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Liebessehnen

Der Mißerfolg, mit dem Tolstois erste große Liebe, seine Liebe zu Marianna, so unerwartet endet, bringt ihn wieder zur Verzweiflung. Aufs neue überkommt ihn Gleichgültigkeit, und er führt »ein etwas zerstreutes, völlig müßiges und sehr kostspieliges Leben«.

Allmählich aber begeistert ihn der Krieg zu vaterländischen Gefühlen und er ruft aus: »Welch herrliche Zeit! ,… Es ist mir noch keinmal gelungen, an einem Kampfe teilzunehmen, aber ich danke Gott, daß ich diese Menschen gesehen habe und in dieser ruhmvollen Zeit lebe.« Er faßt die Absicht, gemeinsam mit einigen anderen Offizieren eine Kriegszeitung für die Soldaten herauszugeben, »um den guten Geist im Heer zu fördern«. Die Zeitschrift soll »Schilderungen und Schlachten enthalten (aber nicht so trockene und verlogene wie andere Blätter), Heldentaten, Biographien und Nekrologe braver Männer, besonders aus dem einfachen Volke, Kriegserzählungen, Soldatenlieder, volkstümliche Aufsätze über Ingenieur- und Artilleriekunst«. Doch Zar Nikolai I untersagte die Herausgabe der Zeitschrift und schlug vor, die ins Auge gefaßten Aufsätze im »Invaliden«, dem Amtsblatt des Kriegsministeriums, erscheinen zu lassen.

Am 5. Januar 1855 wird Tolstoi einer anderen Batterie zukommandiert, die in der Nähe Sewastopols am Belbek stand. Er kommt hier »in einen ekelhaften Kreis von Offizieren«, spielt, einmal zwei Tage und zwei Nächte durch: »Das Ergebnis liegt auf der Hand – das ganze Herrenhaus in Jasnaja Poljana ist verspielt. Ich bin mir so widerlich, daß ich mein Dasein vergessen möchte.« Aber »unter den grauenhaften Verhältnissen, die allem Menschlichen fern waren, und bei der Hoffnungslosigkeit, ihnen entrinnen zu können, war Vergessen, Betäubung des Bewußtseins« der einzige Trost.

Die nächsten sechs Wochen verbringt er bei der berühmten 4. Batterie, und obgleich dies der am meisten gefährdete Ort ist, findet er Gefallen an dem Leben hier. »Der beständige Reiz der Gefahr, Beobachtungen an den Soldaten, deren Leben ich teile, an den Matrosen und am Kriegswesen selbst, sind so angenehm, daß ich von hier nicht fort will, zumal ich am Ausfall teilnehmen möchte, falls es dazu kommt«. Ihren literarischen Niederschlag finden diese Erfahrungen in den »Sewastopoler Erzählungen«, die durch ihre lebenswahre, wirklichkeitstreue Darstellungskunst allgemeine Aufmerksamkeit hervorriefen.

Am 15. Mai wird Tolstoi zum Kommandierenden einer Bergbatterie ernannt, die zwanzig Werst von Sewastopol entfernt lag, das heißt, er wurde, ohne daß er um die Hintergründe wußte, aus der Feuerlinie gezogen; der junge Zar Alexander II. hatte Tolstois »Sewastopoler Erzählungen« gelesen und befohlen, den begabten Offizier zu schonen. Nach Sewastopols Fall am 4. September 1855 reist Tolstoi als Kurier nach Petersburg.

Über Tolstois Tätigkeit als Kommandierender berichtet Oberst Glebow: »Der Artillerieleutnant Graf Tolstoi hat den Befehl über zwei Berggeschütze, treibt sich aber überall herum, wohin es ihn gerade zieht. Tolstoi will Pulver riechen, aber immer nur jählings, als Partisan, wobei er allen Beschwerlichkeiten und Entbehrungen des Krieges ausweicht. Er reitet als Tourist von Ort zu Ort, kaum aber hört er irgendwo einen Schuß, so erscheint er sofort auf dem Kampfplatz; ist der Kampf zu Ende, so zieht er wieder davon, nach eigenem Ermessen, wohin er gerade mag.«

Diese Schilderung erinnert an den Bericht des Kosakenobersten Sinjuchajew über Tolstois Haltung im Kaukasus: »Den Dienst ignorierte er vollständig, und die Vorgesetzten drückten ein Auge zu.« Tapfer und ungestüm, konnte sich Tolstois freiheitheischende Natur nicht der Militärdisziplin fügen. Es war wohl auch nicht der Dienst an sich, der ihn anzog, sondern das bunte, erregende Kriegsleben; alle Äußerungen des Lebens fesselten ihn. Die angeführten Angaben bestätigt auch Tolstois Kamerad J. I. Odachowskij: »Er war ein Mensch, der Disziplin und Obrigkeit nicht anerkannte. Die geringste Bemerkung eines Höherstehenden rief seinerseits sofort eine Frechheit oder einen beißenden, verletzenden Witz hervor. Seine Ernennung zum Kommandierenden einer Bergbatterie war ein grober Mißgriff, da Tolstoi nicht nur kaum einen Begriff vom Dienst hatte, sondern zum Kommandierenden eines Detachements völlig untauglich war: er hielt sich nirgends lange auf, zog beständig von einem Truppenteil zum andern und war mehr mit sich selbst und seiner Schriftstellerei beschäftigt als mit dem Dienst.«

Aber dieser undisziplinierte Offizier sah den Krieg so, wie kein anderer Teilnehmer an dem Sewastopoler Feldzug ihn zu erschauen vermochte. Wohl zechte und spielte er im Kreise der Offiziere, aber Kriegsbeobachtungen und der einfache Soldat fesselten seine Aufmerksamkeit stärker als der Verkehr mit seinen Kameraden. Im Kaukasus war er mit schlichten, ungekünstelten Menschen zusammengekommen und hatte sie verstehen und schätzen gelernt, sie sagten ihm ihrem Wesen nach mehr zu als die Offizierskreise. Das ist auch aus den »Sewastopoler Erzählungen« ersichtlich, über die Nekrassow an Turgenjew schrieb: »Weißt du, was es ist? Es sind Schilderungen von mannigfachen Soldatentypen (zum Teil auch von Offizieren), das heißt, eine im russischen Schrifttum bisher nie dagewesene Sache. Und wie gut dazu!«

In der Hauptstadt, wo Tolstoi am 21. November eintraf, wurde er von der literarischen Welt gefeiert. Der Schriftsteller T. T. Panajew hatte ihm über »Sewastopol im Dezember« geschrieben: »Ihr Aufsatz wurde hier gierig von allen gelesen und alle sind begeistert. Wir beten hier alle, Gott möge Sie bewahren zu Ehre und Ruhm des russischen Schrifttums! Mit ungeheurer Ungeduld erwarten wir Ihre Ankunft aus Sewastopol.«

In Petersburg nahm Tolstoi dasselbe Treiben wieder auf wie vor vier Jahren. »Wieder zieht ihn ein fröhliches, sorgloses, liederliches, ausschweifendes Leben an. Er ist von seiner bei Sewastopol liegenden Batterie eingetroffen«, berichtete Turgenjew dem Lyriker Feth, »bei mir abgestiegen und treibt es toll. Zechgelage, Zigeuner und Karten die Nächte durch; nachher schläft er dann bis zwei Uhr wie ein Toter.«

Der Ruhm ist nun da, sein Name gleich beliebt bei Leser und Kritiker, »sie« fehlt aber noch immer. Seit er Marianna verloren hat, befindet er sich beständig in einem Zustand ungeduldiger Gereiztheit; in Petersburg ist er immer bereit, sich mit den Schriftstellern zu überwerfen. Der Dichter Grigorowitsch berichtet: »Welche Meinung auch geäußert wurde, immer trieb es ihn, das Gegenteil zu behaupten, und je autoritativer der Gesprächspartner ihm scheinen mochte, umso hartnäckiger stürzte er sich in das Wortgefecht. Im Streit ging er zuweilen bis zum äußersten.«

In dem gleichen gereizten Zustand befand er sich bereits in Sewastopol, als »die geringste Bemerkung eines Höherstehenden seinerseits sofort eine Frechheit oder einen beißenden, verletzenden Witz hervorrief.« Als einmal der Schriftsteller Longinow in einem Brief an Nekrassow eine Bemerkung über Tolstois politische Rückständigkeit gemacht hatte, geriet dieser in unmäßige Wut und forderte Longinow zum Zweikampf heraus. Das Duell wurde nur durch die persönliche Einmischung Nekrassows verhindert, der Tolstoi in seiner Wohnung aufsuchte und bedrückt erklärte: »Wenn Sie Ihre Forderung an Longinow nicht zurücknehmen, werden Sie sich auch mit mir schießen müssen. Ich bin ja schuld an diesem ganzen Tohuwabohu.«

Am 27. Mai 1856 reist Tolstoi nach Jasnaja Poljana. Weder die literarische Welt, noch die Petersburger Gesellschaft haben ihm Beruhigung gebracht. Das einfache Volk, in dessen Mitte er im Kaukasus und vor Sewastopol gelebt hat, läßt ihn nicht mehr, ihm gehört seine Teilnahme und Neigung. Gleich am Tage seiner Ankunft auf seinem Gut läßt er eine Dorfversammlung einberufen und erklärt sich bereit, seinen Leibeigenen zu Bedingungen, die für sie günstig waren, die Freiheit zu geben. Seine Erklärung stößt auf Mißtrauen; die Bauern hofften nach der Krönung Alexanders II. Freiheit und alles Land der Gutsbesitzer entschädigungslos zu erhalten. Nach diesem erneuten Mißerfolg unterläßt Tolstoi für längere Zeit jeden weiteren Versuch einer Annäherung an seine Bauern und widmet sich seinen eigenen Angelegenheiten.

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Seine ungeheure Liebessehnsucht ist noch immer ungestillt. »Warum kommt sie denn nicht, die Liebe, und fesselt mir nicht Hände und Füße!« ruft er schmerzlich aus. »Ich trage doch einen Wunsch zu lieben in mir, wie es ihn stärker gar nicht geben kann.«

Er macht die Bekanntschaft der Nichten seiner Gutsnachbarin Arsenjewa, »einer Dame der Gesellschaft mit Hofallüren«. Die ältere, Valeria, gefällt ihm und sein Freund D. A. Djakow gibt ihm den Rat, sie zu heiraten. »Ich lausche seinen Worten, und auch mir scheint es das Beste, was ich machen kann«, stimmt Tolstoi ihm bei und fährt auf das Gut der Arsenjews Sudakowo, um sich das junge Mädchen genauer anzusehen.

Sein Liebesverlangen ist so heftig, daß er es für Liebe hält, sich dem jungen Mädchen allmählich nähert und mit dem Gedanken vertraut macht, sie könne ihm Glück und neues Leben schenken.

Sein Tagebuch füllt sich mit Eintragungen über Valeria.

Am 14. Juni 1856 vermerkt er: »Schade, daß sie weder Rückgrat noch Feuer hat, wie eine Nudel. Sie hat aber ein gutes Herz. Und auch ein schmerzlich ergebenes Lächeln.«

Am nächsten Tage, nach einem Besuch der Arsenjews in Jasnaja Poljana: »V. ist lieb.«

Am 16. fährt er wieder nach Sudakowo und vermerkt: »Sie hat musiziert. Ist sehr lieb.«

Kurz darauf besucht er sie zusammen mit einem Freunde und trägt ein: »V. plauderte über Toiletten und die Krönung. Sie ist frivol, und Frivolität scheint bei ihr keine flüchtige, sondern eine beständige Leidenschaft zu sein.«

Drei Tage später, als die Arsenjews wieder in Jasnaja Poljana sind: »Ich habe mich nur wenig mit ihr unterhalten, umso stärker hat sie auf mich gewirkt.«

Am nächsten Tage ist er bei ihnen, und so geht es fort. Seine Eintragungen widersprechen sich.

»V. war abscheulich, und ich bin ganz ruhig geworden.«

»V. in weißem Kleide. Sehr lieb. Ich habe einen der angenehmsten Tage meines Lebens verbracht. Liebe ich sie ernstlich? Und ob sie wohl lange lieben kann? Zwei Fragen, die ich lösen möchte und nicht zu lösen vermag.«

»V. ist schrecklich schlecht erzogen, ungebildet, wenn nicht dumm. Ein Wort, das sie, weiß Gott, wozu gesagt hat, hat mich sehr verstimmt und enttäuscht, zumal ich Zahnschmerzen hatte.«

»Die Arsenjews waren da. V. ist ein prächtiges Mädel, gefällt mir aber bestimmt nicht.«

»Die Arsenjews waren da ,… Ich habe den ganzen Tag in V's Gesellschaft verbracht. Sie trug ein weißes ärmelloses Kleid, dabei sind ihre Arme aber nicht hübsch. Das hat mir weh getan. Ich begann sie moralisch zu zwicken und zwar auf so grausame Art, daß sie zerrissen lächelte. In ihrem Lächeln lagen Tränen. Nachher spielte sie. Mir war wohl, sie aber war bereits niedergeschlagen.«

»Valeria schrieb in dem dunklen Zimmer, wieder in dem ekligen, aufgeputzten Morgenkleid. Sie war kühl und selbständig, zeigte mir ihren Brief an ihre Schwester, in dem sie sagt, ich sei ein Egoist usw. Dann kam Vergani (ihre Gouvernante), und mir wurden zuerst scherzhaft, dann im Ernst Vorwürfe gemacht, die mir weh taten und mich bedrückten. Ich habe ihr gestern wirklich weh getan, aber sie hat sich nun aufrichtig ausgesprochen, und nach einer kleinen Traurigkeit, die mich überkam, ist alles vergangen. Sie sagte mehrmals, nun soll alles wieder wie vorher sein. Sie ist sehr lieb.«

Tag für Tag folgen weitere Eintragungen. Im Laufe von siebzehn Tagen sehen sich die beiden elfmal. Tolstoi beobachtet immerfort sich und das junge Mädchen, vermerkt jeden seiner Eindrücke und kann zu keinem Entschluß kommen.

Jeder äußere Mangel des jungen Mädchens wächst sich zu einem schmerzlichen Seelenerlebnis aus. Jedes nicht ganz glücklich gewählte Wort aus ihrem Munde wird als ungeheure Enttäuschung empfunden, um derentwillen er sie fast bis zu Tränen quält: »Ich begann sie moralisch zu zwicken und zwar auf so grausame Art, daß sie zerrissen lächelte«. Am zehnten Tage fragt er sich: »Liebe ich sie ernstlich?« Sein Wunsch zu lieben ist so groß, daß er sein Gefühl zu forcieren sucht, weshalb es, seiner selbst noch ungewiß, hin und herschwankt. Heute ist sie »sehr lieb«, morgen »nicht wohlerzogen, wenn nicht dumm«. Er fährt auf acht Tage zu seiner Schwester Maria, dann zu seinem Bruder Sergej, bleibt eine Weile bei Turgenjew zu Gast; nach seiner Rückkehr aber eilt er geradeswegs zu den Arsenjews. Aufs neue sehen sie sich im Laufe von vier Wochen fast täglich, und wieder häufen sich die Tagebucheintragungen.

»V. ist sehr lieb und unsere Beziehungen sind leicht und angenehm.«

Zwei Tage später:

»V. war schöner als je zuvor, aber ihre Frivolität und Gleichgültigkeit gegen alles Ernsthafte sind erschreckend. Ich fürchte, sie ist ein solcher Charakter, der nicht einmal Liebe zu Kindern empfinden kann.«

Am nächsten Tage:

»Ich habe Angst sowohl vor einer Heirat als auch vor einer Gemeinheit, das heißt, einem Spiel mit ihr. Um sie zu heiraten, müßte man vieles an ihr ändern, und ich muß doch noch erst an mir selbst arbeiten.«

Tolstoi sucht in der Liebe Erholung und Beruhigung, die er zum Schaffen braucht, und jede Unebenheit im Charakterbild des jungen Mädchens quält ihn. Die Wirklichkeit entspricht nicht seiner Traumvorstellung.

Bereits im Januar 1852, auf dem Wege nach Tiflis, hat er Tantchen Jergolskaja in einem Briefe ausgemalt, wie er sich sein zukünftiges Eheleben denkt:

»Nach einer gewissen Anzahl von Jahren werde ich – noch nicht alt – aber auch nicht mehr jung – in Jasnaja sein, meine Angelegenheiten sind in Ordnung, ich kenne keine Unruhe, keinen Ärger. Sie wohnen auch in Jasnaja. Wir leben, wie wir früher gelebt haben; ich arbeite morgens, aber wir sehen uns fast den ganzen Tag. Wir speisen zusammen zu Mittag. Abends lese ich Ihnen etwas vor, was Sie nicht langweilt, nachher plaudern wir; ich erzähle Ihnen von meinem Leben im Kaukasus, Sie erzählen mir allerlei aus Ihren Erinnerungen – von meinem Vater, meiner Mutter ,… Ich bin verheiratet, meine Frau ist ein sanftes, gutes, liebevolles Geschöpf. Sie liebt Sie ebenso wie ich; wir haben Kinder, die Sie Großmama nennen; Sie wohnen im großen Hause im oberen Stockwerk, im selben Zimmer, das früher die Großmutter inne hatte. Im ganzen Hause herrscht die gleiche Ordnung wie zu Papas Zeiten, und wir fangen dasselbe Leben an, nur die Rollen sind vertauscht; Sie übernehmen die Rolle der Großmutter, aber Sie sind noch viel besser; ich spiele die Rolle Papas, doch wage ich kaum zu hoffen, ihrer jemals würdig sein zu können; meine Frau ist an Mamas Stelle getreten, unsere Kinder an die unsere ,…«

Jetzt werden diese Wunschträume noch bestimmter. Als Grundlage bleibt es bei dem stillen, ruhigen Familienleben, hinzu aber kommt »Verkehr mit der besten Gesellschaft Rußlands«, im Sinne einer Geistes- und Bildungsauslese, jedes Jahr ein fünfmonatiger Aufenthalt mit der Gattin in Petersburg, aber »ohne Bälle, ohne Kutsche, ohne extravagante Toiletten und ganz ohne große Welt«, und sieben Monate auf dem Lande oder ein Jahr im Auslande, »damit weder der eine noch der andere hinter seiner Zeit zurückbleibe«, oder ein Jahr in Petersburg, wo sie »einen kleinen Bekanntenkreis haben werden, dem aber nicht Leute angehören, die nichts als comme il faut sind – solcher gibt es soviel wie Hunde –, sondern gescheite, gebildete und gute Menschen.« Jeder der Gatten hat »seine eigenen Genüsse«, aber nur die »allerhöchsten Genüsse, die dem Menschen zugänglich sind: der Genuß an dem Guten, das man tut, an reiner Liebe und Poesie«. Hat man diesen Weg aber einmal betreten, so müsse man fest daran glauben, daß es der beste Weg sei, müsse einander in schweren Augenblicken stützen, auf Gefahren aufmerksam machen und suchen, niemals von diesem rechten Wege abzuweichen, was mit Hilfe der Religion wohl erreichbar ist.

Er sei »ein moralisch alter Mensch« und habe in seiner Jugend viele Dummheiten gemacht, die er mit dem Glück seiner besten Lebensjahre bezahlen mußte; nun aber habe er seinen Weg und Beruf gefunden: die Literatur. Im Herzen verachte er »die Welt«, schwärme für ein stilles, sittliches Familienleben und fürchte nichts auf Erden so sehr wie ein zerstreutes Gesellschaftsleben, bei dem alle guten, ehrlichen, reinen Gedanken und Empfindungen verlorengingen und das den Menschen zum Sklaven der gesellschaftlichen Konventionen und seiner Gläubiger mache. Er habe diese Verirrungen schon mit den besten Jahren seines Lebens bezahlen müssen, diese Überzeugung sei bei ihm also keine Phrase, sondern eine Überzeugung, die durch Leiden errungen ist.

Um aber an Valerias Seite ein solches Leben führen zu können, glaubt er vieles an dem Charakter des jungen Mädchens ändern zu müssen, denn ihm scheint, sie betrachte die Welt allzu sehr vom Standpunkt ihrer Tante, der »Dame der Gesellschaft mit Hofallüren«. Zuerst kommt das Programm, das Leben hinkt hinterdrein. Nachdem Valeria im August an den Krönungsfeierlichkeiten in Moskau teilgenommen und Tantchen Jergolskaja brieflich mitgeteilt hat, wie gut sie sich amüsiert habe, sucht Tolstoi diese »Änderung« sofort herbeizuführen. Er denkt nicht daran, daß sein Schulmeisterton sie abstoßen muß, rechnet nicht mit der natürlichen Wandlung unter dem Einfluß des Reifens und des Zusammenlebens mit ihm, sondern sucht sie nach einem fertig vorliegenden Schema auf einen Schlag umzumodeln, so wie er einst auf einen Schlag seine Bauern von der Armut befreien, sie bilden, von ihren Lastern erlösen und Liebe zum Guten lehren wollte. Fast mit Gewalt sucht er ihr das festgelegte Programm eines glücklichen Ehelebens einzuhämmern und sie zu seiner Ansicht von einer idealen Gattin zu bekehren.

Die Angst, daß die große Welt einen unheilvollen Einfluß auf das unverdorbene Gemüt des jungen Mädchens ausüben, sie ihm rauben könnte, verfolgt ihn. In einem Brief an Valeria fragt er schmerzlich, ob Toiletten, die große Welt und Flügeladjutanten für sie wohl immer den Gipfel der Glückseligkeit bedeuten würden, und fährt fort: »Das ist doch grausam! Warum haben Sie das geschrieben? Sie mußten doch wissen, wie mir das gegen den Strich sein mußte ,… Die große Welt, nicht den Menschen lieben, ist unehrlich und auch gefährlich, denn in dieser Welt gibt es mehr Lumpen als in jeder anderen. So weiß ich von den Flügeladjutanten – es gibt ihrer etwa vierzig – bestimmt, daß nur zwei von ihnen keine Taugenichtse und Schafsköpfe sind. Viel Freude ist da also auch nicht zu erwarten. Wie freue ich mich, daß auf der Truppenschau Ihre Toilette zerdrückt wurde, und wie töricht war es von jenem unbekannten Baron, Sie zu retten.« Er, Tolstoi, hätte sich mit Genuß in die Menge verwandelt und ihr das ganze Kleid beschmutzt, fügt er aufbrausend hinzu.

Solche Briefe mußten das junge Mädchen verletzen, das in der ländlichen Einsamkeit aufgewachsen, dem Achtung vor der vornehmen Welt von Kindheit an eingeflößt worden war. Tolstoi aber scheint die Gesellschaft, die sein erstes Liebesverlangen im Freudenhause geschändet hat, mit ihrem Flitter und Schein eine Gefahr auch für das junge Mädchen, und er ergeht sich in Schmähungen über sie, ohne daran zu denken, wieviel unschuldige Jugendbegeisterung aus ihrem schwärmerischen Bericht über die glänzenden Krönungsfestlichkeiten und die schmucken Flügeladjutanten spricht.

Als er gar von Valerias einstiger Neigung für ihren Klavierlehrer Mortier erfährt, fürchtet er, sie ganz zu verlieren, wenn es ihm nicht gelingt, sie zu ändern.

Daß es sich dabei um eine ganz harmlose Jungmädchenschwärmerei handelte, liegt auf der Hand; Valeria selbst, die inzwischen aufs Land zurückgekehrt ist, hat Tolstoi von der Sache erzählt. Später, als sie hofft, seine Frau zu werden, geht sie sogar zu Beichte und Abendmahl, offenbar, um sich von der »Sünde« zu reinigen, obwohl Mortier für das adlige Fräulein eben nur »Klavierlehrer« geblieben war.

Die gegenseitigen Besuche werden wieder aufgenommen. Daß Valeria Tolstoi wirklich liebte, ist schon daraus ersichtlich, daß das junge Mädchen, in den strengsten Ansichten der vornehmen Gesellschaft aufgewachsen, nicht davor zurückschreckte, den jungen Mann so häufig in seinem Heim aufzusuchen, wenn auch die Begleitung ihrer Tante oder Schwester und die Anwesenheit von Tantchen Jergolskaja im Tolstoischen Hause diesen Besuchen zwischen den befreundeten Gutsnachbarn alles Anstößige nahm.

Die beiden sehen sich wieder fast täglich. Er quält sie mit seiner Eifersucht auf Mortier, sucht alle Einzelheiten ihrer Liebelei zu erfahren und vermerkt: »Es stellt sich heraus, daß sie in ihn verliebt war. Seltsam, ich fühle mich dadurch beleidigt; ich schämte mich meiner selbst und ihrer, aber zum ersten Male empfand ich etwas wie Liebe zu ihr.« Danach war er »sehr verstimmt, konnte nicht arbeiten (das heißt, schreiben) und hat viel an V. gedacht«. Am nächsten Tage erwachte er »immer noch verstimmt«, war nicht imstande, irgend etwas zu tun, hat aber »Gott sei Dank, weniger an V. gedacht«. Trotzdem sei er »nicht in sie verliebt«, doch würde dies Erlebnis in seinem Leben »immer eine große Rolle spielen«.

Valeria hatte ihm, erschrocken darüber, daß er sich über die Sache mit dem Klavierlehrer so aufregte, am Tage nach ihrem Geständnis, als sein gewohnter Besuch unterblieb, ein Zettelchen gesandt. Tolstoi antwortete brieflich, erschien aber selbst nicht. Valeria, die sich seinen Schmerz offenbar sehr zu Herzen nahm, schrieb noch einmal und schickte ihm den Brief mit ihrer Schwester. Jetzt kam er, war aber »böse und finster«. Wenige Tage später ist er wieder bei ihr und schreibt ins Tagebuch: »Ich kann nicht umhin, V. Stiche zu versetzen. Das ist bereits Gewohnheit, nicht Gefühl. Sie ist für mich nichts weiter als eine unangenehme Erinnerung.« Zehn Tage später vermerkt er: »Heute morgen ist meine Erbitterung vergangen, und jetzt ,… habe ich erkannt, daß ich schuld bin und mich ihr erklären muß, aber anders.«

Danach werden die Zusammenkünfte wieder aufgenommen, und am 24. Oktober schreibt er ins Tagebuch: »Ich fuhr auf den Ball. V. war reizend. Ich bin beinahe verliebt in sie.« Es hatte eine Erklärung zwischen ihnen stattgefunden, ohne daß er um ihre Hand angehalten hätte. Diese Unklarheit in ihren Beziehungen veranlaßt ihn zu der Eintragung: »Ich bin ganz unwillkürlich etwas wie ein Bewerber geworden. Das ärgert mich.«

Valerias Begeisterung für das glänzende Hofleben und ihre Schwärmerei für einen simplen Klavierlehrer wirken im Unbewußten noch immer quälend auf Tolstoi und lösen Unsicherheit und Unentschlossenheit aus. Er fährt nach Moskau, um, unbeeinflußt durch die Gegenwart des reizenden jungen Mädchens, sich und sein Gefühl zu prüfen. Aus Moskau schreibt er ihr:

»›Was einmal war, das kommt nicht wieder!‹ sagt Puschkin. Glauben Sie mir, nichts läßt sich vergessen, nichts geht vorüber, nichts kommt wieder. Niemals mehr werde ich jenes ruhige Gefühl der Anhänglichkeit an Sie, der Achtung und des Vertrauens empfinden, das mich vor Ihrer Abreise zur Krönung erfüllte. Damals gab ich mich freudig meinem Gefühl hin, jetzt fürchte ich es. Eben habe ich einen langen Brief an Sie geschrieben, den abzusenden ich mich nicht entschließen konnte; ich zeige ihn Ihnen später einmal. Er wurde unter dem Einfluß des Hasses gegen Sie geschrieben.«

Daß Valeria nach solchen Briefen sich gekränkt, in ihrer Liebe zu ihm verletzt fühlte, ist verständlich. Nach den täglichen Zusammenkünften und seiner Erklärung auf dem Ball fühlte sie sich bereits als zu ihm gehörig, und nach all dem Briefe von ihm zu erhalten, aus denen statt Liebe Haß sprach, die endlose Vorwürfe und Belehrungen enthielten, war nicht nur schmerzlich, sondern auch beleidigend für die Liebende, wie leichtsinnig sie in seinen Augen auch sein mochte.

Seinen Haß gegen die Gesellschaft überträgt Tolstoi auch auf die Geliebte und ist bereit, sie aller Laster der verachteten großen Welt zu zeihen.

»Die Hauptsache ist«, belehrt er das junge Mädchen, »leben Sie so, daß Sie sich beim Schlafengehen sagen können: Heute habe ich erstens jemandem etwas Gutes getan, zweitens selbst etwas besser zu leben begonnen. Versuchen Sie, bitte, bitte, Ihre Tätigkeit für jeden Tag vorher zu bestimmen und sich abends daraufhin zu prüfen. Sie werden sehen, was für ein ruhiger und großer Genuß es ist, sich jeden Tag sagen zu können: ›Heute bin ich besser geworden, als ich gestern war. Heute ist es mir gelungen, die Triolen glatt zu spielen, oder ich habe ein bedeutendes Werk der Dichtung oder der Kunst verstanden und empfunden, oder – und das ist das allerbeste – ich habe diesem oder jenem etwas Gutes getan und ihn dazu gebracht, mich zu lieben und Gott für mich zu danken.‹ Das wäre eine Wonne schon für Sie allein, jetzt aber wissen Sie ja auch, daß ein Mensch vorhanden ist, der Sie immer mehr und mehr, bis in die Unendlichkeit, lieben wird für alles Gute, das Sie leicht erwerben können, wenn Sie nur Trägheit und Apathie überwinden. Der Heiland sei mit Ihnen, Er helfe uns, einander gut zu verstehen und zu lieben! Aber wie das auch enden möge, ich werde Gott immer für das wirkliche Glück danken, das ich durch Sie genieße – mich besser und höher und ehrlicher zu fühlen. Gott gebe, daß Sie ebenso denken!«

Die eigene innere Trübung überträgt Tolstoi auf den Menschen, den er liebt, als wollte er sich dadurch läutern. Er sieht in ihr seine eigenen Mängel und macht ihr darüber Vorwürfe – all das nur darum, weil sie seinem Ideal nicht entspricht und unbefangen an Leiden und Freuden jener Welt teilnimmt, zu der sie gehört. Natürlich vermochte das zwanzigjährige Mädchen Tolstois verwickeltes Streben nach Selbstläuterung nicht zu verstehen und litt darunter, daß sie statt erwarteter Liebesergüsse Moralpredigten zu hören bekam. Tolstoi übersah, daß Valeria weder seine Lebenserfahrung noch das Wissen besaß, welches das Schaffen gibt. Sie sollte das alles allein dadurch erwerben, daß er ihr den rechten Weg zur Erlangung der Eigenschaften wies, die er bei seiner Geliebten vorzufinden wünschte. Seine leidenschaftliche Natur konnte sich nicht damit abfinden, daß sich das nicht im Handumdrehen erreichen läßt, daß allenfalls Zeit, gemeinsames Leben, gemeinsame Interessen, durch Liebe, Ehe, Kinder bedingt, zu einer solchen Angleichung führen könnten.

Er aber fordert ihre unverzügliche innere Wandlung, will sie auf einer gleich hohen Entwicklungsstufe sehen und hofft, daß der Briefwechsel mit ihm ihr helfen werde, ihn zu verstehen. Ungeduldig treibt er sie zur Eile an; »auf Postpferden« solle sie ihn einholen. Vor allem quält ihn, daß Valeria immer noch Briefe mit Mortier austauscht und während der Krönungstage den Klavierlehrer besucht hat, was er durch persönliche Erkundigungen in Moskau erfahren hat. So groß ist Tolstois Eifersucht und Mißtrauen. Sein Gefühl schwankt zwischen Liebe und Haß, Liebe und Verachtung. Ihre Liebelei mit Mortier scheint ihm jetzt ein Umstand, der sich nicht wieder gutmachen läßt, auch nicht durch ihre Beichte und Reue. »Was einmal war, das kommt nicht wieder«, zitiert er wehmütig.

Aus Moskau reist er nach Petersburg, fährt aber fort, Valeria zu schreiben und bekennt, er sei »verliebt in sie, achte sie aber nicht mehr so wie früher«, traue ihr auch nicht mehr, fürchte aber doch, ihre Freundschaft zu verlieren, die ihm teurer sei als alles auf der Welt. Er ist in so bedrückter Stimmung, daß er alles schwarz in schwarz sieht und ihm »das Leben auf Erden traurig, ekelhaft, schlecht« scheint. Das Gefühl, das er Valeria entgegenbringt, sitzt tief, und er bittet sie:

»Um zwei Dinge flehe ich Sie an: mühen Sie sich, arbeiten Sie an sich, denken Sie eifriger, geben Sie sich aufrichtig Rechenschaft über Ihre Gefühle und seien Sie mir gegenüber auf die für Sie unvorteilhafteste Weise aufrichtig. Gestehen Sie mir alles, was an Ihnen schlecht war und ist. Des Guten setze ich auch so schon übergenug in Ihnen voraus ,… Sie sagen, ich sei kalt, sei Verstandesmensch: Gott verhüte, daß Sie all das und so quälend durchmachen, durch fühlen müßten, was ich in diesen fünf Monaten durchgemacht, durch gefühlt habe! Suchen Sie, sich über diesen Brief nicht zu ärgern. Ich scheue mich nicht, mich so zu äußern, wie ich bin, obwohl ich sehr schlecht bin mit dieser Unentschlossenheit, diesen Zweifeln und jeglicher Art von Niedertracht; tun Sie das auch. Die Hauptfrage ist doch, ob wir uns vereinen und einander lieben können. Gerade dazu aber muß man einander alles Schlechte gestehen, damit man weiß, ob man sich damit abfinden kann, und es keinesfalls verheimlichen, um nicht später jähe Enttäuschung zu erleben. Es würde mir weh tun, unendlich weh tun, die Neigung zu verlieren, die Sie für mich hegen, aber es ist immer noch besser, wenn das jetzt geschähe, als sich ewig den Vorwurf der Täuschung zu machen, die zu Ihrem Unglück geführt hat.«

Valerias Briefe an Tolstoi sind zärtlich und liebevoll. Trotz seiner quälenden Erziehungsversuche und Moralpredigten liebt sie ihn. Ihre Briefe rühren ihn und stärken das Gefühl seiner Liebe und der Hoffnung, daß sie ihn verstehen, seine Wünsche und Ratschläge befolgen werde. So schreibt er ihr:

»Ihr Brief läßt mich annehmen, daß Sie mich sowohl lieben als auch beginnen, das Leben ernster aufzufassen, das Gute zu lieben und Genuß an der Selbstbeobachtung und dem stetigen Vorwärtsschreiten auf dem Wege zur Vollkommenheit zu finden. Dieser Weg ist endlos. Er setzt sich auch im jenseitigen Leben fort, er ist schön und der einzige, auf dem man in diesem Leben Glück findet. Gott helfe Ihnen, mein Täubchen, gehen Sie vorwärts, lieben Sie, lieben Sie nicht mich allein, sondern die ganze Gotteswelt, Menschen, Natur, Musik, Dichtung und alles, was in der Welt schön ist, und entwickeln Sie Ihren Verstand, um fähig zu sein, die Dinge zu erkennen, die es wert sind, auf Erden geliebt zu werden. Liebe ist unsere Hauptbestimmung und unser Glück auf Erden.«

Aber statt nach Jasnaja Poljana zu fahren, um alles an Ort und Stelle zu klären, in persönlichem Kontakt, und die Geliebte in die Arme zu schließen, fährt Tolstoi fort, ihr Briefe zu schreiben und teilt ihr mit: »Nach Ihren zwei Briefen, nach der Vorbereitung zum Abendmahl ist – weiß Gott warum! – Erbitterung, darauf Gleichgültigkeit gegen Sie in mir erwacht, die zwei Tage lang anhielt.«

An Tantchen Jergolskaja, die sehr für diese Heirat war, schreibt er: »Das Gefühl, das ich für Valeria hege, ist das des Dankes für ihre Liebe und daneben der Gedanke, daß von allen Mädchen, die ich kannte und kenne, sie die beste Frau für mich wäre, – so wie ich über das Familienleben denke.«

Gleichzeitig aber schreibt er an Valeria, daß er kälter gegen sie werde – was er dadurch erklärt, daß er »ganz in Arbeit« vertieft ist –, wirft ihr vor, daß sie unfähig sei, ihn zu verstehen, und fügt hinzu: »Eins von beiden: entweder müssen Sie sich Mühe geben und mich einholen, oder ich muß zurückwandern, um ein Zusammengehen zu ermöglichen. Ich kann aber nicht zurück, weil ich weiß, daß der Weg vorwärts besser, heller, glücklicher ist. Also jagen Sie mit Postpferden heran. Ich will Ihnen helfen, soviel ich vermag; ruhig und in Liebe (wenn Sie es denn schon so haben müssen) gehen wir dann den Weg bis zu Ende.«

Seine Briefe, in denen er ihr vorwirft, sie reiche an ihn noch nicht heran, in denen er sie aus der Ferne ummodeln will, aus ihrer Jungmädchenschwärmerei ein Verbrechen macht, um derentwillen er sie nicht mehr »achten« könne, empfindet die Zwanzigjährige schließlich als so bedrückend, daß sie sich empört zur Wehr setzt. Sie wirft Tolstoi vor, er wolle sie in die Kleider eines alten Weibleins stecken, während sie ja noch gar nicht gelebt habe, er verlange eine unmögliche Vollkommenheit von ihr und stelle ihr Aufgaben, die in ihren Jahren unerreichbar seien. Alle seine Briefe seien Moralpredigten, ruft sie schmerzlich aus. Zuletzt hält sie diese beständige Geißelung ihrer Liebe nicht mehr aus und verbietet ihm kurz, ihr zu schreiben. Sie bricht mit ihm.

Auch diese Liebe Tolstois endet mit einem Mißerfolg.

Trotz ihres Schreibverbotes erhält Tolstoi aber »zwei Tage vor Neujahr unerwartet einen langen Brief von ihr«, ein klarer Hinweis darauf, wie schwer dem jungen Mädchen der Bruch fiel. Ihr Schreiben ist voller Vorwürfe über seine schulmeisterliche Art und entspringt wohl der Hoffnung, ihm klar zu machen, daß er nicht länger an ihr herumerziehen dürfe, sondern sie so nehmen müsse, wie sie nun einmal sei. Ihr Brief ist zugleich ein Ruf, er möchte nach Jasnaja Poljana zurückkehren, und enthält zwischen den Zeilen das Versprechen, ohne Vorschriften und festgelegtes Programm, alles zu tun, was an ihr liegt, um ihn glücklich zu machen. Tolstoi antwortet:

»Was soll ich Ihnen darüber sagen, wie ich die Zeit meines Schweigens verlebt habe? Langweilig und meistens traurig; warum, weiß ich selbst nicht. Die Einsamkeit ertrage ich schwer, und ein Verkehr mit Menschen ist mir unmöglich. Ich selber bin schlecht, dabei aber gewöhnt, anspruchsvoll zu sein.«

Wir sehen, daß auch ihm der Bruch schwer wird, so sehr, daß ihn drei Tage später ein Weinkrampf überkommt. Aber statt zu Valeria zurückzukehren, unternimmt er die zu einer Auslandsreise nötigen Schritte. Vor der Abreise erhält er von Valeria noch eine Antwort auf sein Schreiben und erwidert ihr:

»Liebe Valeria Wladimirowna! Daß ich mich an mir selbst und an Ihnen versündigt habe, das steht außer allem Zweifel. Was aber soll ich machen? Was ich Ihnen auf Ihr Brieflein antwortete, in dem Sie mir verboten, Ihnen zu schreiben, war ganz richtig, und weiter kann ich Ihnen nichts sagen. Ich habe mich in meinem Verhalten zu Ihnen nicht verändert, ich fühle, daß ich nie aufhören werde, Sie so zu lieben, wie ich Sie geliebt habe, das heißt als Freund, daß ich nie aufhören werde, Ihre Freundschaft über alles in der Welt zu schätzen, denn nie hat mein Herz so an einer Frau gehangen wie an Ihnen.«

Weiter schreibt er, daß er ins Ausland reise und teilt ihr seine Pariser Adresse mit. Ihr Schreibverbot hat die überspannte Eigenliebe des sensiblen Dichters verletzt, der Groll darüber klingt noch nach, und so erklärt er ihr, sein Gefühl zu ihr sei niemals Liebe, sondern nur Freundschaft gewesen. Trotzdem aber läßt er in einer unbestimmten Hoffnung doch noch ein Hinterpförtchen offen, indem er ihr seine Adresse im Auslande mitteilt. An diese Adresse schreibt ihm Valeria noch ein letztes Mal und stellt ihm die Frage, wodurch sein verändertes Verhalten bedingt worden sei. Tolstoi erwidert, daß eigentlich keine Veränderung vorliege und fährt fort: »Ich habe Ihnen immer wieder gesagt, ich wüßte nicht, welcher Art mein Gefühl für Sie wäre, und es hätte mir immer geschienen, als stimme da irgend etwas nicht. Eine Zeitlang, vor meiner Abreise vom Lande, hatten die Einsamkeit, das häufige Zusammensein mit Ihnen, vor allem aber Ihre holde Erscheinung und besonders Ihr Charakter die Wirkung, daß ich nahe daran war, zu glauben, ich wäre in Sie verliebt; doch irgend etwas sagte mir, das wäre nicht das richtige; ich verschwieg Ihnen das auch nicht und fuhr sogar deswegen nach Petersburg. In Petersburg lebte ich sehr zurückgezogen, aber trotzdem: schon der Umstand, daß ich Sie nicht mehr sah, ließ mich erkennen, daß ich nie in Sie verliebt war und es nie sein werde. In diesen Dingen aber irren wäre ein Unglück sowohl für mich als für Sie gewesen. Das ist die ganze Geschichte. Es ist wahr, meine allzu große Offenheit war nicht am Platze. Ich hätte mit mir Versuche anstellen können, ohne Sie mitzureißen; aber da habe ich meiner Unerfahrenheit Tribut gezahlt, das bekenne ich, und ich bitte Sie um Vergebung, und das quält mich; aber man kann mir keine Unehrenhaftigkeit, ja nicht einmal Unwahrhaftigkeit vorwerfen.

Was ist zu machen? Wir haben uns verstricken lassen, aber wir wollen uns bemühen, Freunde zu bleiben. Ich meinerseits wünsche das sehr, und alles, was Sie angeht, wird mir stets sehr nahe gehen ,…«

Nachdem er am 20. Februar diesen letzten Brief an Valeria abgesandt hat, vermerkt er vierzehn Tage später in seinem Tagebuch: »Gestern nacht quälte mich ein jäh erwachter Zweifel an allem. Auch jetzt, obgleich er mich eben nicht quält, sitzt er doch in mir. Warum? Und was ist es? Schon oft hat mir geschienen, daß ich der Lösung dieser Fragen nahe sei; aber nein, ich habe sie nicht durch mein Leben erhärtet.«

Bitterkeit, Enttäuschung, Unzufriedenheit mit seinem bisherigen Leben überkommt ihn wieder. Er meinte, alle Fragen und Zweifel gelöst zu haben, als er Valeria belehrte und das Idealbild eines vollkommenen Lebens vor ihr entwickelte. Und als er nun niemand hat, zu dem er über diese Dinge reden kann, der ihm zuhört, wenn er von seinen Qualen spricht, bricht alles zusammen. Der Grund ist wieder unbefriedigte Sexualität bei ungeheurem Liebesdrang. »Liebe würgt mich, sinnliche und ideale Liebe«, vermerkt er am 12. Mai, als eine andere Frau in sein Leben tritt. Jetzt macht er keinen Unterschied mehr zwischen sinnlicher und idealer Liebe, er hat erkannt, daß in seinem Alter sich das eine nicht vom andern trennen läßt.

In seinem Bestreben, die Geliebte seinem Ideal anzunähern, hat Tolstoi sich und das junge Mädchen »verstricken« lassen, wie er sagt, und ihre flüchtige Liebelei mit dem Musiklehrer, sowie ihre naive Begeisterung über den Glanz der vornehmen Gesellschaft hat ihn erbittert; er war geneigt, in ihr alle Mängel der großen Welt zu sehen, die ihm seinerzeit Seelenfreiheit und moralische Unbefangenheit geraubt hat. Darum erwachte in ihm zusammen mit seiner Liebe zu ihr auch Feindseligkeit und Haß gegen sie.

Und da er seine Liebe zu Valeria noch nicht überwunden hatte und in seinem Unbewußten noch der Hoffnung lebte, daß noch nicht alles zu Ende sei, richteten sich Feindseligkeit und Gereiztheit über die schmerzliche Enttäuschung auch gegen ihn selbst, und ihn quälen Zweifel »an allem«. Diese Zweifel zerstreuten sich erst ganz, als er sein Verhalten gegen Valeria in der Erzählung »Eheglück« gerechtfertigt hat, wo er, um Valerias Unzulänglichkeit nachzuweisen, sie jünger macht als sie war, und ihre Leichtfertigkeit dem Leben, dem Geliebten und der Familie gegenüber übertreibt. Dieses schiefe Spiegelbild seines Erlebens gibt ihm die Ruhe zurück, er fühlt sich gerechtfertigt, die Wunde schließt sich, die ihm die Liebe geschlagen, in deren Verlauf er das aufrichtige Gefühl, das ihm Valeria entgegenbrachte, und ihren inneren Menschen zerpflückt und abgelehnt hat.

Einstweilen sucht er Vergessen im Kunstgenuß, besucht den Louvre, Versailles, Theater und Konzerte, Vorlesungen im College de France und der Sorbonne. Eine öffentliche Hinrichtung, deren Augenzeuge er wird, vertreibt ihn aus Paris; er reist nach Genf.


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