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Verachtung, Haß empfindet Tolstoi gegen die Gesellschaft, wo er »sie« nicht gewonnen hat, und mit dem gleichen Ungestüm, mit dem er einst seinen Erzieher St.-Thomas haßte, der ihn zum Lernen anhielt, während der kleine Leo Heldentaten vollbringen wollte, um Sonetschka Kaloschina oder eine andere »sie« zu erringen, sucht er jetzt nach Wegen, die mehr Erfolg versprechen. Die Sexualität wird durch gleich starke Sensibilität verdrängt, die sich an der Lektüre von schwärmerischen Romanen der Vertreter des Sentimentalismus berauscht, »an denen die empfindsamen Herzen zu Anfang des XIX. Jahrhunderts erzogen wurden«. Tolstoi verschlingt Rousseau, der sein Lieblingsdichter wird; statt des Kreuzes trägt er ein Medaillon mit dem Bilde des verehrten Meisters auf der Brust.
Nach dem Zeugnis seiner Schwester Maria wandte sich Tolstoi nach seiner Ankunft aus Kasan in Jasnaja Poljana vollkommen von jedem gesellschaftlichen Verkehr und vom ›comme il faut‹ ab. Er trug eine Art Schlafrock aus Sackleinwand, berichtet sie, ging in unförmigen Pantoffeln ohne Strümpfe einher und kehrte überhaupt in allem, was sein Äußeres betraf, vollkommene Gleichgültigkeit hervor. »Seine Lieblingsbeschäftigung damals war, irgendwo im Park unter einem Strauch zu liegen, ein paar dicke Lexika unter dem Kopf. Selbst die Anwesenheit von Gästen konnte ihn von diesen Gewohnheiten nicht abbringen. Einst machten einige junge Mädchen einen Besuch in Jasnaja Poljana; die Gesellschaft versammelte sich im Salon. Leo Nikolajewitsch lag oder wanderte irgendwo im Park. Seine Abwesenheit wurde bemerkt, man schickte nach ihm. Er kam in seinem Schlafrock und mit Pantoffeln an den nackten Füßen in den Salon. Als Tantchen ihm über sein unanständiges Aussehen Vorstellungen machte, erwiderte Leo Nikolajewitsch nachdringlich, ja mit einer gewissen Gereiztheit und suchte die ganze Bedingtheit aller ›Anständigkeit‹ nachzuweisen, wobei er über sein seltsames Aussehen nicht im geringsten verlegen war. Damals war er bestrebt, Diogenes ähnlich zu sehen. Seinen Schlafrock hatte er sich so nähen lassen, daß man darin sowohl schlafen als umhergehen konnte. Er ersetzte ihm auch Bettzeug und Decke. Die Schöße waren so lang, daß sie am Tage nach innen geknöpft wurden.«
Jetzt will Tolstoi Diogenes gleichen, Naturphilosoph sein, durch Lebensvereinfachung zur Natur zurückkehren, im Einklang mit Rousseaus Predigt und in Abkehr von der großen Welt. Nun haßt er beinah auch das Weib, bei dem er keine Gegenliebe gefunden hat, trotzdem er »ihretwegen« sich solche Mühe mit dem ›comme il faut‹ gegeben, sich um die beste französische Aussprache bemüht und jeden verachtet hat, der ein weniger elegantes Französisch sprach als er. Damals hatte er alle Menschen gehaßt und verachtet, die ihm nicht ähnlich waren, sich ohne Handschuhe auf der Straße zeigten, oder deren Schuhe zu den Hosen »nicht im richtigen Verhältnis standen«. Gehaßt und verachtet. Seine elementare Natur kannte keine anderen Ausdrucksformen als Liebe oder Haß, Hingabe oder Verachtung. Wenn sein Wesen nicht volltönende Erwiderung findet, so muß es sich eben in Haß ergießen, denn gleichgültig bleiben kann er nicht.
Ganz im Banne drängender Sexualität war er gestern übertrieben gepflegter Stutzer, ist er heute weitabgewandter Philosoph, ein Diogenes in der Tonne, der alles verneint, was der Weltmann bejaht hat. Gestern verachtete er jeden, der keine Handschuhe trug, heute trägt er selbst nicht einmal Strümpfe. Statt in einer Generalsuniform steckt er in einem Schlafrock aus Sackleinwand. Gestern überfeinerter Aristokrat, heute Naturkind, dem der unförmige Schlafrock zugleich als Kleidung und Bettzeug dient. Aber sowohl hier wie dort das Bestreben, aus der Menge hervorzustechen.
Gestern Graf, heute Bettler, Pilger, Gottesnarr. Die Gestalten dieser fahrenden Leute, die suchen, sich mit dem Leben auszusöhnen und eine Rechtfertigung ihrer Leiden zu finden, den Heiligen und Märtyrern gleich, leben fort in seinem Innern. Und hier, im Vaterhaus, ersteht seine Kindheit wieder vor ihm, als er noch nicht Graf Tolstoi, sondern der kleine Ljowotschka war. Seine leidenschaftliche Natur weiß nichts von der goldenen Mitte, entweder Liebe oder Haß, glänzender Kavalier oder Bettelphilosoph, später – Bauer. Alles andere ist für ihn nicht vorhanden, weder im Reich des Gefühls noch auf sozialem Gebiet. Der Pendel seiner Sexualität und Sensibilität schwingt zwischen zwei äußersten Polen hin und her, ohne je in der Mitte zu verweilen. Das ist das Wesen seiner Genialität, gleich stark in Sexus und Eros. Und der Mittelpunkt, um den sich alles dreht, ist »sie«.
»Sie« erfüllt sein ganzes Wesen, wird zur Grundlage seines Denkens und Weltempfindens. In »Jugendjahre« berichtet er aufs eindringlichste von den Sehnsuchtsträumen nach »ihr«
»Liebe zu ihr, einer Frau, die nur in meiner Vorstellung lebte, von der ich immer auf gleicher Weise träumte und die ich jeden Augenblick irgendwo zu treffen hoffte. Bei Vollmond saß ich oft ganze Nächte auf meiner Matratze (er schlief damals auf der Veranda des Gutshauses), beobachtete Licht und Schatten, horchte auf das Schweigen und die Laute der Nacht, und träumte allerlei, vor allem von einem poesieumhauchten wollüstigen Glück, das mir damals als höchstes Lebensglück erschien. Ich legte mich auf mein Lager, blickte in den Garten, lauschte den Tönen der Nacht, und träumte von Glück und Liebe.
Dann bekam alles für mich einen anderen Sinn: das Bild der alten Birken, die auf der einen Seite sich mit ihren krausen Zweigen schimmernd vom monddurchwebten Himmel abhoben, auf der anderen Buschwerk und Weg düster in schwarze Schatten hüllten; das ruhige, prunkvolle, gleichmäßig wie ein Laut ansteigende Funkeln des Teiches; das Glitzern der Tautropfen auf den Blumen vor der Veranda, die auch ihre anmutigen Schatten quer über das schmale Beet warfen; der Ruf der Wachtel jenseits des Teiches; die Stimme eines Menschen von der Landstraße her; das leise, kaum hörbare Knarren zweier alter Birken, die sich gegeneinander rieben; das Summen einer Mücke dicht an meinem Ohr unter der Decke; das Fallen eines Apfels, von einem Ast aufgehalten, auf trockenes Laub; die Sprünge der Frösche, die sich zuweilen bis an die Verandatreppe verirrten und deren grüne Rücken merkwürdig geheimnisvoll im Mondlicht glänzten, – all das gewann einen seltsamen Sinn für mich: den Sinn einer überwältigenden Schönheit und eines in sich noch nicht vollendeten Glückes.
Und dann erschien »sie«, mit langem schwarzem Zopf, hoher Brust, immer traurig und schön, mit nackten Armen, mit wollüstigen Umarmungen. Sie liebte mich, ich gab für einen Augenblick ihrer Liebe mein ganzes Leben hin.
Der Mond aber stand immer höher und höher, immer heller und heller am Himmel; das prunkvolle Funkeln des Teiches, das gleichmäßig anstieg wie ein Laut, wurde stärker, die Schatten schwärzer und schwärzer, der Lichtschein klarer und klarer, und während ich in all das hineinsah und hineinlauschte, sagte etwas in mir, daß auch »sie« mit den nackten Armen und den flammenden Umarmungen längst noch nicht alles Glück, daß auch die Liebe zu »ihr« längst noch nicht alles Heil sei, und je länger ich auf den hohen Vollmond sah, umso höher und höher erschienen mir wahres Glück und Heil, umso weiter und reiner, näher und näher zu Ihm, dem Quell aller Schönheit und allen Heils, und die Tränen einer unerfüllten, erregenden Freude traten mir in die Augen.
Und immer noch war ich allein, und immer schien es mir, daß diese geheimnisvolle, erhabene Natur, diese lockende Mondscheibe, die an einer hohen, unbestimmten Stelle des blaßblauen Himmels scheinbar stehengeblieben und zugleich doch überall war und gleichsam den ganzen grenzenlosen Raum erfüllte, und ich, der armselige Wurm, bereits mit all den kleinlichen, kläglichen Leidenschaften der Menschen behaftet, aber auch von der unendlichen Macht der Phantasie und der Liebe erfüllt, immer schien es mir in diesen Augenblicken, als wären die Natur, der Mond und ich ein einheitliches Ganzes.«
Im Liebeshunger, der höchsten Anspannung der Menschenkräfte, gehen wir in der Natur auf, voller Rührung und Andacht und Begeisterung über »sie«. Allein durch »sie« erkennen wir unsere Einheit mit der Natur, allein der Drang, uns in der Natur aufzulösen, weckt die Sehnsucht nach der Liebe des Weibes, um durch sie die Natur zu erkennen. »Sie« ist die Mittlerin zwischen uns und der Natur. Je mächtiger der Geschlechtstrieb eines Menschen ist, desto schärfer ausgeprägt und vollkommener ist sein Naturempfinden, desto unmittelbarer erlebt er in seinem allumfassenden Gefühl die Menschen- und Gotteswelt, deren Mittelpunkt »sie« ist; darum wird »sie« vergöttert, wie auch das Gefühl zu »ihr« und durch »sie« zur Natur.
Durch »sie« erkennen wir die Welt, mit der zusammen »sie« und »Er« ein Ganzes bilden. In ihrem Gefühl vereinigen sie sich mit der Natur, die sie in sich tragen und in die sie sich verströmen, »Ihn« als »Quell aller Schönheit und allen Heils« empfindend.
Darum ist nach dem Dichter die Sehnsucht nach »ihr«, ist »sie« mit den nackten Armen und wollüstigen Umarmungen noch längst nicht alles Glück, die Liebe zu ihr noch längst nicht alles Heil, aber durch »sie« erhebt er sich immer höher und höher, immer näher und näher zu »Ihm«. »Sie« ist in »Ihm«, also in der ganzen Welt, im ganzen All, und da er »Ihn« zugleich auch in sich spürt, treten ihm Tränen einer unerfüllten aber erregenden Freude in die Augen. »Und weiß Gott, auf welche Weise ihm plötzlich die klare Erkenntnis kam, die seine ganze Seele erfüllte, die er mit Freuden aufgriff, die Erkenntnis, daß Liebe und das Gute Wahrheit und Glück ist, und zwar die einzige Wahrheit und das einzig mögliche Glückauf Erden.«
Ein Mensch, dessen Liebe erwidert wird und ihn ganz erfüllt, ist aller Erdenschwere bar, spürt ihre Last nicht und aus dem Empfinden der Leichtigkeit und Befriedigung heraus ist er gut. Wenn ich glücklich bin, wenn ich mich frei und unbeschwert fühle, bin ich gut und wünsche jedem, daß er sich ebenso fühlen möge. Aus der Liebe ersteht das Gute, und nur der Liebende kann es wirken. Liebesverlangen ist allem Leben gemeinsam, und befriedigtes Liebesverlangen ruft Dankbarkeit allem Leben gegenüber hervor; dies, das Gefühl beglückter Dankbarkeit ist es, worauf es ankommt.
Der Überschuß, den ein Herz voller Liebe ausströmt, ist das Gute; sonst könnte es ja nirgends herkommen. Wir mögen noch so sehnsüchtig bestrebt sein, das Gute zu wirken – dieses Gefühl entspricht der Sehnsucht nach Liebe –, aber solange wir nicht wirklich lieben, werden unsere sehnenden Bemühungen fehlschlagen, sie mögen noch so leidenschaftlich sein; Liebesüberschuß allein ist das Gute. Das empfand Tolstoi, und »auf solche Weise«, durch solche Empfindungen und Gefühle kam ihm die klare Erkenntnis, daß Liebe und das Gute Wahrheit und Glück ist, und zwar die einzige Wahrheit und das einzig mögliche Glück auf Erden.
Das Gute ist ohne Liebe nicht erreichbar. Tolstoi wollte das Gute, sowie er Liebe »wollte«. Die Sehnsucht nach Liebe ruft unstillbare Sehnsucht nach dem Guten hervor, aber die ungestillte Liebe führt auf Irrwege, und so befriedigte das Gute, das zu tun er bemüht war, ihn selbst nicht.
Der Sehnsucht nach Liebe entsprang die Sehnsucht nach dem Guten. Sie wird zum Mittelpunkt von Tolstois Weltempfinden und in der Intensität seiner Liebessehnsucht »körperlos«. In der Novelle »Nach dem Ball« bekennt er: »Je leidenschaftlicher ich verliebt war, desto unkörperlicher wurde sie für mich.«
Im Lieben lernt er den erhebenden Einfluß der Liebe kennen; er fährt fort: »Ich war nicht nur fröhlich und zufrieden, ich war glücklich, selig, ich war gut, ich war nicht mehr ich, ich war ein anderes, überirdisches Wesen, das das Böse nicht kannte und nur zu Gutem fähig war. Wie aus einer Flasche nach dem ersten sickernden Tropfen der Inhalt plötzlich in starken Strömen herausfließt, so hatte auch in meiner Seele die Liebe meine ganze Fähigkeit zu lieben frei gemacht. Ich umfaßte damals die ganze Welt in Liebe ,… Ich fragte weder sie noch mich selbst, ob sie mich wohl auch liebe. Es genügte mir, daß ich sie liebte. Und ich fürchtete nur eins: daß irgend etwas mein Glück zerstöre.«
Da sein Gefühl unerwidert bleibt, keinen Ausfluß findet, richtet es sich auf sich selbst, sucht Entspannung in der Selbstbefriedigung, das heißt in der »Liebe zur Liebe«. Sein ungeheures Liebesverlangen ist gezwungen, sich mit den eigenen Empfindungen zu begnügen, wodurch der Gegenstand, auf den es gerichtet ist, zu einem »unkörperlichen« Wesen wird. So genügte es ihm, daß er sie liebte, denn in seiner Liebe zu ihr war er gut, umfaßte er die ganze Welt, jedes Lebewesen, insbesondere alle Menschen in Liebe. Verzückt fährt er fort:
»Ein mir neues, überwältigendes und wohltuendes Gefühl erfüllte plötzlich meine Seele. Die nasse Erde, aus der hier und da wie Nadeln hellgrünes Gras mit gelben Stengeln hervorsproß; die im Sonnenlicht glitzernden Wasserbächlein, die Erdklümpchen und Holzspäne mit sich fortrissen; die rötlich schimmernden Zweige des Fliederbusches mit den geschwollenen Knospen, die dicht vor dem Fenster auf und ab wippten; das eifrige Zwitschern der Vögel, die in diesem Busche geschäftig hin und her hüpften; der vom schmelzenden Schnee naßschwarze Zaun; vor allem aber diese würzige, feuchte Luft und der heitere Sonnenschein, – alles sprach mir deutlich und klar von etwas Neuem und Schönem. Ich kann es zwar nicht so wiedergeben, wie es sich mir offenbarte, will aber versuchen, es so auszudrücken, wie ich es aufnahm: alles sprach zu mir von Schönheit, Glück und Tugend, sprach davon, daß das eine wie das andere für mich leicht erreichbar und möglich sei, daß das eine nicht ohne das andere sein könne, ja, daß Schönheit, Glück und Tugend ein und dasselbe sei. ›Wie konnte ich das so lange nicht begreifen! Wie schlecht war ich früher, wie gut und glücklich könnte ich sein und will es in Zukunft auch sein!‹ sagte ich zu mir. ›Ich muß schnell, schnell, noch in diesem Augenblick ein anderer Mensch werden und ein neues Leben beginnen‹.«
Tolstoi erlebt Liebe und Natur religiös. Dieses religiöse Weltempfinden ist bei solchen Titanenmenschen etwas Elementares und darum ist ihnen auch ihr Aufgehen in der Natur, ihre Hingabe an die Naturgewalten, vor allem in der Liebe und dem Geschlechtsakt, heilig, weshalb dieser ohne Liebe und Gegenliebe nicht ungestraft vor sich gehen kann.
Darum empfindet Tolstoi den Geschlechtsakt ohne gegenseitige Liebe als eine Entwürdigung seines Menschentums, die sein ganzes Wesen in Aufruhr bringt. Statt der Gegenliebe der Sinaida Molostwowa oder eines anderen jungen Mädchens lernte Tolstoi unter dem Einfluß seiner Brüder und der Kameraden in Kasan käufliche Liebe kennen.
»Als meine Brüder mich zum ersten Male in ein Freudenhaus brachten und ich den Akt vollzogen hatte, stand ich danach am Bett jenes Weibes und weinte.«
Aus diesen Worten wird Tolstois innere Keuschheit besonders klar erkenntlich. Die tiefe Erschütterung hat sich in das empfängliche Gemüt des Jünglings, der mit seinen sechzehn Jahren fast noch ein Knabe war und von seiner idealen Liebe träumte, unverlöschlich eingeprägt. Die Sinneslust, die er in der Gestalt der Selbstbefriedigung bereits zwei Jahre vorher kennengelernt hatte, zog ihn ebenso mächtig an, wie sie ihn erschreckte und abstieß; er bekennt:
»Als ich mit vierzehn Jahren das Laster des Sinnengenusses kennenlernte, war ich entsetzt. Mein ganzes Wesen strebte ihm zu, und mein ganzes Wesen schien ihm zu widerstreben.«
Schon in den Kindheitsjahren war er verträumt, exaltiert, rührselig und litt unter Anfällen von empfindsamen Tränenergüssen, Weinkrämpfen – ein Zeichen früh erwachter Sinnlichkeit, die nach einem Ausweg suchte. »Aber in meinem vierzehnten Jahr, seitdem sinnliche Leidenschaft in mir erwacht war und ich dem Laster frönte, verging das alles (das heißt die grundlosen Anfälle von Weinkrämpfen), und ich war ein Knabe wie andere auch. Ich wuchs auf wie wir alle, gewöhnt an fette, überreichliche Nahrung, verzärtelt, ohne körperliche Arbeit, unter dem Einfluß aller nur erdenklichen Reizmittel zur Entflammung der Sinnlichkeit, im Kreise ebensolcher verdorbener Kinder, hatte von Knaben meines Alters das Laster kennengelernt und mich ihm ergeben. Später trat an die Stelle dieses Lasters ein anderes: ich lernte die Weiber kennen. Und so, Genuß suchend und Genuß findend, lebte ich dahin ,…«
Tolstoi ist bekümmert über seinen Fall, er vergießt heiße Tränen, weil die erste Frau, die sich ihm hingab, nicht die war, von der er so sehnsüchtig geträumt hatte. Das ersehnte Traumbild – »Und dann erschien ›sie‹, mit langem, schwarzem Zopf, hoher Brust, immer traurig und schön, mit nackten Armen, mit wollüstigen Umarmungen; sie liebte mich, ich gab für einen Augenblick ihrer Liebe mein ganzes Leben hin« –, diese Sehnsuchtsgestalt ist für immer geschändet durch den Fall, wenn es zu diesem auch nur darum kam, weil man ihm »gesagt hatte, daß es lächerlich sei, enthaltsam zu leben«, und so gab er »mitleidlos die Blüte seiner Seele, seine Unschuld, einem käuflichen Weibe hin«. Und er fährt fort: »Ja, um keinen der abgetöteten Teile meiner Seele ist es mir so leid, wie um die Liebe, zu der ich so befähigt war. Ach, Gott! Hat wohl je ein Mensch so geliebt, wie ich liebte, als ich das Weib noch nicht kannte!«
Sein Traumbild von dem schönen, traurigen Mädchen, mit dem schwarzen Zopf und der hohen Brust, das sich in all ihrer Reinheit leidenschaftlich dem Geliebten, ihm hingibt, ist auf immer zerstört; er bricht in Tränen aus, weint den holden Träumen seiner Jugend verzweifelt nach. Aber die Hüllen sind nun einmal gefallen, und der mächtige Drang fordert von nun an immer wieder seine Rechte, auch ohne Liebe, obwohl Tolstois innerstes Wesen »dem Laster widerstrebte«.
Doch auch im Fall bleibt Tolstoi Mensch. Sein früherer Diener berichtet von folgendem Erlebnis seines Herrn, das dieser ihm erzählt hat:
»Ich (Tolstoi) war in Kasan mit meinem Freunde Djakow. Wir kamen mit einem noch ganz jungen, aber bereits verlorenen Mädchen zusammen, und sie erzählte uns von ihrem unglücklichen Leben. Es war ein hübsches, gescheites Mädchen. Da sagte ich zu ihr: ›Wenn du willst, kaufe ich dich los, dann bist du wieder frei; sei fleißig und ernähre dich durch redliche Arbeit‹. Sie war einverstanden und begann mir zu danken. Ich aber antwortete: ›Es ist nicht des Dankes wert, ein Unglück kann jedem zustoßen, und wir alle müssen einander helfen.‹ Aber am zweitnächsten Tage, als wir sie wiedersahen, brach sie in Tränen aus und sagte: ›Nein, geben Sie sich mit mir keine Mühe, denn ich fühle jetzt, daß ich zu keinem anderen Leben fähig bin‹. Und so gelang es mir nicht, sie zu bewegen, zu einem rechtschaffenen Leben zurückzukehren.«
Die Anteilnahme des »gefallenen« Tolstoi an dem gefallenen Geschöpf ist leicht begreiflich, sein »Fall« an sich aber noch in einer anderen Hinsicht bedeutsam. Die Verzweiflung, die Reue, der Ekel, die der Sechzehnjährige darüber empfand, trugen mit dazu bei, daß er der vornehmen Gesellschaft, in der er sich nicht hatte zur Geltung bringen können, in der seine Liebe unerwidert geblieben war, die ihn schließlich durch ihr Beispiel, durch ihre laxe Moral zu dem Verkehr mit Freudenmädchen getrieben hatte, daß er dieser Gesellschaft den Rücken kehrte, sich in die ländliche Einsamkeit zurückzog und die Kreise, in denen ihm all das zugestoßen war, »die große Welt« mit ihren Bedingtheiten, ihrer Heuchelei, ihrer Arbeitsscheu, ihrer Bereitschaft, Schein für Sein zu nehmen, zu hassen und zu verachten begann, Gefühle, die sich von Jahr zu Jahr steigerten.
Im Tagebuch von 1900 vermerkte er:
»Ich dachte an meine Kindheit und Jugend. Mir sind keinerlei ethische Grundsätze eingeflößt worden, keinerlei; die Erwachsenen rings um mich aber rauchten, tranken, frönten dem Laster (letzteres am meisten), ließen Menschen prügeln und forderten Arbeit von ihnen, und taten all das mit vollkommener Selbstverständlichkeit. Und viel Schlechtes habe ich getan, ohne es zu wollen, bloß um es den Erwachsenen gleich zu tun.« Er wollte nicht zurückstehen vor den übrigen, nicht über die Achsel angesehen werden von ihnen, zu denen er seiner Geburt und Stellung nach gehörte.
Verletzt, gebrochen sucht er die Wunden, die ihm das Leben in der großen Welt geschlagen, durch die schwärmerische Naturphilosophie Rousseaus und Selbstvervollkommnung zu heilen. Das Sexuelle liegt im Kampf mit dem Sozialen, da es keinen normalen Ausfluß gefunden hat und sich neue Wege sucht.