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Nr. 67
[Stempel: Liboch – 5. 2. 19]
Liebe Ottla, es war also nur der eine Abend, er wird wiederkommen, aber ich fürchte nicht für Dich. Zu Deinem Brief schreibe ich nächstens, heute nur zu Deiner Anfrage wegen der Redeübung, weil das eilt. Also was ich im Augenblick, aufs Geratewohl, vorläufig sagen kann: Zunächst scheint es mir als Vorbereitung für die Redeübung die unglücklichste Geistesverfassung, wenn man »aus meinem Kopf allein nichts nützliches fertig bringen« zu können glaubt. Das ist doch ganz und gar falsch, Du hast einfach etwas derartiges noch nicht gemacht und deshalb zögerst Du; wagst Du aber den Sprung über Deinen Schatten – etwas ähnliches ist jedes selbstständige Denken – wirst Du ausgezeichnet hinüberkommen, trotzdem es eine nachweisbare Unmöglichkeit ist.
Ich sehe zwei Hauptmöglichkeiten von Vortragsthemen für Dich, sehr persönliche und sehr allgemeine, wobei natürlich die erstem auch allgemein, die letzteren auch persönlich sind und ich diese Einteilung überhaupt nur mache, um Dir vielleicht einen ersten Einblick zu verschaffen, nach dem Du ganz selbstständig das für Dich Passende herausholen kannst.
Die sehr persönlichen Themen sind gewiß die verdienstvollsten schon weil sie die ergiebigsten und kühnsten sind. Sie sind insofern nicht die schwierigsten, weil sie wenig Studium sondern nur Nachdenken voraussetzen, sind aber doch die schwierigsten, weil sie ein fast übermenschliches Maß von Zartheit, Bescheidenheit und Sachlichkeit (und wahrscheinlich noch anderes, was mir gerade nicht einfällt) verlangen.
Ein solches Thema wäre z. B. »Mädchen unter Jungen« soweit es sich auf die Friedländer Schule bezieht. Du hättest Deine und als Hinterlassenschaft der F., ihre Erfahrungen darzustellen, in Folgerungen, die Du daraus ziehst, Dich zu wehren oder zu beschuldigen, Gutes und Schlechtes zu sondern, Mittel zu suchen, das Erste zu stärken, das Zweite zurückzudrängen u.s.w. Zeitgemäß wäre der Vortrag als Vortrag des ersten Mädchens im ersten Jahr der allgemeinen Zulassung der Mädchen zum Studium, besonders da diese Zulassung jetzt wahrscheinlich überall dauernd und grenzenlos sein wird. Förster könnte Dir bei dem Vortrag helfen.
Ein zweites Thema dieser Art, nur noch heikler, wäre »Schüler und Lehrer« wieder nur hinsichtlich Deiner Schule. Es wären Deine Erfahrungen als Schülerin, eine Art Versöhnungsfest zwischen Schülern und Lehrern. Also Aufzählung dessen wovon Du und Deiner Beobachtung nach andere den größten Vorteil beim Unterricht gehabt haben, welche Methoden vorzüglich, welche gut und welche nicht ganz gut waren und wie und mit welchen, vorzüglichen, guten und weniger guten Methoden die Schüler sich demgegenüber verhalten haben. Immer möglichst viel Tatsachen, möglichst viel Wahrheit, möglichst wenig Selbstgerechtigkeit.
Ein drittes Thema, weniger heikel und noch persönlicher: »Meine Vorschulerfahrungen bei einer Wirtschaftsführung«. Die Zürauer Erfahrungen, also etwa: warum Du aus der Stadt fort mußtest, wie der Stand der Wirtschaft bei der Übernahme war, was für Fehler Du machtest, wo Dir die Schule fehlte, wo sie Dir nicht fehlte, was Du an den Bauern bewundertest und nicht bewundertest, wie Du Dich jetzt zu diesen Bewunderungen stellst, was für Erfahrungen Du mit Deinen Untergebenen machtest, worin Du es zu leicht hattest, worin zu schwer, in welchem Zustand Du die Wirtschaft übergabst.
Dann gibt es mittlere Themen nicht sehr persönlich, nicht sehr allgemein; die sind meiner Meinung nach die unratsamsten, man gerät dabei zu leicht in Allgemeinheiten, aber dagegen kann man sich ja wehren. So wären die von Dir vorgeschlagenen reinen Försterthemen, so auch das unendliche allerdings viel weniger allgemeine Thema des Judentums, dem Du aber gerne ausweichen wirst. (»Die Heirat Deiner Schwester geht mir nicht aus dem Kopf« schreibt mir heute Max) Dann aber z.B. noch ein ausgezeichnetes Thema: »Die Zukunft der Absolventen, die nicht selbstständige Landwirte sind« da wäre über Stellenvermittlung zu sprechen, Inseratenwesen, Prüfungen, Siedlungsgenossenschaften u.s.w. Da man jedenfalls sich wegen des Vortrags mit dem Lehrer beraten kann, Bücher von ihm zu dem Zweck ausleihen kann u.s.w. so hättest Du eine gute Gelegenheit anläßlich dieser sachlichen Beratungen Dich auch über Deine Zukunft deutlicher mit den Herren, etwa auch mit dem Direktor (über den Du übrigens eine scheinbar sehr richtige Bemerkung machst) zu unterhalten.
Schließlich kämen die allgemeinen Themen, die ja wohl nur Berichte über Bücher sein könnten, da würde ich vor allem Damaschke »Bodenreform« das gewiß dort zu haben ist, empfehlen.
Jedenfalls aber braucht die Vorbereitung eines solchen Vortrages, sei er auch ganz klein, viel Zeit. Laß ihn möglichst weit verschieben und schreib mir noch darüber. Alles Gute!
Franz
Nr. 68
[Stempel: Liboch – 20. II. 19]
Liebste Ottla, zunächst sehe ich aus dem letzten Briefumschlag, daß Deine Buchführung wieder in Ordnung ist. Das vorletzte Kouvert trug nämlich die Nummer 17, also eine offenbare Verwechslung der Konti. Das sollte nicht vorkommen. Das Äußere der Vorträge habe ich mir nicht viel anders vorgestellt, als Du es beschreibst, allerdings hatte ich angenommen, daß der Vortragende gewöhnlich anwesend ist. Unter den Themen hast Du glaube ich gut gewählt, führ es nun aber auch aus. In Deinem Brief schwimmt der Vorsatz, es zu tun, schrecklich unsicher herum, jeden Augenblick glaubt man, er ertrinkt endgültig. Und ich wäre so stolz auf Dich, wenn Du es machen würdest. Und wenn Du es machst, gelingts auch das ist sicher. Allerdings müßtest Du Dich sehr viel damit beschäftigen, das könnte aber zum größten Teil ganz gut auf Spaziergängen geschehn. Als Vorbild für den Vortrag nimm Dir statt der Redeübung in der Schule lieber die Vorträge im Verein, der wirklich eine ausgezeichnete Einrichtung zu sein scheint. So ausgezeichnet allerdings, daß er auch Stellen vermittelt, scheint er aber nicht zu sein. (Nebenbei: dieses überschriebene »aber« ist ganz interessant, es ist offenbar wie auch das Mit-Bleistift-schreiben eine Nachahmung Deiner Art, so wie ich schon früher z. B. in Deinen Briefen Wendungen gefunden habe, die sich auffällig oft wiederholten von Brief zu Brief und, trotzdem sie ganz gutes Deutsch waren, doch und besonders in ihrer Wiederholung ungewöhnlich und fast gesucht klangen, nicht das ausdrückten, was sie sagen wollten und doch einen guten, sichern, bloß nicht auffindbaren Untergrund hatten. Eigentlich habe ich es erst bei Deinem vorletzten Brief erkannt, daß es ganz gewiß Übersetzungen aus dem Tschechischen sind und zwar richtige Übersetzungen [nicht so wie letzthin einmal der Vater dem Herrn D. von irgendjemandem erzählte, mit dem er »na přátelské noze stojí«] die sich aber das Deutsche aufzunehmen weigert, allerdings soweit ich, ein Halbdeutscher, es beurteilen kann)
Das Inserat in der Zeitung ist freilich nicht schön, es stört geradezu mein Weltbild, nun wäre man also einer Adjunktenstellung seinen Kenntnissen nach würdig, also für die Welt unbedingt unentbehrlich, kann aber keine Arbeit bekommen. Damit stimmt ja übrigens auch überein, daß in unserer Anstalt, soviel ich weiß, 2 Beamte sind, die früher Adjunkten waren (der Romeo und noch ein anderer ganz ausgezeichneter Mann) und daß beide glücklich sind, Beamte geworden zu sein, während man doch sonst viel eher, schon aus Redegewohnheit, jeden Tausch beklagt. Dagegen ist allerdings zu halten, daß der Adjunkt des Hausfreunds ein sehr fröhlicher Mann war und bis heute Adjunkt geblieben ist. Schließlich ist dagegen auch die »Bodenreform« zu halten. (Das Buch von Damaschke haben sie bei Euch nicht?)
– Eben habe ich vor meinem Balkon ein landwirtschaftliches Gespräch gehört, das auch den Vater interessiert hätte. Ein Bauer gräbt aus einer Grube Rübenschnitte aus. Ein Bekannter, der offenbar nicht sehr gesprächig ist, geht nebenan auf der Landstraße vorüber. Der Bauer grüßt, der Bekannte in der Meinung, ungestört vorbeigehn zu können, antwortet freundlich: »Awua«. Aber der Bauer ruft ihm nach, daß er hier feines Sauerkraut habe, der Bekannte versteht nicht genau, dreht sich um und fragt verdrießlich: »Awua?« Der Bauer wiederholt die Bemerkung. Jetzt verstehts der Bekannte, »Awua« sagt er und lächelt verdrießlich. Weiter hat er aber nichts zu sagen, grüßt noch mit »Awua!« und geht. – Es ist hier viel zu hören vom Balkon.
Wie willst Du den Posten suchen und warum mußt Du vorher mit der Mutter sprechen? Ich verstehe das nicht ganz. Daß Du gelegentlich einer aus anderem Grund zu machenden Prager Reise mit der Mutter darüber sprechen würdest, könnte ich verstehen. Auch daß der Vater immer gut gelaunt ist, wäre noch kein großer Grund, besonders da es wahrscheinlich nur ein Gerücht ist. Ich bleibe zumindest noch 3 Wochen hier, solange mein neuer Urlaub reicht, werde also nicht in Prag sein. Jedenfalls könntest Du aber in Prag die gleichen Leute abgehn, bei denen Du wegen der Schule warst. Also Herrn Klein, der Dich vielleicht dem Herrn Zuleger vorstellen könnte, dann Herrn Oberinspektor (Smichow Zizkagasse 30) dann Deinen Landeskulturratsfreund.
Das Buch ist sehr verlockend, aber schick es mir nicht her. Vor 8-10 Tagen bekäme ich es nicht, in 3 Wochen bin ich wahrscheinlich in Prag und außerdem habe ich merkwürdigerweise hier wenig Zeit. Außerdem kann ich nicht viel von Büchern erwarten, viel mehr von einer Schule, am meisten aber von Not, vorausgesetzt daß man noch Kraft hat, dort wo es nötig ist ihr zu widerstehn. Aber laß das Buch, wenn Du kannst, in Prag für mich liegen. Ist es denn besser als der »Pflug«? Und sind nicht vielmehr alle diese Bücher ausgezeichnet, wenn sie von ausgezeichneten Schülern in die Hand genommen werden?
Daß Du Maxens Bemerkung lange nicht aus dem Kopf bekamst, wundert mich eigentlich. Es ist doch keine fernliegende, sondern eine selbstverständliche Bemerkung, die Du doch selbst schon tausendmal gemacht haben wirst. Daß Du etwas außerordentliches tust und daß das Außerordentliche gut zu tun eben auch außerordentlich schwer ist, weißt Du. Vergißt Du nun aber niemals die Verantwortung so schweren Tuns, bleibst Dir bewußt, daß Du so selbstvertrauend aus der Reihe trittst, wie etwa David aus dem Heer und behältst Du trotz dieses Bewußtseins den Glauben an Deine Kraft, die Sache zu irgendeinem guten Ende zu führen dann hast Du – um mit einem schlechten Witz zu enden – mehr getan, als wenn Du 10 Juden geheiratet hättest
Franz
Nr. 69
[Stempel: Liboch – 24. II. 19]
Aber Ottla was sollte ich denn gegen die Reise haben, im Gegenteil, diese jederzeitige und sofortige Reisebereitschaft ist ausgezeichnet. Nur die Begründung hat mir gar nicht gefallen, weil es keine war. Was soll mit der Mutter über einen Posten gesprochen werden, den Du nicht hast, es wäre denn daß Du mit der Mutter darüber sprechen wolltest, daß Du keinen Posten suchen willst. Aber Du willst doch einen Posten suchen. Oder doch nicht? Auch die Laune des Vaters war mir ein zu merkwürdiger Grund, besonders da sie vom Fräulein beobachtet war, zu der er immer freundlich ist und hinter der er donnert, wenn sie die Tür schließt oder gar offen läßt. Und daß schließlich das Leben kurz ist, spricht nicht weniger für die Fahrt, als gegen sie. Das waren die Gründe; wenn Du aber sagst daß Du fährst, weil Du Dich freust, alle und einen wiederzusehn, so habe ich natürlich gegen die Reise gar nichts, besonders wenn Du mir dafür bürgen kannst, daß die Vorfreude, die Reise und die Nachtrauer nicht die kleinste Mitschuld daran haben wird, wenn Du den Vortrag nicht zustande bringst. Den Direktor scheinst Du sehr gut zu beobachten, aber nach Deinen Ergebnissen scheint von der Unterredung wirklich nicht viel zu erwarten zu sein. Solchen Menschen kommt man vielleicht besser als durch feierliche Unterredungen dadurch bei, daß man die Sache, um die es sich handelt, lieber nur nebenbei erwähnt, aber nicht einmal, sondern 25 mal und bei den unerwartetesten Gelegenheiten. Die Hauptvoraussetzung des Gelingens ist allerdings, daß er überhaupt, auch wenn er den Willen hätte, helfen kann.
Hier ist jetzt auch sehr warm und schön, noch jetzt gegen Abend sitze ich ohne Decken auf der Veranda und gemittagmahlt habe ich bei offenem Fenster im Sonnenschein. Unten vor dem Fenster, Meta und Rolf, die Hunde, die auf mein Erscheinen oben mit den Resten des Essens gewartet haben, wie die Leute auf dem Altstädter Ring die Apostel erwarten.
Letzthin habe ich wieder allerdings mittelbar von Dir geträumt. Ich führte in einem Kinderwagen ein kleines Kind herum, dick, weiß und rot (das Kind eines Anstaltsbeamten) und fragte es, wie es heißt. Es sagte: Hlavatá (Name eines andern Anstaltsbeamten) »Und wie mit dem Vornamen?« fragte ich weiter. »Ottla« »Aber« sagte ich staunend »ganz so wie meine Schwester. Ottla heißt sie und hlavatá ist sie auch«. Aber ich meinte das natürlich gar nicht böse, eher stolz.
Was Max betrifft, so dachte ich nicht an eine bestimmte Bemerkung, sondern an alle zusammen und ihren gemeinsamen Grund. Er meint doch (abgesehen davon, daß er darin auch noch einen Verlust des Judentums und Dein Verlieren des Judentums für Dich und die Zukunft beklagt, aber darin sehe ich nicht genug klar) daß Du etwas außerordentliches, etwas außerordentlich schweres tust, das Dir aber natürlich auf der einen Seite, der Herzensseite, sehr leicht fällt, so daß Du das Außerordentliche auf der andern Seite übersiehst. Das nun glaube ich aber nicht und habe deshalb keinen solchen Grund zu klagen.
Grüß alle in Prag von mir und mach bitte durch richtige für den einzelnen Fall passende Bemerkungen das gut, was ich durch ungenügendes oder Nichtschreiben schlecht gemacht habe.
Dein Franz
Nr. 70
[Postkarte]
[Stempel: Liboch – 27. II. 19]
Liebe Ottla, Sonntag zwischen 2 und 3 Uhr erwartet Dich Frl. Olga Stüdl in ihrer Prager Wohnung am Radetzkyplatz. Je pünktlicher Du bist, desto besser, desto empfehlender. Sie hat zwei, allerdings noch fast vollständig unsichere Anstellungsmöglichkeiten für Dich, eine davon bei ihrer Tante, deren Mann vorgestern gestorben ist, und die außer andern riesigen Dingen auch ein riesiges Gut hat. Damit der Empfehlungsbrief Frl. Stüdls überzeugter begründet ist, habe ich ihr vorgeschlagen, sie möge mit Dir selbst sprechen. Sag ihr also ausführlich, was Du kannst und willst. – Es ist nun freilich nicht ganz ausgeschlossen, daß Frl. Stüdl am Sonntag noch nicht in Prag ist, dann würdest Du eben den kleinen Weg nutzlos gemacht haben und Frl. Stüdl würde schreiben, ohne mit Dir gesprochen zu haben. Montag bist Du wohl nicht mehr in Prag, sonst könntest Du noch Montag bei Stüdl anfragen. Sonntag geh aber jedenfalls hin.
Grüß alle und mach alles gut.
Franz
Nr. 72
[Schelesen, Mitte März 1919]
Liebste Ottla, wir spielen ja nicht gegeneinander, sondern wir haben ein gemeinsames Spiel und sitzen beisammen, aber eben weil wir einander so nah sind, unterscheiden wir nicht immer, was der andere will, ob stoßen, ob streicheln. Es geht auch wirklich in einander über. So war auch z.B. der »volle Mund« nicht eigentlich gegen Dich, sondern viel eher in Deinem Namen an jenes »Unbestimmte und Unsichtbare« gerichtet. Du siehst selbst aus Deinem Briefe, daß es eine Antwort gibt, wenn auch nur eine seinem Wesen entsprechende »unbestimmte«. Etwas ist es immerhin.
Ich sah Dich, nicht viel, aber ein wenig unruhig, in der Prüfungszeit hin und her fahren, fürs Lernen nicht ganz zusammengefaßt zu sein, sogar gerne einen Zug versäumen, denn ich habe den Aberglauben, daß Du nur versäumen kannst wenn Du es stark willst – aus diesen Gründen fragte ich. Ich wollte damit zweierlei: Für den Fall, daß Du jetzt in der Prüfungs-Ausnahmezeit die äußern Schwierigkeiten übertrieben groß sehen solltest, wollte ich sie mit der Frage in das richtige ungefährliche Licht stellen. Äußere Schwierigkeiten, an denen man innerlich Schaden nimmt, darf man nicht anerkennen; da ist es besser an jenen Schwierigkeiten ganz zugrundezugehn. Das meint z.B. der Vater nicht anders, wenn er eine Heirat ohne finanziellen Rückhalt für ein Unglück hält, er sieht eben im Fehlen des Rückhalts jenen schweren, innern, letzten Schaden. Wir haben dafür einen andern Blick, wenigstens jetzt.
Das war das eine was ich wollte. Für den Fall aber, daß das nicht zutraf – ob es nicht irgendwie zutrifft, weiß weder ich noch Du – wollte ich durch die Frage zeigen, daß Du kein Recht zu Unruhe und Ungeduld in dieser Richtung hast, denn das »Unsichtbare« das ja Du selbst bist, wird zu seiner Reifezeit entscheiden. Du hältst, soweit meine Menschenaugen sehn, Dein Schicksal so selbstherrlich in der Hand, in einer kräftigen, gesunden, jungen Hand, wie man es sich nur irgendwie wünschen kann.
Du hast recht: »voller Mund« ist nicht gut, aber es gibt glücklicherweise keinen, soweit »voller Mund« bedeutet: etwas endgültiges endgültig zu sagen. Ich glaube Raskolnikow klagt einmal über den »vollen Mund« des Untersuchungsrichters. Du weißt, der Untersuchungsrichter liebt ihn fast, wochenlang unterhalten sie sich freundschaftlich über dies und das, plötzlich einmal aus einem Witz heraus beschuldigt der Untersuchungsrichter den Raskolnikow geradezu, beschuldigt ihn, weil er ihn eben nur »fast« liebt, sonst hätte er wahrscheinlich nur gefragt. Jetzt ist alles endgültig zuende glaubt R., aber davon ist keine Rede, im Gegenteil, es fängt erst an. Nur der Untersuchungsgegenstand, der beiden dem Richter und R. gemeinsame Untersuchungsgegenstand, das Raskolnikowsche Problem, hat für beide ein freieres, erlösenderes Licht bekommen. Übrigens fälsche ich hier den Roman schon. – Aber über das alles können wir auch nach der Prüfung sprechen und besser. Jetzt antworte mir nur auf einer Karte paar Zeilen über Blattern Lernen und Gesinnung (mir gegenüber)
Franz
Nr. 73
[Stempel: Liboch – (Anfang) XI. 19]
Liebe Ottla, wie in vielem andern, überlasse ich Dir die Entscheidung, ob Oskar kommen soll. Ich habe einige kleine Bedenken, die allerdings fast ausschließlich mich persönlich betreffen also nicht sehr nobel sind und überdies wesenlos werden, wenn nur irgendwie zu erwarten ist, daß die drei Tage Urlaub Oskar von Nutzen sein werden, denn dann würde ich den Nutzen mit ihm teilen. Immerhin sage ich die Bedenken: wir müßten in einem Zimmer wohnen, ich könnte nicht bis 11 Uhr im Halbschlaf liegen, ich müßte mehr als bisher spazieren gehn, er würde in unserem gemeinsamen Zimmer arbeiten, ich müßte ihn öfters stören, ich würde den noch kaum angefangenen Brief an den Vater nicht fertig bringen und – schließlich – würde er mir eine abscheuliche »Auskunft« mitbringen aus welcher mir Max schon einiges erzählt hat. Diese alle Bedenken können aber auch ganz zusammenfallen, die Wirklichkeit kann viel einfacher sein: wir können jeder auch in eigenem Zimmer vielleicht wohnen, es können auch andere mit ihm spazieren gehn, er kann Gefallen am Liegen finden, der Brief an den Vater kann trotzdem fertig werden oder kann, was wahrscheinlicher ist, trotz seines Nichtkommens ungeschrieben bleiben, die Auskunft allerdings wird er auf jeden Fall mitbringen.
Motive hast Du also genug, entscheide, jedenfalls aber wäre es mir lieb, wenn Du zu Oskar giengest, sei es ihn zu grüßen, sei es ihn einzuladen. Mir geht es, da keine Anforderungen an mich gestellt werden, erträglich gut, allerdings war Max bisher hier.
Du schreibst mir nicht.
Franz
Grüß alle vom Vater bis zu Chana hinab.
Nr. 74
[Schelesen, ca. 10. November 1919]
Liebe Ottla, vor lauter Bedenken wegen Oskars Reise habe ich das allerdings selbstverständliche vergessen, daß Du, abgesehen davon, wie Du Dich wegen Oskar entscheidest, wenn Du Lust hast jedenfalls herkommen sollst, schon um den (vorläufig fast nur in meinem Kopf lebenden) Brief zu beurteilen. Allerdings wird es dazu eigentlich schon zu spät sein, wenn Du, wie Du es früher beabsichtigt hast, erst Samstag kommst; nun ich könnte ja den Brief erst Montag abschicken lassen, es wird nicht viel schaden, wenn er ankommt und ich schon in Prag bin.
Frl. Stüdl ist lieb und gut, über den Brief habe ich noch nicht mit ihr gesprochen. Sie leidet viel durch Frl. Therese, trägt es aber so, daß man es kaum bemerkt. Viel neues in der Wirtschaft.
Es sind noch 2 junge Herrn hier und ein Mädchen, Eisner, eine Teplitzerin. An und für sich gefällt sie mir gar nicht, hat auch alle Hysterie einer unglücklichen Jugend, aber ist doch ausgezeichnet, offenbar sind sie alle ausgezeichnet, sei froh, daß Du ein Mädchen bist.
Vergiß nicht das Hochzeitsgeschenk, bis 200 K darf es kosten und schreib etwas Freundliches dazu
Grüß alle
F
Nr. 75
[Schelesen, 13. November 1919]
Dieser Brief trifft Dich hoffentlich nicht mehr, denn Du bist schon allein oder mit Oskar auf der Reise, d.h. wenn Du erst Samstag fährst, kann er Dich noch treffen. Sonntag abend fahren wir dann zusammen nach Prag.
Über Dein Nichtschreiben klagte ich nur deshalb, weil ich annehmen mußte, daß in Deinen Dingen etwas Wesentliches (da doch alles wesentlich ist) geschehen sei und ich daran teilhaben wollte.
Es geht mir wenn ich allein bei mir bin erträglich, im Beisammensein mit den andern bin ich sehr traurig. Aber Du wirst ja alles sehn. Also komm.
Der vorlesende Vater ist eine große Erscheinung, ich hatte sie als Kind nie.
Von Frl. W. schreibst Du nichts.
F
Grüß alle, danke ausdrücklich der Mutter für ihre liebe Karte.