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Arzt war ich nun nach einem leichten mündlichen Schlußexamen, und daß ich es war, hatte mir mit einem Schlage die Welt umgestaltet. Klein erschien mir jetzt der große Venedey und schal das studentische Treiben, in dem Augenblick, wo mir der Lebensernst mit strengen Problemen gebieterisch ins Gesicht sah. Daß der Jüngling in mir abgetan und der Mann von mir gefordert wurde, das war's, was mir den Abschied aus der Musenstadt zu einem schmerzlichen Ereignis machte. Schöne Augen weinten mir nicht nach, wenn es nicht vielleicht die eines Wesens waren, das als Kirchhofsblüte an meinem Wege gestanden und an das mich Mitleid mehr als Liebe gefesselt hielt. Ich hatte nämlich im letzten Winter noch einmal meine Wohnung gewechselt. Diesmal war ich zu zwei alten Leuten gekommen, die wie Philemon und Baucis ein stilles Haus in der Eichhornstraße bewohnten. Da sie kinderlos geblieben waren, so verzottelten sie semesterweise an die unterschiedlichsten Studenten, die jahraus, jahrein bei ihnen wohnten, ihre Zärtlichkeiten. So weit ging die Fürsorglichkeit des Paares gegen mich, daß ich zu Bett getragen wurde, wenn es mir einfiel, mich betrunken zu stellen. Item, die liebenswürdigen Alten, waren eines Tages damit beschäftigt, die Betten zu lüften, die Sofas zu klopfen und die Gänge zu scheuern. »Was ist los, Frau Gründlich?« fragte ich im Vorübergehen.
»Ach Gott, Herr Doktor, wir hätten's Ihnen schon lange sagen sollen, aber wer denkt an alles. Besuch werden wir kriegen, und nun erschrecken Sie nur nicht, von einem jungen Mädchen gar. Aber daß Sie doch ja nicht denken, wir werden Sie nachher vernachlässigen. Leider sie ist krank, das Mädchen nämlich. Sie kommt von Meran zurück, und sie hat außer uns keine lebende Seele mehr, die sich ihrer annimmt, und da haben wir gedacht, wir wollen sie zu uns nehmen um Gottes Barmherzigkeit willen, und morgen wird sie da sein, und wenn Sie wollen, so werden Sie sie sehen können. Nicht daß wir sie für Geld sehen ließen, aber da die Tür, um Luft zu schaffen, offen stehen bleibt, so ist Ihnen, wenn Sie übern Gang gehen, der Blick nach der Ärmsten gewiß nicht verwehrt.«
Wäre ich am gleichen Tage zu Hause geblieben, so hätte ich wohl erlebt, daß eine Kutsche vorfuhr, die Nachbarsleute die Fenster aufrissen, Herr Gründlich vor die Tür stürzte, ein Bündel aus dem Wagen hob und es behutsam über die Stiegen bis zum zweiten Stockwerk emportrug, wo Frau Gründlich erwartungsvoll stand und sich nicht genug wundern konnte, wie gut doch die kleine Base aussehe, und wie es von ihr ein glücklicher Einfall gewesen wäre, nach Meran zu gehen. Nein, das müsse sie selber sagen, wenn es nun auch viel gekostet habe, das Geld sei nicht umsonst zum Fenster hinausgeworfen worden.
Während so ihr zahnloser Mund sprach, mag ihr Kopf gedacht haben: »Wie mich das arme Ding dauert. Wenn's in Meran einen Kuckuck gibt, so war das der letzte, den sie hat schreien hören.«
Genau so wie Frau Gründlichs Gehirn dachte auch das meine, als ich am nächsten Tage vor ein Sofa in der guten Stube gerufen wurde und einen Wust von Decken sah, aus denen ein schönes, aber unendlich bleiches Antlitz mit verschüchterten Augen gnadeflehend zu mir emporsah. Ich weiß nicht, ob es anderen Männern in ihrer Jugend auch so ergangen ist wie mir. Die brutale Gesundheit roter Backen stieß mich ab, während das Leidende, namentlich wenn es mit Ergebung gepaart war, etwas unendlich Anziehendes für mich hatte. Daß ich in unseren kranken Besuch verliebt gewesen wäre, kann ich nicht sagen, aber gleichwohl wußte ich, daß ich nicht anders gegen sie mich betragen könne, als ob ich von ihrem Wesen sympathisch angezogen wäre. In einer Art von Großmut nahm ich mir sogar vor, mein Interessegefühl für sie zu übertreiben. Gab ich ihr nicht ein artiges Geschenk, wenn ich dem kranken Kinde den Glauben beibrachte, daß sie die Neigung eines gesunden, jungen Mannes zu erregen vermöchte?
Der Himmel sei mein Zeuge, daß ich mich nicht für einen Apollo gehalten habe, aber dessen war ich mir gleichwohl bewußt, daß abgesehen von unterschiedlichen Kellnerinnen eine sehr vermögliche Fleischerstochter namens Himmelreich ein Auge auf mich geworfen hatte.
Wenn ich also für so viele Gesunde ein erstrebenswerter Gegenstand war, wie hoch mußte dann nicht von den Augen einer Kranken mein Besitz eingeschätzt werden! Kurz und gut, ganz gleichgültig war mir das Mädchen nicht, und ich gab mir aufrichtig Mühe, ihr, wo ich konnte, ab und zu eine kleine Freude zu machen. Ich kaufte ein Veilchensträußchen und trug es ihr zu. Ich erzählte ihr dumme Geschichten aus dem Studentenleben und brachte sie zum Lachen, und ich quälte ihrem Stammbuch zu Gefallen die Muse der Dichtkunst. War's nur ein grausam Spiel, das ich mit der Armen trieb?
Alles, was Schwiegermutter zu werden hofft, wird »Ja« sagen und mich dafür in den Grund der Hölle verdammen. Meine Hauswirtin dachte anders. Sie freute sich herzlich des kleinen Glückes, das ihrem Pflegling in den Schoß gefallen war, und sie wußte tausend Gelegenheiten zu schaffen, die mich veranlassen sollten, ab und zu am Krankenlager der Kleinen zu verweilen.
Während das Examen meine Zeit in Anspruch nahm, muß sie gefürchtet haben, mein Interesse könne erkalten, und sie fing mit dickem Holz in wohlwollender Gutmütigkeit an, mir einzuheizen: »Herr Doktor,« sprach sie eines Tages zu mir, »Sie sollten nicht gewaltsam das Wasser abwenden, wenn es auf Ihre Wiese laufen will. Verstehen Sie mich doch! Unser Fräulein ist alleinstehend in der Welt, und niemand ist da, der ein Recht hätte, auf ihren reichen Nachlaß eines Tages zu hoffen. Mein Mann und ich, wir haben im Stillen die Sache oft schon besprochen, und wir würden von ganzem Herzen Ihnen alles gönnen, was da einmal mit einem einzigen Federzug für Sie reif werden und abfallen kann.«
Wie war mir denn eigentlich nur zumute bei solch' einer offenherzigen Erklärung? Im ersten Augenblick kam es mir vor, als ob ich geohrfeigt worden wäre. Hatte ich bei meiner Rücksichtnahme auf die Kranke jemals an einen materiellen Vorteil gedacht? Kannte ich das, was man Erbschleicherei nennt, anders als nur dem Namen nach? Mit Schrecken aber wurde mir jetzt auf einmal klar, daß mein seitheriges Handeln, wenn man es böswillig beurteilen wollte, so genannt werden konnte. Geld hatte ich nie im Überfluß besessen, aber es wäre mir doch nicht eingefallen, daß ich mir durch erheuchelte Zärtlichkeiten ein Vermögen hätte erschwindeln wollen. Ich besaß ein Abgangszeugnis mit der Note »Sehr gut« von der Universität Würzburg in der Tasche, und die Gießener Alma mater hatte mir vorsichtig bestätigt, daß »bezüglich meines Betragens nichts Nachteiliges bekannt geworden sei«. Unter so bewandten Umständen mußten mir auch ohne Erbschleicherei die Millionen in den Schoß fallen. Frau Gründlich hatte das Gegenteil von dem erzielt, was sie erzielen wollte. Meine Besuche bei dem kranken Mädchen wurden seltener, und ich bin mir heute nicht einmal recht klar darüber, ob ich von der Kranken einen formellen Abschied genommen habe oder nicht.
Auch einer anderen hatte ich nicht Adieu gesagt, die in Rimpar wohnte und in »O domina mea« eine Rolle spielt. Weibertränen sind also bei meinem Abgange von Würzburg so wenig geflossen als bei dem von Gießen, dagegen reichlich Bier, denn es hatten einige Freunde mich zum Bahnhof begleitet, Hieber, der als Arzt in Lörrach starb, und Rennert, den der Tod aus Frankfurt heimholte in seine dunkle Kammer.
Besonders freudig war ich bei meiner Fahrt das Maintal hinab und durch den waldigen Spessart nicht gestimmt.
Das Gefühl, daß ich nun ganz auf mich selbst gestellt sei, machte mich unsicher, zumal, wenn ich mir vorstellte, daß ich demnächst ganz unter Bauern leben müßte, ohne daß ich von der Landwirtschaft und Viehzucht mehr verstand als den Unterschied zwischen einem Kalb und einem Hammel.