Adam Karrillon
Erlebnisse eines Erdenbummlers
Adam Karrillon

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»Wie sucht ihr mich heim, ihr Bilder?«

Schon saß ich wieder in Weinheim mit meinen Kranken herum und schrieb an einem neuen Roman, O domina mea zubenannt. Damals machte ich die Bekanntschaft von Karl Ernst Knodt, dem Dichter der himmelblauen Sehnsucht. Wie das kam, weiß ich nicht mehr so recht, ich nehme aber an, es geschah, weil unsere beiden Frauen alte Bekannte waren und gemeinsam vor Jahren in einem Darmstädter Pensionat ihre Erziehung genossen. Knodt, nach seinem früheren Wohnsitz Oberklingen der Waldpfarrer genannt, hatte sein Amt niedergelegt, um ausschließlich seiner frommen Muse zu Gefallen leben zu können. Der Architekt Metzendorf hatte ihm zu Bensheim ein kleines Tuskulum erbaut. Die früheren Schulkameradinnen waren wieder füreinander erreichbar, und so mag es gekommen sein, daß auch Knodt und ich einander kennen lernten.

Der Waldpfarrer war ein großes Kind und sein Haus die reine Herberge zur Gerechtigkeit, obwohl außer mir auch andere Sünder da ein- und ausgingen. Es verkehrten da gelegentlich Liliencron, Hermann Hesse, Schönaich-Carolath, Gustav Falke, Gotthardo Segantini und so weiter. In den literarischen Kränzchen, die mit einiger Regelmäßigkeit im nahen Auerbach stattfanden, konnte man dann allerlei Lokalgrößen kennen lernen, wie Helene Christaller, Daniel Greiner, Frau Gottfried Schwab und so weiter, und so weiter. Mein ärztlicher Beruf ließ mich nicht allzuoft zu diesen literarischen Kuchenessen kommen. Auch war mir der Waldpfarrer lieber, wenn ich ihn ohne die Verzierung von Pimpernell und Petersilie genießen konnte. Zumeist pflegte ich ihn dann erst aufzusuchen, wenn mir das Herz schwer war. Ich weiß nicht, wie es kam, aber in seiner Nähe hatte ich das Gefühl, daß es eine ausgleichende Gerechtigkeit gäbe, die auch mir eines Tages zu meinem Anteil von Glück verhelfen würde. Und doch wieder stach mich zuweilen ein innerer Kitzel, mich über den weltfremden Gottesmann ein wenig lustig zu machen. So hatte ich sein Haus das Kernerhaus zu Weinsberg getauft, seinen musikalischen Sohn Theodor den Hamlet und ihn den Franz von Assisi, obwohl ich ihn niemals in härenem Gewände traf, sondern immer nur in einer braunen Samtjacke, auf die sein weicher Vollbart niederfloß, als wolle er mit der goldenen Uhrkette spielen, die sich in der Nabelgegend quer über eine helle Weste legte. So traf ich ihn auch wieder einmal in seinem Dichterheim. Er schien besonders gut aufgelegt und sein freundliches Gesicht war noch verschönt durch den roten Schein, den einige Weinflaschen auf Bart und Haarwuchs streuten. »Geburtstag« predigten die Flaschen, und ein großer Rodonkuchen auf dem Tische stimmte ihnen bei. Gleichwohl stellte ich mich, als ob ich von dem Feste keine Ahnung hätte, das offenbar da gefeiert wurde, tat erstaunt über den Reichtum, den ich vor meinen Augen sah, und sagte: »Hallo, Kinder, erwartet ihr den Großherzog als euren Gast?«

»Käthchen, da hör' mal, was der Doktor sagt,« rief Knodt seiner Frau zu. »Denk nur, er hat keine Ahnung von dem, was heute bei uns vorgeht. Noch nicht einmal hat er gesehen, was hier an unserer Wand hängt.«

Obwohl ich da schon längst einen Lorbeerkranz beobachtet hatte, setzte ich doch nun den Zwicker auf, schaute hin und sagte: »Aber Knodt, was ist los in eurem Hause? Ich kann nur hoffen, daß eure Enten prämiiert worden sind.«

Nun lachte aber das große Kind überlaut auf. »Na, was der Karrillon für Einfälle hat! Sieht er nicht einmal, daß man in mir den Dichter ehren will. Gewiß, ich bin ihm eine Aufklärung schuldig. Wie kann er sonst wissen, daß sogar der Gemeinderat von Oberklingen hier war. Staunen Sie nur, Karrillon, er hat mit uns Kaffee getrunken, und vieles haben wir miteinander geschwätzt. Zuletzt habe ich die Herren an die Bahn begleitet. Sie steigen ein und als eben der Zug abfahren will, reicht mir der Bürgermeister ein Schriftstück aus dem Fenster, indem er sagt: ›Da hätten wir beinahe die Hauptsache vergessen.‹

Der Zug rast weiter. Ich öffne das Schreiben und was war's? Die Ehrenbürgerurkunde der Gemeinde Oberklingen.«

»Nun denn meinen Glückwunsch, Waldpfarrer,« sagte ich, »und wenn ich einmal der deutsche Kaiser werde, sollen Sie von mir den schwarzen Adler haben.«

Dann setzten wir uns zusammen an den Tisch, denn aus uns war indessen eine große Gesellschaft geworden. Damen waren mit Blumensträußen gekommen. Andere hatten Notenblätter mitgebracht. Es wurde gesungen, geschwatzt, gelacht, und als es Nacht geworden war, mußte ich fort, ohne mit Knodt nur ein einziges Wörtchen von dem gesprochen zu haben, was mir auf dem Herzen lastete.

Eine seltsame Sache bewegte mich dazumalen, über die ich gerne mit einem teilnehmenden, einsichtsvollen Menschen geredet hätte. Den hatte ich an Knodt, und da ich heute an sein Herz nicht herankommen konnte, so scheute ich den Weg nicht und kam nach einigen Tagen wieder, wo ich ihn ausnahmsweise einmal antraf, ohne daß Besuch im Hause gewesen wäre.

»Waldpfarrer,« sagte ich zu ihm, »was halten Sie von der folgenden Beobachtung: Als ich noch ein Anfänger in der ärztlichen Praxis war, erlebte ich es des öfteren, daß es mir in der Nacht träumte, ich wäre zu einer Wöchnerin gerufen. Nicht immer, aber doch ab und zu kam es vor, daß das betreffende Weib in seiner ganzen Figur vor meinem Geiste stand und als eine Bekannte von mir zu rekognoszieren war. Gewöhnlich blieb es nicht beim Traum, sondern ich wurde wach und zündete Licht an, um mich ganz in die reale Wirklichkeit zu versetzen. Meine Frau kennt diesen Zustand und sagt dann gewöhnlich zu mir: ›Kannst du wieder nicht schlafen?«

»›Nein,‹ sag' ich, ›paß auf, gleich wird die Nachtglocke gezogen werden‹.

»Wir warten nun beide, und es dauert nicht lange und von der Straße her vernimmt man den Laut eiliger Tritte oder auch das hastige Schlagen eines Fuhrwerks.

»›Hör' nur,‹ flüstert eins dem andern zu, ›gleich wird die Schelle tönen.‹

»Und sie tönt wirklich, schrillt durch den Hausgang hin und weckt die Magd und die Kinder. Indessen bin ich schon am Fenster. Kaum daß der Riegel knarrt und die Scheibe klirrt, ruft es schon von der Straße herauf: ›Die Ammbase schickt mich, Doktor. Nehmt das Geschirr mit Euch, Ihr müßt zu einer Wöchnerin.‹ Was sagen Sie zu der Beobachtung, Pfarrer?«

»Da haben wir's, mein lieber Freund. Auch wenn ihr sie mit euern Messern nicht im Menschenkörper aufstöbern könnt – es gibt eben doch eine Seele – und es gibt deren viele, und eine strebt der andern zu, wenn sie in Not ist. Oder wüßten Sie eine andere Erklärung?«

»Das schon, nur schwebt sie nicht so im Transzendentalen wie Ihre Seelen. Ich nehme an, ein menschliches Gehirn besitzt in Momenten starker Ganglientätigkeit die Kraft, elektrische Wellen zu erregen, und die laufen in radialer Richtung fort allenthalben in die Unendlichkeit, genau so, wie in der drahtlosen Telegraphie, und gehen verloren, wenn sie nicht auf eine Antenne treffen, die auf ihren Anruf abgestimmt ist. Beachten Sie meine weiteren Ausführungen, denn es liegt mir viel daran, daß Sie meinen jetzigen Seelenzustand richtig erkennen. Ich nehme also an, daß in früheren Jahren, wo ich mich in der Geburtshilfe noch nicht als Meister fühlte, meine Nervenendigungen noch empfindsamere Antennen waren als heutzutage, wo mich keine Komplikation am Kreisbett mehr überraschen kann. Anders ausgedrückt: Ich bin hartschlägiger geworden seit einigen Jahren schon und schlafe infolgedessen besser, als früher. Und dennoch, denken Sie nur, ist mir vor einiger Zeit eine Geschichte passiert, die mich um den Verstand, wenn nicht gar ums Leben bringen wird. Hören Sie weiter, Knodt.

»Ich werde wieder einmal wach. Die Erinnerung an einen Traum habe ich nicht. Aber es quält mich eine innere Angst vor irgend etwas Schrecklichem, was mir bevorstehe. Ich will meine Frau nicht wecken und lausche mit angestrengtem Ohr auf die Straße hinaus. Aus der Ferne höre ich das Klappern von Holzschuhen. Es kommt näher. Man reißt an der Klingel. Eine Stimme ruft, bevor ich am Fenster bin: ›Kommen Sie so schnell wie möglich, der Mann, der bei uns wohnt, liegt am Ersticken!‹

»Na, ich auf und mit dem Boten fort. Der Patient, zu dem ich gerufen war, hatte einen Anfall von Herzasthma. Die Sache war nicht weiter schlimm. Ich schrieb ein Rezept auf, und der Bote, der mich gerufen hatte, klapperte sich damit nach der Apotheke in die Stadt hinein.

»Am nächsten Morgen erfahre ich, daß der Holzschuhmann verhaftet sei. Warum nur? Ich kannte ihn doch als einen braven, friedlichen Bäckermeister.

»Bald erreichte mich das Gerücht, er stehe im Verdacht, in der fraglichen Nacht eine Brandstiftung begangen zu haben. Man will gesehen haben, wie er vom Ort der Tat weggesprungen sei. Man will das Klappern seiner Holzschuhe gehört haben.

»›Dummes Zeug,‹ dacht' ich mir. ›So vernagelt kann nicht einmal das Kriminalgehirn eines Staatsanwalts sein, daß es annimmt, wer einen Brand legen will, zieht ausgerechnet gerade Holzschuhe an. Man wird dich als Zeugen vernehmen. Du erzählst, was sich in der Nacht zugetragen, und der Bäcker ist auf freiem Fuß.

»Nichts von alledem geschah. Hat die blinde Gerechtigkeit erst mal einen dingfest gemacht, dann nimmt sie sich Zeit. Vor allem sucht man zunächst nach Belastungsmaterial. Man erforscht des Delinquenten Abstammung, und wenn einer seiner Urgroßväter einmal Kohlenbrenner war, dann erscheint er schon als verdächtiger schwarzer Teufel.

»Indessen schickt man die Gendarmen aus und erkundigt sich, wo der Mann seine Streichhölzer kauft. Da haben wir ihn schon. Beim Krämer Hollerbock hat er vor acht Tagen ›Schweden‹ erstanden. Schon ist er beinahe überführt, denn am Tatort hat man sogar einen roten Streichholzrest entdeckt, der denen wie aus dem Gesicht geschnitten gleicht, die der Hollerbock zu verkaufen pflegt. Um ganz sicher zu gehen, fragt man noch bei seinen Lehrern herum, ob dem Inkriminierten eine solche Tat zuzutrauen sei, und erfährt, daß er als Ministrant einmal am Meßwein genascht habe.

»Auf dem Gerichtstisch wachsen die Aktenbündel turmhoch gegen die Decke. Die Schreiber bekommen den Krampf in die Finger. Da macht man eine Kunstpause, um nachzuprüfen, ob der Inhaftierte bei Wassersuppen für ein Geständnis seiner Tat reif geworden sei.

»Man sah in unserm Falle langsam ein, daß unser Hartgesottener mit dieser Methode nicht erweicht werden könne. Er war ruchlos genug, sich noch immer nicht zur Tat zu bekennen. Man mußte wohl oder übel, da sein Anwalt drängte, die von ihm bezeichneten Entlastungszeugen laden, und so bekamen der Asthmakranke und ich eine Vorladung. Noch einige Tage, um die schlimmen Folgen eines raschen Klimawechsels für den Gefangenen fürsorglich zu vermeiden, dann aber konnte der Angeschuldigte zu seinen Angehörigen zurückkehren.

»Er fand da manches verändert. Die guten Nachbarsleute erwiderten seinen Gruß nur noch so halb und halb, und, was schlimmer war, sie kauften ihr Brot bei einem andern Bäcker. In der Kirche wäre die Bank leer geblieben, in der er kniete, wenn sich nicht ein Blinder hineinverirrt hätte. Kurzum, der Mann war gezeichnet, weil er gesessen hatte. Schlimm das, sehr schlimm, allein doch nicht nur für den einen, den das Geschick getroffen hatte. Der trug es denn auch nicht leicht, und wem es gerade so ging, das war ich. Ich tat mein möglichstes, um den Bäcker an den Stammtischen zu verteidigen. Im Kasino bekam ich Streit mit allem, was nur in der Herberge zur Gerechtigkeit mit Aktenfaszikeln herumhantierte«

»Und Sie wurden womöglich eingesperrt,« sagte Knodt.

»So weit kam es nicht. Stellen Sie sich vor: Eines Nachts schellte es wieder. Diesmal stand nicht der Bäcker vorm Hause, sondern der Asthmatiker. ›Schnell, schnell,‹ rief er im Flüstertone zu mir herauf. ›Ich warte auf Sie. Hier vor der Haustür sollen Sie erfahren, was los ist.‹

»Ich beeilte mich nach Möglichkeit und erfuhr auf der Schwelle meines Hauses, daß der Bäcker sich den Hals durchgeschnitten habe, aber noch lebe. ›So weit mußte es kommen,‹ fügte der Bote hinzu. ›Seitdem er aus dem Gefängnis heraus ist, war der Mann gebrochen.‹

»Wir gingen oder vielmehr wir tappten mit unbeholfenen Schritten in eine pechschwarze Finsternis hinein. Ich kann mich nicht erinnern, eine zweite so dunkle Nacht erlebt zu haben. Das Hoftor des Bäckers tasteten wir uns aus der Mauer heraus. Im Hausgang drang eine kreischende Weiberstimme in mein Ohr. Die Frau des Bäckers war's. Sie tobte wie unsinnig und schlug die Hände überm Kopf zusammen.

›Ich kann's nicht sehen,‹ sagte der Asthmatiker noch, schob mich der Tür zu und war verschwunden. Es war dunkel um mich. Durchs Schlüsselloch aber stahl sich ein dünner Lichtstrahl. Ihm folgend öffnete ich die Tür und befand mich einer grauenvollen Szene gegenüber. Da stand der Bäcker im Scheine einer von der Decke niederpendelnden Petroleumlampe mit offener Brust.

Ein Strom von Blut wälzte sich von seinem Halse hernieder und floß unter seinem Gürtel in die Hosen hinein. Seine blutige Rechte umfaßte den Griff eines elenden Küchenmessers, und kaum daß sein rollendes Augenpaar meiner ansichtig geworden war, so fing die stumpfe Kneipe von neuem an, in der gräßlichen Halswunde zu wühlen. Es war, als ob der Lebensmüde fürchtete, ich könne gekommen sein, um ihn noch einmal auf der Erde festzuhalten, deren Ungerechtigkeiten er sich ja eben entziehen wollte.

»Merkwürdig doch, wie klar in diesem Augenblicke der Mediziner durch meine Augen sah. Das anatomische Bild des durchschnittenen Halses lag wie ein Präparat vor mir. Wie durch ein visionäres Schauen belehrt wußte ich, der Mann arbeitet mit einem stumpfen Instrument, aber unerhörter Energie. Es ist ihm gelungen, die Luftröhre zu durchschneiden. Dadurch hat er sich der Sprache beraubt, aber nicht des Lebens. Die großen Halsgefäße hat er nicht getroffen. Sie sind der schartigen Klinge ausgewichen. Wie könnte er sonst noch aufrecht vor mir stehn? ›Wer weiß,‹ so sagt' ich mir, ›vielleicht ist der Mann noch zu retten, wenn er mich an seine Wunde läßt.‹

»›Man hat Euch unrecht getan, Bäcker, ich weiß das,‹ so redete ich ihm zu, ›gebt mir das Messer und ich will's probieren, ob ich Euch retten kann.‹

»Mit drohender Abwehrbewegung schwang er gegen mich die Klinge und gleich darauf stak sie wieder in der Halswunde drinnen, einen erneuten Blutstrom über das Schlüsselbein pressend.

»Ich sprang hinzu und versuchte es, den Arm des Lebensmüden festzuhalten. Mit Riesenkraft wurde ich zurückgeschleudert und fuhr wider die krachende Kammertür, in die Knie niedersinkend. Den Rasenden keine Sekunde aus dem Auge lassend, erhob ich mich wieder. Er hatte sich auf die Bank neben dem Tisch gesetzt. Das Messer auf das Knie gestützt, schien er nur die Kraft sammeln zu wollen zu einem neuen Angriff gegen sich selbst. Da plötzlich erhob er den Kopf. Das Geschrei seines Weibes war an sein Ohr gedrungen vom Hofe her. Auch die Stimme eines Nachbars war hörbar geworden.

»Zwei Männer jetzt gegen ihn! Der Gedanke mußte den Unglücklichen erfaßt haben. Im Nu hatte er den Fensterladen aufgestoßen und war verschwunden in das Dunkel der unheimlichen Nacht hinein.

»Ein Schrei meinerseits, und die Frau trat mit dem Nachbar zusammen ins Zimmer. Da standen wir nun und sahen einander an. Blutlachen warfen geisterhaft vom Boden herauf das Licht der flackernden Lampe zurück; wohin man trat, überall war Glätte und Blut.

›Ist er durchs Fenster?‹ fragte die Frau. ›Geht, lauft ihm nach, guter Nachbar, eh' er sich ins Wasser stürzt.‹

›Später will ich Euch den Gefallen tun. Jetzt kann ich nicht. Das Brot wird schwarz, was ich im Ofen habe.‹

›Später, ja später,‹ wiederholte die Frau, ›da wird das später ein zu spät sein.‹

›Um so besser für Euch! Was wollt Ihr mit einem Manne tun, der keine Gurgel mehr hat und im Zuchthaus saß?‹

Da war es wieder das verdammte Brandmal, das die empörende Allmacht eines Staatsanwalts dem Untertanen auf die Stirne drücken kann, ohne daß er imstande ist, sich irgendwie dagegen zu schützen.

»Im gleichen Moment fuhr ein Windstoß durchs Fenster und die Lampe erlosch. Dicht drängten wir drei uns aneinander und suchten die Tür nach dem Hofe zu gewinnen. Ich rief den Nachbar mit Namen. Er gab keine Antwort mehr. Das Weib aber schrie sinnlos wie ein Tier zum Himmel auf. Nein, ich konnte dies Getue nicht mehr hören. Es schien, als ob es eher den Schmerz verhöhnen solle, als ihm einen Ausdruck zu geben. Auf was wollte ich warten? Ich machte mich fort von der Statte des Grauens und schritt auf meine Wohnung zu.

Als ich auf der Brücke über den Bach ging, dacht' ich bei mir: »Da drunten wird der Bäcker im Wasser liegen, aber an welcher Stelle wohl?«

Knodt hatte mit gesenkten Augenlidern, die Hand in seinen Bart vergrabend, zugehört.

»Und hat der Ärmste endlich noch gefunden, was er suchte? O, es muß schrecklich sein das Sterbenwollen und Nichtsterbenkönnen,« bemerkte er mit frommem Seufzen.

»Ja, er fand das Ende. Zum mindesten ist die Sonne über seinen Schmerzen nicht mehr aufgegangen. Aber auf die meinen scheint sie nun Tag für Tag. Denken Sie nur, Pfarrer, ich kann seit diesem Erlebnis keine Ruhe mehr finden. Wenn ich einen vom Gericht sehe, dann packt mich eine Wut gegen diese Söldlinge der Paragraphengerechtigkeit, daß ich einem jeden von ihnen an die Kehle fahren möchte, und sehe ich niemand um mich, dann steht der Bäcker vor mir mit der durchschnittenen Luftröhre. Er drängt sich in alle meine Träume und macht mir mein Bett zu einer Folterbank. Mit Angst im Herzen betrete ich am Abend meine Kammer, und wenn ich sie am Morgen verlasse, steht der Schweiß auf meiner Stirne.«

»Und dann über Tags! Das Wasser im Bach, das Haus, in dem der Tote wohnte, jeder Holzschuh, den ich sehe, alles, rein alles erinnert mich an den Unglücklichen. Was fang ich an, was mach ich nur, daß ich die Halluzination, die schreckliche Halluzination aus meinen Vorstellungen banne?«

Knodt sagte: »Beten Sie oder lernen Sie Klopstocks Messiade auswendig.«

»Alles schon versucht« war meine Antwort, »sogar im Dante fand ich kein Vergessen.«

»Dann nehmen Sie den Rucksack auf den Buckel und wandern Sie wieder einmal in die Welt hinein, wie Sie oft getan.«

Diesen Rat hatte ich mir eigentlich schon selber gegeben, und nun, wo er mir von einer Seite kam, die ich sehr schätzte, zögerte ich nicht länger. Ich löste ein Billet nach der Schweiz und fuhr in der dritten Klasse eines Abends von Heidelberg ab.

In meinem Abteil saß außer mir nur ein italienischer Arbeiter, der eine Spitzhacke über die Schulter lehnte und in lauernder Stellung da saß, so, als ob er sich bereithalten müsse, alle Augenblicke aus dem Zuge zu springen. Da eine Verständigung mit dem Manne nicht möglich war, so streckte ich mich aus auf meiner Bank, um zu schlafen. Und merkwürdig, es gelang. Vielleicht war es das Summen der Wagenräder, was den Schlaf brachte, vielleicht das Wiegen und Stoßen der Achsen, kurzum, was seit langem schon nicht mehr geschehen war, der Schlaf kam und er war tief und traumlos.

Da aber wurde ich gleichwohl wach. Jemand hatte mich an der Schulter gepackt und schüttelte mich. Ich schlug die Augen auf und sah mit verängsteten Zügen den Italiener vor mir stehen mit der Spitzhacke über der Schulter.

»Ba-asel, Signore?« flüsterte er mir zu.

Ich warf einen Blick durch die Scheiben, winkte ab mit der Hand und sagte: »Karlsruhe.«

Gleich darauf schlief ich wieder und träumte mir etwas zurecht von Gamsböcken und Geißbuben, als ich wieder geweckt wurde und die Worte hörte: »Ba-asel, Signore?«

»Rastatt,« war meine Antwort, und ich träumte zu Gamsböcken und Geißbuben als Fortsetzung noch Schweizerkäs und eine Sennerin hinzu.

Wieder ein Schütteln und abermals: »Ba-asel Signore?«

»Offenburg,« schrie ich jetzt, und um mir meine Nachtruhe zu sichern, sprang ich auf und suchte dem Italiener am Zifferblatt meiner Uhr klar zu machen, daß wir Basel vor sechs Uhr des Morgens nicht erreichen würden. Gott sei Dank, er schien mich zu verstehen. Er lächelte holdselig und sagte: »Grazie, Signore.«

Gut also, mit diesem Störenfried war ich fertig. Nun das Taschentuch unters Hinterhaupt, die Augen geschlossen und das Versäumte nachgeholt.

Wahrhaftig ich schlief abermals ein. Der Bäcker kam nicht, und auch der Italiener schien für mich abgetan. Aber ich hatte mich getäuscht. Wo und wie oft der Zug auch halten mochte, immer stand der Steinbrecher mit seiner Spitzhacke vor mir und immer wieder hatte er die Frage auf den Lippen: »Ba-asel, Signore?«

Nun färbte auf der Höhe von Freiburg der Tag die Scheibe schon etwas grau. Ich setzte mich auf und suchte die Gegenstände zu erkennen, die draußen vor dem Zuge tanzten. Ein Mäher war's mit einer Sense über der Schulter; ein Weib mit einem Korbe auf dem Kopfe. Bald kamen breite Strohdächer in Sicht und spitze Kirchtürme, die den Frühnebel durchstachen. Eine Fasanenkette, die neben dem Bahndamme genächtet haben mochte, flog auf und suchte mit lautem Kreischen das Weite. Das hob mich nun ganz aus dem Halbschlummer heraus, so zwar, daß ich das Verlangen spürte, zu rauchen. Mit der Zigarre im Mund verneinte ich von jetzt ab die ewige Frage des Italieners nur noch mit einem Kopfschütteln, bis ich sie, auf dem linken Rheinufer angelangt, mit einem Kopfnicken bejahen konnte.

Die nächste Nacht verbrachte ich in einem Hotel zu Interlaken. Ich schlief nicht viel besser wie in der Bahn, aber, Gott sei Dank, der Bäcker mit seinem Messer war nicht mehr in meinen Träumen. Er war abgelöst von dem Italiener mit seiner Spitzhacke. Doch der mit seinem lächelnden Munde war mir lieber wie jener mit seinen rollenden Augen. Warum sollte man nicht den Teufel mit dem Teufel austreiben, zumal wenn der kommende weniger schwarz ist als der gehende.

Am folgenden Tage stieg ich von der Aareschlucht das Haslital hinauf, um in Guttannen zu übernachten. Als ich in die geräumige Gaststube trat, war sie gegen mein Erwarten fast leer. Nur ein einziger Mensch lief im Zimmer mit großen Schritten auf und ab und dieser einzige war nicht nach meinem Geschmack. Er hatte einen roten Schnurrbart aus den Nasenlöchern heraushängen und Sommerflecken auf den Händen, »'s wird ein Berliner Feldwebel sein« so schätzte ich ihn ein, und ich hütete mich wohl, mit ihm in ein Gespräch zu kommen. Wenn er mich nur ansah, so schielte ich zum Fenster hinaus ins Freie, wo der Mond durch Tannenwipfel auf die bleiche Landstraße herunterguckte.

»Ich werde den Herren das Nachtessen zusammenrichten,« rief die Wirtin aus der Küche herein.

»Ich muß für meinen Teil danken,« sagte ich, denn ich hatte derweilen aus dem Fremdenführer herausgelesen, daß eine Stunde talaufwärts bei dem Handeckfall eine gute Unterkunftsstätte zu finden sei. Ich warf also den Rucksack über die Schulter, den Lodenhut auf den Schädel und trat den Nachtmarsch an. Neben mir zur Seite donnerte schäumend die Aare in tiefer Schlucht nach dem Brienzer See hinunter. Die Tannen knackten vom Winde bewegt, und ab und zu schrie ein Rabe auf, dem der späte Wanderer ungelegen gekommen sein mochte. Alles war so ernst, so still, so wunderbar stimmungsvoll, daß ich mich in eine andere Welt versetzt glaubte und den Bäcker, den Steinhauer mitsamt dem Unteroffizier vergessen hatte.

Als ich am Handeckfall ankam, machte ich große Augen. Der Mond schien auf die Trümmer der Unterkunftshütte herunter und auf zwei oder drei elende Bretterbuden, die als Schlafstätten für Arbeiter dienten. Eine Lawine hatte im letzten Frühling das Hotel zerstört. Das war etwas, was dem Reiseführer bei seiner Drucklegung noch nicht bekannt sein konnte, mir aber elend die Laune verdarb, als ich es an Ort und Stelle erfuhr. Was war nun zu machen? Vorwärts über den Aargletscher zu kommen, war in der Nacht unmöglich. Nach Guttannen zurück, zu dem Rotbart wollte ich nicht. Ich entschloß mich also, auf einem Strohsack zu übernachten, den man mir in einer der Bretterbuden zur Verfügung stellte. Zwar war eine Tür an dem Verschlag, aber der Riegel paßte nicht in die Öse. Eine Scheibe war an der Tür, aber ihr Vorhängelchen deckte nicht die Glasfläche. Wollte ich Licht machen und mich ausziehen, so war ich denen draußen zur Schau gestellt, die im Vorraum rauchten, Karten spielten und Schnaps tranken. Ich zog mich im Dunkeln aus und legte mich auf die Pritsche, mein Geld unter das Kopfkissen und meine Seele in Gottes Vaterhände. An alles, was mich vordem gequält hatte, dachte ich nicht mehr. Nur die Gegenwart und die allernächste Zukunft beschäftigten meine Gedanken. Gut schlief ich nicht. Jede Maus, die im Bettstroh raschelte, schreckte mich auf, und ich sah Räuber in meinen Verschlag treten, die mein Geld teilten und meine Leiche nach dem Handeckfall schleppten. Doch der Tag kam heißersehnt endlich heran, und es war abermals eine Nacht vergangen, in der ich von dem Bäcker nicht geträumt hatte.

Als ich den Frühkaffee durch die Ritzen der Holzbude hindurch roch, sprang ich vom Lager und freute mich meines Lebens. Einen Schluck aus der Schnapspulle meines Rucksackes ließ ich mein Frühstück sein und ich machte, daß ich ins Freie kam. Als ich eine Zeitlang gewandert war, überkam mich der Gedanke, daß ich einmal mein Geld zählen wolle. Ich griff in meine Tasche, aber wo war da ein Geldbeutel zu finden? ›Nun hat's eins auf allen Türmen geschlagen‹, dachte ich bei mir und rieb mir die Stirne, mich selber fragend: »Wo bist du nur um deinen Beutel gekommen?«

Ja, nun fiel es mir heiß ein. In der Bretterbude, bei den Diebsgesichtern da unten hatte ich ihn der Gesellschaft mißtrauend unter mein Kopfkissen gelegt – und – – liegen lassen.

»Das hast du gut gemacht,« mußte ich mir sagen, »wenn du den Rückweg sparen wolltest, hättest du was Geistreicheres getan als je in deinem Leben.« Gleichwohl trat ich ihn an und glaube einen Weltrekord errungen zu haben, weil schwerlich jemand jemals den gleichen Weg in kürzerer Zeit zurückgelegt haben wird. Denn zur Eile trieb mich der Gedanke, daß, wenn das Bett gemacht wäre, alles verloren sei.

Als ich mich der Bretterbude näherte, stand ein herkulisches Weib mit schnurrbärtigen Gesichtszügen unter der Tür und hielt mir in verdrossener Wortlosigkeit einen Gegenstand entgegen, in dem ich meinen Geldbeutel mit großer Freude wieder erkannte. Ich öffnete ihn vor den Augen des Mannweibes und siehe, es fehlte kein Pfennig an seinem Inhalt. Diese erfreuliche Tatsache versöhnte mich wieder mit der Menschheit, mit jenem Teile wenigstens, der nicht aus Feldwebeln bestand, und wohlgemut, ja heiter trat ich den Rückweg an, dem Aargletscher entgegen.

Inzwischen hatte sich das Wetter geändert. Nebelfetzen fielen in Waldparzellen hinein und hüllten die Baumstämme in eine graue Watte. Der Boden wurde feucht und schlüpfrig. Das Fortkommen ward beschwerlicher.

›Auf dem Gletscher wird's besser sein,‹ bildete ich mir ein und es war auch besser, denn das Eis bot den starken Nagelschuhen eine feste Unterlage. Bald aber verlor sich die braune Spur, die von früheren Wanderern getreten war.

Was nun anfangen auf einer gleichmäßigen Fläche, von der sich nichts mehr übersehen ließ, als höchstens vier Meter in der Runde. Wenn ich nach einer falschen Richtung lief, vor welchem Abgrund oder vor welcher Felsenschroffe endete dann mein Lauf?

Ich ging zurück bis zu jener Stelle, wo der Gletscher mit dünner Eiszunge sich auf die Talstraße legte. Da wartete ich, auf den glücklichen Zufall hoffend, daß vielleicht ein anderer Mensch, nach dem gleichen Ziele strebend, des Weges käme. Und richtig, aus dem Nebel heraus schälte sich ganz allerliebst die Flucht nach Ägypten nur mit dem Unterschied, daß zur Abwechslung einmal Maria führte und Josef auf dem Esel saß. Bei näherem Zusehen aber erkannte ich die Mutter Gottes als die Finderin meines Geldes und den Nährvater als den vermeintlichen Feldwebel. Nun waren mir mit einemmal alle drei Gestalten äußerst sympathisch geworden und zwar von allen Seiten, obwohl ich mich zumeist mit der Rückansicht begnügen mußte. Nach einem kurzen Gedankenaustausch hatte sich nämlich herausgestellt, daß der Reiter gleichfalls nach dem Rhonegletscher wollte und der Sicherheit halber den Esel und das Weib am Handeckfall gemietet hatte.

Nun ging es langsam bergan, immer auf Eis, wenn nicht der Esel etwas verloren hatte, worauf er keinen Wert legte. Schön ist so ein Wandern im Grauen gerade nicht, doch es dauerte auch nicht ewig. Schon sah man den Nebel von Sonnenstrahlen durchschossen, und nicht lange mehr und die Maienwand winkte mit nackten Zacken zu uns herunter. Einen Zickzackpfad sah man zwischen Moos und Steingeröll nach der Höhe steigen. Hatten wir diese erst erreicht, so mußte sich uns nach meiner Berechnung bereits der Blick ins Rhonetal hinein auftun.

Bevor ich dies Ziel erreichte, tat sich mir übrigens ein neuer Blick ins Menschliche, Allzumenschliche auf.

Kurz vor der Paßhöhe kamen wir mit unserem Esel an einem Wanderpaare vorbei. Aus der Ferne gesehen schienen sie mir Hochzeitsreisende zu sein, und ich dachte es mir gar schön, so jung vereint durch die Wunder der schönen Welt zu pilgern. Im Begriffe, beide zu überholen, merkte ich, daß sie miteinander zankten.

»Zu diesem Zwecke hätten sie nicht in die Schweiz zu reisen brauchen, das hätten sie auch zu Hause besorgen können,« sagte zu mir der Eselreiter.

»Dann hätten's aber die Leute gemerkt, daß sie nicht glücklich sind und das muß doch im Anfang der Ehe vorgetäuscht werden,« entgegnete ich.

»O Jesu,« seufzte die Alte vor ihrem Esel, »was sich Eheleute gegenseitig nicht alles antun. Wie oft hab' ich nicht schon gesehen, daß sie mit Kochgeschirr einander traktieren. Guat is schon, wann mer e' dickes Fell mitbringt in den Ehstand nein.«

Wir waren vorbei und sahen unter uns im Tale das schäumende Band der jungen Rhône zwischen Felsen sich hinschlängeln und ein massives Haus, von dem wir annahmen, daß es unser Ziel, das Rhônehotel sein werde.

Da der Pfad sich stark senkte und der Reiter achtzugeben hatte, daß er nicht seinem Tiere über den Kopf rutschte, so stieg er ab und lief neben mir her. Er fragte mich über meine weiteren Reisepläne ein wenig aus, und als ich ihm bekannte, daß ich nur Vergessen suchte und mich vom Zufall wolle leiten lassen, da schlug er mir vor, ob wir nicht zusammenbleiben wollten. Ich sagte zunächst nicht ja und nicht nein, denn obwohl ich unterdessen erfahren hatte, daß mein Begleiter ein Gymnasialdirektor sei, so konnte ich mich immer noch nicht recht mit ihm befreunden. Der rote Schnurrbart konnte mir nicht gefallen, und ich wollte abwarten, ob ich mich über Nacht an seinen Anblick gewöhnen könne. Der Tag war nämlich schon weit vorgeschritten, und, offen gestanden, nach den vorausgegangenen schlechten Nächten sehnte ich mich nach einer guten und nach einem bequemen Bett.

Als wir ins Konversationszimmer des Gasthofes traten, fanden wir Feuer im Kamin. Ich glaube, es erlischt da oben zwischen dem Eis der Gletscher und den Festungsmauern des Hauses gar nie und ist auch selten wohl zur Last. Wir beide fröstelten ein wenig, holten Stühle herbei und rückten sie an die brennenden Scheite heran. Funken sprühten, und das flammende Holz sang seinen Schwanengesang. Ich fing an mich behaglich zu fühlen, als eben die Tür aufging, und das vermeintliche Ehepaar zu uns ins Zimmer trat. Sie waren offenbar noch nicht ausgesöhnt miteinander. Er warf einen ansehnlichen Zigarrenstummel in die Gluten, während sie einen feinen Saffianschuh vorstreckte, um mit seiner Spitze das Feuer zu schüren. Es war offenbar, sie hatte es drauf abgesehen, ihn dadurch zu kränken, daß sie etwas zerstörte, was ihm Geld gekostet hatte. Man sah's ihm an, er ärgerte sich auch, und er fuhr zu und riß der Unverschämten den Fuß zurück, indem er sagte: »Wenn du glaubst, hier das Feuer schüren zu müssen, so tu es mit den nackten Füßen, eine ungegerbte Haut ist billiger als fettiges Leder.«

Sie schwieg einstweilen, nestelte aber eine Spange von ihrem Gürtel los und warf sie in den Kamin. Sofort fing das Ding Feuer und ein abscheulicher Gestank verbreitete sich durch die Stube. Das war mir nun doch zu dumm. Ich erhob mich und, vor die Dame hintretend, sagte ich: »Meine Gnädige, wenn Sie tatsächlich die meine wären, so wüßt ich, was ich mit Ihnen zu tun hätte.«

»Und was täten Sie?« fragte der Herr, von seinem Stuhle springend.

»Ich gäbe sie ihrem Vater zurück, daß er sie solange noch erzöge, bis sie ein Mann, der auf Anstand hält, neben sich brauchen kann.«

»Bravo,« sagte der Rotbart und erhob sich gleichfalls, indem er mit drohender Miene bemerkte: »Für zwei von uns Vieren hat das Zimmer keinen Platz mehr, entweder Sie entfernen sich oder wir.«

Die Dame hatte unterdessen ihr Taschentuch von sich geworfen. Als sich aber niemand fand, der sich darnach bückte, holte sie es selber wieder und wurde nun von ihrem Manne hinterrücks wie eine störrische Ziege zur Stube hinausgedrängt.

»Unglaublich, was sich die Menschen gegenseitig nicht antun. Es scheint fast, als ob sie sich nur heirateten, um sich ungestraft chikanieren zu können, und so ein Abkommen nennen die Priester gar noch ein heiliges Sakrament.«

»Das sie schlauer Weise nicht selber empfangen, sondern den Laien überlassen, damit sie darin selig werden. Sie sind wohl selber nicht verheiratet, Herr Direktor?«

»Nein, ich begnüge mich damit, den anderen Leuten die Kinder zu erziehen, und habe vor acht Tagen gerade Pause in dem Geschäft gemacht, um mich ein wenig zu erholen. Ich wollte an die italienischen Seen hinunter. Wie wär's, wenn wir zusammen gingen?«

»Um nach unserem heutigen Siege Arm in Arm unser Jahrhundert in die Schranken zu fordern? Sei's drum, vorausgesetzt, daß wir über Göschenen kommen, ich möchte allda den Ernst Zahn kennen lernen.«

»Einverstanden,« sagte der Schulmann, und wir setzten uns an den Tisch und nahmen das Abendessen mit gutem Appetit zu uns.

Traumlos hatte ich geschlafen. Bereits die vierte Nacht war nun schon herumgegangen, ohne daß der tote Bäcker vor meiner Bettlade stand. In Dankbarkeit erinnerte ich mich dessen, als ich vor dem Spiegel stand, um mir eilig die Backen zu rasieren, denn schon hörte ich, wie der Direktor sich die Zähne putzte und gurgelte.

Eine Stunde später, und wir standen im Purpurrot der Morgensonne auf der Furka oben und sahen nach dem Reußtal hinunter. Hospental und Andermatt brachten wir in raschem Ausschreiten bald in unseren Rücken, und nicht lange mehr und auf dem Bahnhofe zu Göschenen standen wir vor dem lorbeerbekränzten Dichtergastwirt. Er hatte einen Bleistift hinterm Ohr stecken, schöpfte Suppe aus einem Kessel in Porzellanteller hinein und glich weder dem Tasso noch dem Horaz. Ich war fast peinlich überrascht von der Tatsache, daß man prosaisch aussehen und doch ein Dichter sein könne.

Da man aber die Lokomotive schon schnaufen hörte, die den Zug von Wasen nach dem Tunnel hinaufarbeitete, so ließen wir uns statt der Autogramme vom Dichterwirte Hammelkoteletts geben und fuhren dann durch den Tunnel hindurch den lombardischen Gefilden entgegen.

Vierzehn Tage lang trieb ich mich mit dem Schulmanne zusammen noch zwischen Como und Pallanza herum. Dann als ich sicher war, daß der Bäcker nicht mehr in meinen Träumen spukte, wagte ich es, an die Heimreise zu denken. Mit mir nach dem Norden zurück nahm ich den Vorsatz, daß ich künftighin keinen mehr für einen Unteroffizier halten wolle, der einen roten Schnurrbart trägt, und keinen mehr für einen Garkoch, wenngleich er einen Suppenlöffel schwingt.


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