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Lists Vaterstadt Reutlingen hatte i. J. 1817 eine Beschwerde gegen einen Beamten eingereicht, der das Gemeindevermögen verschleudere und die Bürger mißhandle, sie auch im Volksboten abdrucken lassen, damit aber nichts erreicht, als daß die Verfasser vor Gericht gestellt wurden. Am 13. März 1819 erteilten sie ihrem Mitbürger List, der ihnen schon früher mit Rat beigestanden hatte, eine förmliche Vollmacht, ihre Sache zu führen, und am 6. Juli wählten sie ihn in die Kammer, gegen den Protest des Wahlkommissars. Auf Grund der nicht ganz klar bewiesenen Behauptung, daß er das erforderliche Alter noch nicht habe, erklärte die Regierung seine Wahl für ungültig. Während dieses Verfahren noch schwebte, trug ihm die Stadt Waldsee ihr Mandat an und bat ihn, eine Belehrung für die Wahlmänner aufzusetzen, damit sie wüßten, was für einen Mann sie zu wählen und was sie diesem aufzutragen hätten. List erfüllte die zweite Bitte durch Abfassung eines Wahlkatechismus, der ihm Ende 1819 eine Untersuchung zuzog. Nachdem er sein Amt als Konsulent des Handelsvereins niedergelegt hatte, wurde er Ende 1820 zum zweitenmal von den Reutlingern gewählt, und diesmal konnte die Regierung die Gültigkeit nicht anfechten. Aber auch abgesehen von der Feindschaft der Regierung war der Zeitpunkt seines Eintritts in die Kammer der denkbar ungünstigste. Wie bereits erwähnt, hatte sein Gönner Wangenheim einer Koalition der Altrechtler und der Bureaukraten weichen müssen, so daß List nun nicht allein die Regierung, sondern auch die Kammermehrheit gegen sich hatte. In seinen Aufzeichnungen, wo er von sich selbst in der dritten Person spricht, schildert er die Lage wie folgt: »Es muß bemerkt werden, daß List, aus einer demokratisch regierten Reichsstadt entsprossen, einerseits frei war von der damals den sogenannten Altwürttembergern anklebenden Vorliebe für die Auswüchse ihrer alten Verfassungszustände, andererseits durch wirkliche Anschauung des offenliegenden Getriebes eines – wenn auch kleinen, beschränkten und in etwas veralteten, aber doch im Ganzen mit wundervoller praktischer Lebensweisheit schon unter den mittleren deutschen Kaisern konstruierten und auf die Thätigkeit und Teilnahme aller Staatsgenossen basierten – Gemeinwesens schon in früher Jugend an politischen Dingen Geschmack gefunden und das Beste eines freien Staatsorganismus praktisch kennen gelernt hatte. Dies kam ihm in seinen politischen Studien nicht wenig zustatten, wie denn seine Freunde sich noch erinnern, daß er, bei den von Professor Mayer angestellten Examinatorien über Rousseau befragt, erwiderte, Jean Jacques habe die Lehre vom Contrat social nicht aus den Fingern gesogen, sondern von den Verfassungen der deutschen Reichsstädte und vielleicht der seiner eigenen Vaterstadt abstrahiert, indem der jährliche Schwurtag doch wohl nichts anderes ist, als der Abschluß eines Contrat social für den Lauf des kommenden Jahres.
Bei dieser Bemerkung muß jedoch List in Schutz genommen werden gegen den Vorwurf, der ihm später von seinen minder politisch gebildeten Gegnern gemacht worden, nämlich daß er jakobinische Grundsätze hege oder gehegt habe. Dieser Vorwurf ist so unbegründet, daß gerade das Gegenteil wahr ist. Das Wesen des Revolutionärs besteht darin, daß er allererst einreißt, ohne zu bauen, und daß er, wenn er zu bauen genötigt ist, sein Gebäude auf einer tabula rasa errichten will. List dagegen hat immer das Bestehende zur Grundlage seiner Reformen genommen« und u. a. den Adel für einen sehr nützlichen Stand erklärt. Von sich und Schlayer schreibt er: »Wir zogen als junge Männer einander nach und übten auf die Umschaffung der Verfassung und Verwaltung unseres Landes einen Einfluß, der für zwei so junge Männer ein außerordentlicher zu nennen ist. Den Geist der Altrechtlerpartei wie ihre Zwecke durchschauend und bekannt mit der englischen Verfassung und Verwaltung, hatten wir uns, von einer konstitutionellen Verfassung träumend, im Verfassungskampf – ich schriftstellerisch und als gern gesehener von ihm angestellter Besucher des ersten Ministers thätig, er als zweiter, aber einflußreichster Sekretär eben dieses genialen Ministers, zu welcher Anstellung ich die erste Veranlassung war – auf die Seite der Regierung gestellt. Wir waren deshalb von anderen gleichfalls im Staatsdienst hervorragenden, uns früher befreundeten jungen Männern bürgerlich-aristokratischer Abkunft, folglich der altrechtlerischen Partei angehörig, als Servile gleichsam geächtet worden, weil wir geheime Truhen, ständische Ausschüsse, ständische Finanzverwaltung, Landschaftsköchinnen, Landschaftskutschen, ständische Schlaftränke, eine einzige Kammer, Heimlichkeit ihres Verfahrens und vorlängst schon von der Macht in Stücke geschlagenes, aber nach der altrechtlichen Ansicht auf dem altrechtlichen Vertragsboden nunmehr neu zu leimendes Gerümpel nicht als Palladium der bürgerlichen Freiheit gelten lassen wollten.« Nie habe es ein Ministerium von redlicherem Willen, nie aber auch ein von größerem Unstern verfolgtes gegeben. Der Himmel scheine ihm seinen Segen verwehrt zu haben, weil er wolle, daß sich die Völker wie die Einzelnen alle Güter erwerben, nicht von Ministern schenken lassen sollen. »Inzwischen,« fährt er fort, »hatten sich die Dinge geändert; Wangenheim war abgetreten. Im Jahre 1819 wurde eine neue konstituierende Versammlung berufen; das Volk, in seiner alten Verblendung, wählte die Männer von 1815, und so wurde zwischen den Altrechtlern auf der Seite der Volksvertretung und den Altrechtlern auf der Seite des Ministeriums ein Verfassungsvertrag abgeschlossen, bei dem niemand mehr zu kurz kam als König und Volk, und niemand besser bedacht wurde, als die Beamten-Oligarchie. Im Jahre 1821 stand schon alles auf festen Füßen. Die Altrechtler hatten sich auf die Stühle der Minister, der Geheimräte, der Ausschußassessoren, kurz auf alle Stühle, die leer oder leer zu machen waren, niedergesetzt, schrieben Edikte und Verordnungen im alten Stil, sagten, das Land sei nun glücklich, es sei nichts so sehr von nöten als Einigkeit zwischen der Regierung und den Ständen, man müsse daher vorlaute Schreier im Zaume halten.«
Am 7. Dezember 1820 trat List in die Kammer ein. Gleich am selben Tage stellte er drei Anträge. Der erste besagte, die Kammer solle die Mittel in Erwägung ziehen, durch die dem darniederliegenden Gewerbe und Handel aufgeholfen werden könne; der zweite: die Kammer solle der Finanzkommission aufgeben, die Steuern mit den Kräften des Landes in Einklang zu bringen; der dritte Antrag forderte jährliche Landtagsperioden und jährliche Budgetbewilligungen. Am 20. Dezember ward die Kammer vertagt. List benutzte die Weihnachtsferien dazu, die Wünsche seiner Reutlinger Wähler in einer Petition zusammenzufassen, die sich zu einer vernichtenden Kritik der Württembergischen Staatsverwaltung auswuchs. Es heißt darin: »Ein oberflächlicher Blick schon auf die inneren Verhältnisse Württembergs muß den unbefangenen Beobachter überzeugen, daß die Gesetzgebung und Verwaltung unseres Vaterlandes an Grundgebrechen leiden, die das Mark des Landes verzehren. Eine von dem Volk ausgeschiedene, über das Land ausgegossene, in den Ministerien sich konzentrierende Beamtenwelt, unbekannt mit den Bedürfnissen des Volkes und den Verhältnissen des bürgerlichen Lebens, in endlosem Formenwesen kreisend, behauptet das Monopol der öffentlichen Verwaltung, jeder Einwirkung des Bürgers, gleich als wäre sie staatsgefährlich, entgegenkämpfend; ihre Formenlehre und Kastenvorurteile zur höchsten Staatsweisheit erhebend, eng unter sich verbündet, durch die Bande der Verwandtschaft, der Interessen, gleicher Erziehung und gleicher Vorurteile.« An die Beschwerde schließt sich ein in 40 Sätze gegliederter Reformvorschlag, ein kurzer Abriß dessen, sagen die Petenten, »was wir für altes und auch für gutes Recht erkennen.« Die wichtigsten Forderungen sind: 1. Sämtliche Magistratspersonen, die nicht von der Bürgerschaft erwählt sind, sollen entlassen und durch neugewählte ersetzt werden. 2. Der Magistrat soll in Gericht und Rat geteilt werden. Nach Nr. 7 ist den Gemeindegerichten eine der Zahl der Richter gleichkommende Anzahl von Bürgern als Schöffen beizugeben. Nach Nr. 10 sollen Gemeinderat und Bürgerausschuß die Gemeindewirtschaft ohne Einmischung der Regierung verwalten und nach Nr. 11 soll der Gemeinderat in allen Sachen, die nicht bereits eine feste Norm haben, an die Zustimmung des Bürgerkollegiums gebunden sein. Die Sätze 17 bis 25 handeln von der Neuorganisation der »Ämter« und enthalten die Grundzüge dessen, was in Preußen Kreisordnung genannt wird. 28 fordert Geschworenengerichte und Öffentlichkeit der Verhandlungen in Kriminalsachen, 29 bis 40 entwerfen die Grundzüge einer Finanzreform. Die bestehenden drückenden Steuern, namentlich die indirekten, sollen durch eine einzige Steuer, eine mäßig zu bemessende Einkommensteuer ersetzt werden; der Fehlbetrag, der sich dann ergeben werde, sei mit den Zinsen eines durch Domänenverkauf zu bildenden Fonds zu decken. Also: Forderungen, die teils im damaligen Preußen schon erfüllt waren, teils seitdem in ganz Deutschland erfüllt worden, teils heute noch streitig sind.
Aber, wie die Dinge lagen, mußte die Bureaukratie das Ganze als die Herausforderung zu einem Kampfe auf Leben und Tod ansehen, und man darf sich nicht wundern, daß sie sich in der Verteidigung ihrer Stellung durch »juristische Zwirnsfäden« nicht fesseln ließ. Selbst ein David Strauß erkannte an, daß der Angriff übers Ziel hinausschieße, daß es ganz so schlimm im Schwabenlande nicht aussehe. Aber die Erfahrung lehrt, daß Reformbewegungen nicht in Gang kommen ohne übertreibende Anklagen gegen das Bestehende und ohne jene beleidigende Schärfe der Sprache, die List im Verkehr mit Behörden liebte; während es andererseits selbstverständlich ist, daß die Angegriffenen keine Rücksicht nehmen und, so lange sie die Macht dazu haben, die Führer solcher Reformbewegungen vernichten.
List hatte die Petition lithographieren lassen. Ein Polizeikommissar erschien in seiner Wohnung, während er krank im Bett lag, und beschlagnahmte die von der Druckerei soeben gelieferten Exemplare, samt der Handschrift. List rief den Richter an, erfuhr aber »zu seinem nicht geringen Erstaunen«, daß dieser gegen ihn eine Untersuchung einzuleiten im Begriff stehe. Als die Kammer am 6. Februar 1821 ihre Verhandlungen wieder aufnahm, wurde ihr das durch königliches Reskript bekannt gemacht, damit sie die Paragraphen 158 und 135 Nr. 2 auf List anwende, d. h. ihn ausschließe. Nach § 158 verlor der Abgeordnete sein Mandat, wenn er eine der im § 135 aufgezählten Eigenschaften verlor, und zu diesen gehörte, daß keine Untersuchung gegen ihn schweben dürfe, die mit einer Verurteilung zu Zuchthaus oder zu Festungsstrafe mit Zwangsbeschäftigung endigen konnte; selbst wenn in solchem Falle das Verfahren wegen mangelnder Beweismittel eingestellt wurde, durfte der Angeklagte in Zukunft nie wieder gewählt werden. List und seine Freunde machten dagegen geltend, daß eine Untersuchung, die vom Kriminalamt geführt werde (so hieß die dem Kriminalamt des Eßlinger Gerichtshofes unterstellte, in Stuttgart residierende Behörde, die in schweren Fällen die Untersuchung zu führen hatte), darum noch nicht eine Kriminaluntersuchung sei. Zu einer solchen gehöre, daß es sich um ein Kriminalverbrechen handle, und ein solches sei die Injurie, deren er beschuldigt werde, doch nicht. Sie zu einem Majestätsverbrechen zu stempeln, sagt Strauß, war nicht ganz leicht, und er zerstört das aus alten und neuen Paragraphen gar künstlich gefertigte Gewebe, womit juristischer Scharfsinn den Feind zu fangen versuchte. Als am 26. Januar die Untersuchung gegen List eröffnet wurde, sagte ihm der Richter: »Im ersten Teil nehmen Sie sich heraus, gegen die Staatsdiener herzufallen und diese feindselig dem Volke gegenüberstellen.« Und in den Entscheidungsgründen des Eßlinger Gerichtes heißt es: »List hat die ganze Staatsdienerschaft des Königreichs verleumdet, denn er hat ihr insgesamt, ohne Ausnahme, moralische Mängel und Gebrechen vorgeworfen, wie Eigennutz, Parteilichkeit, Betrug, Bestechlichkeit, Rechtsbeugung, ja er hat der Regierung sogar vorgeworfen, sie begünstige die Mängel und Verbrechen ihrer Diener.«
Hiergegen erhob List mit Recht zunächst den Einwand der Entstellung und Verfälschung der Worte seiner Petition. Nicht der Regierung habe er vorgeworfen, daß sie die Mängel und Gebrechen ihrer Diener begünstige, sondern von der Staatswirtschaft habe er gesagt, sie begünstige Unterschleife, und habe damit die Naturalwirtschaft gemeint, auf deren Abschaffung deswegen im zweiten Teile des Petitionsentwurfs gedrungen werde. Er habe nicht behauptet, daß es überall in Württemberg unredliche Magistrate, gewaltthätige Beamte, parteiliche Obere gebe, sondern daß man allenthalben im Lande über solche klagen höre, woraus allerdings folge, daß es Manche der Art wirklich geben müsse. Nicht von den Regierungsbehörden, wie ihm der Untersuchungsrichter vorgeworfen, habe er gesagt, sie vernichteten die bürgerliche Freiheit und verzehrten das Mark des Landes, sondern die Gesetzgebung und Verwaltung unseres Vaterlandes – heiße es wörtlich in seiner Petition – leide an Grundgebrechen, die das Mark des Landes verzehrten und die bürgerliche Freiheit vernichteten. Darunter verstehe er nicht allein das Beamtenwesen, sondern auch das Feudalwesen, die stehenden Heere, die heimlichen Gerichte, das unmäßige Schreiberwesen.
Die Beschwerden der Petition seien zweitens schon deswegen keine Injurien, weil sie notorische Wahrheiten seien, so z. B. könne niemand bestreiten, daß die Beamtenwelt nicht, wie ehemals, aus dem Volke hervorgehe, sondern ein von ihm abgesonderter Stand sei. Namentlich in der Abneigung der württembergischen Juristen gegen Bürgergerichte, gegen das Institut der Geschworenen und gegen die Öffentlichkeit der Rechtspflege zeige sich jener Kastengeist, den er in seiner Petition geschildert habe.
Die Anklage auf Injurien falle drittens auch darum in sich zusammen, weil ein injuriiertes Subjekt fehle. Nicht, die einzelnen Staatsdiener habe er getadelt, sondern ganze Institute, die als Abstrakta nicht beleidigt werden könnten.
Gehöre endlich viertens zum Begriff der Injurie auch die Absicht, zu beleidigen, so liege im zweiten Teile seiner Petition der thatsächliche Beweis vor, daß er vielmehr jene Gebrechen nur geschildert habe, um die gesetzgebende Gewalt für seine Verbessungsvorschläge empfänglich zu machen. Erlaubten Tadel also, keine strafbare Verleumdung, enthalte der Petitionsentwurf. Erlaubt wenigstens in einer konstitutionellen Monarchie. Zum Wesen einer solchen gehöre es, daß jedem Bürger das Recht zustehe, die bestehenden Institutionen, die Mitglieder der Regierung, die Gesetzgeber zu tadeln. Ohne eine solche freie Kritik der Personen sowohl als der Institutionen könne der Zwecks den sich jede gute Verfassung vorsetze, unmöglich erreicht werden. Allerdings müsse die Kritik eine Grenze haben; diese Grenze aber könne nicht soweit vorgerückt werden, daß außer dem guten Rufe der Staatsdiener auch ihre Vorurteile, ihre Anmaßungen gegen den Bürgerstand, ihre etwaige Unfähigkeit, die Überschreitungen ihrer Amtsgewalt und andere Fehler in Schutz genommen würden; der Anspruch aller Staatsgenossen auf Treue, Unparteilichkeit und Intelligenz der Männer, denen das Volk sein Wohl in die Hände giebt, stehe weit höher als der Anspruch der Staatsdiener auf eine ihrer Willkür, Selbstsucht und Bequemlichkeit entsprechende Amtsverwaltung.
Wenn List geglaubt hat, daß ihn diese Verteidigung in den Augen der Juristen entlasten werde, so hat er ein kindliches Gemüt gehabt.
Neben dem Prozeß liefen die Kammerverhandlungen her. »Von Heilbronn aus,« schreibt Strauß, »wollte man dem Angeklagten durch Bezeugung der Wahrheit seiner Angaben zu Hilfe kommen. Der Abgeordnete der Stadt verlas eine von vielen ehrenwerten Bürgern unterzeichnete Eingabe, in der sie versichern, sie hätten den Listschen Petitionsentwurf mit Bedacht gelesen, fänden aber darin weder Unwahrheiten, noch Verleumdungen, noch auch nur Übertreibungen, vielmehr eine vollkommen wahrheitsgetreue Schilderung davon, wie es dermalen im Lande aussehe. »Allein solche Dinge führen zur Sansculotterie, zum Jakobinismus,« wurde dem Verleser von den loyalen Abgeordneten zugerufen, und nachdem der Antrag einiger Übereifrigen, die Eingabe den Gerichten zu übergeben, doch die erforderliche Unterstützung nicht gefunden hatte, wurde wenigstens beschlossen, sie durch Entfernung aus den Akten der Kammer zu brandmarken.
Am 7. Februar 1821 war eine Kommission gewählt worden, die das königliche Reskript begutachten sollte. Hineingewählt wurden außer Keßler und Griesinger, die schon für List gesprochen hatten, auch solche Gegner wie Uhland, die einer bewußten Ungerechtigkeit nicht fähig waren. List forderte, daß man ihm zu einer längeren Rechtfertigung das Wort erteile, ehe die Kommission ihren Bericht erstattete. Zwei Tage wurde über den Antrag gestritten, endlich erteilte man ihm die Erlaubnis, räumte ihm aber zur Vorbereitung nur einen Tag ein. Am 17. Februar hat er mit glänzender Dialektik und der aus dem Bewußtsein des Rechts hervorgehenden packenden Gewalt alle Deduktionen des Justizministers, der natürlich die Kammer bearbeitet hatte, Punkt für Punkt widerlegt. Namentlich legte er dar, daß der Gesetzgeber bei der Bestimmung, wonach durch eine Kriminaluntersuchung das passive Wahlrecht verloren gehe, unmöglich andere als solche Vergehungen im Auge gehabt haben könne, die ehrlos machen, daß die Verfassung nach dem Geist, nicht nach dem Buchstaben angewendet werden, und daß der Buchstabe, wenn er zu Absurditäten führe, geändert werden müsse. Ganz hinfällig sei der Vorwurf, er habe die Staatsverwaltung verleumdet. »Wie kann eine Verwaltung verleumdet werden? Nur Menschen, nicht Institutionen können in ihrer Ehre angegriffen werden. Wenn jemand ein Urteil über die Staatsverwaltung fällt, und dieses Urteil ist begründet, so ist das eine wohlthätige Wirkung des konstitutionellen Zustandes, weil die öffentliche Bekanntmachung des Gebrechens eine Verbesserung zur Folge haben wird. Ist aber das Urteil unrichtig, so findet der Urteilende in der Mißbilligung des Publikums seine Strafe. Wo der Bürger zu einem Urteil über die öffentlichen Zustände berechtigt ist, da muß er es auch aussprechen dürfen auf die Gefahr hin, daß es ein irriges sei. Irrtum aber verdient nicht Strafe, sondern Belehrung.« Die Verteidigung läuft in eine nochmalige scharfe Kritik der Justiz aus, die kein Vertrauen verdiene, weil die Richter von der Regierung abhängig seien. Obgleich in der Kommission Lists Gegner die Mehrheit hatten, gelangte sie doch zu der Ansicht, daß die Forderung der Regierung abzulehnen sei, weil, wie ihr Berichterstatter Uhland ausführte, die Verfassung nur solche Männer von der Kammer auszuschließen beabsichtige, die eines entehrenden Verbrechens überführt oder verdächtig seien. Das wäre, meint Strauß, ganz gut gewesen, wenn es bei der Beratung des § 135 der Verfassungsurkunde gesagt worden wäre; nun aber dieser Paragraph in seiner unglücklichen Fassung einmal dastand, habe die Kammer lediglich die Thatsache anzuerkennen gehabt, daß eine Untersuchung beim Kriminalgericht schwebe. Das hatte auch die Minderheit in ihrem Sondergutachten ausgesprochen, und diesem schloß sich die Kammer an; sie bejahte nach einer langen Debatte, in der Uhland warm für List sprach, mit 56 gegen 36 Stimmen die Frage: soll der Abgeordnete List aus der Kammer austreten? Aus der Debatte mag wenigstens eine Äußerung des Abgeordneten Schott angeführt werden. Das sogenannte Verbrechen Lists sei unzähligemal begangen worden, denn unzähligemal sei dasselbe gesagt worden, und zwar zu Wangenheims Zeit für die Regierung. Er könne nur bedauern, daß eine Schrift, die ein englischer Minister entweder gar nicht gelesen oder mit Lachen aus der Hand gelegt haben würde, in dem konstitutionellen Württemberg zum Staatsverbrechen gestempelt worden sei. Bei der Abstimmung begründeten Mehrere ihr »nein«. So sprach der Abg. Beckh: »Mir ist es um die Preßfreiheit zu thun; ich sage mit jenem Engländer: lieber keine Verfassung als keine Preßfreiheit.«
Die Frage, ob List wieder in die Kammer eintreten dürfe, wenn die Untersuchung eingestellt würde, bejahten Lists Gegner, um das Odium der Ausschließung zu mildern; gerade Lists Freunde aber stimmten dagegen, weil die Verfassung eine solche vorübergehende Suspension nicht kenne. Strauß bemerkt: List und seine Freunde hätten ganz recht gehabt, die Ungeheuerlichkeit hervorzuheben, daß es im Belieben eines von der Bureaukratie und von den Feudalen abhängigen Richters stehe, einen mißliebigen Volksvertreter seines Mandats zu berauben. Allein daran sei eben der fehlerhafte Verfassungsparagraph schuld gewesen; dieser hätte bei der Gelegenheit geändert werden müssen; weil die Kammer das unterlassen, nicht wegen der Ausschließung Lists, verdiene sie Tadel.
Mittlerweile nahm der Prozeß seinen Fortgang, und die Richter beeiferten sich, durch Häufung von Chikanen die Reutlinger Petition glänzend zu rechtfertigen. Aus seinem Verhalten in der Kammer und namentlich aus seiner Verteidigungsrede konstruierten sie neue Verbrechen – die parlamentarische Redefreiheit existierte nicht für sie –; bald rügten sie des Kranken mangelhafte Fußbekleidung, bald andere Ungebühr und bedrohten ihn mit einem vorkonstitutionellen Paragraphen, der für widerspenstige Inquisiten statt der Folter Haft und Stockprügel verordnete. Die Verhöre zogen sich bis in den August hin; zur Deckung der Untersuchungskosten wurden Lists Bibliothek und Hausrat gepfändet, was zur Folge hatte, daß seine kurz vorher von einer Krankheit genesene Frau aufs neue gefährlich erkrankte.
Endlich, am 6. April 1822 erging das Urteil: List wurde »wegen Beschimpfung der Staatsdiener«, wegen verschiedener »unter sehr beschwerenden Nebenumständen« begangener Verbrechen, »auch unbotmäßigen Benehmens gegen das Inquisitoriat« zu zehnmonatlicher Festungsstrafe »mit angemessener Beschäftigung innerhalb der Festung und Bezahlung von elf Zwölfteln der Untersuchungskosten« verurteilt. Die Freiburger Juristenfakultät hat später dieses Urteil als »in Wesen und Form null und nichtig« bezeichnet. In einer Eingabe an den König, über deren Schicksal nichts bekannt ist, beschwerte sich List vorzugsweise über die Zwangsarbeit, die ihn bürgerlich tot mache. Er beschloß, es mit einem Rekurs zu versuchen, und den Erfolg im Ausland abzuwarten. Am 13. floh er, und am 15. berichtete er seiner Frau, unter welchen Abenteuern er nach Straßburg gekommen sei. An den Freiherrn von Cotta schrieb er am 1. Mai: »Es hat mich viel gekostet, einen Schritt zu thun, der so sehr alle meine häuslichen Verhältnisse derangiert. Blieb mir aber eine Wahl? Sollte ich mich von diesen Schreibern auf den Asperg schleppen und dort zu ihrem großen Jubel an den Schreibtisch ketten lassen? Wenn ich auch als Privatmann und aus Rücksicht auf meine Familie eine solche Schmach hätte ertragen können, war ich je würdig, wieder als Sprecher für die konstitutionelle Freiheit aufzutreten, wenn ich meine Person zu einer Exekution hergegeben hätte, die das Repräsentativsystem und die Würde des Repräsentanten schändet? Man hat mir keine Wahl gelassen, als Schmach oder Verteidigung! Und ich werde mich verteidigen, werde, sollte man mich von hier vertreiben, nach London, nach Madrid, nach Amerika gehen, um diesen gemeinen Ausbrüchen der gemeinsten Leidenschaften zu entgehen und mich zu rechtfertigen.«
Von der Aufnahme, die er in Straßburg fand, war er entzückt. Nicht bloß die Liberalen, sogar die Ultras verurteilten seine Richter. Man wollte sich totlachen, als man vernahm, er solle Karren schleppen, weil er eine den Ministern mißfällige Adresse verfaßt habe. In einer Abendgesellschaft von Professoren der Rechtswissenschaft und Advokaten, zu der er geladen war, unterhielt man sich über eine Erklärung des württembergischen Ministeriums im »Nürnberger Korrespondenten«, worin es hieß, er sei zu litterarischen Festungsarbeiten verurteilt; nach so einer Dummheit, meinten die Herren, könne sich das Ministerium keine acht Tage mehr behaupten. Indes hielt die hoffnungsfreudige Stimmung des Flüchtlings nicht lange an. Man hatte ihm Aussichten auf eine Privatdozentenstelle in Freiburg eröffnet, aber die badische Regierung trug Bedenken, einen im Nachbarstaat Verurteilten anzustellen. Litterarische Pläne scheiterten an allerlei Hindernissen, zum Teil daran, daß List bei seinen Landsleuten nicht die gehoffte Unterstützung fand. Ein Freund schrieb ihm, das württembergische Volk verdiene nicht, daß jemand für es wirke; Rezepte zu Krebssuppen, wie sie jetzt der Volksfreund liefere, seien mehr nach seinem Geschmack, als Politik und Volkswirtschaft. Trotzdem fand er den Aufenthalt in Straßburg immer noch sehr angenehm. »Schwester Luise,« schreibt er einmal nach Hause, »hat einigermaßen Recht: alles Neue gefällt mir, weil es fast immer besser aussieht, als das Alte; was aber Straßburg betrifft, so kenne ich jetzt die Vorteile und Nachteile des hiesigen Lebens genau und sage Dir, daß ich lieber hier ein Käsekrämer, als in Stuttgart Regierungsrat sein möchte.« Was in Stuttgart Ursache sei, daß ihn die sogenannten Gebildeten wie einen Pestkranken flöhen, das verschaffe ihm hier die Hochachtung und Freundschaft der angesehensten Männer.
Eine Pariser Buchhandlung schickte einen ihrer Angestellten zu ihm, um ihn zur Abfassung seiner Denkwürdigkeiten aufzufordern. Das waren Lichtblicke, im allgemeinen jedoch trübte sich der Horizont immer mehr. Schriftstellerhonorare, die er erwartete, blieben aus, und gerade in der Zeit, wo seine Frau einer Entbindung entgegensah, stellten sich Nahrungssorgen ein und – die Polizei. Die Straßburger Mairie ward vom Eßlinger Gericht gedrängt, List entweder auszuliefern oder ihm 3000 Gulden Kaution abzuverlangen. Er siedelte ins Badische über und sah da seine Familie einmal. In keiner Not versäumte er es, überall, wo er sich gerade aufhielt, Land und Leute genau zu beobachten und das Wahrgenommene niederzuschreiben; auch aus dieser Zeit der Flüchtlings-Irrfahrten liegen solche Aufzeichnungen vor.
Am 22. Dezember 1822 eröffnete ihm das Oberamt Kork, vor das er geladen war, daß die Appellationsinstanz den Spruch des Eßlinger Gerichtshofes bestätigt habe, und daß man seinen Aufenthalt in Baden nicht gern sehe. Er unternahm Anfang 1823 einen Ausflug nach Paris, wo er von Lafayette freundlich aufgenommen wurde, und nach London, und folgte dann im Frühjahr einer Einladung Snells nach Basel. Aber auch in der freien Schweiz sah es anders aus, als er sich's vorgestellt hatte. Die Polizei forderte einen Heimatschein und gestattete, da er den nicht hatte, den Aufenthalt nur 14 Tage. Er mußte daher seine Familie, die ihm nachgefolgt war, einstweilen allein in Basel lassen, und suchte in einem anderen Kanton unterzukommen. Einige Zeit hielt er sich in Aarau auf, wo er das Bürgerrecht zu bekommen hoffte, veröffentlichte in der Zeitschrift »Themis« die Akten seines Prozesses und machte Ende Juli einen Ausflug nach Thurgau und Luzern. Mit den Professoren Follen, Mönnich, Rauchenstein, dem damals an der Kantonschule zu Aarau angestellten Wolfgang Menzel und dem ebenfalls aus Deutschland geflüchteten Philosophen Troxler machte er eine Kahnfahrt nach Flüelen. Menzel, in dessen »Europäische Blätter« List Beiträge lieferte, berichtet: »Während wir über den See fuhren, erzählte uns List seine Schicksale und brach in einen Sturm von Verwünschungen gegen die württembergische Schreiberei aus. Indem er sich zornig im Kahne erhob, die geballten Fäuste ausstreckte und zähneknirschend schrie: ›o Schreiber, Schreiber‹, brachte er den Nachen ins Schwanken, fiel um und wäre ertrunken, wenn wir ihn nicht gehalten hätten. Er war der leidenschaftlichste Mensch, der mir jemals vorgekommen ist; damals noch jung, aber schon dick. Wer ihn einmal gesehen hatte, vergaß ihn gewiß nie wieder, denn auf seiner kurzen und behäbigen Figur erhob sich ein unverhältnismäßig großer, löwenähnlicher Kopf. Seine Augen funkelten umher; immer spielten Gewitter auf seiner breiten Stirn, und sein Mund flammte beständig wie der Krater des Vesuv.« Über Zürich, wo ihm Aussicht aufs Bürgerrecht gemacht wurde, Frauenfeld und Konstanz kehrte er nach Aarau zurück, besuchte seine Familie auf ein paar Tage und siedelte dann, da er weder in Aarau noch in Zürich das Bürgerrecht erlangte, vorläufig wieder nach Basel über, wo man ihn dulden zu wollen erklärte.
Bald aber überwarf er sich mit der dortigen Regierung. Menzel erzählt: »Immer daherbrausend und den Dreizack schwingend wie Neptun, wenn er sein Quos ego über das Meer donnern ließ, hatte List öffentlich allerlei Sitte, Gewohnheit und Recht der Stadt Basel getadelt und mit so göttlicher Grobheit, daß man endlich böse auf ihn wurde. Man verbot ihm die Stadt. Als er nun aber doch wiederkam und einen Flüchtlingsball gab, wurde er am anderen Tage zu 24 Stunden Haft verurteilt und zwar bei Wasser und Brot. Ein befreundeter Arzt aber minderte ihm die Pein, indem er ihm durch Rezept aus der Apotheke eine Wurst und eine Flasche Wein verschrieb. Nach 24 Stunden mußte er Urfehde schwören, daß er die Stadt nie wieder betreten werde, kam zu uns nach Aarau und erzählte uns die ganze Geschichte mit köstlichem Humor unter Zorn und Lachen.«
Nach Häusser hat die Korrespondenz mit Freunden in der Heimat, unter denen Cotta an die erste Stelle rückte, List zur Rückkehr bestimmt. Menzel, der im Frühjahr 1823 nach Stuttgart gekommen war, mit einem Empfehlungsbriefe Lists an dessen alten Freund, den Regierungsrat, späteren Minister Schlayer, stellt freilich die Sache anders dar: »Der arme List, der unvorsichtig, aller Warnungen ungeachtet, nach Württemberg zurückgekehrt war, büßte auf dem Asperg.« Aus einer Eingabe an den König schöpfte man Stoff zu neuen Anklagen, und ganz im Geiste der Regierung machte ihm das Festungspersonal durch allerlei Chicanen das Leben sauer; die Schildwachen kamen ihm grob, wenn er auf dem Walle spazieren ging, man wies Freunde ab, die ihn zu besuchen kamen, und durchschnüffelte seine Korrespondenz; die Erlaubnis, sich litterarisch zu beschäftigen, für Cotta zu arbeiten, ward ihn verweigert, auf der »literarischen Zwangsarbeit« bestand man. Es wird, schreibt Häusser, der Nachwelt von Interesse sein, zu vernehmen, daß Friedrich List militärische Elaborate über Collets, Tschakos, Quasten und Beinkleider abschreiben mußte. Ein andermal hatte er einen Bericht über den Zustand der französischen Artillerie zu kopieren. Dazu machte er in seinem Tagebuche die Bemerkung: »Die Zerstörungskunst fremder Staaten wird genau beobachtet, möchte man den Gesetzen und der Industrie des Auslandes dieselbe Aufmerksamkeit zuwenden!« Von Eheberg erfahren wir, daß Häussers Angaben über Lists Haft ungenau sind, daß deren Geschichte überhaupt noch nicht völlig aufgeklärt und die Chronologie nicht festzustellen ist. Wahrscheinlich ist er im Mai 1824 auf den Asperg gebracht, bald wieder freigelassen und unter Polizeiaufsicht gestellt, dann ein zweitesmal – mit welcher Begründung, ist unbekannt – auf die Festung geschickt worden.
In einem Brief an seine Gattin schreibt er: »Jetzt sind es gerade acht Tage, daß ich nichts mehr von Dir und den Kindern höre. Was soll das bedeuten? Fehlt Dir etwas, warum schreibt Karl nicht, warum läßt Du mich in solcher Ungewißheit? Ich fürchte, daß etwas Schlimmes vorgefallen sei, da es in die vierte Woche geht, daß ich weder Dich, noch eins von den Kindern zu sehen bekam, und Du Dir doch vorstellen kannst – doch, was hilft das alles! Ich sage Dir nur, daß ich seit 8 Tagen die eine Hälfte meiner Zeit damit zubringe, auf den Boten zu warten, der mir Briefe bringen soll, die andere Hälfte auf dem Walle herumgehe, um auszuschauen, ob nicht jemand von Stuttgart kommt.« Ein andermal: »Der Bub (sein Söhnchen Oskar) ist wunderlieb. Könnten wir doch den Christtag zusammen in Stuttgart zubringen, wie vergnügt wollten wir sein; aber auf jeden Fall werden wir ihn zusammen feiern.«
Er hoffte gegen Ende Dezember loszukommen; dann könnten sie, meinte er, alles für die im April zu unternehmende Auswanderung nach Amerika vorbereiten, die jetzt beschlossene Sache war. Mit der bequemen Vorbereitung sollte es aber nichts sein, dafür sorgte die Bureaukratie. Im Januar 1825 ward er nach Stuttgart gebracht und dort nach einem Verhör aufgefordert, zu erklären, wann er fortwolle; in drei Tagen werde sein Paß fertig sein. Sein Name komme in den demagogischen Umtrieben vor; sollte er von Mainz requiriert werden, so könne man ihn nicht fortlassen. Hier sieht man freilich Metternichs Hand, aber auf ihn allein alle Schuld zu schieben, wie Menzel thut, wäre ungerecht, denn die ganze deutsche Bureaukratie, besonders aber die württembergische, war ein Herz und eine Seele mit dem Oberpolizisten Europas. List bat sich noch einen Tag über die drei Tage aus und unterschrieb den Revers, durch den er auf sein Bürgerrecht verzichtete und versprach, nach vier Tagen seinen Paß abzuholen. Dieser wurde ihm dann eingehändigt mit der Weisung, am selben Tage bei Enzberg das Land zu verlassen und ohne Aufenthalt bis an den Rhein zu gehen. So eilte denn List – es war am 24. oder 25. Januar 1825 – durchs Badische nach dem Elsaß.
Trotzdem nun der unbequeme Mann den »Schreibern« den Gefallen gethan hatte, zu verschwinden, hörten sie nicht auf, ihn zu verfolgen. Sie sprachen in amtlichen Bekanntmachungen von dem »entwichenen Sträfling List« und hetzten die französischen Behörden gegen ihn auf. List schwankte anfangs noch, ob er sich nicht doch lieber in Paris oder im Elsaß niederlassen, vielleicht in der Nähe von Straßburg ein Gütchen kaufen solle. Aber es gefiel ihm diesmal nicht mehr in Straßburg; er fand, daß auch Frankreich »mit Riesenschritten der Finsternis und Tyrannei entgegen« gehe, und bald machte die Polizei allem Schwanken ein Ende. Der französische Minister des Innern befahl den Behörden, List zur Abreise zu drängen; sein Paß sei schon nach Havre geschickt worden, weder in Straßburg noch in Paris dürfe er sich aufhalten. Unverhohlen wurde ihm auf der Polizei gesagt, für Frankreich sei er nicht gefährlich, die Verfügung sei ohne Zweifel auf Betreiben der württembergischen Regierung erlassen worden. So mußte er sich denn vorläufig wieder aufs rechte Rheinufer zurückziehen, mit der Erklärung, im April werde er Frankreich ohne Aufenthalt durchreisen.
List war's zufrieden, daß die irdische Vorsehung im Schwabenlande für Amerika entschied. Wer dahin Verstand, Betriebsamkeit und nur ein wenig Kapital mitbringe, schrieb er an seine Frau, die zu seiner Freude schon Wirtschaftspläne entwarf, der bringe es auch zu etwas. »Reich wollen wir ja nicht werden, nur wohlhabend. Gott sei Dank, daß es so gekommen ist. Hätte man uns für den Augenblick ungeschoren gelassen, so hätten wir vielleicht ein Gütchen erworben; Karl hätte von da aus die Straßburger Universität besucht, ich hätte schriftstellerische Arbeiten unternommen, unsere Furcht vor Pfaffen, Jesuiten und Polizei hätte sich nach und nach gelegt, und mitten im nächsten Winter wäre plötzlich ein Gendarm erschienen mit dem Befehl, wir sollten das Land räumen.« Auf Amerika hatte seine Blicke besonders Lafayette gelenkt. Mit diesem stand er seit 1823 in Briefwechsel. Im Sommer 1824 war der General hinübergefahren und hatte bedauert, daß List nicht mitreisen könne. In einem Briefe, den er am 22. Januar 1825 von Richmond in Virginien aus schickte, sprach er List in den lebhaftesten Ausdrücken sein Mitgefühl aus, berichtete ihm, welche Stellungen deutsche Gelehrte, wie Follen, drüben gefunden hätten und ermunterte ihn aufs neue, dahin überzusiedeln.
Unterdes fuhr die württembergische Regierung fort, ihm Beweise ihrer Fürsorge zu geben. Auf ihr Betreiben wurde er in Baden von einem Ort zum anderen gehetzt, und die französische Regierung eröffnete ihm, daß er Frankreich durchfahren müsse, ohne Paris zu berühren, sonst würden ihn Gendarmen auf den rechten Weg bringen. Auch auf den Wunsch, zu den so notwendigen Besprechungen wenigstens eine Nacht nach Hause kommen zu dürfen, mußte er verzichten. »Wie wenn mir der Himmel hätte ein Zeichen geben wollen,« schrieb List um diese Zeit, »führte er mich nach S. ins Wirtshaus. Erst nachdem ich mit dem Herrn Pfarrer ein Glas Wein getrunken hatte, fiel mir ein: Herr Rösch, der Wirt, sei ja auch in Amerika gewesen. Der Mann hatte seit sechs Monaten das Fieber und gab keinen Laut von sich. Da ich aber von Amerika anfing, wurde er lebendig und segnete unseren Entschluß. Du weißt, daß er sechs Jahre dort war, daß er nur zurückkam, um sein Vermögen zu holen, sich aber während seines Hierseins verheiratete, und nachher sein Weib nicht bewegen konnte, mit ihm zu ziehen. Jetzt hat er jedes Jahr zwölf Monate Heimweh nach Nordamerika, und so oft man mit ihm darüber zu sprechen anfängt, speit sein lieber Hausdrache (sonst ein gutes Weib, wie Du weißt) Gift und Galle in der Furcht, er möchte ihr, ungeachtet sie sehr reich sind, einmal davonlaufen. Daß er nur Gutes prophezeite, kannst Du Dir denken. Über den Wert der Freiheit, meinte er, könne nur der urteilen, der in diesem Lande gewesen sei.« Am 14. März erfuhr List, daß ein Brief von Lafayette für ihn bei d'Argenson in Paris liege. Am 25. gelangte dieser Brief, wie List »seinem lieben Mutterle« meldet, in seine Hände. »Wären Sie mit mir gekommen,« schrieb der alte Freiheitskämpfer, »so würden Sie Teil genommen haben an all der Güte, die mir die amerikanische Nation erwiesen hat.« Er bleibe noch den ganzen Sommer über dort, könne ihm also noch behilflich sein. Lafayette feierte damals großartige Triumphe; der Senat beschloß einstimmig, das Repräsentantenhaus mit 166 gegen 26 Stimmen eine Dotation von 200 000 Dollars und 23 000 Acres Land für ihn. Daß unseren List der Verlust der Heimat nicht schmerzte, dafür sorgten die Briefe seiner Freunde. »In unserem faulen Europa,« schrieb ihm einer, »wird es täglich ärger; das Elend des Volkes wird größer, die Verschwendung und der Luxus der Vornehmen steigt mit jedem Tage, der Obskurantismus und der Despotismus schreiten Hand in Hand mit der konstitutionellen Komödie vorwärts; Recht und Gerechtigkeit werden nicht allein mit Füßen getreten, sondern auch noch verlacht und verspottet.«
Über den Verlauf der Reise nach Havre werden wir durch Briefe an einen Freund genau unterrichtet. Die ersten sind aus Germersheim und vom Landstuhl datiert. »Am 15. April mit Tagesanbruch,« berichtet er u. a., »zogen wir aus, schwer bepackt, wie Auswanderer sind, und im Leichenschritt, als fürchteten wir zu schnell die deutsche Grenze zu erreichen. Wir Eltern saßen in schweren Gedanken; heut sollten wir Deutschland verlassen und alles, was uns lieb und teuer darin gewesen. Ach! vielleicht auf immer verlassen und hinausziehen über das Weltmeer; vielleicht eines unserer Teuern in den Wellen begraben sehen; vielleicht wegsterben von ihnen mit dem herzzermalmenden Schmerz, sie allein zurückzulassen im fremden Lande. So saßen wir da, jedes in seinem Schmerz; keines wagte aufzublicken, aus Furcht, dem Anderen sein Inneres zu verraten. Da stimmten die Kinder das Lied an: »Auf, auf ihr Brüder und seid stark; wir ziehen über Land und Meer nach Nordamerika.« Nun war's unmöglich, den Schmerz länger zu verhalten. Mein teures Weib war die erste, die sich faßte. »Du hast Dir nichts vorzuwerfen, Du hast gehandelt wie ein Mann, wir ziehen nicht aus Mutwillen. Fassen wir uns in Gottes Namen; er hat es über uns verhängt, er wird uns beschützen. Nun, Kinder, wollen wir mit euch singen!« Es war einer der schönsten Frühlingsmorgen, die ich gesehen. Eben warf die Sonne ihre ersten Strahlen über die paradiesischen Gefilde der Pfalz. Der Anblick goß lindernden Balsam auf unseren Schmerz, und bald sangen wir mit fröhlicher Stimme alle Lieder, die wir von Schiller wußten, und zuletzt Uhlands scherzhaftes: So hab' ich denn die Stadt verlassen. Die Leute, die uns begegneten, mußten uns eher für die Familie eines zu höheren Würden beförderten bayerischen Beamten halten, als für vertriebene Auswanderer. – Die untere Pfalz ist ein herrliches deutsches Revier an Land und Leuten. Die Natur giebt alles im Überfluß, was der Mensch bedarf, besonders Wein, diese Gottesgabe, die so sehr das gesellige Leben verschönert und die Kraft des Menschen erhöht. Auch das ist ein Segen des Landes, daß seine Qualität die goldene Mittelstraße hält. Wäre er um weniges köstlicher als er ist, das Volk würde ihn nur bauen, um ihn auf die Tafeln der Großen dieser Erde zu liefern. So aber fließt er in das Blut derer, die ihn pflanzen, so giebt er denen, die ihn im Schweiße ihres Angesichts bauen, fröhliche Stunden, erleichtert ihre Arbeit und gewährt ihnen jene Schnellkraft des Körpers und jene Lebendigkeit des Geistes, die sie sehr vor der großen Masse der Bierlandsbewohner auszeichnet. Neben dem Huhn Heinrichs IV. möchte ich auch einen Krug rheinischen Weines stehen sehen. Die Pfalz gehört zu den deutschen Ländern, die beinahe ein Menschenalter hindurch den politischen Unterricht der Franzosen genossen haben. Man thut diesen Ländern Unrecht, wenn man sie der Undeutschheit und der Anhänglichkeit an Frankreich bezichtigt, besonders der Pfalz. Man ist hier gut deutsch und König Max ist so beliebt, wie in irgend einem anderen Teil seiner Staaten. Aber man hat in der französischen Schule die Vorzüge gewisser politischer Institutionen kennen gelernt; man hat die Vorteile, welche die Vereinigung mit einem großen arrondierten Ganzen gewährt, lange Zeit empfunden.«
»Es giebt keine Gegend in Deutschland,« erzählt er weiter, »wo man besser begriffen hätte, in welchem Geiste ich früher gewirkt habe. Ich erinnerte mich auf jeder Station an alte Bekannte und Freunde, die ich begierig aufsuchte, jedesmal fürchtend, dieser sei der letzte, den ich aus der Zeit schöner Hoffnungen sehen würde, aber nie verließen wir die Stadt ohne einen Freund an der Seite; wir konnten nicht sagen: »es giebt uns niemand das Geleite.« Er berichtet über die »Enakskinder von Pirmasens«, die sich mit Kochlöffelschnitzen und Scheerenschleifen nährten, Nachkommen der Riesensoldaten, die ein Landgraf von Hessen zusammengebracht und dort angesiedelt hatte. »In Kaiserslautern,« heißt es dann weiter, »nahmen wir die Post, um schneller vorwärts zu kommen. In dieser rauhen Gegend (um den Landstuhl) hat einst Barbarossa viel gejagt, vielleicht auch regiert.« Er habe viel mit Karl über die Hohenstaufen gesprochen und nicht unterlassen können, den alten Rotbart einer scharfen Zensur zu unterwerfen, »die wohl, 600 Jahre früher in dieser Gegend ausgesprochen, mit den Kanzleiherrn zu reden, mißliebige Maßregeln zur Folge gehabt haben würde. Schwabe und Deutscher mit Leib und Seele und noch dazu geborener reichsfreier Bürger, fühle ich etwas Besonderes in meiner Brust sich regen, wenn ich das Haus Hohenstaufen nennen höre. Aber mein Kopf rebelliert jedesmal gegen solche Gefühle und raisonniert das reichsbürgerliche Herz nieder. Was ist denn mit all dieser Kraft, die von den Mittelaltertümlern mit so großer Emphase gepriesen wird, von den Hohenstaufen zustande gebracht worden, als der Untergang ihres Hauses und die Zertrümmerung des schwäbischen Volksstammes? Nicht eine einzige Institution ist von ihnen auf die Nachwelt gekommen, während sie das Reich zu einer Zeit verwalteten, wo die rohe Masse sich leicht jedem Druck des Bildners gefügt hätte. Man wende nicht ein, die Zeit sei für Institutionen nicht reif gewesen. Der große Alfred hatte schon 300 Jahre früher in England Ordnung und Glück durch einen lebendigen Organismus zu begründen gewußt. Die Hohenstaufen fanden schon einen schönen Grund zur Freiheit und Stärke durch Heinrich den Vogler gelegt. Wäre Friedrich I. ein ebenso großer Geist als Haudegen gewesen, so hätten schon die Umstände, von denen seine Wahl begleitet war, ihm viel gesagt,« er hätte dann den dritten Stand organisiert und durch ihn die Großen niedergehalten. Auf diesem Wege würde man zu einer Verfassung gelangt sein. Statt dessen habe er, in Ottos I. Fußtapfen wandelnd, auswärtige Eroberungen unternommen und zuletzt gar Neapel erworben, wodurch er das Kaisertum in den Konflikt mit den Päpsten verwickelte. »Der große Geist Friedrichs II. konnte schon nicht mehr anders. Welcher Geist! Und mit solchem Geiste, was hätte er vollbringen können, hätte er sich nicht in einer falschen Lage befunden! Sie lächeln über mein Raisonnement; ich lächle selbst darüber. Wir haben jetzt gut sagen, was alles die schwäbischen Kaiser hätten machen sollen … Bald darauf, als wir die schönen Ruinen der gewaltigen Burg Landstuhl zu Gesicht bekamen, kam Franz von Sickingen an die Reihe. Da den Unternehmungen dieses Haudegens keine große Idee zu Grunde lag, erlosch sein Dasein, wie das des Götz von Berlichingen und aller Haudegen jener Zeit, spurlos. Franz wollte offenbar, nachdem er den Geist der Reformation gefaßt hatte, sich ein geistliches Kurfürstentum erobern und sich vielleicht gar auf den Stuhl des Reiches schwingen. Alles jedoch nur in Kraft seines Degens … hätte er eine ihm so nahe liegende große Idee zur Welt gebracht, wäre dann auch die verhängnisvolle Kanonenkugel nicht ausgeblieben, so hätte seine Partei in demselben Moment ein anderes Oberhaupt gefunden, und Sickingens Werk wäre auf die Nachwelt gekommen.« Karl wünschte die Ruine zu besuchen, da es in der Neuen Welt wahrscheinlich keine Ruinen gebe. List erwiderte: »Dort wird der Geist statt mit Rückblicken auf eine wenig erfreuliche Vergangenheit sich an dem regen Leben der Gegenwart ergötzen; wir haben keine Zeit zu verlieren.« Aber Karls Wunsch wird dennoch erfüllt; zwei Räder des Wagens brechen, und sie müssen in der Nähe der Ruine übernachten. Auf der nächsten Station bekommt List noch eine bittere Pille zu schlucken. Auf dem Tische des Postmeisters findet er einen eben erschienenen Supplementband des Konversationslexikons und darin einen Artikel »Handelsverein«, dessen Verfasser nicht List, sondern die Herren Miller und Elch als die Begründer des Vereins feiert; von List sagt er fast gar nichts und deutet nur an, sein Feuer habe der Sache geschadet; ohne dieses Feuer aber, bemerkt List, wäre die Sache nicht vorwärts gekommen. Er bedauert nun, der Aufforderung Brockhaus', der das Material für den Artikel von ihm erbeten hatte, nicht entsprochen zu haben.
Hinter Forbach kommen sie über die französische Grenze. In Courcelles verkauft List seinen geflickten Wagen und nimmt die Diligence. In Metz, von wo er am 18. April einen Brief datiert, wird er von einem jungen Mann, an den er empfohlen ist, herumgeführt, beschreibt die Stadt, auch das Klerikerwesen und den Aberglauben, die sich namentlich im Dom und um den Dom breit machen, und fügt hinzu: »Sie fragen, was die Vernünftigen dazu sagen? Die Vernünftigen, mein Freund, sagen jetzt nichts – gar nichts; sie bemühen sich sogar, ein Lächeln zu unterdrücken.« (Den Geist, der damals die leitenden Kreise Frankreichs beherrschte, charakterisiert die Thatsache, daß Villèle, der die Vermehrung der Mönche und Nonnen begünstigte und dessen Sakrilegiengesetz die Beschimpfung geweihter Gegenstände mit der Todesstrafe bedrohte, den Ultras noch nicht genügte.) Auf der Bibliothek sucht und findet List die von den Benediktinern verfaßte sechsbändige Geschichte der Stadt, kritisiert sie, giebt seinem Freunde – ein Beweis für die erstaunliche Raschheit, mit der er arbeitete, und für die Energie, mit der er die Zeit ausnützte – eine Übersicht dieser Geschichte und legte Auszüge aus der Geschichte von Straßburg bei, die er an Ort und Stelle angefertigt hatte. Er bemerkt bei dieser Gelegenheit: nachdem die Geschichte der fürstlichen und gräflichen Häuser Deutschlands bereits so eingehend geschrieben sei, bleibe den Geschichtschreibern, wenn sie sich nicht in die Erforschung der Gardinen- und Garderobengeheimnisse einlassen wollten, nur noch Eines übrig, und das sei gerade das Nützlichste und Notwendigste, nämlich »die Darstellung der deutschen Volksgeschichte durch Zusammenfassung der großartigen Geschichte unserer Reichsstädte, in denen jahrhundertelang ein so reges und kräftiges Volksleben geblüht hat, daß, hätte es einen Konzentrationspunkt gefunden, Deutschland, nicht England, in großartigem Handelsgeist, in kolossalen Industrieunternehmungen und in politischen Institutionen den Nationen der Erde voranleuchten würde.« Die Verfasser allgemeiner Geschichten (das gilt heute glücklicherweise nicht mehr) kännten die Quellen zu wenig. »So hätte z. B. Herr Kohlrausch, hätte er nur eine kurze Geschichte meiner Vaterstadt Reutlingen vor sich gehabt, nicht unterlassen, den Verrat zu strafen, den zwei Große aus Schwaben am König Friedrich begangen, und den heldenmütigen Widerstand zu loben, den die Reichsstädte Reutlingen und Ulm aus reiner Liebe zu den hohenstaufischen Bürgerkönigen, den Beschützern ihrer Freiheit, der Macht des Pfaffenkönigs entgegensetzten.« Ähnlich wie im Altertum Polybius und Dionys von Halikarnaß ruft er aus: »Was soll denn überhaupt die Geschichte, wenn sie Gewaltthaten nicht straft und Großthaten nicht hervorhebt? Aber freilich ist Historie einer jener Zweige der Litteratur, die, wenn sie nicht in Gottes freier Luft sprossen, ein gutes Teil Narrenfrüchte treiben und zwar nicht sonderlich nahrhafte, aber doch zierlich genug gestaltet, um kleinen und großen Kindern zum Spielzeug und Zeitvertreib zu dienen.«
Paris konnte er, ohne von der Polizei gehindert zu werden, seiner Familie zeigen, doch hatten davon schon am zweiten Tage Alle genug. Er schreibt von da: »Ich hoffe, mein Freund, Sie haben bereits die Langeweile verschmerzt, die ihnen meine reichsstädtische Epistel verursacht hat. Es ist mir dieses reichsstädtische demokratische Politisieren angeboren, wie einem rheinischen Vogtjunker das Hasenschießen oder einem alten gnädigen Junkherrn von Bern die Bärenliebe. Wie dieser sich ohne lebendige Bären keinen Staat denken kann, so kann ich es nicht ohne Reichsstädte. Freilich sah ich, als ich meine politische Schule machte, wohl ein, die alten Reichsstädte seien entweder versteinert oder vermoost oder in ihrer Abgeschlossenheit von der Lebenslust zur halben Mumie geworden. Aber die Grundidee blieb mir und ward in der That zum Fundament eines Gebäudes, das ich von politisch gebildeten Völkern verwirklicht sah, daß nämlich jede, selbst die unterste Partikulargesellschaft in ihren Partikularzwecken so gut frei und selbständig bestehen sollte, als das Ganze, und daß sie nur in höheren Zwecken einem höheren Organismus und höheren Gesetzen unterthänig sei, daß also den Abstufungen der Verwaltungshierarchie die Abstufungen des gesellschaftlichen Organismus entsprechen sollten. In diesem Sinne wirkte ich unter dem Wangenheimschen Ministerium für die Reform der Gemeinde- und Amtsverfassung in Württemberg. Danken Sie dem Himmel, daß mir nicht mehr Zeit zu Gebote steht, sonst würde ich Sie ohne Gnade noch vor meiner Abreise aus Europa mit einer Schilderung der Verfassung meiner Reichsstadt foltern, die unter manchen kuriosen gotischen Schnörkeln ein äußerst schönes, zusammenhängendes und demokratisches Munizipalgebäude darstellt, das sich durch fünfhundertjährige Dauer erprobt hat. Doch sind Sie noch nicht ganz außer Gefahr. Vielleicht ehe Sie sich's versehen, überfalle ich Sie mit einer Beschreibung dieses Denkmals altdeutscher Staatsweisheit und Freiheitsliebe, das von den Schreibern des 19. Jahrhunderts an einem Tage zerstört worden ist, wie die Kunstwerke der Alten durch die Hand der Vandalen. – Ich komme auf unsere Reise zurück. Der Himmel gebe allen Deutschen, die nach mir über Metz nach Paris gehen, ebensoviel Gleichmut, als ich mir durch einen vieljährigen Umgang mit dem Festungs-, Grenzbewachungs-, Kriminal-, Polizei- und Paßvisierungspersonal so vieler Länder erworben habe, um ohne Ungelegenheiten den Insolenzen des hiesigen Paßvisierers und den Niederträchtigkeiten des Inspektors der Jumelle-Diligence ausweichen zu können.« Mit prächtiger Laune beschreibt er in diesem Briefe und in den folgenden die mancherlei kleinen Unfälle, die sie vor und hinter Paris noch zu überstehen hatten, charakterisiert die Normandie, die Anlage der Bauernhöfe, die auch dort sich einnistenden Klöster. »Weiterhin in Bolbec hat die Welt ein weltlicheres Aussehn. Da hämmert's, raspelt's, hobelt's, klappert's, daß man sein eigen Wort nicht hörte. Dies alles hat sich erst seit dreißig Jahren so gemacht. Vorher war Bolbec ein elender Ort, jetzt kann das kleine Thal die Menge der Fabrik- und Wohnhäuser nicht mehr fassen, und die Gegend auf drei Meilen in die Runde nimmt Teil an seinem Wohlstande. Wann wird endlich der Anblick solcher gewerbreicher Gegenden die verstockten Anbeter Adam Smiths auf den rechten Weg bringen! Mag dieser Lehrer der Nationalökonomie um die Völker sich in anderer Hinsicht verdient gemacht haben, so viel er will: alle seine Verdienste können den unerhörten Schaden nicht vergüten, den die Grille des sogenannten freien Verkehrs, den er einigen unserer Theoretiker in den Kopf gesetzt, verursacht hat. Smiths Grundirrtum besteht darin, daß er dem Kapital eine Produktivkraft zuschreibt, während nur die Arbeit, (allerdings gewöhnlich) mit Beihilfe eines größeren oder kleineren Kapitals produziert. Zwar habe ich schon in den früher für den Handelsverein verfaßten Aufsätzen diese Theorie bekämpft, aber der Gegenstand verdient, daß man ihn besonders bearbeite und dabei die eigenen Worte des Stifters der Schule zu Grunde lege. Ich hoffe, die Vereinigten Staaten sollen mir ein schönes Beispiel zum Beleg meiner Behauptungen darbieten. Sie haben Smiths Theorie so lange befolgt, bis ihre ganze Industrie am Boden lag, und dann erst das von den Theoretikern verworfene System ergriffen. Wir wollen nun sehen, wie sie sich dabei befinden. Beim Himmel, ich glaube zuletzt selbst, daß ich eine litterarische Reise nach den Vereinigten Staaten mache.« In seinem Paß stand nämlich, er beabsichtige eine wissenschaftliche Reise nach den Vereinigten Staaten zu machen.
Am 21. April kamen unsere Auswanderer in Havre an. Dort trafen sie schweizer Auswanderer in ärmlichem Zustande; List mißbilligte es, daß die Schweizer so wenig für eine geregelte Auswanderung sorgten, jedenfalls weil sie in dem herrschenden Vorurteil befangen seien, daß die Organisation der Auswanderung das Mutterland schwäche. Über die Lage von Havre stellte er Betrachtungen an. »Dem Finanzminister von Frankreich,« schrieb er in sein Tagebuch, »wäre es ein leichtes, den Handel von Havre zu verdoppeln, wenn er diesen Hafen durch Kanäle oder Eisenbahnen mit dem Rhein in Verbindung setzte, ihn für einen Freihafen erklärte und das Zollsystem dergestalt regulierte, daß Süddeutschland und die Schweiz ebensogut über Havre importieren und exportieren könnten wie die Franzosen selbst. Die Rheinuferstaaten würden dann bald sehen, was bei hohen Durchfuhrzöllen gewonnen wird, und die hochmögenden Mynheers möchten dann, so lange es ihnen behagt, darüber streiten, wie jusqu'à la mer auf deutsch oder holländisch zu übersetzen sei. (Diese Worte der Wiener Kongreßakte, behaupteten die Niederländer, bedeuteten nur: bis ans holländische Binnenmeer; für die Strecke von da ab bis ans eigentliche Meer dürften sie Zölle erheben.) Sie würden gewiß bald durch die Leere in ihren Häfen zur Einsicht der großen Wahrheit gelangen, daß alle Küstenländer von der Industrie ihrer Hinterländer leben. Es fehlt nur noch, daß das französische Finanzministerium den Vorteil Frankreichs begreift. Alsdann wird, hoffe ich, die Konkurrenz in kurzer Zeit den Knoten zerspalten, den so viele hundert Sitzungen der Rheinschifffahrts-Kommission und so viele bändereiche Werke der Rheinschiffahrts-Schriftsteller nicht zu lösen vermögen.«
Am 26. April fuhr Lists Schiff ab. Die Überfahrt ging glücklich, wenn auch, wie sich damals von selbst verstand, sehr langsam von statten.