Karl Kautsky
Thomas More und seine Utopie
Karl Kautsky

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Zweites Kapitel. More als Humanist.

1. Mores Jugend.

Es ist nicht unsere Aufgabe, eine eingehende Biographie Mores zu liefern. Diese würde den uns zugemessenen Raum weit übersteigen und uns auf Gebiete führen, die mit der »Utopia« nicht das mindeste zu schaffen haben. Wir haben es hier nur mit dem Kommunisten More zu tun und seiner geistigen Entwicklung auf den Gebieten, auf denen sich das soziale Leben äußert, vor allem der Entwicklung seiner ökonomischen, politischen, religiösen Anschauungen. Sein äußerer Lebensgang interessiert uns hier nur, soweit er Einfluß auf diese genommen hat. Wir werden uns daher mit wenigen Angaben darüber begnügen können, um so mehr, da des Erasmus Brief bereits die wichtigsten Einzelheiten des Lebens Mores bis zum Jahre 1519 gegeben hat.

Es ist bezeichnend für die ersten Biographen Mores, daß, wie schon erwähnt, keiner dessen Geburtsjahr mitteilt. Man nahm bis vor wenigen Jahrzehnten allgemein an, More sei 1480 geboren worden. Doch spricht schon des Erasmus Brief an Hutten dagegen, der 1519 geschrieben wurde und der angibt, More sei etwas über 40 Jahre alt. Dieser mußte also vor 1479 geboren sein. W. Aldis Wright hat denn auch 1868 aus einem Manuskript, das sich in der Bibliothek des Trinity College in Cambridge befindet, nachgewiesen, daß More am 7. Februar 1478 geboren wurde. Näher brauchen wir auf diese Frage wohl nicht einzugehen, die Seebohm in seinen »Oxford Reformers« weitläufig behandelt hat. (1. Auflage, wo noch 1480 als Geburtsjahr genannt wird, S. 429ff. 2. Auflage, S. 521 ff.)

Thomas Mores Vaterstadt ist London, welches damals zwar noch nicht die Hauptstadt der Welt, aber immerhin einer der bedeutendsten Handelsplätze Europas war, in dem die Tendenzen der neuen Produktionsweise scharf und deutlich hervortraten. Er entstammte einer »ehrbaren, aber keineswegs hervorragenden« städtischen Familie. In der Grabschrift, die More für sich selbst abgefaßt hatte, heißt es: Thomas Morus urbe Londinensi, familia non celebri, sed honesta natus. Sein Vater, John More, war einer der Richter am Oberhofgericht (Kings Bench), ein nüchterner, strenger, fast filziger Mann, der auf jede Weise dahin wirkte, seinen Sohn zum Nachdenken über ökonomische Verhältnisse zu veranlassen und ihn mit den materiellen Bedingungen des Lebens bekannt zu machen.

Nach der Sitte seiner Zeit hatte Thomas zunächst Lateinisch zu lernen; zu diesem Behufe besuchte er die Sankt Anthonyschule in London, später wurde er von seinem Vater im Hause des Erzbischofs, späteren Kardinals Morton untergebracht, eines bedeutenden Staatsmanns, der in der englischen Politik, namentlich den Kriegen der weißen und der roten Rose, eine hervorragende Rolle spielte (er wurde 1478 Lordkanzler von England und schloß sich später Heinrich VII. gegen Richard III. an) und einen sehr günstigen Einfluß aus den jungen Thomas übte. Der dankbare More hat ihm im ersten Buche seiner »Utopia« ein Denkmal gesetzt. Da heißt es unter anderem von Morton: »Er sprach schön, fließend und wirksam; die Gesetze kannte er genau, sein Witz war unvergleichlich, sein Gedächtnis geradezu wunderbar. Diese Gaben, von Natur aus bedeutend, hatte er durch Studium und Übung vervollkommnet. Der König setzte das größte Vertrauen in ihn, und auch der Staat fand in ihm seine beste Stütze, als ich dort war. Sehr jung war er schon gleich von der Schule an den Hof gekommen und verbrachte sein Leben inmitten von Unruhe und Geschäftigkeit, unaufhörlich von den wechselnden Wogen des Glückes hin und her geworfen. So hatte er in vielen und großen Gefahren eine Weltkenntnis erworben, die, auf diese Weise angeeignet, nicht so leicht vergessen wird.«

War Thomas durch seinen Vater mit den materiellen Sorgen vertraut gemacht worden, die zu seiner Zeit die Welt bedrückten, so lernte er beim Erzbischof von Canterbury die Mächte kennen, die damals das Schicksal der Welt entschieden oder wenigstens zu entscheiden sich anmaßten. So wurden frühzeitig in ihm die Keime zu dem Verständnis der Gegenwart, vor allem ihrer materiellen Fragen, geweckt, das den Humanisten des Nordens, der Mehrzahl nach bloßen Schulgelehrten, in der Regel sehr mangelte.

More war daher trotz seiner Jugend kein Knabe mehr, als er nach Oxford auf die hohe Schule kam (wahrscheinlich 1492 oder 1493). Dort hatten neben der alten Scholastik auch die neuen humanistischen Studien eine Stätte gefunden. Ihre Hauptvertreter waren Linacre, Grocyn und Colet, später auch Erasmus von Rotterdam, der 1498 als Lehrer des Griechischen nach Oxford kam. More fühlte sich von den Humanisten ebenso angezogen, als sie von ihm. Bald war er völlig vom Humanismus gewonnen.

Dem alten More scheint angst und bange geworden zu sein, als sein Thomas sich dem brotlosen Studium der antiken Klassiker ergab. So nahm er ihn etwas unvermittelt und gewaltsam, wie uns Erasmus mitteilt, von der Universität weg und steckte ihn in eine Schule des englischen Rechtes, New Inn, wahrscheinlich ums Jahr 1494 oder 1495. Hier und später in Lincolns Inn studierte Thomas mehrere Jahre lang das englische Recht, um dann als Rechtsanwalt eine ausgedehnte Praxis zu erwerben.

2. More als humanistischer Schriftsteller.

Aber die Liebe für seine Studien erstarb nicht in dieser angestrengten Beschäftigung. Er vervollkommnete nicht nur seine Kenntnisse der lateinischen und griechischen Sprache und Literatur, er fing bald an, produktiv als Schriftsteller aufzutreten. Einige Andeutungen darüber hat uns bereits des Erasmus Brief gegeben.

Die griechischen Autoren zog More den lateinischen bei weitem vor, und mit Recht. Waren doch die letzteren zum großen Teil nur Nachahmer, und nicht immer die glücklichsten, der ersteren. In der »Utopia« heißt es von Raphael Hythlodäus, der in dem Buche die Ansichten Mores wiedergibt: »Er war allerdings zur See, aber nicht als Palinurus, sondern als Ulysses oder vielmehr als Plato. Dieser Raphael, Hythlodäus zubenannt, ist nicht übel bewandert im Lateinischen, aber ausgezeichnet und gründlich im Griechischen. Auf dieses verwendete er viel mehr Fleiß als auf das Lateinische, da er sich ganz der Philosophie ergeben hat. Auf diesem Gebiet ist aber in lateinischer Sprache nichts Bedeutendes vorhanden, mit Ausnahme einiger Schriften von Seneca und Cicero.«

Unter den Griechen zog ihn vor allen Plato an. »Von den Philosophen las und studierte er am liebsten den Plato und die Platoniker«, schrieb Stapleton (S. 16?), »da man aus ihnen sowohl in bezug auf die Regierung der Gemeinwesen, wie auf den Verkehr der Bürger untereinander»Civilem conversationem«; damit meinte Herr Stapleton wohl nicht eine »höfliche Konversation«. sehr viel lernen kann.«

Wenn man neben diesen Stellen die wichtige Mitteilung in dem Briefe des Erasmus in Erwägung zieht, daß More schon als Jüngling sich mit den kommunistischen Ideen Platos bekannt gemacht hatte und so sehr für sie eingenommen war, daß er sie (mitsamt der Weibergemeinschaft) in einer Schrift verteidigen wollte, dann wird man nicht umhin können, zuzugeben, daß die »Utopia« von der Platonischen »Republik« beeinflußt worden ist.

Daß More bei der Verfassung der »Utopia« das Platonische Staatsideal vor Augen schwebte, erhellt auch aus einem kurzen Gedicht (angeblich von einem Neffen des Hythlodäus), das er im Eingang zu ihr veröffentlichte:

»Utopia wurde ich ursprünglich genannt, wegen meiner Öde (infrequentiam) Aus dieser Zeile scheint uns hervorzugehen, daß die gewöhnliche Übersetzung von »Utopia« (eine Zusammensetzung aus den griechischen Worten ου = nicht, und τοποσ – Platz, Gegend) mit »Nirgendheim« dem von More gewünschten Sinne nicht entspricht. Vielleicht kommt das Wort »Unland« ihm näher.,
Nun bin ich die Nebenbuhlerin des Platonischen Staates,
Vielleicht diesem überlegen (denn was dieser mit Worten
Ausmalte, habe bloß ich verwirklicht,
Mit Männern und Macht und den besten Gesetzen),
Mit Recht sollte ich jetzt Eutopia heißen.« Eutopia = Glücksland. Die Engländer sprechen »Eutopia« ebenso aus wie »Utopia«, nämlich »Jutopia«.

Noch aus mehreren Stellen der »Utopia« erhellt Platos Einfluß. Nur eine davon sei noch angeführt: Im ersten Buche sagt Hythlodäus: »Wenn ich die Einrichtungen der Utopier mit denen der jetzigen Nationen vergleiche, dann muß ich Plato Recht widerfahren lassen und wundere mich nicht darüber, daß er für Völker keine Gesetze machen wollte, welche die Gütergemeinschaft zurückwiesen.«

Platos »Republik« war in manchen Beziehungen das Vorbild für die »Utopia«, und diese insoweit ein echt humanistisches Werk. Es heißt jedoch viel zu weit gehen, wenn man behauptet, wie von verschiedenen Seiten geschehen, die »Utopia« (oder wenigstens ihr zweites Buch, der positive Teil) sei eine rein akademische Leistung, eine Art literarischer Spielerei, ein Versuch, die Platonische Republik in neuer Form darzustellen. Nichts irriger als das. Wir werden noch sehen, daß die »Utopia« aus den Verhältnissen entsprossen ist, die More umgaben, daß sie einen ganz modernen Charakter besitzt, und daß die Verwandtschaft mit der Platonischen »Republik« sich wesentlich auf Äußerlichkeiten beschränkt.

Die »Utopia« war keine bloße Schulübung; sie sollte praktischen Einfluß auf die Geschicke der Nation gewinnen. Da ist es denn wieder echt humanistisch, daß sie nicht in der Sprache der Nation verfaßt wurde, sondern in einer Sprache, die nur ein geringer Bruchteil des Volkes verstand, der lateinischen.

Nicht etwa, daß More ausschließlich lateinisch geschrieben hätte. Der Humanismus entwickelte im Gegensatz zum barbarischen Kirchenlatein einerseits das klassische Latein des Heidentums, andererseits aber, als der erste literarische Vertreter des nationalen Gedankens, die nationale Sprache. Die Humanisten, von Dante, Petrarca und Boccaccio an, haben nicht nur das klassische Latein wiedererweckt, sondern auch eine nationale Prosa geschaffen, die sich zur Behandlung wissenschaftlicher wie künstlerischer Stoffe in gleicher Weise eignete.

So war auch More nicht nur einer der elegantesten Lateiner seiner Zeit, sondern auch »der Vater der englischen Prosa«, wie Sir James Mackintosh ihn nennt; einer der ersten, die in englischer Prosa schrieben und deren Bildung beeinflußten. Schon vor der »Utopia« hatte More Schriften in englischer Sprache verfaßt. Er übersetzte 1510 aus dem Lateinischen ins Englische eine Biographie des englischen Humanisten Pico von MirandolaThe Life of John Picus, Erle of Mirandula, a great Lorde of Italy, an excellent connyng man in all sciences and vertuous of living: with divers epistles and other works of y said John Picus, full of great science, vertue and wisedom: whose life and workes bene worthy and digne to be read and often to be head in memory. Translated out of latin into Englishe by maister Thomas More. und schrieb 1513 seine berühmte Geschichte Richard III.,The history of King Richard the Third (unfinished) written by Master Thomas Morus, than one of the undersheriffis of London, about the year of the Lord 1513 (S. 35 der Gesamtausgabe von Mores englischen Schriften). die leider ein Fragment geblieben ist. Sie erschien erst nach Mores Tode, 1543, und wurde sofort die klassische Darstellung der Zeit, die sie schilderte. Von ihr stammt wohl das nicht sehr schmeichelhafte Bild Richards, das in dem Shakespeareschen Drama unsterblich geworden ist.

Seine übrigen englischen Schriften wurden nach der »Utopia« abgefaßt: sie stammen aus der Zeit der Reformation und sind sämtlich polemischen Inhalts. Mit diesen Abhandlungen und Dialogen verließ More ebenso den Boden des Humanismus, wie Hutten mit seinen deutschen Schriften. Sie benutzten da die nationale Sprache nicht im Dienste der Wissenschaft und Kunst, sondern der Politik, sie wandten sich ans Volk von dem sich die Humanisten hochmütig fern hielten.

3. More über das Frauenstudium. Seine Pädagogik.

Die Verwendung und Ausbildung der nationalen Sprache zu ihren Zwecken hatten die Humanisten mit den Reformatoren gemein; dagegen war ihnen ausschließlich eigentümlich die Hochhaltung der Frau, der Naturwissenschaften, der schönen Künste.

In bezug auf jeden dieser Punkte stand More unter den Humanisten selbst wieder in erster Linie.

Für seine Ansichten vom Frauenstudium ist namentlich ein Brief wichtig, den er an Gunnell, den Erzieher seiner Kinder, richtete, eines derjenigen Schriftstücke, durch deren Überlieferung Stapleton sich verdient gemacht hat. Es heißt da unter anderem: »Wohl verdient in meinen Augen Gelehrsamkeit mit Tugend vereint den Vorzug vor allen Schätzen der Könige, wissenschaftlicher Ruhm ohne Tugend aber bedeutet nichts als glänzende Schande. Dies gilt namentlich von der Gelehrsamkeit eines Frauenzimmers. Denn da bei diesen gemeiniglich jedes Wissen etwas Seltenes und ein heimlicher Vorwurf über der Männer Trägheit ist, so lieben es viele, sie anzugreifen und der Literatur zuzuschreiben, was in Wirklichkeit ein Fehler der Natur ist, indem sie meinen, die Fehler der Gelehrten stempelten ihre eigene Unwissenheit zur Tugend. Vereinigt jedoch ein weibliches Individuum auch nur einige Kenntnisse mit vielen löblichen Tugenden, so schätze ich dies über des Krösus Reichtümer und der Helena Schönheit. ... Der Unterschied des Geschlechtes tut (in bezug auf Gelehrsamkeit) nichts zur Sache, denn zur Zeit der Ernte ist es gleich, ob die Hand, die den Samen ausgestreut, einem Manne oder einem Weibe angehört hat. Sie haben beide die gleiche Vernunft, die den Menschen vom Tiere unterscheidet. Beide sind daher gleich befähigt zu jenen Studien, durch welche die Vernunft vervollkommnet und befruchtet wird, wie ein Ackerland, auf das die Saat guten Unterrichtes ausgestreut worden ist. Sollte aber, wie viele behaupten, die die Frauen vom Studium abhalten wollen, beim weiblichen Geschlecht das Erdreich unfruchtbar sein oder Unkraut hervorbringen, so wäre dies meines Erachtens ein Grund mehr, die Fehler der Natur durch anhaltenden Fleiß und durch Unterricht in den Wissenschaften zu verbessern.«

Diese Grundsätze betätigte More praktisch bei der Erziehung seiner drei Töchter und seiner Pflegetochter, Margarete Giggs, die er in den humanistischen Wissenschaften gründlich unterrichtete und unterrichten ließ. Margarete, seine älteste Tochter, kam ihrem Vater an Geist und Witz am nächsten; sie erlangte ein so hohes Wissen, daß sie bedeutendes Ansehen unter den Gelehrten ihrer Zeit genoß. Ihre literarischen Leistungen erregten Aufmerksamkeit in weiten Kreisen; Erasmus schrieb an sie stets mit der größten Ehrerbietung und nannte sie einmal »Britanniens Zier«. Sie sprach geläufig Griechisch und Lateinisch, übersetzte den Eusebius aus dem Griechischen ins Lateinische und stellte, wie Johannes Costerius berichtet, eine verdorbene Stelle des Cyprianus wieder her, Leistungen, die uns heute als Schulmeisterarbeiten erscheinen, die aber im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts als höchst bedeutsam galten und allgemeines Interesse erregten. More liebte seine Margarete ungemein. Noch ist uns ein Brief von ihm an sie erhalten, in dem er ihr, der Gattin Ropers, seines späteren Biographen, Glück wünscht zu ihrer bevorstehenden Niederkunft: möge sie eine ihr gleiche Tochter gebären; ein solches Mädchen ziehe er drei Jungen vor. Sie starb leider schon 1544, neun Jahre nach der Hinrichtung ihres Vaters, noch bei Lebzeiten Heinrich VIII., als Mores Gedächtnis noch geächtet war. Hätte sie die katholische Reaktion noch erlebt, so würde sie wohl eine bessere Biographie Mores gegeben haben, als ihr Gatte vermochte.

In der trefflichen Erziehung seiner Kinder zeigte More jenes Talent, das allen großen Utopisten eigen, ohne das sie kaum ihre Größe erlangt hätten, das pädagogische. Die ersten Sozialisten waren ja vor allem deshalb Utopisten, weil sie das Menschenmaterial, mit dem das Gemeinwesen aufgebaut werden sollte, zu unentwickelt, zu tiefstehend fanden, als daß sie hätten erwarten dürfen, daß es sich aus eigener Kraft emanzipieren werde. Die Erziehung des Volkes, nicht im Klassenkampf, sondern durch pädagogische Maßnahmen war demnach ein Haupterfordernis für den utopistischen Sozialismus. Niemand konnte auf diesem Gebiet etwas leisten ohne pädagogisches Talent. So wie Robert Owen, war auch Thomas More als Pädagoge seiner Zeit weit voraus. So wie jener in seiner Fabrik, zeigte dieser in seiner Familie, bei seinem Gesinde durch die Tat, welch glänzende Erfolge sich mit seiner Methode erreichen ließen. Die Mittel, durch die der eine wie der andere diese Erfolge erzielte, waren Liebenswürdigkeit, Milde, Konsequenz und geistige Überlegenheit. Erasmus hat uns in seinem Briefe gezeigt, wie gut More auf diese Weise seine Kinder, sein Gesinde und namentlich seine zweite Frau zu erziehen wußte, die nach allem, was wir von ihr wissen, ursprünglich eine wahre Xanthippe für diesen neuen Sokrates gewesen zu sein scheint.

Einige der pädagogischen Grundsätze, denen More folgte, sind uns noch erhalten. So heißt es zum Beispiel in dem oben erwähnten Brief an Gunnell: »Du sagst, die Eitelkeit fern zu halten, welche selbst Männer von großer Gelehrsamkeit nicht besiegen können, sei eine zu große Aufgabe für Kinder. Allein je mühsamer es ist, dies Unkraut auszuraufen, desto frühzeitiger sollen wir an dessen Ausbildung Hand anlegen. Die Ursache, warum dies Übel so tief sitzt, ist darin zu suchen, daß Ammen, Eltern und Lehrer es bei den Kindern vom zartesten Alter an entwickeln und großziehen, denn kaum wird dem Kinde etwas Gutes beigebracht, so erwartet es auch alsbald sein Lob und sucht gern um dieses Lobes willen den meisten, also gerade den Schlechtesten zu gefallen.«

Am liebenswürdigsten schildert uns More selbst sein Verhältnis zu seinen Kindern in einem reizenden Gedicht »An meine geliebten Kinder«, dem wir folgende Verse entnehmen:

»Küsse gab ich euch wahrlich genug, doch Schläge kaum einmal,
Und wenn ich jemals euch schlug, so mit dem Schwanz eines Pfauen. ...
Stets hab' ich jene zärtlich geliebt, die ich zeugte,
Hab' sie mit Milde erzogen, wie es dem Vater geziemt;
Doch so unendlich ist jetzt die Liebe zu euch mir gewachsen,
Daß es fast scheint, als hätt' ich euch früher gar nicht geliebt.
Ernstes Streben, vereint mit der Anmut der Jugend,
Geister, trefflich gebildet in Kunst und in Wissen,
Zungen, die sprechen mit fließender Anmut,
Die nicht Worte bloß reden, sondern auch große Gedanken,
Das ist's, was mich an euch so mächtig entzücket,
Was mein Herz mit den euren so innig verbindet,
Daß ich euch jetzt, meine Teuren, unendlich mehr liebe,
Als wäret ihr bloß die Kinder, die ich gezeuget.«

Heute noch erscheint die Milde und Liebenswürdigkeit Mores ungemein anziehend. Sie ist aber um so höher anzuschlagen, wenn man bedenkt, daß das sechzehnte Jahrhundert eines der grausamsten und blutdürstigsten in der Geschichte der Menschheit ist. Das Zeitalter des Humanismus war nichts weniger als das Zeitalter der Humanität.

In pädagogischer Beziehung leitete es das Zeitalter der Prügelpädagogik und des geistlosen Auswendiglernens unverstandener Worte ein. Erasmus berichtet, daß ein Schulmeister nach der gemeinsamen Mahlzeit immer einen Schüler hervorzog und einem rohen Prügelmeister zur Züchtigung übergab, der, sinnlos sein Amt verwaltend, einmal einen schwächeren Knaben nicht eher losließ, als bis er selbst vor Schweiß troff und der Knabe halbtot zu seinen Füßen lag. Der Lehrer aber wendete sich mit ruhiger Miene zu den Schülern und sagte: »Er hatte zwar nichts getan, aber er mußte gedemütigt werden

Man vergleiche damit Mores pädagogische Grundsätze.

4. Mores Verhältnis zur Kunst und zu den Naturwissenschaften

An Humanität war More mehr als ein Humanist. Das Interesse für die Kunst hatte er dagegen mit allen Humanisten gemein. Seine Vorliebe für Musik haben wir bereits in dem Briefe des Erasmus kennen gelernt. Aber auch die bildenden Künste hatten sich seiner vollen Teilnahme zu erfreuen. Für uns ist in dieser Beziehung von besonderem Interesse sein Verhältnis zu Hans Holbein dem Jüngeren, dem großen deutschen Maler. Dieser kam 1526 nach England mit einem Empfehlungsschreiben von Erasmus an More, »um einige Engeltaler zusammenzukratzen, da in Deutschland die Künste darbten«. Dieser nahm ihn mit offenen Armen auf, waren ihm die Werke des Künstlers doch schon von früher her bekannt. Die Frobensche Ausgabe der »Utopia« von 1518 hatte Holbein mit Zeichnungen geschmückt, wie früher schon des Erasmus »Lob der Narrheit«. More behielt ihn längere Zeit in seinem Hause. Dafür schmückte Holbein dieses mit seinen Gemälden und malte More und dessen Familie. Unter Mores Anleitung soll er auch zwei berühmte Gemälde, den Triumph des Reichtums und den der Armut, im Steelyard, dem Londoner Haus der deutschen Hansa, verfertigt haben, die bei dem großen Brand 1666 leider zugrunde gingen. (Rudhart, a.a.O. S. 230, 231.) More führte Holbein später (wahrscheinlich 1528) beim Hofe ein und machte Heinrich VIII. auf den genialen Maler aufmerksam, der diesen in seine Dienste nahm.

Neben Mores Interesse für die Kunst ist noch bemerkenswert seine Vorliebe für die Naturwissenschaften.

Zu den wenigen, die sich im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts für die Erforschung der Gesetze der Natur interessierten und den jungen Naturwissenschaften ein weiteres Ziel wiesen, als die Befriedigung beschränkter Augenblicksbedürfnisse, gehörte Thomas More. Es ist dies zu ersehen aus der Rolle, welche er die Naturwissenschaften in seinem utopistischen Gemeinwesen spielen läßt. Wir werden bei dessen Darstellung einige davon handelnde Stellen mitteilen.

Hier, wo es sich um die Skizzierung des Charakterbildes Mores handelt, seien nur einige Tatsachen erwähnt, die sein Verhältnis zu den Naturwissenschaften bezeichnen. Aus dem Brief des Erasmus haben wir bereits gesehen, wie gern er die Tierwelt beobachtete, ein Zug, der zu seiner Zeit nicht häufig war.

Von den Biographen Mores erfahren wir, daß er neben der Geometrie auch Astronomie studierte, und er muß es in ihr zu einer gewissen Vollkommenheit gebracht haben, da er in der ersten Zeit seines Aufenthalts am Hof von Heinrich VIII. mehr als Astronom denn als Staatsmann beschäftigt wurde. Daß es sich dabei nur um wissenschaftliche Forschung handelte und nicht um astrologische Verwertung, ersieht man aus seinen Ausfällen gegen die Astrologen, die er allerdings nicht mit moralischer Entrüstung, sondern seiner Lieblingswaffe, dem Spott, angriff. Eine Reihe seiner lateinischen Epigramme ist gegen die Astrologen gerichtet, darunter erscheint uns am gelungensten eines, in dem er einen Sterndeuter verhöhnt, der aus den Sternen alles herausliest, nur das nicht, daß ihm seine Frau Hörner aufsetzt.

Aber More war nicht nur ungläubig den Astrologen gegenüber. Er verlachte auch die Leichtgläubigkeit der Frommen und ihre Lust an Schauermärchen. Sein Lieblingsschriftsteller war nebst Plato Lucianus von Samosata, der Heine des untergehenden Römertums, dem »nichts heilig war« und der die Schale seines Witzes ebenso ausgoß über das neuaufkommende Christentum und die Modephilosophen wie über den alten Götterglauben.

Er las die Schriften dieses Ungläubigen trotz der Ermahnungen seiner frommen Freunde, die befürchteten, er könne durch eine solche Lektüre »verdorben« werden, und verteidigte ihn ihnen gegenüber. In einem seiner Briefe (an Ruthall) heißt es von Lucian: »Wundere Dich nicht, daß diejenigen plumpen Pöbelgeister sich über seine Dichtungen ärgern, die glauben, etwas Großes geleistet und Christum sich für immer eigen gemacht zu haben, wenn sie irgend ein Märchen von einem heiligen Mann oder eine Schauergeschichte aus der Hölle erfinden, daß ein altes Weib darob halb verrückt Tränen vergießt oder vor Entsetzen zusammenschaudert. Es gibt kaum einen Heiligen oder eine fromme Jungfrau, denen sie nicht derartige Lügen angehängt hätten, natürlich in frommer Absicht, da sie fürchteten, die Wahrheit werde nicht geglaubt werden, wenn man sie nicht mit Lügen gehörig unterstütze.«

More ahnte nicht, daß er einige Jahrzehnte später selbst zu den »heiligen Männern« gehören würde, auf deren Kosten katholische Pfaffen »sich Christum zu eigen machten«.


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