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Zwei Tage später sahen sie sich.
Fast hätte Thiddi sich vergessen und seine kleine Freundin und Landsmännin warm in seine Arme geschlossen. Sie erweckte ein so sonniges Heimatsgefühl in seinem Herzen.
Ja, seine Heimat. Vergessen hatte er sie nicht. Nicht die Heimat und nicht seine Lieben. Dennoch hatte er niemals ein Lebenszeichen zu ihnen hinübergesandt.
Was sollte er ihnen schreiben? Schrieb er die Wahrheit, so würden sie sich in Sorgen um ihn verzehren, und irgendwelche Erfolge hatte er noch nicht zu verzeichnen. So lange mußten sie sich gedulden.
Nun aber war mit einem Male ein Stückchen Heimat da.
»Fräulein von Röst, nein, wie ich mich freue!«
»Ich auch, Herr Liebeknecht,« sagte das junge Mädchen mit wohltuender Offenheit.
Sie fuhren hinaus in den Zentral-Park.
»Wie geht es Ihnen, Fräulein von Röst?«
»Ich bin zufrieden« entgegnete Alida. »Meine Kleinen sind zwar ein bißchen verwöhnt, aber die machen mir keine große Sorge. Der Stein, den ich auf meinem Wege finde, besteht in dem alten Kinderfräulein der Kleinen. Sie liebt ihre Pflegebefohlenen mit einer fast an Anbetung grenzenden Liebe und schielt in großer Eifersucht zu mir hin. Sie gönnt mir nicht den kleinsten Beweis einer Liebesbezeugung von seiten meiner Schüler, und da muß ich schon allerlei aufbieten, mir ein ganz klein wenig ihre Gunst zuzuziehen Das ist nicht leicht,« lachte Alida. »Aber ich hoffe, auch dieses Hindernis zu nehmen. Nun und Sie, Herr Liebeknecht? Wissen Sie, daß ich eigentlich recht besorgt Ihretwegen war? Allein, Sie sehen so gut aus, daß ich wohl annehmen darf, meine Besorgnisse seien unbegründet gewesen«
»Mein vergnügtes Aussehen kommt von Ihrer Gegenwart,« scherzte Thiddi. »Könnten Sie in mein Inneres sehen, wie's da drinnen lacht, Sie würden mitlachen.«
Alida lachte bereits.
»Sie sind ein Schmeichler. Nun erzählen Sie. Was treiben Sie? Haben Sie eine Anstellung gefunden?«
»Nein, Fräulein Alida. Wie sollte ich wohl. Gerannt bin ich von Herodes bis Pilatus. Man hat nicht mit meinem Kommen gerechnet.«
»Und jetzt?«
»Jetzt will ich mich selbständig machen,« erklärte Thiddi, nicht ohne einen gewissen Stolz.
Er erzählte alles. Von seinem Freund Brad sprach er und von den Maschinen und seinem Geschäftslokal, das noch nicht gemietet war. Morgen solle das ganze Unternehmen ins Werk gesetzt werden.
Alida hörte stumm zu. Ein tiefer Ernst lagerte auf den kindlichen Zügen. Allein, sie sagte nichts.
Was hätte sie auch sagen sollen? Selber noch unbekannt mit den hiesigen Verhältnissen, hätte sie nicht raten können. Und dem vertrauenden großen Kinde die Illusionen rauben, dazu hatte sie kein Recht und auch nicht den Mut. Das würde das Leben besorgen. Das grausame, kalte Schicksal.
Das Unternehmen konnte ja auch glücken, wenn dieser Mr. Brad ein aufrichtiger Mensch war. Wenn nicht? Sie seufzte.
Thiddi legte seine große, noch immer sehr gepflegte Hand auf die kleine, zarte des jungen Mädchens.
»Sie seufzen, Alida?«
»Ach, Herr Liebeknecht, das Leben ist so schwer. Und man muß ja doch hindurch.«
Sie erhob sich. Nur sich durch sentimentale Anwandlungen nicht die paar Stunden trüben, auf die sie beide sich ja so sehr gefreut hatten.
Sie wanderten umher. Dann fuhren sie zurück, nahmen in einem Restaurant ein Abendessen ein, und Thiddi brachte seine kleine Freundin zur Bahn.
»Wann sehen wir uns wieder, Alida?«
»Wann Sie wollen, Herr Liebeknecht. Schreiben Sie nur. Einmal in der Woche kann ich es möglich machen, abzukommen.«
»Also dann jede Woche. Sie bringen Sonnenschein, Alida, aber Sie nehmen ihn auch wieder mit fort,« sagte Thiddi.
Und doppelt empfand er die Leere, die in ihm zurückblieb, nachdem sie ihn verlassen. Doppelt so tief als damals, als sie sich bei ihrer Ankunft in dem »gelobten Lande getrennt.
So war es ihm eine angenehme Zerstreuung, sich mit Eifer in die Vorbereitungen zu stürzen, die zu seiner Etablierung notwendig waren. Der größte Teil der Last lag offenbar auf Brads Schultern, der es sich sehr angelegen sein ließ, alles in das richtige Fahrwasser zu leiten.
Die Kosten trug Thiddi.
Einen Schein nach dem anderen holte er aus seinem Versteck hervor. Was war ein Tausendmarkschein in diesem Lande? Kaum zweihundertfünfzig Dollar. Und es war so vieles zu beschaffen.
Als er den letzten Schein herausholte, sagte er resigniert: »Mr. Brad, nun habe ich nichts mehr.«
Alles war fertig. Thiddi siedelte in sein neues Geschäftslokal über. Es bestand aus einem größeren Arbeitsraum, einem kleinen, winzigen Kontor und einem völlig dunklen Schlafzimmer.
Mr. Brad war unendlich tätig für das Unternehmen.
Was in seinen Kräften stand, tat er, um Arbeit für die drei Tippfräulein herbeizuschaffen Die Reklame verschluckte ein Heidengeld.
* * *
Eines Tages stand Thiddi in seinem Zimmer mit völlig leeren Taschen. Und die Maschinen klapperten nicht mehr, denn es war keine Nahrung für sie da, und auch ihn hungerte. Die Tippfräulein waren eine nach der anderen gegangen. Brad ließ sich seit ein paar Tagen nicht mehr sehen.
Was nun?
Der Hauswirt nahm die sehr primitive Einrichtung und die Maschinen in Beschlag, und Thiddi ging hinaus arm und bloß und verlassener denn je.
Da ging ein Grausen über ihn hin. Und seine Gedanken flatterten gleich einem aufgescheuchten Hühnervolk in seinem Kopf herum. Wirr und ungeregelt.
Einem Dasein ein Ende machen, das nur noch Enttäuschungen für ihn hatte?
Heimkehren?
Nein.
Er hatte noch seinen kostbaren Ring. Den mußte er versetzen, verkaufen.
Und dann hinunter in die Tiefe, vor der ihm so gegraut.
Dort in seinem Koffer lag ein kleiner, zierlicher Revolver, den er sich in Hamburg noch gekauft. Das war sein letzter und einziger Freund.
Aber in seinem Koffer lag ja auch der Brief Hans Westerfeldts an das hiesige Bankhaus.
An den Revolver dachte er mit einiger Genugtuung, an den Brief nur leichthin, wie an etwas, das sich nicht der Mühe verlohnte, sich damit zu befassen.
Was konnte ihm denn der Brief bringen? Höchstens würde er ihm einen Hausknechtsposten eintragen. Und wenn er, der frühere Millionenerbe, denn auch einen Hausknechtsposten annahm, so wollte er ihn doch nicht durch Hans Westerfeldt erhalten. Daß der mit dem satten Hohn auf den schmalen Lippen, wegwerfend sagen konnte: »Das war vorauszusehen.«
Nein.
Aber etwas mußte geschehen. Der Magen knurrte.
Und die Jagd nach dem Dollar begann.
Das war eine Hetze. Das Leben nahm ihn in die Schule.
Vorerst lernte er sparen. Und den Wert des Geldes lernte er kennen. Wie leicht war solches ausgegeben, und wie schwer, ach, wie schwer war es verdient.
Der Ertrag des Ringes hielt ihn einige Zeit über Wasser. Er hatte eine kräftige, kernige Natur. Er erhielt Arbeit hier und da. Allein, er war an eine solche Arbeit nicht gewöhnt, seine Kräfte erlahmten viel zu schnell. Und dann die Gesellschaft um ihn herum. Verlotterte Existenzen aus aller Herren Länder. Heruntergekommene Leute, denen das Leben alle Hoffnungen geraubt, die dumpf und stumpf in dem Kampfe um das tägliche Brot geworden.
Die Gesellschaft war Thiddi schrecklicher als die Arbeit.
* * *
Der Winter war vergangen. Ein fürchterlicher Winter, der seine Zeichen in das lebensfrohe Gesicht Thiddi Liebeknechts gegraben. Auch in sein Gemüt.
Dem Ringe hatten Uhr und Kette folgen müssen. Der Mensch will leben. Thiddi saß kummervoll in seiner niederen Kammer. Noch hatte er sich nicht entschließen können, sein Logis mit anderen zu teilen. Er wollte wenigstens in seinen vier Pfählen mit sich und seinen Erinnerungen allein sein.
Wie oft hatte er schon mit dem Revolver geliebäugelt.
Auch heute, an einem kalten, rauhen Apriltage, saß er wieder vor der Waffe.
Seine Augen flackerten. Es war ja nur ein Knall.
Ein einziger Knall. Und alles war vorbei.
Ach, aber wie fürchtete er sich doch vor diesem Knall; wie fürchtete er sich vor dem Dunkel, das diesem Knall folgte.
Bilder vergangener Tage stiegen lockend vor ihm auf: Onkel Theodor, der Gute, Abtrünnige. Tante Malve und Tante Guschi. Und die Erinnerung an all die Liebe, die ihn umgeben, schlug gleich feurigen Flammen über ihn hin.
So eine weiche Stimmung kam über ihn. Wie gern möchte er sie alle wiedersehen, sich von ihrer grenzenlosen Liebe umsorgen und einlullen lassen.
Dann drängte sich ein kleines, ernstes Gesicht mit hellen, klugen Augen durch die einlullenden Bilder. Vorwurfsvoll blickten die Augen, ja fast strafend.
Nein, er wollte nicht sterben. Er wollte auch nicht in sein tatenloses Dasein zurück.
Der Sommer stand ja vor ihm. Eine warme Sonne würde auf ihn niederscheinen – nein, sterben wollte er nicht.
Das Leid hatte ihn nicht stumpf gemacht. In ihm lebte so viel unverbrauchte Kraft, die nach Betätigung drängte. Zurückfallen in das Nichts eines tatenlosen Lebens hatte nichts Verlockendes für ihn.
An Tante Malve schreiben und noch einmal um Geld bitten? Auch das hatte er reiflich überlegt. Wenn er sich allein helfen konnte, so wollte er auch das vermeiden. Sein Blick hatte sich geschärft. Er schaute nicht mehr mit den Augen eines Kindes in das wogende Weltgetümmel hinein; klar lag das Leben mit seinem brutalen Vorwärtsdrängen vor ihm. Glück haben – er ließ es gelten, Glück war viel im Leben. Aber es waren doch nur einige Auserwählte, denen der Herr es sozusagen schlafend gab. Er gehörte nicht zu denen. Er mußte gewaltig kämpfen. Ob er Sieger blieb? Er hatte schon daran gezweifelt, doch heute kam, trotz allem, wieder Hoffnung in sein zermürbtes Herz. Noch einmal wollte er es versuchen. Die Chancen lagen für ihn insofern günstiger, als er kein »Greenhorn«, kein grüner Junge mehr war. Auch beherrschte er fließend die englische Sprache.
Und dann durfte vor allen Dingen keinen falschen Vorurteilen Raum gegeben werden. Was gingen ihn die Westerfeldts an, die ihm so viel, so viel genommen?
Er wollte sich in dem Bankhause, an das er empfohlen war, vorstellen. Nicht als Bettler, demütig, ein halber Schiffbrüchiger, stolz wollte er anfragen, ob man eine Kraft nötig habe. Er war doch federgewandt, sprachkundig Und hatte er nur erst festen Boden unter seinen Füßen, dann –
Um seinen Mund legte sich ein weicher träumerischer Zug.
Er hatte Alida von Röst seit jenem denkwürdigen Tage nicht wiedergesehen, trotzdem er den innigen Wunsch gehabt, recht oft mit ihr zusammen zu kommen, Er wollte bei dem rapiden Abwärtsgleiten vom hohen Berge nicht den mitleidigen Blick seiner kleinen, mutigen Freundin sehen. Vielleicht kam er noch einmal wieder hinauf.
Er trat an seinen Koffer. Es kostete trotz reiflichen Ueberlegens doch einen heißen Kampf.
Dann suchte er die Empfehlung Hans Westerfeldts aus der Tiefe seines Koffers.