Ausgabe nicht vielmehr die Übersetzung der Übersetzung einer Übersetzung der »Utopia« gegeben haben? Allem Anschein nach hat er diese Übersetzung, die sehr frei gewesen ist, so viel als möglich wörtlich übertragen und dadurch den Charakter der Utopia völlig verändert. Die Übersetzung des Herrn Kothe erscheint uns mitunter ebenso ungeheuerlich, als wenn jemand Shakespeare auf dem Umweg übers Französische ins Deutsche übersetzt hätte. Was bei dem Franzosen eine ganz natürliche Ausdrucksweise sein mag, erhält durch die wörtliche Wiedergabe im Deutschen den Charakter mitunter der Gelecktheit, mitunter des theatralischen Pathos, der dem einfachen Charakter des Originals völlig zuwider ist. Dabei hat sich's Herr Kothe so bequem gemacht, eine Menge französischer Ausdrücke in seine »Übersetzung« einfach hinüberzunehmen, Ausdrücke, die sich erst seit dem achtzehnten Jahrhundert in die deutsche Sprache eingeschlichen haben und zur »Utopia« passen wie ein Frack zu einem eisernen Harnisch. Wir hören da von der Malice der Mönche (S. 32), den Conseils der Fürsten (47); bei den Diners und Soupers der Utopier, die in den Hotels der Syphogranten stattfinden, wird nach der Lektüre eines moralischen Buches serviert (78) usw. Von einer Wiedergabe des Geistes des Originals ist bei einer so gedankenlosen Übersetzung aus zweiter oder dritter Hand nicht die Rede. Aber nicht einmal der Sinn wird immer richtig wiedergegeben, sondern dank einer gründlichen Ignoranz des Übersetzers oft in Unsinn verwandelt. Den Sou macht er zu einer englischen Münze (S. 31), an Stelle von Äbten läßt er Abbés auftreten; die Gefolgen (stipatores) drückt er zu Bedienten herab (S. 15), wobei es ihn gar nicht geniert, daß später von ihrem »Mut und Sinn für Großes« die Rede und daß sie den Kern der englischen Armee bilden. Sonderbare Bedientenseelen! Im lateinischen Original kommt Raphael Hythlodäus – der natürlich zu einem Hythlodée umgetauft worden ist – nach Kalikut, einer indischen Stadt, die zu Mores Zeit den Haupthandel Indiens mit Europa vermittelte. Da Herr Kothe von dieser Stadt nie etwas gehört hat, verwandelt er sie ohne Besinnen in Kalkutta, obgleich die Handelsstadt Kalkutta erst seit dem achtzehnten Jahrhundert besteht, erst ein Vierteljahrtausend nach der Abfassung der »Utopia« erstand.
Auf Seite 5 heißt es von Hythlodäus: »Das Studium der Philosophie, der er sich ausschließlich gewidmet, hat ihn veranlaßt, sich die Sprache von Athen vorzugsweise vor derjenigen Roms zu eigen zu machen. Daher wird er Ihnen über die geringfügigsten Gegenstände nur Stellen aus dem Cicero oder Seneca zitieren.« Als Herr Kothe diesen Satz niederschrieb, hat er sich entweder gar nichts gedacht, oder er hat angenommen, Cicero und Seneca seien Griechen gewesen. More hat solchen Unsinn natürlich nicht geschrieben. In Wirklichkeit ist der Inhalt der Stelle folgender: »Auf das Griechische verwendete er viel mehr Fleiß als auf das Lateinische, da er sich ganz der Philosophie ergeben hat. Auf diesem Gebiet ist aber in lateinischer Sprache nichts Bedeutendes vorhanden, mit Ausnahme der Schriften von Seneca und Cicero.« (Qua in re [philosophia] nihil quod alicujus momenti sit, praeter Senecae ac Ciceronis, exstare Latine cognovit.)
Eine wie unsinnige Darstellung der Moresche Kommunismus in einer solchen Übersetzung an manchen Stellen erfährt, kann man sich denken. So spricht Kothe zum Beispiel (S. 71) von einer Schätzung des Preises der Leinwand nach ihrer Weiße auf der kommunistischen Insel Utopia, während der Zusammenhang ergibt, daß pretium hier die Schätzung des Gebrauchswertes bedeutet. Oder kann uns Herr Kothe vielleicht darüber aufklären, wie die Preise in einer Gesellschaft aussehen, die kein Geld kennt?
Wir haben aus der Unzahl solcher Böcke nur einige aufs Geratewohl herausgenommen. Sie werden genügen, erkennen zu lassen, in welcher Weise man die »Utopia« dem deutschen Volke und namentlich den deutschen Arbeitern zugänglich gemacht hat, für welche andere Übersetzungen lange Zeit nicht existierten. Es gehört jedenfalls sehr viel Mut dazu, wie Herr Öttinger in seiner Vorrede zur Kotheschen Übersetzung (in der Ausgabe von 1846) getan, diese herauszustreichen und gleichzeitig den strengen literarischen Sittenrichter zu spielen. Öttinger jammert: »Unser Zeitalter ist ein rein papierenes. Alle Welt schreibt, und mancher, der nicht selber schreiben kann, übersetzt das, was andere geschrieben haben. ... Zum Glück aber ist der größte Teil dieser Übersetzungen ephemerer Schund.« Sollen wir die Übersetzung des Herrn Kothe zum unsterblichen Schund rechnen?
Erst 1896 erschien in der »Sammlung gesellschaftswissenschaftlicher Aufsätze«, herausgegeben von E. Fuchs, eine von Dr. J. E. Wessely besorgte Übersetzung der »Utopia«, welche die Kothesche weit übertrifft und allen zu empfehlen ist, die das Werk, deutsch lesen wollen. Freilich ist auch diese Übersetzung nur korrekter als die Kothesche, keineswegs schon gänzlich fehlerfrei. Und die Eleganz des Originals gibt sie nicht wieder. Der Übersetzer war kein Meister der deutschen Sprache, seine Sätze sind mitunter recht holperig, ja stellenweise geradezu unverständlich. Immerhin läßt sie den Charakter der »Utopia« besser erkennen als die Kothesche Ausgabe, auch hat sie vor dieser den Vorzug größerer Vollständigkeit voraus. Sie enthält eine Reihe von Gedichten und Briefen, die More der »Utopia« beigegeben hat und die in der Kotheschen Übersetzung einfach weggeblieben sind, darunter die Vorrede, in Gestalt eines Briefes an Mores Freund Peter Giles in Antwerpen. Diese ist sehr wichtig, da sie uns zeigt, unter welchen Umstanden die »Utopia« zustande kam. Sie war nicht das Werk eines in seiner Studierstube vergrabenen Gelehrten, sondern eines Mannes, der mitten im gesellschaftlichen Leben und Treiben stand.
Er fingiert, als hätte er in der »Utopia« nicht die Frucht eigenen Nachdenkens niedergelegt, sondern nur aufgezeichnet, was ihm Raphael Hythlodäus erzählte. Eine solche Fiktion war zur Humanistenzeit nichts Ungewöhnliches. Die Griechen und Römer lieferten Vorbilder derselben – so legte zum Beispiel Plato in seinen Dialogen seine eigenen Ideen dem Sokrates in den Mund. Einen anderen für sich reden zu lassen, war aber im sechzehnten Jahrhundert mehr als die bloße Aufwärmung einer klassischen Form. Es war auch eine Vorsichtsmaßregel gegenüber dem argwöhnischen Despotismus.
Nachdem More auseinandergesetzt, daß er nur niedergeschrieben habe, was er von einem anderen gehört, fährt er fort: »Aber selbst zur Vollendung dieser geringen Arbeit ließen mir meine anderen Sorgen und Geschäfte fast keine Zeit. Jeden Tag nehmen mich meine Gerichtsgeschäfte in Anspruch: in der einen Sache muß ich reden, in der anderen hören, diese als Schiedsrichter erledigen, jene durch mein Urteil entscheiden. Jetzt erscheint dieser in Amtsangelegenheiten, dann jener in Privatgeschäften. Widme ich so bei Gericht fast den ganzen Tag Fremden, so gehört der Rest meiner Familie. Da bleibt mir für mich, das heißt für meine Studien, keine Zeit. Denn wenn ich heimkomme, habe ich mit meinem Weibe zu plaudern, mit meinen Kindern zu scherzen, mit meinem Gesinde zu sprechen. Alles das rechne ich zu meinen Pflichten, die erfüllt werden müssen. Und sie müssen erfüllt werden, wenn ich nicht im eigenen Hause ein Fremder sein will. Ein Mann muß sich Mühe geben, heiter und liebenswürdig mit denen zu sein, die die Natur oder Zufall oder eigene Wahl zu seinen Lebensgefährten gemacht hat, ohne sie durch zu großes Entgegenkommen zu verziehen oder seine Diener durch übergroße Nachsicht zu seinen Herren zu machen. Unter allen diesen Beschäftigungen vergehen die Tage, die Monate, die Jahre. Wann soll ich schreiben? Und da habe ich noch des Schlafens nicht gedacht, und des Essens, das bei vielen nicht weniger Zeit beansprucht als das Schlafen, welches doch fast die Hälfte des Menschenlebens einnimmt. Ich gewinne daher nur die Zeit für mich, die ich dem Essen oder Schlafen abstehlen kann.«
Nachdem er auf diese Weise entschuldigt, warum die »Utopia« nicht eher fertig geworden, ersucht er seinen Freund, das Manuskript, das er ihm sendet, durchzulesen und einzufügen, was er, More, etwa vergessen habe.
Durch diesen Brief wird der Leser sehr geschickt gleich in der Vorrede mit den Personen bekannt gemacht und für sie interessiert, deren Gespräche den Inhalt der »Utopia« bilden.
More tritt als der Erzählende auf. Er berichtet: Er sei von seinem König als Gesandter nach Flandern geschickt worden, um mit den Gesandten Karls von Kastilien zu verhandeln. (Vergl. 2. Abschnitt, S. 168.) Die Verhandlungen zogen sich in die Länge, und die Gesandten Karls reisten schließlich nach Brüssel, um neue Instruktionen zu holen. Diese Pause benutzte More, nach Antwerpen zu gehen, wo er viel mit Peter Giles verkehrte (demselben, an den die Vorrede gerichtet ist). Eines Tages begegnete er diesem auf der Straße mit einem Fremden, der einem Seemann glich. Es war Raphael Hythlodäus, ein Portugiese, der aus Abenteuerlust den Amerigo Vespucci bei seinen Fahrten nach Amerika begleitet hatte, »deren Beschreibung jetzt gedruckt in jedermanns Hand ist«. Auch dessen vierte Fahrt machte er mit und erlangte es, daß er einer der Vierundzwanzig war, die Amerigo in einem KastellDieses ist das Kastell, das Kothe frei nach Burnet in Neukastilien verwandelt, die Heimat Don Quixotes! in der neuen Welt zurückließ. Raphael blieb aber nicht dort. Er erwarb die Freundschaft der Eingeborenen und gelangte mit ihrer Hilfe in bis dahin unbekannte Gegenden, darunter hochzivilisierte, mit außerordentlich guten Einrichtungen, wie die der Utopier, bei denen er fünf Jahre zubrachte. Er verließ sie, um Europa ihr Beispiel vorzuführen, kam nach Indien, fand in Kalikut portugiesische Schiffe und kehrte auf einem derselben heim.
More interessiert sich ungemein für den weitgereisten Mann und lädt ihn mit Peter zu sich ein. In Mores Haus wird das Gespräch fortgesetzt. Peter Giles wundert sich sehr, daß Raphael seine ausgezeichneten Kenntnisse nicht im Dienste eines Fürsten verwerte. Das gibt den Anlaß zu jener Kritik der politischen und ökonomischen Zustände der damaligen Zeit, die wir in den vorhergehenden Kapiteln bereits kennen gelernt haben, einer Kritik, die mit dem Lobe des Kommunismus der Utopier abschließt, womit die Veranlassung gegeben ist, zu dessen Schilderung überzugehen.
Diese Exposition ist von einem bewunderungswürdigen Geschick. Die »Utopia« fiel in das Zeitalter der Entdeckungen. Der Horizont der europäischen Menschheit ward urplötzlich erweitert, neue, märchenhafte Welten taten sich vor ihren Blicken auf, die die Phantasie ebenso reizten wie die Habsucht. Jede Beschreibung einer neuen Entdeckung wurde gierig gelesen, jede fand Glauben. Erst kurz vor der »Utopia« waren die Briefe von Amerigo Vespucci bekannt geworden, in denen dieser seine Entdeckungen ankündigte. 1507 erschien die Darstellung seiner ersten vier Fahrten nach dem neuentdeckten Weltteil (seine quatuor navigationes) und machten dessen Dasein weiteren Kreisen bekannt, als es durch Kolumbus geschehen war. Welches Aufsehen diese Publikationen Amerigos erregten, kann man daraus ersehen, daß die neue Welt nach ihm benannt wurde. Auf seiner vierten Reise nach Amerika (1503 bis 1504) ließ Amerigo unter dem 18. Grad südlicher Breite in Brasilien 24 Mann zurück, die sich dort niederzulassen gedachten. (Sophus Ruge, Geschichte des Zeitalters der Entdeckungen, S. 335.)
Und nun ließ More einen dieser Vierundzwanzig auftreten und seine Reiseabenteuer erzählen. Es gab keine wirksamere Methode, um das allgemeine Interesse auf die »Utopia« zu lenken.
Außerdem hat More das Erfundene so geschickt an die wirklichen Tatsachen angeknüpft, daß in manchen Kreisen die Insel Utopia als ein wirklich bestehendes Land betrachtet wurde, keineswegs als ein undurchführbarer Traum – eine Utopie. Von verschiedenen Seiten wurde an den Papst das Ansuchen gestellt, Priester nach Utopien zu senden, um ihnen »unseren heiligen Glauben als Gegengabe für die herrlichen Ideen der Gesetzgebung zu bringen, die wir ihnen verdanken«. Daß man die »Utopia« mehrfach für eine tatsächlich bestehende Insel hielt, erfahren wir auch aus einem Briefe, den Beatus Rhenanus 1518 von Basel aus an Wilibald Pirkheimer, den bekannten Nürnberger Patrizier, richtete. Wir teilen eine größere Stelle aus dem Briefe mit, da er charakteristisch für das Ansehen ist, das More unter deutschen und französischen Humanisten genoß: »Wie sehr auch seine Scherze (die Epigramme) Mores Geist und Bildung dartun, sein ungemein treffendes Urteil über die Verhältnisse hat er am vollendetsten (cumulatissime) in der ›Utopia‹ bewiesen. Ich habe nicht viel darüber zu sagen, da der so gründliche Budäus, dieser unvergleichliche Meister einer höheren Bildung, diese einzige Zierde Frankreichs, sie in einer stattlichen Vorrede gebührend gelobt hat. Jenes Geschlecht (die Utopier) besitzt Gesetze, wie sie weder bei Plato, noch bei Aristoteles, noch selbst in den Pandekten Eures Justinian zu finden sind. Und sind der Utopier Lehren vielleicht weniger philosophisch als jene, so um so mehr christlich. Dennoch (höre um der Musen willen jenes Histörchen), als hier jüngst in einer Gesellschaft gewiegter Männer die ,Utopia´ erwähnt wurde und ich sie lobte, erklärte ein feister Philister (quidam pinguis), das Verdienst Mores sei nicht größer als das eines Kanzleischreibers, der bei Gericht die Aussagen anderer zu Protokoll nimmt und stumm den Verhandlungen beiwohnt, ohne eine eigene Meinung zu äußern. Alles sei ja von Hythlodäus mitgeteilt und von More bloß niedergeschrieben worden. Das ganze Verdienst Mores bestehe also in der trefflichen Wiedergabe des Gehörten. Und mehrere der Anwesenden zollten ihm Beifall.«
Auch unser Cantiuncula glaubte an die Existenz der Insel Utopia und versuchte in seiner Vorrede jeden Zweifel daran zu zerstreuen.
Seitdem ist der Philister bekanntlich sehr pfiffig geworden. Im sechzehnten Jahrhundert hielt er die Utopie für eine Wirklichkeit. Heute erklärt er die Wirklichkeit – nämlich die gesellschaftliche Produktion – für eine Utopie.
Man stellt, namentlich in Professorenkreisen, die »Utopia« vielfach als eine humanistische Spielerei hin, eine Wiederaufwärmung des Platonischen Kommunismus. Aber schon das erste Buch, die Einleitung mit dem kritischen Teile, zeigt, wie verschieden die »Utopia« von der Republik Platos ist, wie völlig modern. Der Anlaß, von dem die Untersuchung Platos ausgeht, ist eine einfache Disputation zwischen Sokrates und dem Sophisten Thrasymachos. More geht dagegen von einem jener Ereignisse aus, die zu den mächtigsten Hebeln gehörten, die feudale Gesellschaft aus ihren Angeln zu heben, von einer überseeischen Entdeckungsreise. Plato findet seinen Kommunismus bei der Darlegung des Begriffs der Gerechtigkeit. Der Kommunismus Mores wird dagegen begründet mit einer Kritik der bestehenden politischen und ökonomischen Zustände.
Damit stellt er sich auf den Boden des modernen Sozialismus, der wesentlich verschieden ist von antiken Erscheinungen äußerlich ähnlicher Art. Und wie in seinen Ausgangspunkten, so ist auch in seinen Forderungen und Zielen der Kommunismus Mores von dem Platos grundverschieden. Mehrere Äußerlichkeiten sind ihnen freilich gemein, aber nur oberflächliche Beschauer können sich dadurch täuschen lassen. Den Kommunismus Mores dem Platos gleichzustellen, ist ungefähr ebenso vernünftig, als einen Ziegel und eine Rose für Wesen gleicher Art zu erklären, weil beide rot sind.