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8.

Die vermauerte Thüre.

Rudolph schloß die ganze Nacht kein Auge; im größten Gewitter war er in Karpátfalva angelangt, hatte dort alsogleich den krauten Güterdirektor aufgesucht und mit ihm eine lange Unterredung unter vier Augen gehabt.

Unterwegs quälte sich Zoltán mit tausenderlei Befürchtungen. Seine durch Schlaflosigkeit gereizte Einbildungskraft erging sich in ängstigenden Vermutungen über die Vorfälle, Welche die geheimnisvolle Reise des Vormundes nach Karpátfalva gerade an seinem Geburtstag veranlaßt hatten;– diese nächtliche Eile während des heftigsten Unwetters, das absichtliche Vermeiden des Madaraser Kastells rief in seiner Seele allerlei verworrene Schreckbilder hervor, denen noch der Morgenwind seine Schauer hinzufügte, als wäre es nicht genug an jenen Gespenstern, um ihm die Haut schauern zu machen.

Als er in den Hof des Kastells hineinsprengte, war sein erstes Wort an den ihn empfangenden Diener: wo ist mein Vormund?

Der Reitknecht benachrichtigte ihn, daß er oben in der Kanzlei auf ihn warte.

– Ist ihm kein Unglück zugestoßen? drang der Knabe weiter in ihn, von seinem Pferde sich herabschwingend.

– Sollte fast meinen. Er sieht so schlecht aus, als ob er krank wäre; er traf in später Nacht hier ein und blieb bis zum Morgen auf, ging allein von einem Zimmer in das andere, selbst den alten Verschließer hatte er fortgeschickt, nachdem er ihm die Thüren geöffnet hatte; noch jetzt brennt Licht in seinem Zimmer, vielleicht hat er sich nicht einmal niedergelegt und schreibt Briefe; er hat es wohl gar nicht einmal bemerkt, daß es schon helllichter Tag ist.

Während der Diener dies sagte, eilte Zoltán die Treppe hinauf und öffnete mit klopfendem Herzen das Bureau.

Rudolph stand mit dem Rücken gegen die Thüre gekehrt und war damit beschäftigt, Schriften zu versiegeln. Als er die Schritte des Knaben vernahm, wandte er sich um und empfing ihn mit so kaltem Gesichte, als ob in seinem Innern gar nichts vorgegangen wäre, Zoltán war bei diesem Anblick ganz perplex. Er war in der Vorahnung irgend eines großen Unglückes hergekommen und wußte sich nicht in das gleichgültige Gesicht seines Vormundes zu finden, das durchaus keine Teilnahme herauszufordern schien.

Sie tauschten einen so kühlen, so nichtssagenden Händedruck miteinander aus, als handle es sich nur um eine gewöhnliche Höflichkeitsform.

Zoltán blickte forschend dem Vormund ins Gesicht, aber er vermochte nichts in seinen Zügen zu lesen.

Rudolph siegelte die Schriften zu Ende und sagte in trockenem Tone: setzen Sie sich, Freund Zoltán.

Bei diesen Worten wäre Zoltán beinahe in Weinen ausgebrochen.

– Teurer Vormund, Sie haben mich bisher noch immer geduzt.

– Ja, lieber Zoltán, solange Sie noch ein Kind waren; es wird nicht mehr lange dauern und Sie sind ein Mann. Heute ist Ihr vierzehnter Geburtstag.

Zoltán seufzte auf. Das war nicht der Ton, in dem sein Vormund sonst ihm seinen Geburtstag anzukündigen gewohnt war.

– Sie treten jetzt schon in ein Alter, in welchem das Gefühl der Selbständigkeit nicht mehr jenes kindliche Verhältnis zuläßt, in dem Sie bisher zu Ihrem Vormunde gestanden; ohnehin werden jetzt auch einige Änderungen in diesem Verhältnisse eintreten müssen.

Zoltán fühlte sich alles um ihn drehen. Vielleicht hat er nur falsch verstanden, was sein Vormund ihm jetzt gesagt?

Rudolph bemerkte im Antlitz des Knaben jenen flehend fragenden Blick und war genötigt, sich abzuwenden, um sich nicht aus der Fassung bringen zu lassen; er fühlte, daß das Zittern seiner Stimme Zweifel gegen seine Festigkeit erregen könnte.

– Sie werden in kurzem sich von uns trennen müssen, sagte der Graf plötzlich und gerade heraus, als wollte er sich und dem Knaben über die Pein langer Umschweife hinweghelfen.

Zoltán wurde blaß wie die Wand. Er wollte sprechen, aber jeder Gedanke, jeder Ton versagte ihm. Unwillkürlich griff er nach einer Stuhllehne, um sich darauf zu stützen.

Rudolph wäre gern auf ihn zugesprungen, um ihn an seine Brust zu drücken und ihn zu trösten.

– Setzen Sie sich, sagte er trocken.

Der Knabe that, wie ihm geheißen war.

Rudolph, bemerkend, wie sehr der Knabe ergriffen war, bemühte sich, um so ruhiger mit ihm zu sprechen.

– Lieber Zoltán, Sie sind verständig genug, um vollkommen zu verstehen, was ich Ihnen sage und um einzusehen, daß es nicht ein außerordentliches Ereignis ist, auf das ich Sie vorzubereiten habe, sondern der natürliche Verlauf der Dinge, und so glaube ich, Sie werden sich mit dem Gedanken beruhigen, daß ich Ihr eigenes Bestes will. Sie sind über die Vorbereitungsjahre der Jugend bereits hinaus und ohne Ihnen ins Gesicht schmeicheln zu wollen, kann ich sagen, daß von Ihrem Herzen, Ihrem Verstand, Ihrem Arm sich viel Edles, viel Gutes erwarten läßt. Sie besitzen schöne Fähigkeiten und damit die edeln Eigenschaften Ihres Geistes sich zur Vollkommenheit des Geistes entwickeln können, fehlt Ihnen nur noch eins: die Schule der Welterfahrung. Sie müssen aus den Propyläen der Jugend den Schritt ins Leben thun, die Menschen und Verhältnisse mit eigenen Augen sehen und beurteilen lernen. Dazu ist Ihnen in Szentirma und Karpatfalva keine Gelegenheit geboten. Die einfachen Leute hier sind nicht dazu angethan, um an ihnen Erfahrungen machen zu können, das ländliche und häusliche Stillleben mag für Mädchen eine gute Schule sein, nicht aber für Männer, welche durch ihre gesellschaftliche Stellung dazu berufen sind, einst eine hervorragende Rolle zu spielen; das Leben bewegt sich hier in zu engen Kreisen, und aus Büchern allein ist noch niemand ein Weiser geworden. In den zwei Monaten, in denen Sie voriges Jahr mit mir auf Reisen im Auslande waren, haben Sie mehr profitiert, als in einem zweijährigen Schulkurs. Allein ich kann nicht jedes Jahr mit Ihnen auf Reisen gehen: meine Familie, mein Amt und andere Rücksichten gestatten mir keine längere Abwesenheit, so gern ich auch mit Ihnen wenigstens nach Pest gehen würde; dort ist jetzt der Brennpunkt unserer nationalen Interessen, der Brutherd der neuen Zeitideen; dort werden Sie mindestens den Platz kennen lernen, den Sie mit der Zeit einnehmen sollen, und die Mittel und Wege, um sich ein Anrecht darauf zu erwerben.

Zoltán nahm sich das Herz, ein Wort dazwischen zu reden.

– Deshalb aber bleiben Sie doch mein Vormund?

Vor dieser Frage hatte Rudolph sich gefürchtet. Die Antwort darauf war nicht zu umgehen.

– Nein, Zoltán, das geht leider nicht. Ich kann nicht aus solcher Entfernung die Obliegenheiten eines Tutors erfüllen. Ich bleibe Ihr Freund und Gönner und werde darauf bedacht sein, meine bisherigen Pflichten auf einen wackern Vormund zu übertragen, der Sie gut behandeln wird. Wissen Sie jemand unter den Männern Ihrer Bekanntschaft, zu dem Sie sich besonders hingezogen fühlen, so nennen Sie mir ihn, es wird dann meine Sorge sein, ihn zu bewegen, daß er die Vormundschaft über Sie übernehme.

Jedem Gesichtszug, selbst den krampfhaft zusammengeballten Fingern, konnte man es ansehen, mit welcher Anstrengung Zoltán seinen Kummer niederkämpfte und nach Fassung rang. Seine Augen schienen zu flammen vor den zurückgehaltenen Thränen, als er zur Antwort gab: dann erbitte ich mir Tarnaváry zum Vormund.

Rudolph wunderte sich über den Knaben. Von ihm, in dessen Familie er wie ein teurer Sohn, mit Liebe und Zärtlichkeit überhäuft worden, verlangt er sich zu Tarnaváry, dessen rauhe Manieren jedermann kennt und der ein wahrer Tyrann ist mit den jungen Leuten, die mit ihm in irgend eine Berührung kommen.

– Wohl, er ist jetzt zum Septemvir ernannt worden und wird daher in Pest wohnen; aber, lieber Zoltán, Tarnaváry ist ein sehr strenger Mann.

– Eben deshalb, erwiderte der Jüngling. Wenn meines Bleibens nicht länger in Szentirma sein kann, so will ich die Trennung wenigstens um so besser fühlen.

Diese letzten Worte waren kaum vernehmbar gelispelt.

Rudolph fühlte solches Mitleid mit dem Armen, seinem Herzen that es so weh, ihn derart behandeln zu müssen, aber es mußte sein. Nach jener gehässigen Anklage durfte Rudolph keinen Tag länger Zoltáns Vormund bleiben.

– Nun, so werde ich Ihnen einen Empfehlungsbrief an Tarnavári schreiben; denn bis zur nächsten Generalversammlung, welche darüber beschließen wird, müssen Sie bereits bei ihm sein. Einstweilen können Sie auf Ihr Zimmer gehen.

Dies sagend, nahm Rudolph eine Feder und schickte sich an zu schreiben.

Zoltán wartete eine Weile, ob er ihm nicht noch etwas sagen werde, dann erhob er sich traurig und ging zum Zimmer hinaus.

Nicht das schmerzte ihn so sehr, was Rudolph ihm gesagt hatte, als daß er imstande gewesen, es ihm mit so kalter Ruhe zu sagen.

Wie er zur Thüre hinausging und sie hinter sich zumachte, blieb er einige Minuten unwillkürlich stehen; er wußte selbst nicht, wie ihm geschah. Was hatte er begangen, worin hatte er gefehlt, daß er seinem Vormund Ursache gegeben zu einer so ungewohnten Kälte? Noch war der Gedanke an das, was nach allem diesem kommt, nicht in seiner Seele aufgestiegen, daß er eine ganze Welt verlassen soll, in der er geliebt wird, und eine Jugendgespielin, die er mehr liebt, als die ganze Welt, an die jeder Tag eine teure Erinnerung bewahrt, und daß er nun eintreten soll in eine frostige, unheimlich lärmende Welt, in die kein Blick seiner bisherigen guten Schutzgeister ihn begleiten wird. Noch stand er erst unter dem Eindruck der ersten Vorahnung und blieb in seinem brennenden Schmerze einige Minuten lang in Schwermut versunken an der Thüre stehen, als plötzlich ein erschreckender Ton ihn seiner Betäubung entriß. ... Jemand weint. ... Er fing an, aufzuhorchen ... Ja, das ist das bittere, bittere Schluchzen eines Mannes, dessen Töne er vernimmt. Da drinnen in dem Zimmer, das er verlassen, ist der Graf allein geblieben und glaubt, daß niemand ihn hört, während er den zurückgedrängten Gefühlen frei hervorzubrechen gestattet: es ist der stets kaltblütige, gelassene Mann, der weint.

Zoltán wandte sich augenblicklich um, riß die Thüre auf und stürzte außer Atem ins Zimmer, in dem er seinen Vormund erblickte, von Schmerz zusammengebrochen; er lief auf ihn zu, warf sich an seine Brust und war so glücklich, als dieser ihn kräftig an sein Herz drückte und ihm gestattete, mit seinen Thränen die teuren Hände zu benetzen, als er nicht länger vor ihm verbarg, daß er ihn liebt, daß es ihn schmerzt, diese harten Worte an seinen Pflegesohn zu richten, der ihm schon so fest gewachsen an das liebende Herz, daß man ihn von da nicht wegreißen kann, ohne daß eine blutende Wunde zurückbleibt.

Diese wenigen Augenblicke eines sprachlosen, erstickten Schluchzens sagten mehr, als in einem Buche, in einer Menschenbrust Raum hätte.

Auch das verstummte. Rudolph trocknete sich die Augen und streichelte sanft die Locken des Knaben, der ihn, das Gesicht an seiner Brust verbergend, umfaßt hielt; dann sagte er mit weicher, gefühlvoller Stimme: erinnere dich daran, Zoltán, daß du mich weinen gesehen; es sei dies ein Geheimnis deines Lebens, an das du oft zurückdenken magst; aber lasse niemand darum erfahren.

Zoltán fand so viele Süßigkeit in dem, was ihm so großen Schmerz verursacht hatte. Sein Vertrauen, sein Mut kehrten zurück. Er hob sein schönes, geistvolles Antlitz empor, das der Schmelz seiner kindlichen Thränen noch lieblicher erscheinen ließ und fragte mit gefaltenen Händen: warum, warum soll ich Sie verlassen?

– Frage mich das nicht; du wirst es ohnehin früh genug erfahren, und jener Tag, an dem du es erfahren wirst, wird für dich ein Tag schwerer Prüfung und schweren Kummers sein. Gott gebe dir Kraft, ihn zu ertragen. Jetzt sei dir genug, zu wissen, daß es nicht Mangel an Liebe ist, was uns zur Trennung zwingt, sondern ein Geschick, schwerer als ein Fluch, von dessen Hereinbrechen ich ebensowenig eine Ahnung hatte, wie du jetzt eine Ahnung davon hast. Wir müssen voneinander scheiden, und zwar scheiden, ohne daß du zu mir zurückkehren darfst.

Der Schmerz fing an, Zoltán zornig zu machen.

– Wer kann mir das befehlen, wer kann mich dazu zwingen?

– Ich, sagte Rudolph sanft, und nahm traurig die Hand des Knaben in die seinige.

– Sie, mein Pflegevater? rief der Knabe erstaunt und ohne auch nur entfernt mit einem seiner Gedanken der Wahrheit nahe zu kommen. Ach, das kann nicht sein; andere sind es, die Sie dazu zwingen, welche Kabalen spinnen und Tücke ausüben; gewiß verleumdet man Sie, weil ich reich bin und will Sie mir so entfremden; wer aber kann es mir verbieten, Sie, den edelsten Menschen auf Gottes Erdboden, der mir von meiner frühesten Kindheit an Vater gewesen, und sie, die liebevollste, zärtlichste Mutter und die besten Geschwister, die mich, den Verwaisten, als teuren Bruder in ihre Mitte aufnahmen, zu lieben, solange ich lebe? Wer kann mir das verbieten?

– Niemand, niemand, teurer Zoltán, fahre fort, uns, sie alle, zu lieben; denn auch wir werden nicht aufhören, dich zu lieben; wenn du allein sein wirst, denke oft an uns, denn auch wir werden viel von dir sprechen, so oft wir allein sind und niemand uns hört. Aber was du denkst, was du fühlst, zeige es nicht, sage niemand davon, denn es würde eine große Gefahr über dich heraufbeschwören und über uns. Worin diese Gefahr besteht, kann ich dir nicht sagen, ein schlechter Augenblick wird es dir schon verraten. Fühle und schweige! Ich bitte dich darum, und warum ich dich bitte, das wirst du thun.

Zoltán nickte sprachlos ja.

– Du wirst von uns scheiden, ohne dir vor gaffenden Zeugen merken zu lassen, daß es dir nicht leicht fällt.

Der Knabe willigte schweigend ein.

– Du wirst weit von uns sein und uns nicht schreiben; auch von uns erwarte keine Briefe, aber dennoch wirst du darüber beruhigt sein, daß wir dich lieben und uns auch von dir geliebt wissen.

Der Knabe that weiter nichts, als die Hand seines Pflegevaters während dieser Worte an seine Lippen zu führen.

– Dann, wenn wir uns hier oder dort in der Welt begegnen, wirst du dich gegen uns benehmen, als ob wir nur flüchtige Bekannte wären, zu denen du in keinen näheren Beziehungen stehst.

O das war schwer, sehr schwer zu versprechen.

– Und wird das nie ein Ende nehmen? frug schmerzlich aufseufzend der Knabe.

– Ja, einmal gewiß! sagte Rudolph, dem Knaben die Hand drückend, den dieser Trost neu zu beleben und ihm seine Seelenstärke wieder zu geben schien. (Also nicht auf ewig, nicht bis zum Tode währt dieses Rätsel; einmal wird alles sich aufklären, und wie schön wird es dann sein, das Glück wieder von neuem zu beginnen! ...)

Rudolph umarmte noch einmal den Knaben und setzte dann ruhiger und mit erleichterter Brust die Unterredung fort.

– Was mich bestimmte, dich nach Karpátfalva zu rufen, war nicht bloß, daß ich glaubte, hier ungestörter dir meine bisherigen gewichtigen Eröffnungen machen zu können, sondern auch die Überlieferung eines Familiengeheimnisses, um das, außer mir, keine lebende Seele weiß.

Mit diesen Worten stand der Graf auf und klingelte. Er mußte es zwei, dreimal wiederholen, bis jemand kam. Er hatte mit Vorbedacht die Dienerschaft von diesem Orte entfernt und es dauerte eine gute Weile, bis Paul, der alte Schaffner, die Treppe heraufgekrochen kam. Als der greise Diener den jungen Herrn erblickte, suchte er heimlich sich seiner Hand zu bemächtigen, um sie zu küssen, wohl wissend, daß er es freiwillig nicht zugelassen hätte.

Rudolph bemühte sich, durch ein paar scherzhafte Fragen Paul ins Gespräch zu ziehen und sich selbst in eine gefaßtere Stimmung zu bringen. Dann gehen sie zusammen auf den Korridor.

Auf einer Stelle bleibt der Graf stehen und fragt Paul: erinnern Sie sich noch, daß an dieser Stelle einmal ein Gang war, den der selige Johann Karpáthi vermauern ließ, weil durch denselben das Kastell dem durchstreichenden Zuge der Nordwinde zu stark ausgesetzt war?

– Ob ich mich erinnere, sagte der alte Diener, der ganz redselig geworden war; hab ich doch selbst die Vermauerung überwacht; denn der selige gnädige Herr lag schon auf der Totenbahre, als man seinen Befehl vollstreckte. Er ließ auch diesen Gang nicht deshalb vermauern, als wenn er sich vor der Zugluft gefürchtet hätte, sondern weil dieser Gang in die Zimmer der seligen gnädigen Frau führte, und weil der gute Herr, der ein halbes Jahr nach ihrem Tode der gnädigen Frau nachgefolgt war, nicht wollte, daß nach ihm jemand diese Zimmer betrete. Deshalb ließ er den Gang vermauern. In den Zimmern aber blieb alles, wie es die gnädige Frau gelassen hat, kein Stuhl ist von seinem Orte gerückt worden, nicht einmal ein Buch wurde verschoben, selbst das Klavier blieb offen, wie es war und ich, der ich seitdem jeden Tag im Kastell zubringe, häufig mutterseelenallein in dem ganzen untern Stockwerke, höre oft nächtlicherweile, wenn alles im tiefen Schlafe liegt und nur mir allein kein Schlaf kommt, wie über mir das Instrument ertönt, als ob jemand darauf spielte und wie es dann lange noch fortzittert und nachhallt. Ein abergläubischer Mensch würde auf den Gedanken kommen, daß es oben spukt; ich aber weiß recht gut, daß meine verewigte Gebieterin droben im Himmel ist, im Chore der Seligen, und daß das, was so tönt und klingt, nichts weiter ist, als eine Klaviersaite, welche von selbst gerissen ist und einen lauten Klang von sich giebt.

Zoltán hörte mit kindlicher Ehrfurcht den Reden des greisen Dieners zu, dem Rudolph auf die gekrümmte Schulter klopfte.

– Ich glaub es, guter Alter, daß der Gang deshalb vermauert wurde, aber die Folge davon war doch, daß die Gänge jetzt keinen Luftzug mehr haben, und da auch nur selten jemand im obern Stockwerke wohnt, so ist der ganze linke Flügel so mit dumpfiger Luft angefüllt, daß es einem den Atem verschlägt, wenn man zu einer Thüre hereintritt. Es zeigt sich das auch an den Möbeln, die alle Sprünge bekommen und die Fenster werden ganz blind in dieser schwülen Temperatur; wir werden daher diesen Gang wieder öffnen und lieber ein Gitter vormachen lassen, um so die Gesundheitsrücksichten für die Lebenden mit der Pietät für die Verstorbenen in Einklang zu bringen. Nicht wahr, Zoltán?

Zoltán nickte ein stummes Ja. Sein Herz pochte so gewaltig in diesem Augenblicke.

Der alte Paul kratzte sich das graue, gebeugte Haupt.

– Wohl, gnädiger Herr. Ich weiß recht gut, daß wir jetzt nicht an die Luft denken, aber es ist gut so, sehr gut. Der junge Herr Zoltán ist schon herangewachsen und groß geworden, heute, morgen wird er von hier fort müssen. Es wird sehr gut sein, wenn er vorher das Zimmer sieht, in dem seine teure Mutter, die gute gnädige Frau, gelebt hat und gestorben ist. Ich weiß, er wird oft daran zurückdenken. Ja, es ist sehr gut, daß er es sieht.

Der gerührte Greis wischte sich mit dem Rockärmel eine Thräne aus den Augen, während Rudolph ganz überrascht davon war, wie der einfache Mensch seinen wahren Gedanken so auf die Spur gekommen.

– Rufen Sie einen Maurer, sagte er trocken zu dem alten Diener.

– Wozu das, gnädiger Herr? Das ist ja keine so große Arbeit, eine dünne Wand durchzubrechen. Warum brauchen andere Leute davon etwas zu erfahren. Wir werden auch allein damit zustande kommen, sind wir doch unserer drei. Rudolph blickte aufmerksam dem Alten ins Gesicht. Ist es nicht merkwürdig, wie sich Paul in seinen Ideengang hineinzudenken versteht? Woher weiß er es, daß etwas verschwiegen bleiben muß, woran dem äußeren Anscheine nach nichts zu Verheimlichendes ist?

Der Alte hatte in wenigen Minuten einen Tschakan (Stockhammer) und ein Stemmeisen herbeigeholt und machte sich nun an die Arbeit. Er ist schon ein alter Knabe und die verwetterten Steine wollen ihm nicht recht gehorchen; jeder Ziegel wartet drei bis vier Schläge ab, ehe er sich nur von der Stelle rührt. Rudolph zog seinen Rock aus und nahm dem Diener das Stemmeisen aus der Hand; er wird schneller damit fertig werden. Unter den Streichen seines kräftigen Armes gab die Wand bald nach, Zoltán und der alte Paul halfen nur die Ziegeln auseinander nehmen, damit ihr Herabfallen nicht zu großen Lärm mache. Nach wenigen Minuten war die Bresche schon groß genug, daß ein Mann durchschlüpfen konnte.

– Gehen wir nicht weiter, riet Paul, es wird dann leichter sein, das Ganze wieder zuzumauern.

– Sie haben recht, stimmte Rudolph bei, und eilte in sein Arbeitszimmer, aus dem er mit zwei angezündeten Wachskerzen zurückkehrte – denn die Fenster jener Zimmer waren gleichfalls vermauert und es war darin so dunkel, wie in einer Totengruft.

Die eine Kerze reichte er Zoltán, die andere behielt er in der Hand und stieg durch die durchgebrochene Mauerspalte hinein, dem ihm nachkommenden Knaben die Hand reichend. Paul blieb draußen.

Ihre Schritte widerhallten dumpf in dem geschlossenen Gang; als sie vor der ersten Thüre standen, trafen sich ihre Blicke und jeder dachte bei sich, wie geisterhaft blaß doch der andere aussehe.

Rudolph war so beklommen, daß er, bevor er die Hand auf die Klinke legte, in melancholischer Zerstreutheit an die Thüre klopfte und dann erst erschreckt zurückfuhr.

... Wenn von innen eine Stimme geantwortet hatte: »herein!« ...

Mit ächzendem Knarren öffnete sich die Thüre; beide traten leise hinein und zogen sie hinter sich wieder zu.

Die seit vierzehn Jahren eingeschlossene Luft legte sich drückend und beklemmend auf ihre Brust mit dumpfer Schwüle und erstickendem Modergeruch. Selbst die Kerzen brannten matter und vermochten kaum die Finsternis zu erhellen, in die kein Strahl des Tageslichtes drang und die noch erhöht wurde durch die getäfelte dunkle Holzbekleidung der Wände, die eichenen Parketten und die nachgedunkelten alten Ahnenbilder ringsherum, von denen nur einige weiße Frauengesichter und Hände hervortraten und dadurch das übrige, was im Dunkel blieb, nur noch düsterer erscheinen ließen.

Es war dies das Vorzimmer. Ohne ein Wort zu sprechen, schritten sie hindurch in das andere Zimmer.

Es war so traurig, zu denken, daß in diesen Räumen nach dem Tode der Gebieterin keine – keine menschliche Stimme mehr gehört worden war; wer daran dachte, hütete sich, sein Auftreten darin vernehmen zu lassen. Noch hatte keiner zum andern ein Wort gesprochen.

Das zweite Gemach war das Arbeitszimmer der Karpáthi. Dort stand das Klavier, geöffnet, wie es geblieben war, auf dem Notenpult Chopins Mazurkas. Viele Saiten waren gesprungen und standen spiralförmig zusammengerollt in die Höhe. Neben dem Klavier stand der große Lehnstuhl mit dem darübergeworfenen Shawl der toten Frau, auf dem Tisch lagen ein Stickrahmen und eine Aquarellmalerei, unterbrochene Arbeiten. Die große Standuhr, auf schwarzem Marmorpostament, wies noch jetzt die Stunde, die Minute, in der Frau Karpáthi ihren Geist ausgehaucht hatte.

Die Möbel, die Tische waren alle mit feinem Staub bedeckt, der im Laufe der Jahre auch in die verschlossensten Räume eindringt und den sich selbst überlassenen Glanz, den Pomp der Toten, überzieht. Die Sammetstoffe, die noch ganz unbenutzt waren, hatten ihre Farbe verloren und als Rudolph einen Vorhang beiseite ziehen wollte, zerfiel er in seiner Hand; die Zeit hatte ihn zernagt, und vielleicht hatten auch die Larven jener kleinen Schmetterlinge an der Zerstörung geholfen, welche so dicht um die brennenden Kerzen schwärmen.

In einem der eisernen Fensterläden dieses Zimmers war eine kleine Lücke entstanden, vielleicht ist es die leere Stelle eines herausgefallenen Nagels, durch welche ein langer, dünner Sonnenstrahl hereinfiel, bis an die entgegengesetzte Wand, auf der er lebende Gestalten erscheinen ließ, wie in einer natürlichen camera obscura. Manchmal geht jemand über den Hof, dann ist es, als ob lange, gespenstige Schatten über die Wand liefen, mit aufwärts gekehrten Beinen.

Alles ist so still, nur der laut nagende Holzwurm verkündet, daß die Zeit lebt, vorwärts schreitet und vernichtet.

Jetzt standen sie vor dem dritten Zimmer.

Ein Gefühl, schwerer, beklemmender noch als die dumpfe Grabesluft, verschlägt Rudolph den Atem, indem er über diese Schwelle tritt, an die für ihn so traurige Erinnerungen sich knüpfen.

Als wäre es gestern erst geschehen, steht alles so lebhaft vor seinem Geiste; dort saß, dort weinte sie vor ihm Thränen der Verzweiflung, dorthin hatte sie ihr Gebetbuch gelegt; wahrhaftig, da liegt es noch, halb geöffnet.

– Das ist das Zimmer, Zoltán – flüsterte Rudolph, dem Knaben die Hand drückend und vor innerer Aufregung nur mühsam die gebrochenen Worte vorbringend – das ist das Zimmer, in dem deine Mutter gestorben ist.

An der rückwärtigen Wand hingen nebeneinander die Bildnisse des greisen Karpáthi und seiner Gattin, der schönen, blühenden Fanny. Ja, so war sie, das sind ihre leuchtenden Augen, ihre schwellenden Rosenlippen, das Bild ist zum Sprechen getroffen.

Zoltán eilte hin zu dem Porträt, er warf sich mit dem Gesicht auf ein vor demselben stehendes Sofa ohne Lehne und brach in ein lange anhaltendes, sanftes Schluchzen aus.

Rudolph stand hinter seinem Rücken und seine Blicke schweiften von dem Bilde auf den Knaben und von diesem wieder auf das Bild zurück.

Ist Liebe ein so schweres Verbrechen, daß sie so hart sich straft? Daß sie noch über das Grab hinaus an demjenigen sich rächt, der sich durch sie versündigt und seine Schmerzen noch auf die Nachkommen vererbt?

Beide Bilder scheinen den sie Betrachtenden anzusehen; wenn Rudolphs Augen sich auf Karpáthi richten, fällt ihm die letzte Stunde ein, die er mit ihm zugebracht, als der gute alte Nabob ihn durch all diese Gemächer geführt und mit Thränen im Auge ihm die Geschichte jedes Winkels, der sich in diesem Zimmer befindet, erzählt hatte, wo er die ihm Unvergeßliche traurig, wo er sie lachen gesehen, wo in Träumereien versunken. Hier saß, dort zeichnete, da schlief sie und hier – ist sie gestorben.

»Sieh – hatte er zu Rudolph gesagt – auf jenem Tisch liegt noch ein unbeendigter Brief; niemand hat ihn gelesen, selbst ich nicht; er ist mir ein Heiligtum.«

Diese Worte blieben wie ein Alpdruck auf Rudolphs Seele.

An wen ist dieser Brief geschrieben? Dieser Gedanke weckte ihn oft aus seinem Schlummer, trübte oft seine glücklichsten Stunden. Was kann er enthalten? Wen geht er an?

Er beruhigte sich ebenso oft mit der Antwort, daß ja ganz gleichgültige Dinge in dem Briefe stehen können und daß wohl eine Ewigkeit vergeht, bis er von jemand gelesen wird.

Jenes unheilvolle Vorladungsschreiben hatte aber die eingesargten Skrupeln aufs neue in seiner Brust wachgerufen: »wie, wenn ein unbedachtsames Wort in jenen Zeilen der Feder entschlüpft ist und wenn der Brief denjenigen in die Hände fiele, die seine und Zoltáns Feinde sind? Die Frau war eine Schwärmerin, sie war von Liebe zu ihm erfüllt; was hilft es, daß diese Liebe rein war, wie die Liebe der Engel? Ein geschriebenes Wort darin kann genügen, um dem künstlichen Lügengewebe der Anklage den Schein der Wahrheit zu leihen, um die ganze Zukunft eines jungen Lebens und alle Verdienste einer langen Vergangenheit zunichte zu machen.«

Der brennende Gedanke »was kann in diesem Briefe geschrieben stehen?« hatte ihn in Nacht und Wetter nach Karpátfalva geführt.

Er muß wissen, was in diesem Briefe geschrieben steht.

Es ist ein Diebstahl, die Entweihung eines Heiligtums, was er begeht; sein Charakter schreckt vor dem Gedanken zurück, das Briefgeheimnis eines Toten zu verletzen; aber es muß geschehen! Um der Zukunft des Knabens willen, der jetzt vor dem Bilde seiner Mutter kniet, dessen empfindsame Seele jetzt mit dem Geist seiner Mutter spricht, muß er jenem Briefe sein Geheimnis entreißen.

Zitternd näherte er sich dem Tisch und sein Herz klopfte hörbar, als er sich über das ausgebreitet daliegende Papier herniederbeugte: es flirrte ihm vor den Augen, als ob eine Geisterhand ihm dieselbe zuzuhalten bemüht wäre. Über das Papier hatte sich eine dichte Schicht Staub gelagert, welche die Schrift verdeckte. Mit einer Beklemmung, wie einer, der ein seine Seele beherrschendes Gespenst in seiner Ruhestätte aufsuchen geht, wie ein verurteilter Verbrecher, der begierig ist, sein Todesurteil zu lesen, wischte er den Staub von dem Briefe und schrak fast zusammen, als plötzlich die ihm bekannten Züge hervortraten. Er starrte mit kaltem Schauer um sich. Ihm war es in seiner Einbildung, als säße in diesem Augenblick der Geist jenes Bildes an seiner Seite, eine Hand auf seine Schulter gelegt, und mit der andern schreibend, langsam, gedankenvoll.

»Meine geliebte Flora!

(Der Brief ist also an die Szentirmay.)

»Bange Gefühle bewegen meine Brust, mir ist zu Mute, als ob ich morgen schon sterben sollte ...«

(Arme Frau; ihre Ahnung hatte sie nicht getäuscht. Schon am andern Morgen war sie eine Leiche, nur um eine Stunde hatte sie die Geburt ihres Kindes überlebt.)

»... Der Tod selbst, das Sterben hat nichts Schreckliches für mich, ich bin seit lange mit dieser Vorstellung vertraut. Ich nehme das Leben mit mir in eine stillere Behausung, und es thut mir wohl, daran zu denken. Aber ich habe ein Gespenst, ein Geheimnis meines traurigen Lebens, von dem ich nicht will, daß es mit mir begraben werde. Schon im Leben war es mir eine schwere Last, wie erst, wenn ich es mit ins Jenseits hinübernehmen müßte! Ich bin unglücklich, das konntest du sehen. Alle Zärtlichkeit, alle ausopfernde Liebe meines Gatten ist nicht imstande, mein Unglück mich einen Augenblick vergessen zu machen. Noch als junges Mädchen liebte ich einen Mann, der das Bild meiner Träume, mein Idol war; er wußte nichts von dieser Liebe, kannte mich nicht, hatte mich vielleicht nicht einmal gesehen. Später verlor ich ihn aus dem Gesichte, nicht einmal seinen Namen konnte ich erfahren, aber ich hörte deshalb nicht auf, ihn zu lieben, von ihm zu träumen. Du weißt, aus welcher gefährlichen Lage mein Gatte mich befreite; o, um wieviel gefährlicher war diejenige, in die er mich brachte; in dieser neuen Welt mußte ich zusammenkommen mit jenem Mann, den zu lieben mir ein so großer Schmerz war. Und damals war ich schon Frau und er schon Ehemann. Ich das unglücklichste Weib und er der glücklichste Gatte. Ich verdiente mein Unglück, so wie er sein Glück verdiente, und so lag eine unausfüllbare Kluft zwischen ihm und mir ... Dieser Mann – ist dein Gatte ... Wem könnte ich, nächst Gott, dies Geständnis ablegen, wenn nicht dir? Wie vor Gott mein Herz offen daliegt, so sollst auch du hineinsehen, und wenn ihr in dem Schmerz, den ich gestanden, einen sündhaften Makel findet, richtet mich; mein ganzes Leben hindurch habe ich die Qual dieses Geheimnisses mit Ergebung getragen, aber jetzt, mit dem Sorgefühl des Todes im Herzen, zittere ich vor Gott. Ich weiß, daß schon der Gedanke sträflich war, daß es eine Sünde war, wenn ich auch nur von ihm träumte; ich habe mich vergangen gegen dich und gegen Gott; und doch war es mir Wonne und Entzücken, an ihn zu denken, von ihm zu träumen. Welches Urteil darf ich erwarten? Werd ich meine Verdammung hören, daß ich vor Gott, vor den Menschen mit meinen heimlichen Gedanken gesündigt, oder wird die himmlische Barmherzigkeit sagen: »soviel sie geliebt, soviel hat sie gelitten.« O lasse mich nicht ohne Antwort; sieh ich entschuldige, ich verteidige mich nicht vor dir. Ich könnte sagen, ich bin nicht schuldig, ich habe nie gegen dich gefehlt, aber ich flehe nur um dein Erbarmen! Wenn du mir deine Hand reichst, dann weiß ich, daß auch Gott mir verzeihen wird. Deinen Mann ... o! ...«

Hier brach der Brief ab. Die ohnehin nervös aufgeregte Frau hatte bei diesen Worten eine krampfhafte Ohnmacht befallen, aus der sie erst in der Todesstunde zu sich kam. Man hatte sie in ihr Bett getragen und während des kurzen letzten Stündleins kam ihr der unbeendigt gebliebene Brief nicht mehr ins Gedächtnis. Sie sah Flora dort an ihrem Lager sitzen und wenn ihre Seele sich der göttlichen Verzeihung bewußt geworden, so war es Floras Gesicht, von dem sie diese tröstliche Überzeugung herabgelesen.

Rudolphs Blicke hafteten noch immer auf den Schlußworten des Briefes: Deinen Mann ... o! ... als warte er noch auf die Fortsetzung, als wollte er ihr zurufen: »schreib weiter, schreib zu Ende, was du mir zu sagen hattest.«

Zoltán lag noch immer in der Stellung, in der er vor dem Bilde seiner Mutter hingesunken war und bemerkte nicht, was in diesen wenigen Minuten mit Rudolph vorging. Das Antlitz seines Vormundes war in diesem Moment bleicher, als das eines Toten. Sein Geist war ganz in die Vergangenheit versenkt: wie er mit der unglücklichen Frau in diesem Zimmer zusammengekommen, wie er gegen ihren Willen ihr Geheimnis erfahren, wie sie bitterlich vor ihm geweint ... Und jetzt wieder dasselbe Weinen. Doch wohin führt ihn seine herumirrende Phantasie. Diese schluchzenden Laute rühren von Zoltán her. Sie sind denen seiner Mutter so ähnlich.

Rudolph begann allmählich wieder zu sich zu kommen und gewann seine männliche Ruhe wieder; er legte den Brief zusammen, hob ihn in die Höhe, als ob er jemand sagen würde: »Dies Geheimnis geht mich an!« und steckte ihn in seine Brusttasche. Dort ist er am besten aufgehoben. Welches Unheil könnte daraus entstehen, wenn dieser Brief in fremde Hände fiele, vielleicht in die der Feinde Zoltáns. Wie würden diese pfiffigen Kasuisten es verstehen, aus den unschuldigen, reinen Selbstbekenntnissen dieser Zeilen ein strafbares, schuldbewußtes Verhältnis heraus zu demonstrieren. Es wäre ein einziges Beweisstück gewesen, um vor der Welt gegen ihn zu zeugen. Vor niemand sonst, nur vor der bösen Welt, die immer geneigter, Schlechtes als Gutes zu glauben, und die grausamer ist als die blutigsten Tyrannen des Altertums, denn sie weiß nur zu verurteilen, nicht zu begnadigen. Aber dies Schreiben ist nun gut ausgehoben! Rudolph fühlte seine Brust von einem Ungetüm befreit, das seit Jahren mit den Besorgnissen seiner Seele sich großgesogen hatte und sich beständig erneuerte, wie ein im Innern des Körpers entstandener Polyp.

Er stand auf und schritt hinüber zu Zoltán, mit der Kerze in der Hand das Porträt beleuchtend.

Das Bild selbst, die tote, bemalte Leinwand, erschien ihm um vieles lebensfrischer, um vieles lächelnder, als ob es gleichfalls glücklicher und beruhigter wäre und sich freute, daß der gefährliche Brief in die Hände dessen gelangt, der sein Geheimnis am besten zu wahren weiß ...

Er hob den Knaben auf, der die Augen von dem schönen Gesichte seiner Mutter nicht abzuwenden vermochte.

– Denke oft zurück an diese Stunde in deinem Leben. Und nun nimm zu dir, was du von deiner Mutter geerbt: dies Gebetbuch. Gieb acht, daß du nichts verstreuest, was darin ist; es sind lauter teure Andenken. Schäme dich nicht, es oft anzusehen, deine Hand wird gesegnet sein, so oft du darin blätterst. Bewahre dir die Eindrücke deiner Kinderjahre, sie verdienen es, in Ehren gehalten zu werden. Sei nicht verschwenderisch mit deiner Zuneigung, aber wem du dich hingiebst, dem bleibe treu. Wenn dich das Leben manchmal auf Scheidewege stellt, so frage dein eigenes Herz um Rat, denke an sie, die von oben auf dich herabblicken, an den Geist deines Vaters, deiner Mutter, und handle so, damit sie dich glücklich sehen. Und nun sagen wir denen Lebewohl, die hier zurückbleiben.

Noch einmal blickten sie umher in den dunkeln Gemächern. Die verblaßten Denkzeichen, die schlummernden Geister, mögen sie weiter schlafen. Im Nebenzimmer ertönte das Klavier, als glitten geisterhafte Finger über dasselbe hinweg. Zoltán schmiegt sich erschreckt an Rudolph ... Es ist nichts; eine Maus ist über die Tasten gelaufen. Die Geister schlafen ruhig.

Die Lichter werden weiter getragen, die beiden Bildnisse umfängt wieder die gewohnte Nacht; in der dumpfen, lautlosen Luft verhallt das letzte Knarren des Schlüssels. Zoltán küßt im Vorbeigehen das über den großen Armstuhl hingebreitete Tuch. Nachdem sie auch das Vorzimmer verlassen, schreiten sie den Gang hindurch bis zu der ausgebrochenen Mauerspalte, vor der der greise Diener Wache steht. Als wälzten sich schwere Berge von ihrer Brust, so voll, so erleichtert seufzen beide auf beim Hinaustreten in die freie Luft.

Da draußen scheint die Mittagssonne so hell, so lustig durch die grünen Linden und scheint verwundert zu fragen: wohin, wohin mit diesen erbleichenden Kerzen und diesen blassen Gesichtern? ...


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