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Mit großem Willensaufwand bringt Tolstoi 1868 »Krieg und Frieden« zu Ende.
Während der angespannten Arbeit wird sein krankhafter Zustand so störend und quälend, daß er im Juni 1867 nach Moskau reist, um Professor Sacharjin, die erste medizinische Kapazität Rußlands, zu konsultieren, der »starke Nervenzerrüttung« bei ihm feststellte.
Tolstois Gemütsdepressionen werden immer drückender, oft überkommt ihn quälende Schwermut, die an Geistesstörung erinnert. Er hat Frau und Kinder, sein Wohlstand ist gewachsen, der ersehnte Ruhm gekommen, körperlich scheint er gesund, und doch fühlt er sich oft so krank und elend, daß ihn nichts mehr freut. Sein Hirn schmerzt. Die Ärzte erklärten alle diese Beschwerden durch geistige Überanstrengung, wir aber haben gesehen, wie die Krankheit in den ersten Tagen seiner Ehe einsetzte, sich allmählich entwickelte, haben die ihr zugrunde liegenden Ursachen verfolgen können, und sind nun zu der sogenannten »Krise« im Leben Tolstois gelangt, die bis zum Jahre 1888 währte.
Im September 1869 auf einer Reise in das Gouvernement Pensa, wo er ein Gut kaufen wollte, wird er von einem nervösen Angstgefühl befallen, das uns zeigt, wie zerstörend sein mißglücktes Liebes- und Eheleben bereits auf ihn eingewirkt hat. Er schreibt an seine Frau: »Vorgestern übernachtete ich in Arsamas, und mit mir ging etwas Ungewöhnliches vor. Es war zwei Uhr nachts, ich war furchtbar müde, wollte schlafen, und mir tat nichts weh. Plötzlich aber überfielen mich Wehmut, Angst, Entsetzen so stark, wie ich es noch nie verspürt habe. Später will ich dir diese Empfindung eingehend schildern, ein so qualvolles Gefühl hatte ich noch nie!« Die »eingehende Schilderung« dieses bedeutsamen Erlebnisses finden wir in den »Aufzeichnungen eines Irren«; der Irre erwacht in der Nacht in einem Gasthaus in Arsamas und fragt sich verstört:
»Warum bin ich hierher gekommen? Wohin bringe ich mich? Wovor, wohin fliehe ich? Ich fliehe vor etwas Entsetzlichem und kann ihm doch nicht entgehen. Ich bin immer in meinem Ich, und mein Ich ist es ja, an dem ich leide. Das hier bin ich, das und nichts weiter. Weder das Gut bei Pensa noch irgendein anderes Gut kann meinem Ich das Geringste nehmen oder hinzufügen. Und ich bin, dieses mein Ich ist mir überdrüssig, unerträglich, peinigend geworden. Ich möchte schlafen, mich vergessen, und kann es nicht. Kann vor mir selbst nicht fliehen. Ich trat in den Gang hinaus. Sergej (der Diener) schlief auf einer schmalen Bank, ein Arm hing hinab, er schlief aber süß, und auch der Wächter mit dem Fleck auf der Wange schlief. Ich war in den Gang hinausgetreten in der Hoffnung, dem zu entweichen, was mich quälte. ›Es‹ war mir aber gefolgt und verdüsterte alles. Das gleiche Grauen würgte mich, nur noch stärker.
›Ach, was ist das für ein Unsinn?‹ sagte ich mir. Vorüber gräme ich mich, wovor habe ich Angst?‹
›Vor mir‹, sagte tonlos die Stimme des Todes. ›Ich bin da.‹
Ein Kälteschauer überlief mich. Ja, es war die Stimme des Todes. Der Tod kommt, er ist da, der Tod aber darf nicht sein. Wenn es wirklich ans Sterben gegangen wäre, hätte ich das nicht empfinden können, was ich jetzt empfand. Dann hätte ich Furcht gehabt. Jetzt aber fürchtete ich mich nicht, sondern ich sah, ich fühlte, daß der Tod mich überkam, und fühlte gleichzeitig, daß es ihn nicht geben dürfe. Mein ganzes Wesen empfand das Bedürfnis, das Recht, zu leben – und zugleich den Vollzug des Todes. Und dieses innere Zerrissenwerden war grauenhaft. Ich versuchte, das Grauen abzuschütteln. Fand den Messingleuchter mit der herabgebrannten Kerze, und zündete sie an. Die rote Flamme des Stummels, und daß er so kurz war – ein wenig kürzer als der Leuchter – all das sagte mir dasselbe. Es gibt nichts im Leben als nur den Tod, und den darf es nicht geben.
Ich versuchte an Dinge zu denken, die mich beschäftigten: an den Erwerb des Gutes, an meine Frau. In all dem aber lag nicht nur nichts Freudiges, sondern das alles war zu einem Nichts geworden. Alles wurde durch das Entsetzen über mein erlöschendes Leben verdrängt. Schlafen, ich muß versuchen einzuschlafen! Ich streckte mich aus, kaum aber hatte ich mich hingelegt, als ich vor Grauen emporsprang. Und Wehmut, Wehmut erfaßte mich, geistige Wehmut ähnlich der, wie man sie vor dem Erbrechen empfindet, nur eben geistige Wehmut. Unheimlich, grauenhaft. Es schien, als wäre es Grauen vor dem Tode; erinnerte ich mich aber, gedachte ich meines Lebens, so packte mich das Grauen vor meinem dahinsterbenden Leben. Leben und Tod flossen in eins zusammen. Etwas zerrte und riß an meiner Seele und vermochte nicht, sie zu zerreißen. Noch einmal trat ich in den Gang hinaus, um auf die Schlafenden zu blicken, noch einmal versuchte ich einzuschlafen. Immer noch das gleiche rote, weiße, quadratische Grauen! Etwas reißt und zerreißt nicht. Es war ein qualvoller Zustand, quälend hart und erbittert; kein bißchen Güte spürte ich in mir, sondern bloß eine gleichmäßige, ruhige Erbitterung gegen mich und gegen das Etwas, das mich geschaffen hatte.
›Was hat mich geschaffen?‹ Man sagt, Gott. Gott ,… Beten, fiel mir ein ,… Ich fing an zu beten. ›Herr, erbarme Dich meiner‹, ›Vater unser‹, ›Jungfrau Maria‹ ,… Ich begann, selbst Gebete zu ersinnen. Ich bekreuzigte und verneigte mich immerzu, mit der Stirn den Boden berührend, wobei ich um mich schaute, aus Angst, man könnte mich sehen. Es schien, als lenkte mich das ab; die Angst, gesehen zu werden, lenkte mich ab. Ich legte mich wieder hin. Kaum aber lag ich und hatte die Augen geschlossen, da stieß mich das gleiche Gefühl des Grauens wieder empor, hob mich empor. Ich konnte es nicht mehr aushalten, weckte den Wächter, weckte Sergej, ließ anspannen und wir fuhren ab.
An der frischen Luft und durch die Fortbewegung wurde mir besser. Ich fühlte aber, daß etwas Neues mir in die Seele gedrungen war und mein ganzes bisheriges Leben vergiftet hatte.
Den ganzen Tag kämpfte ich gegen meine Wehmut an und überwand sie. In meiner Seele aber war ein grauenhafter Bodensatz geblieben; als wäre mir ein Unheil zugestoßen, das ich nur zeitweise vergessen konnte, das aber immer dort, auf dem Grunde der Seele verharrte und mich beherrschte ,… Ich setzte danach mein bisheriges Leben fort, aber die Angst vor diesem Grauen hing seitdem beständig über mir.«
»Die Angst vor diesem Grauen hing seitdem beständig über mir« – mit diesen Worten schließt Tolstoi den Bericht über jenes qualvolle Entsetzen, das ihn in jener Nacht ohne jeden äußeren Anlaß überfallen hatte. Die Ursache liegt in denselben Umständen, die ihn so oft wiederholen ließen: Es zieht sich, es zieht sich wie ein weißes, endloses Spinngewebe ,… »Es« – das ist Schwermut, Lebensüberdruß, Verzweiflung.
Er will nicht mehr leben, ist physisch und psychisch zerrüttet. Sein ganzes Wesen empfindet das Bedürfnis, das Recht zu leben, und zugleich den Vollzug des Todes. Den ganzen Winter 1870/71 ist er krank; im Sommer 1871 leidet er körperlich und seelisch so schwer, daß er zu sterben meint. Am 10. Juni schreibt er an Feth:
»Schon lange habe ich Ihnen nicht geschrieben und Sie nicht besucht, weil ich krank war und bin; ich weiß selbst nicht, woran, es sieht aber danach aus, als wäre es etwas Schlechtes oder Gutes in Abhängigkeit davon, wie man das Ende nennt. Kräfteverfall, und ich brauch nichts und will nichts, außer Ruhe, die fehlt. Nie im Leben habe ich solche Schwermut empfunden. Ich mag nicht leben ,… Ich tue nichts weiter, als daß ich Griechisch lese, und ich will auch nichts tun.«
Infolge der rätselhaften Beschwerden ihres Gatten überredet die Gräfin ihn, es wieder mit einer Kumyskur zu versuchen. Mitte Juni 1871 reist Tolstoi nach Karalyk im Gouvernement Samara, wo er bereits 1862 mit seinen Schülern geweilt hatte.
Sobald er von Hause fort ist, wandelt sich sein Verhältnis zum Leben sofort. Er fährt 3. Klasse, plaudert mit seinen Reisegefährten, befreundet sich auf dem Dampfer gleich am ersten Tage mit Fahrgästen und Matrosen, schläft mit diesen zusammen auf dem Verdeck. In Karalyk wird er erkannt und freudig begrüßt; die Baschkiren erinnern sich noch an jenen Tolstoi, der alle Herzen gewann: sich mit dem Mullah über Glaubensfragen unterhielt, mit der Jugend scherzte, mit den Kindern wie ein Knabe spielte.
In den ersten Tagen fühlt er sich noch krank und bedrückt. Am 18. Juni 1871 schreibt er seiner Frau: »Meine Gesundheit ist immer noch nicht gut. Seit ich hier bin, beginnt jeden Tag um sechs Uhr nachmittags die Wehmut, wie ein Fieber, physische Wehmut, deren Wesen ich nicht besser wiedergeben kann, als mit den Worten: die Seele löst sich vom Leibe ,… Diese Schwäche und Wehmut! Man möchte das verwöhnte Kind spielen und weinen ,… Ich habe beschlossen, bis nächsten Sonntag zu warten, und wenn Wehmut und Fieber bis dahin nicht vergangen sind, fahre ich nach Hause. Infolge meiner Krankheit fühle ich mich nur als ein Zehntel dessen, was ich bin. Ich betrachte alles wie ein Toter ,… Wenn auch eine dichterische Stimmung über mich kommt, so ist sie säuerlich, tränenselig, ich möchte immer weinen.«
Aber schon nach wenigen Tagen der Trennung von seiner Frau fühlt er sich besser, er lebt wieder auf, und gleichzeitig setzt auch die Sehnsucht nach ihr wieder ein. Bereits am 23. Juni meldet er ihr: »Schwermut und Gleichgültigkeit, über die ich klagte, sind vergangen; ich fühle, wie ich mich zum Skythen wandle, und alles ist fesselnd und neu. Neu und interessant ist hier vieles: die Baschkiren, die nach dem Herodot riechen, die russischen Bauern und die Dörfer, die dank der Schlichtheit und Gutmütigkeit der Bevölkerung besonders reizvoll sind. Von Langerweile nicht die Spur, nur ewige Angst um Dich und das Gefühl der Trennung; darum zähle ich die Tage, bis mein abgetrenntes, unvollkommenes Dasein ein Ende findet.«
Wenige Tage später schreibt er ihr: »Ich kann Deine Briefe nicht ohne Tränen in den Augen lesen, und zittere am ganzen Leibe, und mein Herz pocht. Du schreibst, was Dir gerade in den Sinn kommt, für mich aber ist jedes Wort bedeutsam, und alle Deine Worte lese ich immer wieder. Eben möchte ich weinen, so sehr liebe ich Dich.«
Ebenso verzehrt sich die Gräfin in Sorge und Sehnsucht; voll Ungeduld und Erregung erwartet sie die Nachrichten von ihm. Während der sechswöchigen Abwesenheit schreibt er ihr vierzehn Briefe, die erfüllt sind von »mehr als Liebe«. »Jeden Tag, da ich fern von Dir bin, denke ich immer stärker und unruhiger und leidenschaftlicher an Dich, und immer schwerer wird es mir. Darüber kann man nicht sprechen ,…«
Kurz, es wiederholt sich hier wie bei jeder weiteren Trennung von seiner Frau dasselbe, was wir bei seiner Reise nach Moskau im Jahre 1865 erlebt haben. Die Nerven beruhigen sich, die Beschwerden weichen, heiter und angeregt genießt er das Leben. Bei den Baschkiren interessieren ihn Sitten und Bräuche, er besucht den Jahrmarkt, unterhält sich mit jedermann. Feth teilt er mit, er könnte hundert Bogen vollschreiben, wenn er von all seinen Beschäftigungen, dem Lande und den »galaktophagen Skythen« berichten wollte, unter denen er lebt und die Herodot ausführlich und sehr treffend schildert. Er ist entzückt über die Schönheit des Landes, das eben aus der Jungfräulichkeit hervortrete, nach dem Reichtum und der Gesundheit, vor allem aber nach der Schlichtheit und Unverdorbenheit des Volkes zu urteilen. Fern von seiner Frau ist er wieder ruhig und ausgelassen heiter, schließt Bekanntschaft mit jedem Bauern, Kirgisen, Baschkiren, Kosaken, hüpft als Dreiundvierzigjähriger wie ein Kind über die Springschnur, streift durch die Dörfer, beobachtet begeistert das primitive Leben, selber im Innern noch ebenso jung, einfach und jungfräulich wie Land und Leute hier. Schwermut und Gleichgültigkeit, Kopfschmerzen und Melancholie sind verflogen. Jetzt betrachtet er nicht mehr alles »wie ein Toter«, sondern nimmt an allem regsten Anteil, ist sorglos und zufrieden.
Und ganz so wie 1865 stellen sich Enttäuschung und Krankheit sofort wieder ein, als er zu seiner Frau zurückkehrt. Bereits vierzehn Tage nach seiner Rückkehr, am 18. August 1871 vermerkt die Gräfin im Tagebuch:
»Die zwei Monate lange Kumyskur hat ihn nicht geheilt; die Krankheit steckt in ihm, ich erkenne das nicht mit dem Verstände, sondern mit dem Gefühl an jener Gleichgültigkeit dem Leben und all seinen Interessen gegenüber, die sich seit dem vorigen Winter bei ihm eingestellt hat. Irgend etwas hat sich zwischen uns geschoben, ein Schatten, der uns getrennt hat. Ich fühle immerfort, wie er mich in jenen öden, wehmütigen und hoffnungslosen Zustand hineinzieht, in dem er sich befindet. Ljowotschka ist krank. Er sagt, es sei das Alter; ich sage, es ist Krankheit.«
Mit richtigem Fraueninstinkt spürt sie, daß ihr Gatte krank ist, während er meint, sein Alter erschwere den Geschlechtsverkehr mit seiner Frau. Vierzehn Tage früher aber fühlte er sich durchaus nicht alt, sondern jung, heiter, lebensfroh, und zitterte vor Sehnsucht nach seiner jungen, siebenundzwanzigjährigen Frau. Er kann mit ihr nicht leben, was sein Bewußtsein aber nicht zu erfassen vermag. Wieder stellen sich die alten Beschwerden, bedrückte Stimmung, Schwermut ein. Am 20. August klagt seine Frau:
»Bald verlassen uns alle (Sommergäste), und voll Angst denke ich an den Herbst und die Einsamkeit. Überhaupt fühle ich mich seelisch nur dann nicht verdüstert, wenn es um mich her sehr laut zugeht; bleibe ich aber allein – selbst als ich gestern allein durch den Wald ging –, so überkommt mich eine Art Grauen und unerträgliche Schwermut.«
Am 15. September berichtet sie ihrer Schwester Tanja: »Ljowotschka sagt beständig, daß für ihn alles zu Ende sei, bald müsse er sterben, nichts freue ihn, nichts erwarte er mehr vom Leben.«
Am 29. September (Tagebuch): »Ich wundere mich jetzt immer sehr, wenn jemand fröhlich ist, daß es auf Erden noch etwas Freudiges gibt.«
Und am 28. November: »Wenn in mir alle Fähigkeiten des Geistes und der Seele erwachten, vor allem aber meine Wünsche, so könnte ich mich totweinen und würde in entsetzliche Ungeduld und Erregung verfallen.« –
Tolstoi sucht Trost und Vergessen in dichterischem Schaffen. Nachdem er in »Krieg und Frieden« in Gestalt des Grafen Pierre Besuchow zu dem Bauern und Gottesmann Platon Karatajew und dessen Lebens- und Glaubenswahrheiten hingefunden hat, drängt es ihn auch in der Wirklichkeit wieder zum Anschluß an das Volk. Wieder, wie zur Zeit seiner Liebe zu Aksinja, geht er mit Sense und Sichel aufs Feld hinaus, zieht mit dem schweren Pflug Furchen in den Acker, kehrt auch aufs neue zu seiner Schule zurück. Wieder hat er fünfunddreißig Schüler, seine ganze Familie muß mitunterrichten, wieder wohnen Lehrer in seinem Hause.
Durch Liebe zu einfachen Frauen, Frauen aus dem Volke, zu Marianna und Aksinja, hatte er einst den Weg zum Volke gefunden. Seine Ehe mit Sofia Andrejewna hat ihn nicht endgültig in die Gesellschaft zurückgeführt, nicht mit Blutsbanden (wenn man sich in diesem übertragenen Sinne so ausdrücken darf), durch die Geliebte, mit der Kulturwelt verbunden. Wenn in den ersten Ehejahren auch unter dem Einfluß seiner Liebe zu Tanja eine Abkehr vom Volke eingetreten war, so daß er verwundert ausrief, er begreife nur schwer, wie er »den lieben russischen Bauern, den Schmutzfink und Liederjahn« jemals habe lieben können, so führt ihn die Enttäuschung an seiner Frau wieder dem Volke zu. Seine Neigung zu diesem war ja auch im ersten Jahrzehnt seines Ehelebens nie ganz erloschen. Im ersten Ehejahre sehnte er sich nach Aksinja, schwelgte während der Niederschrift der »Kosaken« in der Erinnerung an seine Liebe zu Marianna und an das freie Kosakenleben, vertiefte sich später mit dem Grafen Besuchow in die Anschauungen des Bauern Karatajew und verkehrte mit einfachen Leuten auf der Reise nach Karalyk, wo er wieder mit Alt und Jung Freundschaft schloß wie einst im Kaukasus.
Auch in den Jahren, als er seine Liebe zum einfachen Volke nicht mehr recht begreifen konnte, versagte er ihm sein »Mitleid« nicht. Nach der innerlichen Enttäuschung, die ihm die Wiedervereinigung mit seiner Frau nach der Kumyskur bringt, wendet er sich endgültig wieder dem Volke zu. In »Anna Karenina« bricht er den Stab über seine frühere Welt. Auf solch verwickelten Wegen, immer in Abhängigkeit von seinem sexuellen Erleben kehrt er innerlich zum Bauerntum zurück. Jetzt aber ist ihm Jasnaja Poljana zu eng, er braucht ganz Rußland, bald die ganze Welt als Wirkungskreis. Um seine Lehrtätigkeit zu erweitern, schreibt er eine Fibel, danach auch ein Lesebuch für den Elementarunterricht; beide Bücher bewähren sich ausgezeichnet in den Volksschulen und finden weite Verbreitung. Er reist nach Moskau zu einer pädagogischen Tagung und sucht, zwar vergeblich, das Ministerium für seine Pläne zu gewinnen.
Er trägt sich mit dem Plan eines zweiten großen geschichtlichen Romans, in dessen Mittelpunkt Peter I stehen sollte. Voll Eifer vertieft er sich in umfangreiche Vorstudien, schreibt zahlreiche Entwürfe und Notizen, zur Ausführung gelangt das Werk aber nicht. Er kann nicht arbeiten, so krank fühlt er sich. Zwar weist er einmal (im Dezember 1864, während der Arbeit an »Krieg und Frieden«) darauf hin, daß alles rein Geschichtliche ihm nicht liege. Die Zeit um 1700 ist ihm zu weit entrückt, er findet in ihr wenig Anhaltspunkte zur Darstellung eigenen Erlebens. Hinzu kommt, daß seine veränderte ethische Einstellung ihn schließlich nur noch Schattenseiten im Charakter und der Tätigkeit des brutalen und skrupellosen Zaren sehen läßt, und die Sittenlosigkeit der Bevölkerung ihn abstößt. Fraglos waren diese Umstände mit von großer Bedeutung, der ausschlaggebende Grund seines Versagens scheint uns aber doch in dem zugespitzten krankhaften Zustand des Dichters und der inneren Gärung, der »Krise« zu liegen, die er durchmachte. Denn andererseits lockte ihn auch wieder jenes farbenreiche Zeitalter. Am 17. Dezember 1872 schreibt er dem Freunde Strachow:
»Ja, wünschen Sie mir zu arbeiten. Bisher arbeite ich nicht. Ich bin umlagert von Werken über Peter I und seine Zeit; lese, mache Notizen, suche zu schreiben – und kann nicht. Aber welch ein Zeitalter für einen Dichter! Wohin man auch blickt, alles ist Rätsel, und nur die Dichtung könnte es lösen. Hier liegt der ganze Knoten des russischen Lebens.«
Und am 30. Januar 1873 an Feth: »Ich bin furchtbar mißgestimmt. Die geplante Arbeit ist entsetzlich schwer, die Vorbereitungen, Studien, nehmen kein Ende, der Plan wächst immer mehr an, meine Kräfte aber, fühle ich, nehmen immer mehr und mehr ab. Einen Tag bin ich gesund, drei krank.«
Noch deutlicher erweisen sich Krankheit und Seelenkrise als Hemmungen seines dichterischen Schaffens bei der Arbeit an dem Roman »Anna Karenina«. Er beginnt ihn 1873, ein Jahr nach den vergeblichen Bemühungen um »Peter I«, und bringt ihn nur unter großen Anstrengungen und mit langen Unterbrechungen erst nach vier Jahren schließlich zu Ende.
Seine tiefe Gemütsdepression wirkt bedrückend auch auf die Gattin. Am 12. Oktober 1873 trägt sie ins Tagebuch ein: »Er vor allem, er zieht mich in diesen öden, apathischen Zustand hinein. Es tut mir weh, ich kann ihn nicht so sehen, wie er jetzt ist. Schwermütig, verfallen sitzt er da, ohne Beschäftigung, ohne Arbeit, schlapp, freudlos, ganze Tage und Wochen lang, und scheint sich mit diesem Zustand abgefunden zu haben.«
Später, in der »Beichte«, schreibt Tolstoi über diese Jahre:
»Etwas sehr Seltsames ging mit mir vor: mich überkamen zuerst Minuten des Fraglichwerdens, des Stillstands des Lebens, als wüßte ich nicht, wie ich leben, was ich tun sollte, und ich fühlte mich verwirrt und versank in Schwermut. Aber das verging wieder, und ich fuhr fort so zu leben wie vorher. Dann wiederholten sich diese Minuten des Fraglichwerdens immer häufiger und häufiger und stets in der gleichen Weise. Dieser Stillstand des Lebens äußerte sich immer in denselben Fragen: ›Wozu? Nun – und nachher?‹
Es war das eingetreten, was bei jedem an einem tödlichen inneren Leiden Erkrankten eintritt. Zuerst stellen sich nichtssagende Anzeichen einer Unstimmigkeit ein, auf die der Erkrankte nicht acht gibt; dann wiederholen sich diese Anzeichen immer häufiger und häufiger und fließen in eine zeitlich nicht mehr getrennte Qual zusammen. Die Qual wächst an, und ehe noch der Kranke recht zu sich kommt, wird ihm bewußt, daß das, was er für eine Unstimmigkeit hielt, für ihn das allerwichtigste auf der Welt, daß es der Tod ist.
Das gleiche war auch mit mir geschehen. Ich begriff, daß es kein zufälliges Leiden war, sondern etwas Wichtiges, und daß man, wenn sich immer dieselben Fragen wiederholen, sie beantworten müsse. Und ich versuchte es, sie zu beantworten. Es schienen so einfache, kindliche Fragen. Kaum aber hatte ich an sie gerührt und versucht, sie zu lösen, als ich mich sofort überzeugte, daß ich, soviel ich auch nachdenken mochte, sie bestimmt nicht lösen könnte.
Mein Leben war stehengeblieben. Ich konnte wohl atmen, essen, trinken, schlafen, und konnte nicht umhin, zu essen, zu trinken, zu schlafen; es war aber kein Leben, weil keine solchen Wünsche vorhanden waren, deren Befriedigung ich für vernünftig gehalten hätte. Es war, als hätte ich so dahingelebt, wäre so dahingeschritten und an einen Abgrund geraten und hätte klar erkannt, daß vor mir nichts als mein Untergang liegt. Dabei war es weder möglich, stehen zu bleiben, noch zurückzugehen, noch die Augen zu schließen, um nicht sehen zu müssen, daß nichts vor mir liegt außer dem Trug von Leben und wirklichem Leiden und wirklichem Tod – völliger Vernichtung.
Ich war des Lebens überdrüssig geworden, eine unüberwindliche Macht trieb mich, auf irgendeine Weise mich vom Leben zu befreien. Nicht, daß ich mich hätte töten wollen. Die Gewalt, die mich aus dem Leben trieb, war mächtiger, tiefer greifend, umfassender als ein Wollen. Es war eine Kraft, die dem bisherigen Triebe zum Leben entsprach, nur in umgekehrter Richtung. Ich strebte mit allen Kräften fort vom Leben. Der Gedanke an Selbstmord erwachte ebenso einfach und natürlich wie früher die Gedanken über die Verbesserung meines Lebens. Dieser Gedanke war so verlockend, daß ich allerlei Kunstgriffe gegen mich selbst anwenden mußte, um ihn nicht voreilig auszuführen. Ich wollte zuvor nichts unversucht lassen, um Klarheit in diese Wirrnis zu bringen; gelingt mir das nicht, so habe ich ja immer noch Zeit, mich zu töten, sagte ich mir. Und da schaffte ich, ein glücklicher Mensch, die Vorhangschnur aus dem Zimmer, in dem ich jeden Abend beim Auskleiden allein blieb, um mich nicht an dem Querbalken zwischen den Schränken zu erhängen, und hörte auf, mit dem Gewehr auf die Jagd zu gehen, um mich nicht durch die allzu leichte Möglichkeit, mich vom Leben zu befreien, verleiten zu lassen. Ich wußte selbst nicht, was ich wollte: ich hatte Angst vor dem Leben, suchte ihm zu entstreben, und erhoffte zugleich doch noch etwas vom Leben ,…«
Am 21. Februar 1876 schreibt er an seinen Bruder: »Überhaupt war es für mich in seelischer Hinsicht ein sehr schwerer Winter. Daß es an der Zeit wäre zu sterben, ist nicht wahr; wohl aber ist wahr, daß mir im Leben nichts übrigbleibt als zu sterben, das fühle ich beständig. Ich schreibe und bin ziemlich beschäftigt, die Kinder sind wohl, aber all das freut mich nicht im geringsten.«
Schließlich ruft er voller Verzweiflung aus:
»Aber vielleicht habe ich irgend etwas übersehen, etwas nicht begriffen. Es kann ja doch nicht sein, daß dieser Zustand der Verzweiflung dem Menschen eigen ist! ,… Ich spürte, irgendwo habe ich einen Fehler gemacht.«
Aber den Fehler vermochte er nicht zu entdecken.
1876 unterzieht er sich wieder einer Kumyskur, kehrt aber nicht erholt und erfrischt, sondern vollkommen zerschlagen und seelisch noch tiefer bedrückt nach Hause zurück. Seinen Roman, die »langweilige, banale« »Anna Karenina«, an dem er bereits drei Jahre arbeitet, vermag er nicht zu Ende zu bringen. Am 13. November klagt er Strachow:
»Als ich aus Samara und Orenburg zurückgekehrt war – es ist jetzt bald zwei Monate her –, dachte ich, ich würde mich an die Arbeit machen, das Werk, das mich so drückt, beenden, das heißt den Schluß meines Romans schreiben und dann etwas Neues vornehmen; und nun habe ich statt dessen nichts zustande gebracht. Ich schlafe geistig und kann nicht erwachen. Ich fühle mich nicht wohl, bin trübe gestimmt, verzweifle an meinen Kräften. Was das Schicksal mir bestimmt hat, weiß ich nicht, aber das Leben zu Ende leben, ohne es achten zu können, ist qualvoll. Nicht einmal zum Denken reicht die Energie.«
Während der Trennung von seiner Frau hat Tolstoi ihrer Wiedervereinigung wieder mit Zittern und hoffnungsvoller Sehnsucht entgegen gesehen. Er schreibt ihr aus der Steppe: »Ich denke jeden Augenblick voll Zärtlichkeit an Dich und möchte den ganzen Brief mit zärtlichen Worten ausfüllen. Lebe wohl, mein Herz, meine Liebste. Ich bin so froh über das Gefühl, das ich für Dich empfinde, und darüber, daß Du auf der Welt bist.«
Die Gräfin ihrerseits vermerkt am 18. September 1876 im Tagebuch: »Wenn ich daran denke, daß Ljowotschka übermorgen kommt, dann hüpft mein Herz nur so, als brächte er Licht ins Haus.« –
Im Februar 1877, als »Anna Karenina« nach einem weiteren Jahre mühevoller, oft unterbrochener Arbeit endlich beendet ist, wendet er sich, wie seinerzeit nach dem Abschluß von »Krieg und Frieden«, an Professor Sacharjin um ärztlichen Rat. Die Gräfin vermerkt: »Er ist in Moskau, ist zu Sacharjin gereist, um ihn wegen der Kopfschmerzen und des Blutandrangs zum Kopfe um Rat zu fragen.«
Der berühmte Arzt vermochte ihm nicht zu helfen. Einen Monat später berichtet Tolstoi dem Freunde Strachow: »Am schlimmsten ist, daß ich seit Jahresbeginn an Blutandrang zum Kopfe leide, was mich am Arbeiten hindert. Dabei treibt es mich aber zu schreiben, und soweit die Kräfte reichen, tue ich es auch.«
Die Beschwerden haben sich so verschlimmert, sind so quälend geworden, daß er oft darüber klagt, so auch in einem Schreiben an einen befreundeten Gutsnachbar, den Fürsten L. D. Urussow. Dieser Brief wurde zufällig in einen an die Gräfin Alexandra Andrejewna adressierten Umschlag gesteckt, und so erfährt auch die Freundin von seiner Krankheit, die er vor ihr verschwiegen hatte.
Am 16. März 1877 antwortet sie ihm: »In Ihrem ein wenig rätselhaften Brief hat mich schwer erschüttert, was Sie über Ihre Gesundheit sagen. Ich hoffe aber, daß es nur ein vorübergehender Anfall ist, der sich, wie ich meine, durch recht viel Bewegung und größte Enthaltsamkeit im Essen sehr bald wird beheben lassen.«
Die gleichen Ursachen haben auch bei der Gräfin die gleiche Wirkung. Schon 1866 klagte sie im Tagebuch (am 14., 16. und 20. März): »All diese Tage fürchterliche Kopfschmerzen.« »Der Kopf schmerzt mir entsetzlich.« »Kopfschmerz hindert mich an jeglicher Arbeit.«
Im Laufe von zehn Jahren haben sich die Beschwerden bei ihr – »bald Fieber, bald Migräne« – so gesteigert, daß Tolstoi im Frühjahr 1876 seinem Freunde Golochwastow, dessen Gattin ebenfalls krank war, sein Leid klagt: »Eine schrecklichere Lage als die Krankheit der Frau kann es für einen gesunden Mann gar nicht geben. Das habe ich in diesem Jahre an mir erfahren, und es ist noch immer so. Meine Frau war schwer krank. Den ganzen Winter über kränkelte sie, die Kräfte nahmen ab, und jetzt hütet sie wieder das Bett, und man zittert jeden Augenblick, daß es noch schlimmer werden könnte. Für mich ist diese Lage noch darum besonders qualvoll, weil ich weder an die Ärzte, noch an die medizinische Wissenschaft, noch daran glaube, daß menschliche Mittel auch nur um ein Haar den Gesundheitszustand, das heißt, das Leben des Menschen beeinflussen könnten.«
Als das ganze Jahr 1876 vergeht und ein neues anbricht, ohne daß sich der leidende Zustand seiner Frau bessert, schickt er sie, wohl auf Anregung der Gräfin Alexandra Andrejewna, nach Petersburg zu dem in den obersten Gesellschaftskreisen sehr beliebten Arzt Botkin. Über das Ergebnis der Untersuchung berichtet ihm die Freundin am 26. Januar 1877: »Botkin hat mich beauftragt, Ihnen zu sagen, ich könne Sie vollkommen darüber beruhigen, daß an dem Zustand der Gräfin nichts, aber auch gar nichts Schlimmes ist, und daß alle Beschwerden rein nervöser Natur sind.«
Am nächsten Tage machte der Arzt der Gräfin Alexandra Andrejewna persönlich seine Aufwartung, worauf sie dem Freunde schreibt: »Botkin hat alles bereits Gesagte bekräftigt, dies aber ist das Tröstlichste: ›Ich habe selten so zuverlässige und gesunde Lungen getroffen, und sagen Sie ihnen, sie sollen auf philosophische Weise fortfahren, normal zu leben; sie werden verstehen, was ich meine. Vor allem aber sollen sie sich keine unnützen Gedanken machen‹.«
Offenbar hatte Sofia Andrejewna ihm von ihrer Frigidität gesprochen, und der Arzt rät den Gatten, die Sache mit größerer Gelassenheit hinzunehmen, ohne darüber in Verzweiflung zu geraten und sich dadurch keinesfalls von dem ehelichen Verkehr abschrecken zu lassen.
Tolstoi ist über diese Auskunft so glücklich, daß er der Freundin überschwänglich antwortet: »Ich kann es in Worten gar nicht ausdrücken, wie dankbar ich Ihnen bin für Ihre Sorge um Sonja und für die Übermittlung von Botkins Worten. Ich habe ihn dafür sogar lieb gewonnen.«
Wir erraten, daß die Gräfin in ihrer durch die neurotische Erkrankung wohl noch gesteigerten Abneigung gegen den Geschlechtsakt sich ihrem Gatten entzogen hatte; nun wurden ihm durch die Worte des Arztes wieder die Rechte des Ehemannes zugestanden. In dem gleichen Briefe gesteht er der Freundin:
»Für mich ist die Glaubensfrage dasselbe, was für den Ertrinkenden die Frage ist, woran er sich klammern soll, um sich vor dem sonst unausweichlichen Untergang zu retten, den er mit seinem ganzen Wesen spürt. Und die Religion scheint mir diese Rettungsmöglichkeit zu bieten. Die Sache aber ist die, daß ich, sobald ich mich an dieses Brett klammere, zusammen mit ihm versinke, während ich noch irgendwie oben bleibe, solange ich mich nicht an diesem Brette halte.«
Am 12. Februar 1877 antwortet ihm die Freundin, auf einen Ausdruck in einem vorhergehenden Brief von ihr anspielend: »Das Wort bezog sich in meiner Vorstellung keineswegs auf die Wichtigkeit, die Sie der Religion zuschreiben, sondern bloß auf einen Akt, den ich für die Grundlage des Lebens und des inneren Lichtes halte und ohne den es weder Leben, noch Licht, noch Erkenntnis geben kann. Sie werden verstehen, was ich meine.«
Die Gräfin Alexandra Andrejewna nimmt so regen und innigen Anteil an allem, was Tolstoi betrifft, daß seine Gattin – aus Eifersucht hatte sie der Vertrauten ihres Mannes mehr als zehn Jahre lang nicht geschrieben – schließlich entwaffnet ihren inneren Widerstand aufgegeben hat. Hierzu mag auch der Umstand beigetragen haben, daß die »Nebenbuhlerin« jetzt bereits über sechzig Jahre alt ist, Sofia Andrejewna kaum dreiunddreißig zählt. Während ihres Aufenthaltes in Petersburg hat sie die ältere Frau nun auch in ihr Vertrauen gezogen und der Gräfin von den Schwierigkeiten ihres Ehelebens berichtet. Wie aus dem angeführten Brief der treuen Freundin ersichtlich ist, teilte sie die Meinung Dr. Botkins über die »philosophische« Fortsetzung des normalen Verkehrs zwischen dem Ehepaar. –
Zu Anfang des Jahres 1877 war »Anna Karenina«, wie bereits erwähnt, nach vierjähriger mühevoller Arbeit zu Ende gebracht worden. Bei der autobiographischen Schaffensart Tolstois erscheint es auf den ersten Blick nicht recht erklärlich, wie er in diesem Roman zu der ihm scheinbar so fremden und fernen Gestalt von Annas Gatten Karenin gekommen ist. Irtenew in »Kindheit«, Olenin in den »Kosaken«, Sergej Michailowitsch in »Familienglück«, Nechljudow in »Jugend«, »Morgen eines Gutsbesitzers«, »Aufzeichnungen eines Marqueurs«, »Auferstehung«, Lewin in »Anna Karenina«, Irtenew in »Der Teufel«, Saryntzew in »Das Licht leuchtet in der Finsternis«, Bolkonskij, Rostow, Besuchow in »Krieg und Frieden«, alle diese Gestalten sind Darstellungen seiner selbst in verschiedenem Lebensalter. Ebenso schildert er auch in seinen übrigen Werken entweder sich selbst oder ihm und den Häusern Tolstoi, Wolkonskij, Islenew verwandte oder ihnen nahestehende Menschen (von den rein geschichtlichen Persönlichkeiten abgesehen). Allein Karenins Gestalt scheint rätselhaft. Ist sie nicht ein zweiter, Lewin ergänzender Tolstoi? Stellt Tolstoi, der mit vierunddreißig Jahren ein achtzehnjähriges Mädchen geheiratet hat, sich in Karenin nicht selbst dar, als zweiköpfiger Janus Lewin-Karenin? Die Jahre der Arbeit an »Anna Karenina« waren die schwersten Leidens- und Krisenjahre in Tolstois Leben; er fühlte sich krank, alt, nicht mehr fähig zum ehelichen Verkehr, war seiner jungen Frau gegenüber erkaltet, vertiefte sich ganz und ausschließlich in seine Arbeit. Hat er nicht in Karenin sich selbst als alternder Mann einer jugendsprühenden Frau geschildert? Ist Karenin nicht Tolstoi als Verehrer des comme il faut, der im Aufstieg zu hohen Ämtern übersieht, daß Annas Jugend Lebensrecht hat? Darum rechtfertigt der Verfasser sie als Weib, wenn er sie als Mutter auch verurteilt; darum kommt es auch zu jener Szene an Annas Krankenlager, als die beiden Nebenbuhler in Erkenntnis höchster Gerechtigkeit einander die Hand reichen. Hier erhebt sich Tolstoi zu edelster Menschlichkeit und alles vergebendem Verstehen. Spricht nicht bereits aus dieser Szene zum ersten Male der Gedanke an Selbstentsagung? Bleibt Karenin auch trockener, seelenloser Beamter, so findet Tolstoi Rechtfertigung in Lewin, der freudig und hoffnungsvoll ein neues Leben beginnt. Dieser Roman ist Tolstois Requiem seiner unerfüllt gebliebenen Liebeshoffnungen, wonach Selbstentsagung, Verdammung seiner Vergangenheit im Licht der Religion beginnt, an die sich der Kranke klammert, um nicht in Schwermut und Qual unterzugehen.
Eine erneute Bemühung, es noch einmal mit einem großen historischen Roman aus weniger fern liegender Zeit zu versuchen, schlägt fehl. Das geplante Werk, »Die Dekabristen« – so wurden die Teilnehmer an einem im Dezember, russisch »Dekabr«, 1825 unternommenen revolutionären Aufstand genannt – hatte er bereits vor Jahren begonnen, es dann aber während der Arbeit an »Krieg und Frieden« zurückgestellt, da, wie er meinte, sich erst aus dem Geschehen um 1812 ein Verständnis für die Ereignisse um 1825 ergebe. Trotzdem »Die Dekabristen« also gewissermaßen eine Fortsetzung von »Krieg und Frieden« gewesen wären, diese Arbeit ihm folglich mehr lag, als die ebenfalls nicht zur Ausführung gelangte über das Zeitalter Peters I., vermag er nicht mehr, sie zu bewältigen.
Aus der erhofften Annäherung der Gatten nach der Konsultation Dr. Botkins wird ebenfalls nichts, wenn sich ihr äußeres Verhältnis auch zeitweilig gebessert hat.
Die Gräfin vermerkt im Tagebuch:
11. Oktober 1878: »Ljowotschka liest viel in den Quellen zu seinem neuen Werk, klagt aber über Schwere und Müdigkeit im Kopf und kann noch nicht schreiben. Wir leben wieder einig, und ich habe mir gesagt, daß ich ihn schonen will.«
18. Oktober: »Er ist matt, schweigsam und in sich versunken.«
27. Oktober: »Ich stand auf und trank meinen ewig einsamen Morgentee; es war ein klarer Tag. Bekümmert, meine Tränen hinabwürgend, trank ich meinen Tee aus und ging spazieren. Ljowotschka ist seit Morgengrauen mit den Windhunden auf der Jagd.«
4. November: »Ljowotschka schreibt kaum und hat den Mut verloren.«
6. November: »Ljowotschka ist trübe gestimmt, weil er nicht schreiben kann.«
11. November: »Ljowotschka meinte heute, sein Denken habe sich geklärt, alle Gestalten begännen zu leben; er hat heute gearbeitet und ist fröhlich, er glaubt an sein Werk. Aber er hat Kopfschmerzen.«
14. November: »Er hatte Kopfschmerzen.«
16. November: »Ljowotschka sagte: ›Alles, Gedanken, Gestalten, Ereignisse, alles habe ich fertig im Kopf‹, aber er fühlt sich unwohl und kann nicht schreiben. Gestern hat er angefangen zu fasten.«
Dr. Botkins Rat, die Gatten sollen fortfahren, »auf philosophische Weise normal zu leben«, hat nicht geholfen. Die Natur läßt sich nicht vergewaltigen.
Sein Leiden ist so schmerzvoll geworden, daß er nach dreizehnjährigem Schweigen wieder Zuflucht zu seinem Tagebuch nimmt; jetzt schreibt er es aber nur für sich allein und zeigt es nicht mehr seiner Frau. Seine Eintragungen erinnern an das Stöhnen eines Gefolterten. Weder sein festbegründeter Wohlstand, noch seine blühende Familie, noch Dichterruhm, noch sein Schaffen, noch die Sehnsucht nach Liebe haben ihm das Glück und die Ruhe gebracht, nach denen er sich sein Leben lang gesehnt hat.
Am 2. Juni 1878 schreibt er ins Tagebuch:
»Wie werde ich erlöst? Ich fühle, daß ich zugrunde gehe. Ich lebe und sterbe, ich liebe das Leben und fürchte den Tod, – wie werde ich erlöst?«
Mit diesem Aufschrei endet ein ganzer Lebensabschnitt Tolstois, der keinen Ausweg fand, der den Wunsch zu lieben für Liebe hielt.