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Da stand er nun, sorgfältig gekleidet, mit seinem Empfehlungsschreiben in der Hand, in dem Bankhause Mr. Chathams.
Der Brief wurde ihm abgefordert, ihm bedeutet, zu warten.
Es währte nicht lange, da trat ein kleiner, korpulenter Herr lebhaft in das Büro. Ein prüfender Blick überflog die schlanke, distinguierte Gestalt des jungen Mannes, der sich beim Eintritt des Herrn von seinem Sitze erhoben hatte.
»Sie sind Mr. Liebeknecht?«
Kurz, fast befehlend klang ihm die Frage in englischer Sprache entgegen.
»Jawohl,« lautete die Entgegnung.
»Sind Sie im Besitze von Legitimationspapieren?«
Diese Frage erfüllte Thiddi mit froher Hoffnung. Man würde keine Legitimationspapiere fordern, wenn man nicht die Absicht hatte, sich näher mit seiner Persönlichkeit zu befassen. Andererseits aber befremdete sie ihn.
War denn der Brief nicht Ausweis genug?
Er zog sein Portefeuille heraus, dem er seinen Militärpaß entnahm.
Der Bankier blickte prüfend hinein.
»Well,« sagte er dann geschäftsmäßig, »es liegen hier seit November fünfundzwanzigtausend Mark für Sie deponiert, von einem Fräulein Malve Lamprecht eingezahlt. Wollen Sie das Geld erheben? Es steht zu Ihrer Verfügung.«
Thiddi wußte nicht, wie ihm geschah. Fast hätte er einen Freudensprung gemacht. Und doch kam es wie eine tiefe Rührung über ihn.
Die gute Tante Malve! Sie hatte sicher nicht über Thiddis Abreise wegkommen können. Sonst wüßte er keinen Grund, was sie veranlaßt haben könnte, hier eine Summe Geldes für ihn niederzulegen.
Er stammelte:
»Wenn ich das Geld erhalten kann, dann bitte ich darum.«
Mr. Chathams Interesse für den Herrn ging offenbar nicht so weit, sich nach seinen Plänen zu erkundigen. Er gab Order, das Geld auszubezahlen, überreichte einen geschlossenen Brief, welcher der Geldsendung beigefügt war, und zog sich zurück. Zuviel Zeit war bereits vergeudet worden, die nichts eingebracht.
Vor Thiddis Augen türmten sich Berge von Papiergeld auf. Fast gierig ruhte sein Auge auf dem Haufen.
Sein war das alles, sein. Er raffte die Scheine zusammen, steckte sie in sein Portefeuille, das sich vor Stolz und Uebermut blähte.
Ganz mechanisch setzte er seinen Namen unter das ihm gereichte Papier.
Kaum wußte er, wie er hinausgekommen.
Dann stand er mit einem Male wieder auf der Straße.
Hatte denn nun alles ein anderes Aussehen? Waren das dieselben Häuser? Dieselbe, stets wechselnde Menschenmenge?
Ja, wohl stand die Welt noch auf ihrem alten Platze, aber ein anderes Aussehen hatte sie.
Thiddi hatte Geld.
Ein großer Jubel ging in ihm vor. Wenn er das Geld richtig anlegte, mußte es ihm glücken, festen Boden unter seinen Füßen zu erlangen. Nur war er im Grunde noch nicht selbständig genug; auch fehlte es ihm an der Aussprache mit einem lieben Menschen.
Ach, wie konnte es ihm wohl daran fehlen, wo er doch wußte, daß Ida draußen in Passaie, nur wenige Meilen von ihm entfernt, ein kleines Mädchen mit ernsten Augen und einer ernsten Lebensauffassung saß und darauf lange, lange gewartet hatte, von ihm zu hören.
Er nahm sich gar nicht Zeit, nach Hause zu gehen. In das erste beste Restaurant trat er ein, ließ sich Feder, Tinte und Papier geben.
»Meine holde, kleine Freundin!
Kommen Sie Sonntag wieder nach dem Platze, wo wir uns schon einmal getroffen und um dieselbe Zeit. Ich bedarf Ihres Rates.
Ihr tief ergebener
Th. Liebeknecht.«
Seine Gedanken eilten dem Briefe voraus. Sein Ruf würde sie ängstigen, das sagte er sich bei näherer Ueberlegung. Aber was schadete denn das? Er würde sie wiedersehen, das geliebte Mädchen, welches seinem Herzen enger verbunden war, als er selber bisher gewußt.
Nun erst erinnerte er sich des Briefes, den der Bankier Chatham ihm gegeben.
Der war von Tante Guschi.
Gott, wie sich die beiden lieben Frauen wohl seinetwegen sorgten, der ihnen doch der ganze Lebensinhalt gewesen war.
Er würde schreiben, natürlich. Mußte es, nachdem er das Geld eingestrichen, das Liebe ihm übersandt. Das Geld, das ihn retten sollte, das neuen Lebensmut durch seine Adern rinnen ließ.
Ja, natürlich wollte er schreiben. Heute noch. Oder morgen. Nein, übermorgen, wenn er sein geliebtes Mädchen gesehen. Morgen hatte er doch keine Ruhe, konnte keinen klaren Gedanken fassen.
In seinem ärmlichen, kleinen, halbdunklen Hinterzimmer angelangt, holte er den Brief hervor, der schon viele Monate zurückdatiert war, und begann mit der Lektüre:
»Mein alter Junge!
Weshalb schreibst Du gar nicht? Geht es Dir schlecht? Dann aber solltest Du doch gerade schreiben. Doch ich kann mir das gar nicht denken, Du warst ja ziemlich reichlich mit Geld versehen und Tante Malve hat noch fünfundzwanzigtausend Mark für Dich in dem Bankhause, an das Hans Westerfeldt Dich empfohlen, deponiert. Hans Westerfeldt sagt, wir brauchten uns über Dein Schweigen nicht zu beunruhigen. Das machten sie alle so, die jungen Herren, wenn sie nach Amerika auswanderten. Erst ganz allmählich erwacht das Interesse zur Heimat wieder. Und doch, Thiddi, mußtest Du es so machen, wie die anderen? Es ist nicht recht von Dir, uns so in der Ungewißheit zu lassen. Ich warte auf ein Schreiben von Dir und wenn ich jahrelang warten sollte.
Bei uns hat sich viel, sehr viel begeben. Das wird Dich interessieren, mein Junge, wenn es Dich auch sehr, sehr treffen muß. Onkel Theodor war nur noch acht Wochen bis zu seiner Hochzeit bei uns, und dann waren wir ganz allein. Da kannst Du Dir denken, wie einsam es bei uns war. Das Zusammenleben mit Onkel war kein erbauliches seit seiner Verlobung. Hans Westerfeldt wollte Malves Vermögen für sie verwalten, er versprach, es in kurzer Zeit zu verdoppeln, doch Malve wollte nicht. Das wurmte Onkel Theodor, der in Hans Westerfeldt einen Gott sah.
So athmeten wir schließlich alle auf, als der Hochzeitstag da war. Die große Einsamkeit legte sich schwer auf Malves Gemüt. Und als eines Tages ein Jugendfreund Deiner Tante nach wiederholten Fehlschlägen wieder bei Malve anhielt, gab sie ihm ihr Jawort. Sie hat gestern Hochzeit gemacht. Doch bevor sie zum Traualtar schritt, übersandte sie durch das Bankhaus Chatham Dir fünfundzwanzigtausend Mark. Es ist wohl das einzige, mein armer Junge, was Dir von dem großen Vermögen verblieben. Ich fand es hübsch von Malve, noch an Dich zu denken. Möge das Geld Dir gelegen kommen und Dir Segen bringen, mein geliebtes Kind.
Ich sitze hier nun mit aller meiner Arbeitskraft im Kaiser-Wilhelm-Stift, wie so ein rechtes altes Spittelweib, und habe nichts zu tun. Zu leben habe ich ja. Etwas Vermögen besitze ich, dank der Großmut Onkel Theodors und Tante Malves. Nicht viel, aber doch, daß ich nicht gerade zu hungern brauche. Und ich verdiene mir mit Handarbeiten ja auch ein Teilchen dazu. Ich könnte zu Dir kommen und Dir helfen, Thiddi, vogelfrei wie ich bin. Aber auch Du willst nichts von der alten Tante wissen.
Wenn Du Dich nun von Deinem Erstaunen erholt hast, alter Junge, dann schreibe mir mal wieder. Wie würde sich freuen
Deine alte Tante
Guschi.«
Lange saß Thiddi über dieses Schreiben gebeugt.
Es war merkwürdig, ihn ließ die Nachricht von dem abermaligen Verlust einer Erbschaft ganz kalt. War er so stumpf geworden? Lag ihm an der zweiten Erbschaft, mit der zu rechnen er doch berechtigt war, so wenig?
Weder das eine noch das andere. Die Sache war nur die, er hatte eben in seiner bisherigen naiven Lebensauffassung niemals mit er Erbschaft gerechnet So konnte ihn der Verlust kaum schmerzen.
Eher würde ihn bei der Nachricht von der späten Hochzeit Tante Malves eine tiefe Traurigkeit beschlichen haben, wie sie bei Onkel Theodors Abtrünnigkeit ihn mit so erschreckender Gewalt gepackt.
Allein auch dieses Gefühl konnte dieses Mal keinerlei Wurzel bei ihm schlagen, seit er selber von Amors Pfeil getroffen worden. Alles in ihm drängte dem Mädchen entgegen, von dem er nicht einmal wußte, ob es seine heiße Sehnsucht teilte, seine Liebe erwiderte.
Er steckte den Brief Tante Guschis zu sich, wie man wohl einen Geschäftsbrief zu sich steckt, von dessen Inhalt man Notiz genommen.
Dann machte er sich daran, seinen Schatz vorschriftsmäßig nach Tante Guschis System unterzubringen. Er wanderte in jenes kleine Beutelchen, welches er schon lange nicht mehr um den Hals trug, und erst nach langem Suchen aus irgendeinem Winkel des geräumigen Koffers ans Tageslicht befördert werden mußte.
Und dann wartete er. Mit Hangen und Bangen. Kam sie, kam sie nicht? Hatte sie ihm sein langes Schweigen übel genommen? Oder war sie vielleicht gar nicht mehr auf ihrer Stelle in Passaie?
Eine große Unruhe bemächtigte sich seiner. Lange vor der angegebenen Zeit war er am Platze.
Es war noch eben solch ungemütliches Wetter, wie es seit einigen Wochen nun schon geherrscht; in Thiddis Herzen aber war eitel glitzernder Sonnenschein. Der umhüllte seine Seele mit einem eigenen Zauber.
Er hoffte trotz aller Zweifel ja doch so stark. Sie mußte gleich da sein. Eine Antwort hatte er nicht erhalten, konnte er nicht, hatte er doch sein Logis des öfteren gewechselt und in der Aufregung ganz vergessen, ihr seine Adresse mitzuteilen.
Aber sie würde kommen.
Und da tauchte ihr liebliches Gesichtchen auf.
Herrgott, diese Wonne! Sie war da, sie war da!
Er eilte ihr entgegen, zog sie in seine Arme und küßte den kleinen rosigen Mund.
Alida ließ es geschehen. Ihr Herz war zerrissen gewesen vor lauter Sorge um den großen, stattlichen Menschen mit dem weichen, vertrauenden Kindergemüt. Denn Alida liebte. Sie liebte zum ersten Male in ihrem Leben, und diese große, tiefe Liebe galt ihrem Reisegefährten von der »Deutschland«.
Als sie ihn vor sich sah, mit lachenden Augen und doch mit den deutlichen Spuren eines großen Leides im Gesicht, da wallte ihr heißes Herz im Glücksgefühl eines abermaligen Beisammenseins über. Sie duldete seine Küsse nicht nur, sie erwiderte sie.
So standen sie eine ganze Weile in seliger Versunkenheit. Thiddi stammelte:
»O, daß ich dich wieder habe, du liebes, süßes Mädchen, du. Daß ich dich hier halte in meinen Armen. Sag', Heißgeliebte, liebst du mich?«
»Wie sehr, wie sehr,« sagte das Mädchen schlicht. Und sie fügte mit einem reizenden Lächeln hinzu: »Zwei so arme Hascherln wie wir im weiten, großen Weltenraum.«
»Oha,« machte Thiddi mit einer hoheitsvollen Gebärde und schlug stolz und gewichtig auf seine Brust, wo wohlverwahrt der von Tante Guschi genähte Beutel stramm und fühlbar ruhte.
Dann führte Thiddi sein Mädchen in ein Restaurant, wo sie ungeniert miteinander reden konnten, und bestellte Kaffee und Kuchen.
Sie saßen Hand in Hand. Sie hatten sich endlos zu erzählen.
Alida sah blaß und angegriffen aus. Ihr Leben hatte sich auf das Unerträglichste zugespitzt. Nicht allein, daß es ihr nicht gelungen war, sich dem alten Kinderfräulein geneigt zu machen, die, je mehr sich die Liebe ihrer Zöglinge ihr zuwandte, einen immer tieferen Haß auf die Erzieherin warf, sie verschmähte es auch nicht, mit allerlei kleinen Intrigen ihr das Leben schwer zu machen. Doch klagte Alida nicht.
Sie hatte sich an den täglich reichlich gedeckten Tisch setzen können, während er gedarbt. Sie hatte im warmen Zimmer gesessen, er gefroren und unter harter Fronarbeit geseufzt.
»Armer Theodor,« sagte sie mitleidig.
»Nenne mich Thiddi,« bat der junge Mann, »Theodor war ja mein Onkel. Ich, das verhätschelte Kind eines reichen Hauses.«
»Thiddi,« sagte Alida und drückte fest die Hand, die deutliche Spuren harter Arbeit trugen.
»Und nun, Geliebte, was wollen wir mit dem Gelde machen?« fragte Thiddi, nachdem er seinem Mädchen alles erzählt. »Wollen wir uns heiraten und uns gemeinsam einen Lebensunterhalt suchen?«
Da lachte Alida, daß ihr die Augen überliefen
»Du arger Draufgänger. Wenn's Geld alle ist, hungern und frieren wir zusammen nach dem bekannten Wort: ›Geteiltes Leids ist halbes Leid.‹ Nein, ich weiß etwas besseres.«
»Etwas besseres als ein Zusammenleben mit dir, kann's für mich nicht geben,« beteuerte Thiddi
»Die Zeit wird ja auch kommen,« tröstete Alida den allzu Ungestümen. »Vorläufig ist sie noch nicht da. Ich möchte dir wohl einen Vorschlag machen.«
»Ich folge dir, Geliebte. Verlangtest du gleich, ich sollte zur Hölle gehen.«
»Nein, das sollst du nicht, Thiddi. Erinnerst du dich der liebenswürdigen Familie Norden?«
»Ja.«
»So ist mein Vorschlag: Gehe nach Argentinien.«
»Alida!«
Aufrichtige Bewunderung lag in diesem einen Worte.
Ganz plötzlich eröffneten sich Thiddi weite Perspektiven. Und erkannte mit einem inneren Frohlocken, daß eine Beschäftigung in Gottes freier Natur so recht eigentlich das richtige Arbeitsfeld für ihn war.
Diese Erkenntnis war wie ein Blitzstrahl auf ihn herniedergefahren. Wie ein Blitzstrahl, der zündete und hell machte, was bisher dunkel und unerkannt in ihm gelegen. Er erinnerte sich, mit welchem Interesse er den Berichten des Herrn Norden auf der »Deutschland« gelauscht, ohne auch nur im geringsten persönlich davon berührt zu werden.
Jetzt zeigte Alida ihm den Weg.
Diese fuhr dringlich fort:
»Hier in dem um das tägliche Brot sich förmlich raufenden Menschengetümmel, hierher gehörst du nicht. Dazu bist du nicht robust und brutal genug veranlagt, besitzest nicht die gehörige Rücksichtslosigkeit, mit der nun mal hier zu Lande gerechnet werden muß. Du mußt in die freie Gottesnatur. Herr Norden wird dir gern raten. Leute, denen etwas Geld im Beutel klingt, sind nicht dem Mißtrauen ihrer Mitmenschen ausgesetzt. Bringe das Geld vorläufig auf die Bank zurück. Tante Guschis Vorsicht in allen Ehren, so halte ich es unter diesen Umständen doch für geratener, nur mit dem Notwendigsten versehen, die Reise anzutreten.«
»Alida, für diesen Rat mußt du einen Kuß haben,« rief Thiddi begeistert aus.
»Nicht wahr, den habe ich doch ehrlich verdient.«
Sie küßten sich. Nicht einmal, ungezählte Male. Sie durften sich darin schon etwas leisten, war doch dieser Tag des Wiedersehens zugleich ein Abschied auf unbestimmt Zeit geworden
»Du,« lachte Alida aus ihrem Glücke heraus, »und deine Tante Guschi, die dir in so aufopfernder Weise ihre noch kräftigen Arme zur Verfügung gestellt, soll nicht vergebens an deine Liebe appelliert haben. Wir brauchen Tante Guschi. Tante Guschi lassen wir kommen, sobald du Aussichten hast, dich selbständig zu machen.«
»Du zauberst mir da Bilder vor die Seele, die wahrlich viel zu schön sind, als daß sie sich jemals verwirklichen lassen«
»I wo, Thiddi. Nach Regen folgt allemal Sonnenschein.«