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II

Der Handelsverein

Ein Ferienausflug brachte List in das Fahrwasser, worin er seinen providentiellen Beruf finden sollte. »Deutschland glich damals einer durch den Krieg zerrütteten Wirtschaft, deren frühere Eigentümer, jetzt eben wieder zu ihrem Besitztum gelangt und Meister desselben geworden, im Begriff stehen sich aufs neue häuslich einzurichten. Die einen verlangten Wiederherstellung der alten Ordnung mit allem alten Gerät und Gerümpel, die anderen vernunftgemäße Einrichtungen und neue Instrumente.« Dies gilt für die Politik im allgemeinen, besonders aber auf dem wirtschaftlichen Gebiete. Hier war die Zerrüttung und Ratlosigkeit groß. Die Kontinentalsperre hatte zwar den Seehandel vernichtet, Rohstoffe und Kolonialwaren verteuert und Deutschland mit französischen Waren überschüttet, zugleich aber auch industrielle Anlagen gefördert und sogar dazu gezwungen. Aber gleich nachdem sie gefallen, überschwemmte England, das mittlerweile seine Maschinen vervollkommnet und aus dem außereuropäischen Verkehr großen Gewinn gezogen hatte, das Festland mit Massen wohlfeiler Waren, namentlich mit Geweben, und erstickte dadurch die keimende deutsche Großindustrie. 1814 warfen die englischen Fabrikanten für 21½ Millionen Thaler Baumwollenwaren zu Schleuderpreisen, die nicht die Herstellungskosten deckten, auf den deutschen Markt, ein Manöver, daß sie noch öfter wiederholten und wiederholen konnten, weil sich bis zum Jahre 1822 der Überschuß ihrer Handelsbilanz auf drei Milliarden Thaler erhob. Dazu verlor das linksrheinische Land sein französisches Absatzgebiet, die zu tragenden Kriegsschulden fingen an, ihren vollen Druck zu äußern, die englischen Kornzölle schädigten die preußischen Ostseeprovinzen, und so gingen nach dem Kriege eine Menge Gewerbe zu Grunde, die der Krieg nicht zu vernichten vermocht hatte. Dem Auslande gegenüber, ohnehin schwach, wurde Deutschland noch durch das unvernünftigste Zollsystem gefesselt. Wie es in den Kleinstaaten aussah, davon kann man sich einen Begriff machen, wenn man erfährt, daß nicht einmal Preußen ein einheitliches Zollgebiet, sondern von Binnenzöllen durchschnitten war, der städtischen Accise nicht zu gedenken. Es galten in Preußen 67 verschiedene Tarife; nicht einmal die Uckermark und die Priegnitz hatten den selben; 8000 Accise- und Zollbeamten wachten über die Besteuerung von 2775 mit Zöllen belegten Artikeln. Die Deutschen, sagte ein ausländischer Staatsmann, waren Gefangene, die nur durch Gitter mit einander verkehren durften. Während Grenzzölle fehlten und das ganze Reich der Überflutung mit ausländischen Waren schutzlos preisgegeben war, sah sich der Fabrikant, der Kaufmann beim Verkehr im Innern alle paar Meilen durch Zollgrenzen gehemmt. Von 1816 an berieten und petierten Vereine gegen diese Fesseln. Preußen ging mit der Reform voran und unternahm es, das Chaos seiner Zölle und indirekten Steuern zu beseitigen oder wenigstens zu vereinfachen: das Gesetz von 1818 verlegte die Zölle an die Grenze und schuf im Innern freien Verkehr. Aber die Lage der übrigen Staaten, namentlich die der kleinen in der Mitte mit ihren vielen Grenznachbarn, wurde dadurch noch verschlimmert.

Unter diesen Umständen nun kam List, der den Gedanken einer Handelseinigung aller deutschen Staaten schon längere Zeit mit sich herumgetragen und mit Cotta und anderen bedeutenden Männern darüber brieflich verhandelt hatte, in den Osterferien 1819 nach Frankfurt a. M. Er besprach die ihm am Herzen liegende Sache mit Kaufleuten und Fabrikanten, die zur Messe dort waren: Bauerreis und Schnell aus Nürnberg, Weber aus Gera, Arnoldi aus Gotha, und da er vernahm, daß Elch aus Kaufbeuren für eine Petition an den Bundestag Unterschriften sammele, trat er mit diesem in Verbindung. Er ließ sich von ihm das Material geben, setzte selbst einen Entwurf auf, der die Aufhebung der Binnenzölle, eine deutsche Zollgrenze und Retorsionszölle verlangte, und dieser Entwurf wurde von den Interessenten genehmigt und dem Bundestage überreicht. Die Bundesakte hatte im 19. Artikel die Regelung der Zoll- und Handelsangelegenheiten durch den Bund in Aussicht gestellt, aber die zweijährigen Verhandlungen darüber waren ergebnislos verlaufen. Denn die beiden Großmächte waren zu eifersüchtig auf einander, um sich einigen zu können, die Kleinstaaten aber sahen in der Zumutung, ihre Zölle aufgeben zu sollen, einen Eingriff in ihre Souveränität und eine Schädigung ihrer Finanzen. Endlich witterten die Regierungen in der Agitation für eine Zolleinigung eine deutschnationale, d. i. nach ihren Begriffen demagogische und revolutionäre Bewegung, und der hannöversche Bundestaggesandte, von Martens, sagte denn auch richtig in seinem Referat über die Petition, in Frankreich sei die Beseitigung der Binnenzölle nur der alle Bande lösenden Revolution gelungen, und der Vorteil um diesen Preis doch wohl zu teuer erkauft gewesen; es sei doch gewiß nicht die Absicht der Bittsteller, in Deutschland eine Revolution hervorzurufen oder Frankreich um die seine zu beneiden.

List sah voraus, daß der Bundestag, dessen Mitglieder nur einig waren, wo es sich um polizeiliche Maßregeln gegen Demagogen, d. h. gegen Freunde der deutschen Einheit handelte, in einer auf diese Einheit gerichteten Bestrebung versagen werde, und stiftete daher am 18. April im Saale des Kaffeehauses zum Goldenen Roß einen Verein deutscher Kaufleute und Fabrikanten »zum Zweck der Beförderung des deutschen Handels und Gewerbes«. Ein Ausschuß ward gewählt, bestehend aus Deputierten der rheinländischen, altpreußischen, bayerischen, sächsischen, württembergischen, kurhessischen, hessen-darmstädtischen, nassauischen und badischen Kaufmannschaft; der Handelsstand von Hannover, Braunschweig, Leipzig sowie der der Hansastädte ward eingeladen, durch Entsendung von Deputierten den Ausschuß zu vervollständigen. Dem Professor List ward die Geschäftsführung des Vereins übertragen; er nahm den Titel »Konsulent« an und wurde ersucht, Statuten auszuarbeiten.

Kurz vor seiner Reise hatte er sich mit Karoline, Tochter des Tübinger Professors Seybold und Witwe des in Bremen verstorbenen Kaufmanns I. F. Neidhardt, vermählt (einer sehr schönen Frau, schreibt Menzel, der ihrem Bruder, Hauptmann a. D. Seybold, für seine Neckarzeitung Miscellen lieferte). Sie brachte ihm einen zehnjährigen Sohn, Karl, in die Ehe, der 1895 als Arzt in Philadelphia gestorben ist. An sie nun schreibt er triumphierend: »Der große Verein der deutschen Kaufmannschaft ist zu stande gebracht! Das hätte ich nicht gedacht, als ich von Hause wegging, daß ich ein solches Werk vollbringen würde; es ist eine wahre Fügung des Himmels. Weißt Du noch, wie es mich trieb zur Reise?« Und in einem späteren Briefe: »Kaum brauche ich zu sagen, daß mein erster Gedanke bei der Vereinsgründung ein politischer war. Da die Preußen damals so viel von geschichtlich gewachsenen Konstitutionen sprachen und die Jugend so dummes Zeug machte, so wollte ich probieren, ob nicht ein Kern gepflanzt werden könne, aus dem eine Konstitution herauswüchse.«

Am 29. April berichtete List seinem König über den gethanen Schritt: da er die Übernahme seines neuen Ehrenamts nicht nur als mit den Pflichten eines württembergischen Beamten vereinbar, sondern auch als sehr ersprießlich fürs Vaterland erkannt habe, habe er sich dem Wunsche der Kaufleute und Fabrikanten nicht entziehen wollen. Die Regierung antwortete ihm jedoch umgehend, daß es einem Staatsdiener nicht zustehe, eine seinem Amte fremde öffentliche Geschäftsführung, noch dazu in einem auswärtigen Staate, ohne ausdrückliche Erlaubnis seiner vorgesetzten Behörde anzunehmen, und daß er sich die Entscheidung darüber, ob diese Geschäftsführung mit seiner amtlichen Stellung vereinbar sei, nicht selbst anmaßen dürfe. Es werde daher dem Professor List aufgegeben, sich vor dem Ministerium des Innern zu rechtfertigen, auch anzuzeigen, was und wer hauptsächlich die Veranlassung zu der von ihm eingegangenen Verbindung mit jenem Vereine gewesen sei. Daraufhin suchte er am 1. Mai seine Entlassung nach, erhielt aber zur Antwort, über sein Gesuch könne nicht eher entschieden werden, als bis er die ihm auferlegte Verantwortung eingereicht habe. Diese sandte er am 20. Mai ab. Eine öffentliche Geschäftsführung, sagt er darin, habe er nicht übernommen. Der Handelsverein sei eine Privatgesellschaft, wie etwa die Stuttgarter Museumsgesellschaft (ein Honoratiorenklub, der ein Haus mit Festsälen und Lesezimmern, eine bedeutende Bibliothek und einen schönen Garten besitzt); daß er als Geschäftsführer dieses Vereins eine Bittschrift beim Bundesrat eingereicht habe, mache seine Funktion so wenig zu einer öffentlichen, wie wenn der Direktor der Museumsgesellschaft um eine Billardgerechtigkeit petiere. Öffentlich sei nur eine im Namen des Staates ausgeübte Thätigkeit zu nennen. Die übernommene Geschäftsführung sei allerdings seinem Amte fremd, aber damit nicht unvereinbar. Auch der Betrieb einer Landwirtschaft würde seiner Professur fremd, damit jedoch keineswegs unvereinbar sein, und unwürdig eines Professors der Staatswirtschaft sei es gewiß nicht, wenn er die Geschäfte eines Vereines führe, der den Zweck verfolge, den gesunkenen Handel wieder aufzurichten, umsoweniger, da er nur aus reinem Eifer für die Sache gehandelt und nicht einmal eine Entschädigung für seine Auslagen, geschweige denn eine Belohnung angenommen habe. Auch sei keine Störung in der Ausübung seiner Berufspflichten zu fürchten, da die Versammlungen des Vereins in die Ferienzeit gelegt würden. Wenn das Ministerium meine, er habe eine Geschäftsführung in einem auswärtigen Staate angenommen, so scheine es den Deutschen Bund als nicht existierend zu behandeln. In allen gemeinsamen Angelegenheiten hätten die Deutschen nach Bundesrecht einander als Bürger Eines Staates anzusehen, und Artikel 19 der Bundesakte erkenne die Handels- und Zollsachen ausdrücklich als gemeinsame Angelegenheiten aller Deutschen an; dürfe ein Württemberger kein Deutscher mehr sein? Einer Erlaubnis habe er nicht bedurft, denn es gehöre zu den Rechten des Staatsbürgers, in Privatvereine einzutreten, ohne irgend jemandes Erlaubnis; solle der Staatsdiener weniger Rechte haben, als der Staatsbürger? Der Staatsdiener verpflichte sich nur zu bestimmten Leistungen; wie er über diese hinaus seine Kräfte verwenden wolle, bleibe ihm freigestellt, wofern es nur nicht in einer Weise geschehe, die seines Amtes unwürdig sei oder ihn an der Erfüllung seiner Amtspflichten hindere. Was ihn veranlaßt habe, den Antrag der Kaufleute anzunehmen, das sei »ein unwiderstehlicher Trieb des Herzens, der mich hinreißt, den Bedrängten beizustehen, und darauf hinzuwirken, daß den Regierungen die Wahrheit kund werde, wo der Einzelne oder das Volk unter der Last alter Vorurteile oder übermächtiger Selbstsucht erdrückt zu werden droht.« Er spricht den Verdacht aus, daß das Verfahren des Ministeriums nicht aus sachlichen Gründen, sondern aus Feindschaft gegen seine Person hervorgehe, wiederholt sein Entlassungsgesuch und versichert den König, daß der Monarch keine treueren Unterthanen und Staatsdiener habe, als die es aus konstitutionellen Grundsätzen seien. Selbstverständlich fertigte man ihm auf dieses Gesuch hin schleunigst seine Entlassung aus.

List war nun frei und durfte dem Verein seine Person und seine Kräfte in einem Umfange zur Verfügung stellen, wie er es als Professor nicht gekonnt hätte. Auf einer am 12. Juli 1819 zu Nürnberg abgehaltenen Versammlung ward beschlossen, in dieser Stadt einen engeren Ausschuß niederzusetzen und, da der Bundestag unthätig blieb, eine Deputation an sämtliche Höfe abzuordnen, die die Fürsten bestimmen sollte, mit Umgehung des Bundestages durch Separatverträge »Deutschland vor gänzlicher Nahrungslosigkeit zu bewahren«. Zugleich ward das »Organ für den deutschen Handels- und Gewerbestand« gegründet. List redigierte oder vielmehr schrieb es, da ihn die Mitarbeiter, auf die er gerechnet hatte, im Stich ließen. Hier zuerst regte er die Reformen an, für die er dann zeitlebens gekämpft, deren Durchführung er aber nicht erlebt hat, wie die deutsche Reichspost, eine deutsche Gewerbe- und Patentgesetzgebung. An den süddeutschen Höfen fanden die Deputierten freundliche Aufnahme, besonders in Karlsruhe, wo Nebenius durch seine berühmte Schrift vorgearbeitet hatte, die »die Ausführbarkeit eines allgemeinen Zollvereins gegenüber den bisher nur allgemein und unklar ausgesprochenen Wünschen einzelner in klarer Weise nachwies« (Eheberg). In Berlin fand die Deputation – List war nicht dabei – besonders beim Staatsrat und späteren Finanzminister Maaßen, dessen Werk die eben durchgeführte Zollreform war, volles Verständnis für die eine ihrer Forderungen, die Aufhebung der Binnenzölle, aber er war grundsätzlicher Freihändler und konnte sich von der Notwendigkeit einer Retorsion, wie man damals für Schutzzölle sagte, nicht überzeugen. Da jedoch seine Zollreform finanziell sehr wenig befriedigte, so erklärte er sich bereit, sein System mit einem besseren, womöglich mit einem »gemeinschaftlichen deutschen Handelssystem« zu vertauschen.

List hatte die schwierige Ausgabe übernommen, den Wiener Hof zu bearbeiten. Die Briefe an seine Lina malen den Wechsel seiner flutenden und ebbenden Aussichten und Hoffnungen. Am 5. Februar 1820 berichtet er über seine Lebensweise. »Die Merkwürdigkeiten von Wien werden wir in den letzten Tagen in Augenschein nehmen, wenn die Geschäfte vorüber sind. Von morgens 6 bis 10 Uhr arbeite ich, von 10 bis 4 Uhr empfangen und machen wir Besuche, dann gehen wir zu Tische; so haben wir höchstens Zeit, die Theater zu besuchen. Wir sind schon häufig in angesehenen Häusern zu Gaste gewesen und haben merkwürdige Menschen kennen gelernt. Außer den Diplomaten und hohen Staatsbeamten habe ich u. a. Karoline Pichler, Werner, Adam Müller kennen gelernt; die Pichler ist ein herrliches, anspruchloses, gemütliches Weib, etwa 45 Jahr alt, aber noch voll Geist und Leben.« Am 12. Februar schreibt er: »Schnell und Weber gehen morgen nach Nürnberg und ich soll als Bevollmächtigter zurückbleiben. Wie schwer es mich ankommt, kann ich Dir nicht beschreiben, und wie sehr ich mich zu Dir, meine Teure, und zu meinen Kindern sehne.« (Kurz vorher war ihm nämlich sein Sohn Oskar geboren worden, und seinen Stiefsohn liebte er wie ein eigenes Kind.) Die Vereinssache mache großes Aufsehen; die Regierungsbeamten und die Kaufleute seien ihr meistens geneigt, der Kongreß beschäftige sich damit (es war dies der Kongreß, der die Verfassung des deutschen Bundes durch die Wiener Schlußakte im Sinne der Karlsbader Beschlüsse vollendet hat). »Wie viel ich gearbeitet habe, wirst Du aus dem Organ ersehen; aber einen Begriff von meinen Geschäften kannst Du Dir erst machen, wenn Du weißt, daß alle diese Aufsätze vierzigmal abgeschrieben, und die Abschriften von mir durchgesehen werden mußten. Wir haben bis jetzt an Abschreibegebühren 800 Gulden ausgegeben.« Er hoffe übrigens durch diese Thätigkeit auch wieder eine feste Grundlage für seine eigene Hauswirtschaft zu gewinnen und dann ihr das Leben angenehm machen zu können. »Du glaubst nicht, wie oft mich unsere unsichere Lage verstimmt. Ich wünschte so sehr, Dich aller Sorgen überhoben zu sehen, aber es ist heutzutage so schwer, ohne Aufopferung seiner Grundsätze, zu der ich mich nicht entschließen kann, ein reichliches Einkommen zu erlangen.«

Am 24. Februar schreibt Weber aus Nürnberg an Lists Gattin: »Herr Schnell und ich sind zwar hier wieder angekommen, aber Ihren lieben Professor haben wir nicht mitgebracht. Sein Geist hat in Wien große Dinge entwickelt, aber eben deswegen ist er dort unentbehrlich, bis sie zu einer gewissen Reife gediehen sind.« Für die in Wien anwesenden Vertreter der deutschen Staaten und für die österreichischen Staatsmänner arbeitete List eine Reihe von Denkschriften aus, darunter eine für den Kaiser Franz, deren Hauptinhalt er in einer Audienz mündlich vortragen durfte. Es heißt darin, da der Bundestag nicht einmal Trost, geschweige denn Hilfe gewähre, so setze der deutsche Gewerbe- und Handelsstand seine letzte Hoffnung auf den Kongreß und vertraue namentlich auf den entscheidenden Einfluß des Kaisers; lehre doch schon ein Blick auf die Karte, daß die Natur selbst die österreichischen Staaten mit dem übrigen Deutschland auf das innigste verbunden habe. Die Erfahrung davon, welche schädliche Folgen die Isolierung der deutschen Volksstämme für alle insgesamt und für jeden Einzelnen mit sich führe, liege zu nahe, als daß sie verkannt werden könne; im Augenblick komme es darauf an, die Grundsätze des österreichischen Schutzsystems auf ganz Deutschland auszudehnen, die Zollschranken zwischen den deutschen Staaten aber hinwegzuräumen. Der Kaiser antwortete, er werde gern allem zustimmen, was das Wohl des deutschen Vaterlandes befördere, ohne das Wohl seiner eigenen Unterthanen zu gefährden. Den Plan einer Industrieausstellung, den List noch entwickelte, schien der Kaiser mit Aufmerksamkeit anzuhören. (In seinem Organ hatte List vorgeschlagen, mit den Messen von Frankfurt und Leipzig Industrie- und Kunstausstellungen zu verbinden; er wandte sich dieserhalb an große Kaufleute, erhielt aber von allen die Antwort, sie könnten den Nutzen solcher Ausstellungen nicht einsehen; der Erfolg sei zu ungewiß, als daß jemand sein Geld daran wagen möchte.) In einem Briefe Webers wird gemeldet, Widerstand hätten zuletzt »nur die irrigen Schultheorien einzelner Statistiker« geleistet; auch die Engländer hätten sich gegen den Verein geregt, sowie die Leipziger Geschäftsleute. In der 33. Sitzung des Kongresses am 23. Mai wurde endlich die Frankfurter Petition, abfertigt, und zwar ganz im Geiste des Bundestages: der Kongreß habe das in Handelsfragen Nötige schon aus eigenem Antriebe veranlaßt, und die Eingabe könne nicht berücksichtigt werden, weil der eigenmächtig konstituierte Handels- und Gewerbeverein als Vertretung der Kaufleute und Fabrikanten nicht anzuerkennen sei. List, der schon vor dieser Entscheidung nach Hause zurückgekehrt war, knüpfte unermüdlich neue Verbindungen an, z. B. mit einem Kenner der englischen Politik und der hanseatischen Zustände, Becher, der im Juli 1820 aus Altona schrieb: »Über Hamburg wollen Sie mein Urteil? Hier ist es: man ist daselbst nicht englisch gesinnt, auch nicht französisch, aber leider auch nichts weniger als deutsch. Diese Duodezrepublikaner haben den Stolz, sich isoliert reich genug zu dünken, um es mit keinem verderben und mit keinem halten zu müssen. Den Bestrebungen des Handelsvereins ist man bestimmt entgegen.«

Während so einzelne weitschauende Unparteiische List verstanden, verlor sich bei den Vereinsmitgliedern das Verständnis für ihn immer mehr. Diese braven Kaufleute und Fabrikanten hatten unmittelbaren Gewinn erwartet, und da sich der nicht sofort einstellte, hielten sie List für einen unpraktischen Theoretiker und Projektenmacher, und bei seinen großen Plänen fürs deutsche Vaterland wurde ihnen unheimlich. Ein Schreiben des Vereinskassierers Bauerreis, worin sich die Unzufriedenheit des Vereins Luft machte, verletzte List tief; er las daraus den Vorwurf des schmutzigen Eigennutzes, heraus und schrieb deshalb an Schnell, die Abrechnung werde zeigen, daß er noch keinen Kreuzer über seine Auslagen erhalten habe. Bauerreis bat zwar um Verzeihung für sein Ungeschick, aber bald kam es zu neuen Zerwürfnissen; seine Nürnberger Freunde jammerten über seine »Luftschlösser« und über »das Ungeheure und Riesengroße seiner Projekte«, als da seien: Industrieausstellungen, Exportgesellschaften, Kolonisation. Und als List die Gründung einer Exportgesellschaft, deren Betrieb jährlich 20 000 Gulden kosten werde, in allem Ernste vorschlug, da argwöhnte man, es sei ihm nur um die Verwaltung einer solchen Summe zu thun, und einer war so dreist, ihm das unverblümt zu schreiben. Als daher im September 1820 in Darmstadt der Handelskongreß zusammentrat, den die süddeutschen Staaten, Preußen und Sachsen beschickten – die erste Frucht der Agitation des Vereins –, wurde nicht List, sondern der Kaufmann Franz Miller aus Immenstadt als Vertreter des Vereins hingeschickt; man gab sogar zu verstehen, daß man es gern sähe, wenn List Darmstadt fern bliebe. Er war hingereist, entfernte sich indes bald wieder, da sich sein Feuergeist dem Marschtempo von Diplomaten nicht anzubequemen vermochte. Er hatte die Bewegung in Fluß gebracht, und diese führte allmählich, ohne seine weitere Mitarbeit, zum Ziele. Ausbrüche des Volksunwillens machten den Diplomaten und Bureaukraten Beine. »Es war ein furchtbares Symptom von Hoffnungslosigkeit, als im August 1825 zu Mainz ein förmlicher Aufstand gegen die Zollbeamten ausbrach, der durch preußische Truppen unterdrückt werden mußte.« (Roscher.) Durch Separatabkommen zwischen den Staaten ward eine Schranke nach der anderen beseitigt, bis endlich am 1. Januar 1834 der Deutsche Zollverein ins Leben trat. »Die älteren Zeitgenossen,« heißt es in einer Fachschrift, »werden sich noch erinnern, wie freudig die erste Stunde des Jahres 1834 von der Verkehrswelt begrüßt wurde. Lange Wagenzüge standen auf den Hauptstraßen, die bisher durch Zolllinien zerschnitten waren. Als die Mitternachtstunde schlug, öffneten sich alle Schlagbäume, und unter lautem Jubel eilten die Wagenzüge über die Grenze, die sie fortan in voller Freiheit sollten überschreiten können. Alle waren von dem Gefühl durchdrungen, daß Großes erreicht sei.«



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