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... as yet the contradiction of a lie is some kind
of belief;
but the lie with its contradiction once swept away,
what will remain?
Die Stadt liegt am Flußufer mitten unter der allmächtigen Sonne – ein Haufe zusammengekalkter Zellen, ein knochenweißer Kuchen von Häusern und Löchern, wie das Skelett eines gestrandeten Fabelschwammes – Sevilla. Wie der Name zwitschert! Sevilla ist berühmt und besungen wie die Liebe, ist von Träumen umsponnen wie die Stirn eines jungen Weibes von dunklem Haar. Seine Seele ist wie eine Sehnsucht nach zwei unsagbar rätselhaften Augen im Weltenall.
Ich kam mit der Eisenbahn in Sevilla an. Wiehernd und ungestüm fuhr sie in die Station ein und schnaufte wie ein junger, selbstgefälliger Hengst. Einige Hotelkutscher faßten mich gleich bei meiner Unwissenheit und schleppten mich mit sich fort – man betrog und belog mich wie geschmiert – genug davon.
Kaum hatte ich mir eine Unterkunft gewählt, als ich mich auch schon nach Sevillas schönen Frauen umsah. Ich ging durch eine fremde Straße, durch eine zweite, ich blieb vor den Schaukasten der Photographen stehen ... ich nahm eine Droschke und ließ mich zu der großen Tabaksfabrik hinausfahren, wo ich wußte, daß viele Hunderte von Andalusierinnen auf einem Fleck versammelt sein würden.
Es kostete nicht viel. Der Inspektor führte mich durch die Reihen.
Die Wärme war schwer, die Bekleidung leicht. Ich nahm hier einen vorläufigen Überblick. Mit jedem Schritt befestigte sich mein Eindruck – das Sonnenlicht lag in Streifen in der dunstigen Halle – Tisch stand an Tisch – ein Heer von Frauen, die bei der Arbeit saßen ... welche Haufen von Tabak! Es waren feine dunkle Geschöpfe darunter, vielleicht hundert an der Zahl. Den Rest konnte man unbeschadet zu tausenden nach Holland zur Ausbesserung der Deiche verschicken.
Ich mietete mir ein Zimmer auf der anderen Seite des Guadalquivir in dem uralten Bêtis. Meine Stube war gewölbt und bekam vom Hof her Licht. Gelbgekalkte Säulen, schwere Mauerbögen ... hier erwarteten mich sicher eigenartige, tiefe Tage. Als es Abend geworden war, zündete ich mein Licht an und wanderte in dem dumpfen Loch auf und nieder. Ich betrachtete die Binsenstühle, die rohen Mauern – eine kühle und freundliche Dunkelheit umfing mich nach der Lichtgeißel des Tages. Meine Füße trafen auf feuchte Ziegelfliesen, und wenn ich still stand, krochen Ameisen an mir herauf. Obgleich es in dem gewölbten Zimmer recht kühl war, dampfte ich vor Wärme. Alle meine Sinne schwirrten hungrig durch den Raum.
Als ich am nächsten Vormittag durch den Hof ging, sah ich einen Teil der Bewohner des Hauses draußen an der Gitterpforte sitzen. Indem ich vorbeiging, folgten sie mir neugierig mit den Augen. Mein Blick umfaßte sie alle. Auf einem Schemel saß ein junges Mädchen.
Die Kirchenglocken läuteten, La Giralda zeichnete sich drüben über der Stadt gegen den weißen Himmel ab. Längs des Flusses wurden Kohlen ausgeladen. Ich ging bis zur Trianabrücke und schlug den Weg zur Stadt ein.
Während der ersten Tage sprang ich des Morgens so blindlings und frisch aus dem Schlaf wie ein Raubvogel, der die Luft über einem Abgrund durchmißt; ich schnürte meine Stiefel – so wie Jubal seine Sandalen an jenem Tag band, an dem er die Trompete erfand.
Eine neue Stadt bot sich mir dar, und es zeigte sich, daß sie berauschend unordentlich, unerschöpflich abwechslungsreich war. Es gab nichts, das sich fest einprägte, und doch sah ich viele seltsame Dinge. Hinterher erinnerte ich mich, daß ich einen Esel jämmerlich schreien gehört oder König Hermenegildes Haus gesehen hatte. Im Vorbeigehen hatte ich meine Finger über die Rillen in alten Mauern hinstreichen lassen und hatte in sonnenbeschienene Höfe hineingeblickt. Alles was ich sah, veranlaßte mich, mich naheliegender oder ferner Systeme von anderen Dingen zu erinnern. Ich bekam es niemals satt, zu nehmen und zu vergessen – zu gaffen und zu schlucken. Und die Sonne stand mir bei, sie schien und wärmte. Zur Mittagszeit stand sie fast im Zenit; die Strahlen erhitzten meine Schultern, so daß ich mich wie ein Hund am Ofen krümmte. Dieses Land gefiel mir. Die Sonne zeigte ihre Zähne – die Sonnenfackel wurde von einem Windhauch bewegt, die weißen Flammen lohten und wehten mir heiße Zipfel ins Gesicht. Solange die Sonne schien, freute ich mich ihrer; brach die Dunkelheit herein, verschlang ich die kühle Luft.
Der Guadalquivir fließt längs der Steinkais, das Wasser glitzert träge und gelb im Licht. Hin und wieder, hier und dort kommen helle Schlammwolken an die Oberfläche und verbreiten sich zu großen Flächen, wie die Fußballen eines Riesen, der seinen Kopf in den Grund wühlt. – In der Mitte des Stromes sieht man gewöhnlich einige runde schwarze Köpfe; es sind Knaben, die sich dort draußen tummeln. Sie treten unaufhörlich Wasser, immer an derselben Stelle. Aber entdecken sie einen Fremden auf der Brücke, dann kommen sie herbei, um einige Münzen durch Hereinspringen zu verdienen. Sie treten von der hohen Brücke ruhig in die Luft hinaus. Und dort stehen sie eine Sekunde mit geschlossenen Beinen und ausgestreckten Armen wie Statuen ägyptischer Götter – blank und braun im Sonnenraum. Plötzlich schießen sie herab und durchschneiden das Wasser.
Eine Reihe von Tagen, eine Woche hielt meine ganz elementare Stimmung an. Dann begann ich wieder mich selbst zu duzen und mir intime Spitznamen zu geben – ich bedurfte eines ereignisreicheren Lebens.
Sierpes heißt eine Straße in Sevilla; sie ist sehr schmal und lang – ein Spalt in der Stadt. Der Boden ist mit Fliesen belegt wie eine Stube, und hoch oben sind große Segel quer darübergespannt. Diese Segel sind aus Streifen zusammengenäht, so daß es aussieht, als wölbten sie sich gegen Taue, als blähten sie sich. Die ganze Straße gleicht einem Luftschiff in den Wolken. Die Sonne bescheint unsere vollen Segel, so daß sie über uns leuchten. Hin und wieder ist es, als wenn unser ganzes Schiff schwankt, während wir unentwegt durch die stille Luft weitersegeln.
Ich kam eines Tages in die Sierpes, nachdem ich viele Stunden lang umhergestreift war und das Licht und die Wärme genossen hatte. Die Cafés sind nach der Straße zu offen, und ich nahm irgendwo Platz. Um mich herum summte das Gespräch, und die Straße wogte von Menschen. Lange saß ich und verfolgte all die kleinen Begebenheiten, die sich in einem Café und auf einem Fußweg abspielen können; ich las eine Zeitung, rauchte Tabak und ließ die Zeit verstreichen.
Da hörte ich plötzlich etwas – lauschte. Was war das? Jetzt wieder – ich sah mich um und umfaßte mit einem Blick alles auf der Straße und im Café, die Säulen, der Decke – ich sah die leuchtenden Segel über der Straße ... aber durch den näselnden Lärm hindurch, ahnte ich langgezogene, klare Musiklaute – von hoch oben kamen sie her. Hatte niemand außer mir sie gehört? Nein – und jetzt konnte auch ich den fernen Klang nicht mehr unterscheiden. Aber gleich darauf schärfte mein Gehör sich wieder und ich vernahm von neuem Töne über mir – Stimmen, Flöten. Es klang dumpf – was mochte es sein! – schauerlich klagend war es anzuhören. Wie der Gesang eines Menschen, der mit dem Kopf nach unten aufgehängt ist. Ich saß ganz still und hörte die singende Klage herabrieseln. Wie wild bewegt sie klang!
Indem ich noch einen Grad angestrengter lauschte, erkannte ich die Melodie. In einem der Stockwerke über dem Café schien jemand zu spielen. Ich weiß nicht, wie das Stück heißt; aber ich kenne es. – Gleich darauf hörte es auf. Ich hatte förmlich ein Gefühl von Schwäche in den Knieen.
Einige Tage darauf saß ich in demselben Café. Es war nachmittags und die Wärme war im Abnehmen. Plötzlich wurde ich wieder unruhig und spähte umher. Ich fühlte eine Veränderung – was war geschehen? Im selben Augenblick wurden die elektrischen Ventilflügel an den Säulen sichtbar, indem sie plötzlich stehen blieben. Es war das Aufhören dieses Geräusches, das mir ins Bewußtsein gedrungen war; das Schnurren der Flügel war in dem allgemeinen Lärm verstummt.
Hm! dachte ich.
Hm! dachte ich wieder. Sollte es Töne hier in der Welt geben, die wir erst hören, wenn sie aufhören?
Ich grübelte tief darüber nach und trank in Gedanken vertieft meinen Kaffee. Und ein Gefühl überkam mich, als stünden mir große Dinge bevor. Das Unbeschreibliche war mir näher gerückt als je.
Nach und nach wurde ich mit den Bewohnern des Hauses in Bêtis näher bekannt. Die Mehrzahl der Männer löschte Kohlen auf dem Fluß, ein Teil der Frauen war drüben in der Tabaksfabrik beschäftigt. Von all diesem erzählte Nubio mir, wenn wir abends zusammen draußen am Kai saßen. Nubio war Besitzer des Hauses, er hatte es durch Heirat erworben. Auf der einen Seite des Eingangstores hatte er eine Weinstube, die andere Seite hatte er als Zigarrenladen vermietet – und bei alledem war er erst vierundzwanzig Jahre alt.
Nubio erklärte mir alles mögliche und gab jedem, was ihm gebührte. Er erteilte mir nützliche Winke über die Damen, die in der Dunkelheit vorbeigingen; Nubio und ich verstanden einander.
An solchen Abenden aber halte ich meine Augen auf das Tor gerichtet. Ob Dolores sich wohl zeigen würde? Kam sie, dann forderte ich Nubio auf, ein Glas Wein mit mir zu trinken, und wir schlenderten hinüber und setzten uns im Torweg zu den Frauen.
Wenn Dolores ging, wurde alles farblos. Ich wußte es wohl.
Eines Morgens war es mir klar geworden, daß Dolores gleich beim ersten Mal, als ich sie sah, einen tiefen Eindruck auf mich gemacht hatte – ohne daß es mir bewußt geworden war. Dolores saß auf einem Schemel am Gittertor, beide Ellenbogen auf die Kniee gestützt, und indem ich vorbeiging, erhob sie ihren sechzehnjährigen Kopf und sah zu mir auf. Im selben Augenblick fühlte ich die große und klare Selbstfolge – ich sollte natürlich ein Wunder in Sevilla finden. Aber mein Bewußtsein schloß sich augenblicklich wieder, die Überraschung verbarg sich ... mein Gehirn beeilte sich zu verwischen und zu reduzieren – nichts von Bedeutung! sagte es. So wird der Jäger von einer halb schmerzlichen Luft zu zögern ergriffen, wenn er das Wild sieht. Ich ging gleichgültig vorbei. Und meine innerste schlaue Seele hatte mich wirklich zur Gleichgültigkeit überredet, denn das Ganze war im selben Augenblick vergessen gewesen.
Später, eines Morgens begriff ich, daß dieser Augenblick mit starker, geheimnisvoller Macht über mich hingegangen war. Ich erinnerte mich der jungen Dolores, als eines unvergänglichen Bildes, Dolores wie sie auf dem Schemel gesessen und mir ihr Antlitz mit einem Ausdruck zugewandt hatte, wie man eben einen Fremden vorbeigehen sieht. All der anderen entsann ich mich nicht mehr.
Es lohnt sich, es ist notwendig, Beichten zu veröffentlichen – freiwillige Auslieferung erfordert Achtung; Persönlichkeiten sind selten. Kann man zudem noch andere außer sich selbst ausliefern, ist es wohl der Mühe wert, sich zum beichten zu bereiten. – Auch ich bin ein Schuft, ich bekenne, ich bekenne. Die Knaben in Sevilla waren eine schreckliche Bande – weshalb soll ich es nicht eingestehen. Sie plagten und peinigten mich von morgens bis abends; ich konnte mich ihrer nicht erwehren. Ihre Ausdauer reichte länger als meine gute Laune. Zuletzt entschloß ich mich zu schweigen und sie als bloße Erscheinungen zu behandeln. Aber hätte ich sie mit Dynamit in die Luft sprengen können ...
Scharenweise belagerten sie mich auf der Straße, manchmal zwanzig bis dreißig Stück auf einmal ...
Die Knaben wollten Geld und Tabak haben, gleichzeitig aber machten sie sich, ehrlich gestanden, über mich lustig. Sie drängten sich um mich und traten mir auf die Füße.
Eines Tages geriet ich in einen großen Haufen und konnte nicht durchkommen. Ich betrachtete all die jungen, verdorbenen Gesichter um mich herum, die harten Knabenaugen, die mich anblickten, und ich erkannte meine moralische Ohnmacht. Ich wartete. Gerade vor mir stand ein langer, magerer Bursche; er hielt meinem Blick mit unerschütterlicher Frechheit stand; er fuhr fort, mich zu verspotten und gleichzeitig zu betteln – hartnäckig und gleichförmig.
Da entdeckte ich, daß er ein großes, kirschbeerrotes Muttermal auf der einen Seite des Halses hatte – ich streckte meinen Finger aus und wies schweigend darauf hin. Er wich zurück, der Haufe löste sich von selbst auf. Aber über das stumpfe Knabengesicht ging ein Schatten, als würde er tödlich verletzt, seine Augen leuchteten vor Haß, und die Lippen erschlafften. Er glich in diesem Augenblick einem Affen, dem ein Pfeil in die Brust gedrungen ist und der mit beiden Händen den Schaft gepackt hält.
Ein ander Mal hatte ich einen Zusammenstoß mit einigen Jungen vor der Stadt. Ich war landeinwärts spaziert und war lange gegangen. Der Tag war weiß und heiß. Die Aloehecken sandten einen schwachen, trockenen Duft aus. Eine Karre schwankte in dem aufwirbelnden, liefen Staub vorüber, ein Reiter trabte vorbei, schweigend, betäubt. Was raschelte im Gras – Mistkäfer, die in großer Geschäftigkeit paarweise ihre Kugeln davonrollten. Von den Häusern am Wege erklang kein Laut. Die Uhr war eins oder zwei.
Schließlich wurde ich müde und von der Wärme erschöpft. Ich setzte mich auf den staubigen Grabenrand. La Giralda ragte über der fernen Stadt empor und glotzte mit ihren Gucklöchern herüber.
Wer doch für eine kurze Weile Frieden haben könnte, dachte ich. Wem es doch erspart bliebe, mitzuspielen, wenigstens so lange, bis man mal tief aufgeatmet hat ... Hier bin ich vor den Jungen sicher. Ach, wie sitzt es sich hier angenehm und friedlich!
Im selben Augenblick tauchten drei böse Buben auf, mit einem Esel und einem Eselsfüllen – von allen Seiten sah ich mich umringt. Ich blieb ganz fromm sitzen und rauchte meinen Tabak. Nicht eine Fiber rührte sich in meinem Gesicht, während sie über mich herfielen. Es verging eine gute Viertelstunde, während sie Tabak verlangten. Senor, un Cigaretto, das wiederholten sie eine geschlagene Viertelstunde lang. Ich schwieg und sah sie unverwandt an. Und langsam, mit vielen Nebengedanken, scherzhaft widerlegte ich mich selbst wie ich hier saß. Ich wendete das Gefühl, Ausländer zu sein, hin und her, ich weidete mich an dem Eindruck, den ich machte.
» Ihonny – mucho money!«
Ich sah die drei bedauernswert häßlichen Bengel fest an ... aber mein Blick hatte nicht die geringste Macht über sie. Zum Teufel, nun mußten sie doch bald annehmen, daß ich taubstumm oder blödsinnig sei – aber nein, sie wurden nicht vom leisesten Argwohn ergriffen. Ich schnitt eine schweigende Teufelsgrimasse – umsonst.
» Hombre – sss! sss!«
Da ich mich immer noch nicht rührte, steckte der Größte seine Hände mit einem Grinsen in die Hosentaschen und spreizte die Beine –
» Jankee!« rief er.
Sie lachten alle drei. Dies neue Wort erklang während mehrerer Minuten. Ich fing an mich zu langweilen.
Aber jetzt legte einer der Bengel seinen Arm um das Eselsfüllen und schleppte es vor mich hin. Und damit lockten sie mich in eine Falle.
» Bonito – muy fino!« sangen sie lockend einladend und strichen dem Füllen über den Bauch – ich sollte es auch streicheln. Und ich konnte nicht widerstehen. Das kleine Füllen war so weich und fein wie Binsenseide und Sonnenschein und Zephirwind – das ganze unbedeutende Füllen glich einem Engel; die Ohren konnten sehr gut als Flügel gelten. Die Augen waren noch milchig blau. Das Maul aber hatte einen verschlafenen Ausdruck ... einen Rest von dem großen Schlaf vor der Geburt. Zwischen meinen Händen hielt ich das ureigenste Symbol der lebendigen Natur. Leuchtende Schuldlosigkeit, üppiger Tiefsinn.
Und das köstliche Tier ließ sich hochschätzen ohne sich zu wehren und ohne zu schreien.
Ich war mir sofort klar darüber, daß ich das Füllen behalten wollte. Ohne viele Umstände kaufte ich es und gab den Jungen dafür, was sie verlangten, fünfzig Pesetas. Ich zog es im Triumph mit mir zur Stadt und ließ ihm einen kleinen Stall in meinem Zimmer einrichten. Ich versorgte es des Morgens und des Abends. – Später, als ich fortreiste, nahm ich es mit mir, obgleich es mir nicht wenig Umstände machte. Aber ich bekam es glücklich mit nach Malaga und an Bord. Ich freute mich darauf, mit meinem Esel heimzukommen – hatte ich bis dahin alle Schwierigkeiten überwunden, würde es wohl auch weiter gut gehen. Aber es ging nicht gut. Als wir in den Meerbusen von Biscaya kamen, gab es hartes Wetter. Eines Tages, als das Schiff stark schlingerte, sah ich plötzlich von der Kommandobrücke aus, wie mein Füllen, das auf dem Vorderdeck stand, sich losgerissen hatte und bei der Ankerwinde hin- und hergeschleudert wurde. Ich sprang hinunter und war mit einem Satz vorn. Im selben Augenblick legte sich das Schiff stark auf die Seite und das Füllen rutschte auf allen Vieren gegen die Seite des Schiffes. Ich sprang erschreckt hinzu, es gelang mir, das Füllen zu fassen und – das Gleichgewicht verlierend – stürzte ich mit dem Füllen im Arm kopfüber über Bord! Die Wogen schlugen über uns beide zusammen; das Brausen des Windes und des Meeres, jeder Laut wurde zu einem dicken Sieden, indem wir unter die Oberfläche sanken ...
So saß ich und dachte, während ich dem Füllen über das Fell strich. Da störten mich die Jungen –
» Peseta! Peseta!«
Drei schmutzige Hände streckten sich, ihr Recht fordernd, mir entgegen: das Streicheln kostete einen Peseta. Sie umstanden mich ruhig im Bewußtsein ihres guten Rechtes. Ich hatte das Füllen gestreichelt – Peseta!
Ich warf ihnen einen feindlichen Blick zu und hielt das Füllen fest, das sie mir entreißen wollten. Ich erhob mich und schaute mich um; kein Mensch war weit und breit zu sehen – dann wurde ich sehr ruhig und fuhr fort das Fell des Füllens zu streicheln. Ich hielt es um den Hals gefaßt, als sei es mein Eigentum; ich nahm das Maul in meine Hand und glättete die seidenfeine Wolle der Ohren.
Und während die Jungen lärmten und mir auf den Leib rückten und mich an den Kleidern zerrten, kamen mir unzählige Kränkungen und Niederlagen ins Gedächtnis zurück – plötzlich sprang ich ohne ein Wort zu sagen auf und packte die drei Bengel im Nacken. Ich ließ mir reichlich Zeit, sie allesamt in der linken Hand zusammenzukoppeln. Und dann schwang ich meinen Stock. Sie schrieen wie toll, denn es waren keine Theaterprügel, die ich ihnen verabreichte, sondern harte, knallende Schläge. Und nachdem ich sie eine Zeitlang geprügelt hatte, geriet ich in Ekstase und verdoppelte den Takt. Erst als ihr wütendes Geschrei in flehendes Weinen überging, ließ ich sie los.
Das Eselfüllen hatte sich inzwischen ein Büschel Gras gesucht, es stand und kaute und sah dem ganzen Austritt himmelunwissend zu. Ich nahm noch einmal den samtzarten Kopf in meine Hände und streichelte Kiefer und Maul, dann ging ich zur Stadt zurück.
Bis jetzt war ich noch mit keinem der Bewohner in Bêtis näher bekannt geworden, außer mit Rubio. Wir hatten einander vermittels Tabaksympathie gefunden. Wenn er Zeit hatte, setzten wir uns aufs Bollwerk hinaus und rauchten. Dort saßen wir und ließen unsere Augen umherwandern, behaglich von unserer gegenseitigen Anwesenheit gebunden.
Der Strom floß bedächtig vorbei. In der Mitte des Flusses tummelten sich die Knaben unter atemlosem Geschrei, sie kamen wie Ratten aus den Kloakenmündungen und verschwanden wieder durch diese. Sobald der Angestellte drüben bei der Hafenbahn sich entfernte, kletterten sie auf den Kai hinauf und strolchten dort umher. Zeigte er sich wieder, dann stürzten sie sich in schreienden Scharen kopfüber in den Fluß.
Und die Sonne betäubte. Die Gedanken zerflossen in Träumereien. – Über der Stadt hingen Papierdrachen schwindelnd hoch in der weißen Luft. Sie bohrten und bohrten sich aufwärts wie wandernde Würmer und kamen doch niemals weiter. So verstrichen die Tage.
Ich konnte aus Dolores nicht klug werden. Erst nachdem ich es aufgegeben hatte, lernte ich sie verstehen. Sie war weder so noch so – sie war eben gar nichts. Sechzehn Jahre.
Dolores glich in ihrem Äußern der jungen Königin von Holland. Sie hatte ebenso wie diese Grübchen auf den Backenknochen gerade unter dem Auge und ein kleines Grübchen im Kinn. Diese feinen, köstlichen Vertiefungen gleichen dem Abdruck, den die vorsichtigen Fingerspitzen eines Bildhauers in dem fertigen, noch feuchten Ton hinterlassen haben, indem er versucht hat, das Bildnis zu rücken.
Dolores war die Tochter eines Tagelöhners und konnte weder lesen noch schreiben. Aber sie war von uraltem Adel. Dolores war ebensoviel wert wie ein Ja für einen Zweifler. Darum strebte ich danach, gerade dieses einen Wesens Geheimnis zu entschleiern. Ich wagte es. Das, wofür ich lange Jahre schwierige und zum Teil gelehrte Gründe gesucht hatte, das sollte Dolores durch ihre bloße Erscheinung beweisen können!
Im Torweg hatte ein junger Schuhflicker, Antonio, seinen Tisch. Wir begrüßten uns immer mit ausgesuchter Hochachtung. Antonio zeigte großen Eifer sich mir nützlich zu erweisen. Er konnte ein wenig englisch – sehr wenig, ich habe ihn nie etwas anderes wie yes sagen hören. Er war ein stattlicher, hübscher Bursche und fleißig wie eine Ameise.
Dolores, die gewöhnlich irgend ein Kind auf dem Arm herumtrug, stand häufig vor seiner kleinen Werkstatt. Dann knüpfte ich ein Gespräch mit Antonio an und bot ihm Zigaretten.
»Viel zu tun!« sagte ich.
» Yes.«
Mercedes, Rubios junge Frau, trat eines Tages zu uns. Sie schielte und war im großen ganzen wohl kaum so reell wie das Haus, das Rubio als Mitgift bekommen hatte. Als sie uns so vergnügt beisammen sah, meinte sie auch etwas zur Lustigkeit beitragen zu müssen. Sie sah von Antonio zu Dolores und schielte und lächelte –
»Ja, diese beiden! Hi gi gi gi!«
Mercedes nickte vertraulich und verging beinah vor geheimnisvollem Einverständnis.
Dolores sandte Mercedes einen Frauenblick und machte sich davon. Nachdem sie den Hof erreicht hatte, begann sie zu trällern und das Kindchen auf und nieder zu schwenken. Die Sonne schien gerade in den Hof hinein und beleuchtete sie blendend. Wie geschwind sie sich beugen und wieder aufrichten konnte!
»So?« sagte ich zu Mercedes und lächelte freundlich. Wir gingen zusammen zum Tor hinaus.
»Diese beiden?« ...
»Ja freilich,« erzählte Mercedes mir jetzt mit mehr Würde, – eine völlig feststehende, wenn auch nicht offizielle Tatsache – Dolores und der junge Antonio seien füreinander bestimmt. Sie sollten heiraten, sobald die Mittel für die Aussteuer beschafft seien. –
Nach diesem Tage benutzte ich jede Gelegenheit, um auf Dolores einzuwirken, suchte planmäßig die Luft um sie herum mit Beeinflussung zu füllen. Es sollte ihr gradweise klar werden, wieviel sie wert sei. Ob sie sich dann nicht von selbst dem zuneigen würde, der sie schätzte?
Es vergingen einige Tage. Eines Abends, als ich nach Hause kam, schien mir die untergehende Sonne in die Augen. Der rote Schein blendete, die Sonnenkugel hing dunkel am Horizont gerade am Ende der Straße. Ich sah vor mich nieder und kniff die Augen zusammen. Die Luft über den rotglühenden Pflastersteinen tanzte von goldenem Staub; Fliegen schwirrten vorbei, merkwürdig sichtbar und im Lichte schimmernd.
Es kam mir jemand auf dem Fußsteig entgegen, ich beschirmte die Augen mit der Hand – es war Dolores. Die Sonne durchleuchtete ihre Kleider. Mit dem glühenden Himmel als Hintergrund, erschienen ihre Kleider wie ein grünlicher Schleier, durch den ihr Körper in schwachen Linien hervorschimmerte. Die Beine gingen, jetzt das eine, jetzt das andere voran; die Kniee bewegten sich in runden Kurven. Ich sah den dünnen Kleiderstoff sich in bestimmten feinen Falten von der Schulter bis über die Brust ziehen – als würden sie aufgeblasen – und dieser schöne Ausdruck für eine lebende Form trat undeutlich in dem lichtstäubenden Schatten hervor. – Ich gedachte der Sierpes und der sonnenbeschienenen Segel ... und des Gesanges ...
Indem wir uns begegneten, sagte ich guten Abend und machte Miene stehen zu bleiben, ich trat zwischen die Sonne und Dolores und sah sie plötzlich aller Farbe beraubt in ihrem weißen Kleide dastehen. Aber ich sah jetzt auch, wie matt und rein ihre Gesichtshaut war – dieselbe Weiße auf Stirn, Wangen und Kinn. Und da wurde mir ebenso schwindlig und matt zumute wie einem Matrosen, der nach einer mehrmonatlichen Reise zum ersten Mal an Land geht.
»Sie sind drüben in der Stadt gewesen?« sagte Dolores – um etwas zu sagen.
»Ja,« antwortete ich und suchte nach Worten. »Sie ist – die Stadt – sie ist ... sehr antik.«
Dolores beugte den Kopf. Ja, das mochte wohl so sein. Sie sah zur Seite und zog die Augenbrauen zusammen, als dächte sie tief über diese Sache nach.
Mein Herz arbeitete mühsam – ganz bis in den Rücken hinein. Indem Dolores aufblickte, als fände sie, daß wir dies Thema erschöpft hätten, heftete ich meinen Blick rettungslos auf sie. Ich fühlte mich zum Äußersten getrieben – sie mußte mich jetzt verstehen.
Aber mein Blick glitt spurlos an ihr ab. Dolores sah mich noch immer an, aber nur mit einem aufmerksamen Ausdruck – wollte ich noch eine Bemerkung machen? Sie stand da, ihres eigenen Daseins ebenso unbewußt wie eine Pflanze.
»Schönes Wetter!« sagte ich und schickte mich zum Gehen an. – Das schien gerade das zu sein, was Dolores zu hören erwartet hatte; ihre Antwort klang überzeugt und befreit, indem sie weiterging:
» Si, Senor!«
Rubio und ich probierten die Fässer in der Schenkstube und stachen neue an. Nach und nach versammelte sich ein Teil durstiger Individuen aus der Nachbarschaft drinnen bei uns – Feststimmung bei allen – abends sollte eine große Prozession in der Straße stattfinden.
Diego, ein Bewohner des Hauses, kam auch herzu und goß sich einige Gläser die Kehle hinunter. Er schob seinen breitrandigen Hut in den Nacken und versöhnte sich mit der Kehrseite des Lebens – noch ein Glas. Diego setzte sich auf einen der hölzernen Stühle und fing an zu singen. Er sang eines dieser weichen, geschnörkelten Lieder, wobei er selbst gerührt und wild wurde! Sein eigenes Gekräh entzückte ihn, so daß er immer lauter sang.
Die Lebensfreude verbreitete sich schnell, es entstand ein sinnverwirrendes Getümmel. Diego fuhr fort zu singen und jetzt stampfte er noch mit den Beinen dazu und fuchtelte mit den Armen durch die Luft. Er verrenkte Brust und Magen und gackerte wahnwitzig zur Decke hinauf.
Ein junger, scheuer Bursche kam herein, setzte sich neben die Tür und drehte seinen Hut furchtsam zwischen den Händen. Einige Minuten später sangen ihm vier Gläser Wein rasend aus dem Hals heraus, er übertäubte Diego. Noch eine Viertelstunde, und der furchtsame Gesell brüllte heiser gegen die Decke an, von leidenschaftlicher Rührung bis zum Äußersten getrieben.
Bald darauf trugen Rubio und ich ihn vorsichtig hinaus – quer über die Straße und setzten ihn mit dem Rücken gegen das Bollwerk. Kurz darauf setzten wir einen betäubten Bruder an seine Seite. Sie saßen dort mäuschenstill wie zwei hübsche Puppen. – Der Wein floß. Die Lage ließ sich nicht mehr überblicken.
Ich schlich mich in mein Zimmer und hielt ein halbstündiges Schläfchen.
Als ich wieder zum Vorschein kam, war es ganz dunkel geworden, roter Laternenschein überall, der Hof und die Straße wimmelten von Menschen im Festfieber. Die Schenkstube war jetzt eine brüllende Hölle. Ich ging zum Tor hinaus und setzte mich neben Madre. Anders wurde Rubios alte Schwiegermutter nie genannt. Zu ihr hatte ich ein unbegrenztes Vertrauen. Man konnte sich nichts Stärkeres denken als diese alte, unförmig dicke Frau. Ihr braunschwarzes Gesicht war warzig und uneben wie Krötenhaut, aber sie hatte noch ihre weißen, scharfen Zähne, und die barschen Augen konnten sehen. Madre saß immer, das Gehen fiel ihr schwer. Die Fliegen belagerten sie mit einer gewissen vertraulichen Gemächlichkeit – irgend eine Schmeißfliege summte ihr gewöhnlich um den Kopf, die sie mit ihrer dicken Hand fortjagen mußte.
Jetzt saß Madre vor der Tür und hielt Ordnung. Ab und zu streckte sie den Arm aus und erteilte mit unerschütterlich zeigendem Finger einen Befehl. Sofort sollte es geschehen! Die rauhe Stimme drang durch. Und wenn Madre gehorcht worden war, zog sie den Arm wieder an sich.
»Wir haben ein Fest heut Abend,« sagte sie freundlich zu mir.
»Ja,« antwortete ich. Mehr hatten wir uns nicht zu sagen.
Das Gedränge auf dem Fußsteig war groß. Ich sah ein unbekanntes Gesicht neben dem andern, Reihen von Gesichtern, Wogen von Menschen – weiße Kleider, Fächer – ein Hin und Her von Lampenlicht.
Dolores sah ich ab und zu. Sie hatte ein gesteiftes Kleid angezogen und sich das Gesicht ganz blau gepudert. Sie huschte hierhin und dorthin mit einer Freundin – sie sahen zu mir hin – und weg waren sie wieder.
Während ich so unter Madres Schutz dasaß, war ich Gegenstand verwunderter Aufmerksamkeit. Ich saß sinnend da und kratzte mich im Gesicht; die Mückenstiche juckten brennend in der warmen Abendluft. Die Jungen wollten sich gern mit mir einlassen, aber sie wagten es Madres wegen nicht.
Es dauerte lange, bevor die Prozession kam. Nach und nach starb der Tumult in der Schenkstube hin; einer nach dem andern wurde bewußtlos hinausgetragen. Es saß jetzt eine ganze Reihe am Bollwerk.
Inzwischen veränderte sich die Stimmung. Die Leute sprachen leiser.
Und dann kam die Prozession. An der Spitze wurde die Mutter Gottes auf einer großen Plattform getragen. Unter den Decken gingen vier Männer und trugen sie, das Gottesbild wankte vorwärts. Das Bild war hübsch – lauter Seide und Silber und Filigran. Blumen! Die hohen Lampen zitterten auf spiralgedrehten Stielen – übermütig frohe Lampen. Das Bild lächelte und hielt ein Bukett in der Hand.
Die Männer nahmen ihre Hüte ab, die Frauen stammelten ergriffen. Jemand zupfte mich am Ärmel. Es war Mercedes.
»Ist sie nicht entzückend?«
»Ja, ja, ja,« antwortete ich.
Fernando, der Schneider, stand wie gewöhnlich mit einem seiner Kinder auf dem Arm – wir hatten schon früher miteinander gesprochen – über ausländische Politik – jetzt wandte er sich zu mir.
»Sie ist sehr schön,« sagte er still und insichgekehrt. »Habt Ihr so etwas in England?«
»Nein, wir sind Protestanten,« antwortete ich.
»Ho ho, so, Protes ...«
Und der Schneider vergaß mich und richtete seine seligen Augen auf die Jungfrau, die jetzt gerade an uns vorbeigetragen wurde.
Hinterher kamen die Priester mit ihren Emblemen und Schreinen. Der Zug arbeitete sich langsam, langsam durch die fröhliche Menge vorwärts. Licht und Schatten wechselten grotesk auf allen bunten Farben, auf allen weißen Gesichtern.
Von der Stadt her erklang das Pfeifen einer Lokomotive.
Der Himmel hing schwarz wie Samt und mit vereinzelten großen Sternen über all den Menschen und all der Vergeßlichkeit. Längs der Straße standen hohe Stative mit Feuerwerk, das später abgebrannt werden sollte. Standen sie in dem Leuchtkreis einer Laterne, traten sie wie Pfähle mit phantastischen Gerippen behangen aus der Dunkelheit hervor.
Und als die Prozession vorbei war, wurde das Feuerwerk abgebrannt. Es war wunderschön. Feuergarben und Räder sprühten durch die dicke, heiße Nacht – hitzige Feuerstrahlen bohrten sich himmelhoch in den Raum hinauf; und wenn sie schließlich mit einem fernen, erstickten Puff ermatteten und verlöschten, sah man eine Sekunde beim Scheine der letzten Funken die graue Rauchwolke, die in der Dunkelheit hoch, hoch oben dahinzog.
Zuletzt ging der Meister zu dem großen Stativ, das gerade vor unserem Tor stand. Er hielt die Lunte daran und Sisss! schoß das Feuer in die Höhe – Funken hagelten, Knall, Knall – und dort stand Maria Purissima mit großen, leuchtenden Buchstaben! Der Schein fiel auf den dunklen Fluß, auf das Wasser, das sich in flachen Wirbeln und Ringen dahinschlich; er flackerte über die Häuser und beleuchtete sie taghell. Ein letzter Knall, und die Lichtbuchstaben begannen herabzutropfen. Die Dunkelheit kehrte zurück.
Aber nachdem das Feuerwerk vorbei war, versammelte sich eine kleine Gesellschaft in dem großen Hinterzimmer hinter der Schenkstube – nur Leute aus dem Hause.
Gerade als wir hereinkamen, erwachte Diego, und als er seine Frau sah – ein zerzaustes, vernachlässigtes Ding – schwankte er im Branntweinübermut auf sie zu und küßte sie. Sie lächelte – wie eine Kranke. Und während Diego schwatzte und ihren Hals mit den Mund suchte, hielt sie ihn mit beiden Händen an die Brust gepackt.
»Wein!«
Rubio stellte Gläser herum. Wir verbeugten uns voreinander und tranken.
Außer Carmen, Diegos Frau, waren Mercedes und Dolores anwesend. Und dann Madre. Schneider Fernando trank auch ein Glas mit, aber er blieb nicht lange. Bevor er ging, fiel ihm etwas ein. – Also ich sei Protestant – was das wäre?
»Wir glauben an nichts in der Welt,« antwortete ich rasch, den roten Wein in meiner Hand.
Fernando senkte sein friedliches Antlitz und grübelte lange. Schließlich sah er mich mit seinen zirkelrunden Augen an und flüsterte kopfschüttelnd:
» Es impossible!«
... Nachdem Diego noch ein Glas getrunken hatte, wollte er tanzen, und ehe wir es uns versahen, war ein Fandango im vollen Gange. Wir anderen klappten den Takt, und Diego tanzte mit seiner Frau. Ihre viel zu kurze Oberlippe verschwand ganz, indem sie lächelte, ihre Augen glänzten demütig, wenn Diego beleidigend in unserer Gegenwart gegen sie antanzte.
Endlich fiel Diego um und konnte nicht wieder auf die Beine kommen. Carmen bettete ihn auf eine Bank. Ich sah, daß der Zigarettenstummel ihm noch hinterm Ohr saß; er hatte ihn getreulich während seiner desperaten Galopporgie begleitet.
Jetzt forderte Rubio Dolores zum Tanz auf. Antonio besann sich, dann schloß er sich mit Mercedes an. Madre, einige andere und ich schlugen den Takt dazu.
Die Zeit verging festlich, wir stachen ein extra Faß Malaga an. Es war sehr gemütlich in dem großen, kahlen Zimmer.
Da, in einer eingetretenen Pause sagt Madre plötzlich auf ihre trockene Art:
»Nun reist der Engländer bald nach Cadiz, kleine Lola – soll er dich mitnehmen?«
Es sollte eine Art Schelmerei sein, und alle lachten.
Ich aber richtete mich vom Stuhl auf – heiß vom Wein, aber nicht davon allein – und sagte sehr eindringlich: »Ja, ja!« Ich starrte Dolores an. Und da mir nichts anderes über die Lippen wollte, griff ich Madres Worte auf und wiederholte sie:
»Wenn ich nach Cadiz reise, kleine Lola, willst du mich dann begleiten?«
Dolores beugte den Kopf tief und lachte gezwungen. Alle anderen schwiegen.
Im selben Augenblick konnte ich mich beherrschen, ich atmete schwer und war heftig bewegt.
Nachdem das Schweigen eine Weile gedauert hatte, sahen wir allesamt zur Bank hinüber, wo Diego lag und laut schnarchte. Wir lauschten den seltsamen Lauten, und Mercedes gab das Signal zum allgemeinen Gelächter.
Rubio trat vor und reckte sich. Es war schon spät. Ich sagte gute Nacht und ging.
Ein Fußboden von Marmor aus ungeheuren, sich kreuzenden Mustern zusammengesetzt – klafterdicke Säulen, die sich in die Höhe recken, lotrecht in gedämpftem Licht emporstrahlen und sich weit unter den Wölbungen verbreiten – versteinerte Flucht, lebende Ruhe!
Die Kathedrale in Sevilla wurde im Laufe von Jahrhunderten erbaut. Es wächst Gras in dem Steingitterwerk zwischen den Turmspitzen.
Innerhalb einer der Gitterpforten sitzt eine Reihe in Stein gehauener Löwen, die bis auf den heutigen Tag gleich hochfahrend und lächerlich dreinschauen. Manche Steinfigur steht in ihrer Nische in einer bitterlich peinlichen Stellung. Alles dies sind gewöhnliche Bildhauerfehler. Aber die Fehler haben sich mit Gewalt durchgesetzt.
Ich saß in der Kathedrale und dachte an die leidenschaftliche Kraft der dahingegangenen Geschlechter. War ihr Glaube auch falsch und töricht, so war ihr Lebenswille doch fürchterlich echt. Sie begannen mit der Aussicht auf zehn Generationen zu bauen. Torquemada tötete zu Tausenden ... ein Priester in unseren Tagen bringt es höchstens soweit, Lustmord an seiner Haushälterin zu begehen.
Es waren ganze Menschen – Bedauernswerte durch und durch. Verrückte – aber bis zum Letzten. Kein Pardon. Sie richteten ihre Glocken mit Kontragewichten ein, damit sie ganz herumschwingen konnten – teuflisch erfunden – aber ein ganzer Schritt. Wenn wir Glocken machen, sollen sie meiner Seel' auch ganz herumschwingen.
... Still! Dort weit hinten gehen Pfaffen, buchstäblich in einer anderen Gegend der Kirche, so groß ist sie. Es kommen Leute herein und knieen einsam betend vor den Wachskabinetten nieder.
– Es zog ein Luftseufzer durch den Raum, das Gespenst eines Getöses – als wenn ein Ton in einer großen Klaviatur von selbst anschlägt.
Nein, es war jemand, der in seinem ewigen Schlaf seufzte.
Die Zeit steht still. – Hoch oben hinter den Kapellengittern unter den verschleierten Wölbungen hängen maurische Fahnen ...
Ich sitze und hantiere mit Tiegel und Form und zischendem, heißem Metall: ich gieße meine Flüche und verwahre sie.
– Wenn ich mir's recht überlege, werde ich noch dazu kommen, die Kirche und das Geschlecht, das sie erbaute, zu verwerfen. Die Frage beschäftigt mich, da ich nun einmal ein Amateurrebell und Dilettantprophet bin. Es ist meine Profession zu reden – obgleich ich ein Sprachloser bin.
Die begrabenen Kirchenerbauer waren des Hasses wert, weil ihre Torheit unersättlich war; sie trotzten mit titanischer Stärke ihren Humbug durch.
Das Geschlecht, das jetzt lebt, fordert keinen Ernst heraus, sondern gemischte Gefühle. Es ist unmöglich, ihm einheitlich entgegenzutreten. Diese Abkömmlinge, die sich Restenkuchen backen aus den Brocken von dem Tisch der großen, saftigen Narren! Diese genügsamen Vettern, die Heuchelei schnapsen, wo die Alten Orgien von Fanatismus feierten!
O, aber es ist wenigstens gut, daß wir human sind. Das muß uns darüber hinweghelfen, daß wir Lebensgier entbehren ... traurig wäre es nämlich, wenn wir unser Wesen mit Gewalt durchsetzen würden.
Ist die Zeit, in der wir leben, nicht zusammenhanglos? Das Geschlecht, das große Tier, blickt sich mit Facettaugen um, anstatt mit einem einzigen Augenpaar.
Wir besitzen kein gemeinsames Gefühl und keine tödliche Uneinigkeit! Unsere Gedanken sind eine Reihe Subtraktionsrechenstücke mit einem schwindelnden Fazit von Differenzen. Die Summe ist uns abgewöhnt worden.
Aber die Zeit bleibt nie stehen, sie ist barmherzig. Wir alle sollen sterben und verfaulen. Niemand soll sich unserer erinnern. Nur ich und meinesgleichen sollen dafür sorgen, daß wir verspottet und in den Staub gezerrt werden.
Verzeiht, entschuldigt, daß ich von Amts wegen mich selbst nenne, seid versichert, daß ich im Herzen ebenso schofel und servil bin wie ihr anderen alle – es ist ja mein Lebensunterhalt, neue Losungen zu verkünden. Und jetzt suche ich die ganze, viereckige Idee, die den Grundstein für das Haus eines neuen Jahrhunderts bilden kann. – Ich schlafe und träume von neuen Häusern, so daß mir schwindelt und ich dadurch erwache und noch immer schwindelt mir. Ich will sie finden.
Und wenn wir anfangen zu bauen, wollen wir, wie in alten Tagen, ein Tier lebendig unter der Schwelle des Hauses vergraben.
Tage vergingen – bald in Unruhe und bald in Stille. Aber die Reife der Zeit kam. Hatte ich Boten rings umher ausgesandt, so konnte ich sie jetzt fast alle auf einmal zurückerwarten. Und sie würden voraussichtlich schlechte Nachrichten bringen.
Alles kam mir zäh und unverschiebbar vor. Ich hatte das Gefühl, als würden die Verwicklungen, in die ich mich eingelebt hatte, eine weitläufige Lösung erfordern. Es ist leicht, sich zu verbreiten und Verzweigungen auszustrecken. Schwieriger ist es, alles wieder einzuziehen, die neue Veränderung seines Wesens zu finden.
– Als ich eines Tages nach Hause kam, merkte ich, daß etwas in der Luft lag; es war so still im Hof. Ich war noch nicht viele Minuten in meinem Zimmer gewesen, als Madre anklopfte. Sie kam auf eine eigentümlich vorsichtige Weise herein und fing an zu sprechen und zu erklären. Schließlich verstand ich, daß sie nach meinem Konsul fragte.
»Was soll der?«
Madre erklärte. Aber ich konnte sie nicht verstehen, sie sprach so überstürzt. Langsamer, bat ich. Das konnte Madre nicht; die Sprache war für sie nur im Zusammenhang da, einzelne Worte gab es für sie nicht. Sie wiederholte und wiederholte, aber immer gleich schnell. Wir mußten es aufgeben. Aber es mußte etwas geschehen sein, weil Madre ging. Ich konnte der Alten ansehen, daß sie es gut mit mir meinte.
Den ganzen Tag über merkte ich etwas. Gegen Abend setzte ich mich vors Tor. Antonio grüßte nicht. Antonio sagte nicht mehr Yes. Er war eine Beute der bekannten spanischen Eifersucht.
Nach und nach kamen mehrere in die Abendkühle hinaus. Aber sie hielten sich offenbar von mir fern. Ich tat, als beachtete ich es nicht, und rauchte eine Zigarette nach der anderen.
Ein Polizist kam des Weges und es verbreitete sich ein peinliches Schweigen. Als er vorbei war, beugte Madre sich zu Mercedes und flüsterte – ich konnte es verstehen:
»Er ist nicht bange geworden.«
– Erst als Rubio kam, wurde das Rätsel gelöst. Er sprach leise mit den anderen und schielte zu mir hin – und dann ging er geradeswegs auf die Sache los. Ob ich bei meinem Konsul gewesen sei?
Nein, was ich da solle?
Einer von los secretos – Madre nickte schaudernd, ein Geheimpolizist sei vormittags dagewesen und habe nach mir gefragt. Man meine, ich sei ein amerikanischer Spion. Es war ja während des Krieges.
»Hat jemand mich angezeigt?« fragte ich sofort und spähte umher. Von überall begegneten mir offene, ehrliche Augen. Aber innerhalb des Tores saß Antonio, er sah nicht auf. Er war auffallend fleißig – Schwupp! warf er eine Sohle in den Weichkübel – Klatsch! legte er das Leder wieder auf das Brett über seinen Knieen. Und jetzt schnitt er langsam und bebend eine neue Sohle zurecht.
Ich wandte bedächtig meinen Blick wieder fort.
– Nein, ich sei kein Spion! Ich holte meinen großen akademischen Bürgerbrief herbei und las die lateinische Schrift vor. Madre nickte übermäßig befriedigt – hatte sie nicht die ganze Zeit meine Partei ergriffen!
Als der Geheimpolizist am nächsten Tage wiederkam, schlug ich ihn in Gegenwart aller mit meinen Papieren und Siegeln aus dem Felde.
... Die Boten kamen jetzt einer nach dem anderen mit Nachrichten heim. – Meine innerste gute Bauernvernunft hatte in der Stille gearbeitet und war zu einem Resultat gekommen. Eines Tages konnte ich mir ohne Beschönigung sagen, daß Dolores sich nicht von mir bezaubern ließe. Nein.
Ich ersparte mir unnötige Aufregung und ließ mich schweigend von der Höhe herabplumpsen, zu der ich hinaufgeklettert war. Ich fiel hart und stieß mich an einer Stelle.
Inzwischen sollte Antonio sich nicht unbedingt als Sieger fühlen. – Ich ging eines Morgens in der Frühe zu ihm. Als er sah, daß ich auf ihn zukam, maß er mich – und sein Antlitz bekam jenen krankhaften Zug, der dem Spanier eigen ist, wenn er gereizt wird.
Ich hatte einen alten Dolch drüben in der Stadt gekauft, eine gefährliche Toledoklinge mit maurischem Schaft – den zeigte ich Antonio und erklärte ihm, daß ich ihn gekauft hätte.
Ein gutes Exemplar – er könne selbst sehen! Ich nahm einen Korkblock, den er zu irgend einem Zweck auf dem Tisch stehen hatte, legte ein Geldstück darauf und spaltete es mit einem einzigen Schlag in zwei Teile.
Stahl! – Aber ich hätte keine Scheide. Ob Antonio mir eine nähen könne? Und wieviel sie kosten solle?
»Soll geschehen,« antwortete Antonio mürrisch. Auf drei Realen würde sie sich stellen.
Bevor ich ging, bot ich Antonio eine Zigarette. Er bedachte sich. Aber dann nahm er eine. Es waren feine Zigaretten.
Dolores – sie hatte noch nicht einmal etwas Sonderliches gemerkt. Aber sie fuhr fort, mir gleich jung und begehrenswert zu erscheinen, nachdem ich mir selbst eingestanden hatte, daß ich mit meinem Äußeren keinen Eindruck auf sie machen könne. Die Sache nahm nun eine peinliche Wendung. Mein Sinn wurde gemischt und unrein. Und als ich es als eine Pflicht gegen mich selbst empfand, abzubrechen, und nicht abbrechen konnte, da – ja, da war ich in Not. Ich hatte gar zu oft Veranlassung, schlechte Laune festzustellen.
Unter diesen Verhältnissen wurde Sevilla mir bald zur Last. Ich war mit der beschwingten Hoffnung hergekommen, die ganze Tabaksfabrik einzunehmen, und nun war ich nicht einmal imstande, dieses eine ganz unpersönliche Mädel zu beugen.
Ich fühlte mich niedergeschlagen und unrein zumute. Und eines Tages, als ich in Alcazar war, wurde die Lage mir verhaßt. Ich sah das Bad der Mauren, ein Bassin und eine Grotte im Freien. Mitten in der Grotte stand eine Marmorfigur bis zum Gürtel im Wasser – eine plumpe Frauenfigur, die mit beiden Händen Wasserstrahlen aus ihren Büsten drückte. In dem arsenikgrünen Wasser des Bassins schwammen fleischfarbige, träge Fische. Da fühlte ich eine Mystik, die auf mich selbst gemünzt zu sein schien, da wurde ich meiner selbst tief überdrüssig.
Was wollte ich noch in dieser Stadt, wo die Insekten mich auffraßen? » Torre del Oro« irritierte mich. Die Kathedrale mit ihrem Gitterwerk von Türmchen und Rosetten erinnerte mich an einen mächtig großen gußeisernen Ofen oder Herd. Diese halbe Million Tons, die für alle Ewigkeit der Erde auf der Brust lag! Und ihr Inneres langweilte mich ebenso schmerzlich, wie alle Staubwedel von Palmen, die auf den Marktplätzen standen. Ich sah ein, daß dieser ganze Kirchenstil nichts anderes sei als ein Palmenplagiat – einzelkeimblättriger Stil.
Nein, ich richtete mich auf und verleugnete. Wenn ich demnächst abreisen würde, sollte dieser ganze Wirrwarr mich nicht verändert haben. Ich würde als derselbe abreisen, als der ich gekommen war, denn ich hatte mich selbst mitgebracht.
Der letzte Abend ... ich ging in ein Café auf der anderen Seite des Flusses, gerade dem Hause in Bêtis gegenüber. Dort setzte ich mich an einen der Tische auf dem Fußsteig.
Die Dunkelheit brach schnell herein. Als ich es bemerkte, sah ich nach oben – der Himmel war dicht mit strahlenden Sternen besetzt. Reisegestimmt wie ich war, rührte es mich nicht; ich fühlte mich verlassen und wollte mit niemand und mit nichts etwas zu schaffen haben.
Trotzdem aber habe ich seither die klaren, kühlen Sterne jenes Abends nicht vergessen können.
Dort drüben auf der anderen Seite lag das gelbe Haus, das mir so wohl bekannt war. Wenn die Gaslaterne über dem Tor angezündet war, wurde die Fassade dadurch eigenartig beleuchtet. Leute, die ins Haus wollten, verschwanden, bevor sie das Tor erreicht hatten, der Schatten verschlang sie vorher. – Die Entfernung war zu groß, als daß ich jemand erkennen konnte. Es war auch unnötig. Selbst wenn ich Dolores weißes Kleid auf die lautlose Entfernung hätte sehen können, würde es mich weder froh noch beklommen gemacht haben.
Der Fluß trieb vorbei, verschlossen und dunkel unterm Sternenlicht. Noch rollte hin und wieder ein Wagen über die Trianabrücke.
Die Luft lag in tiefer Stille. Der Abendfrieden wirkte besänftigend – die Angelusglocken hatten erst kürzlich ihr Gezänk und Gekeife eingestellt.
Eine Stunde verging. Als ich meinen Kaffee trinken wollte, war er kalt geworden. Diese kalte Tasse Kaffee machte mich vor mir selbst gering. –
»Kellner, eine Flasche Wein!«
... Nein, Dolores, mir wurde es nicht vergönnt, deinen küssenden Mund zu küssen.
Aber wenn du wüßtest, wie ich mich deinetwegen bereitet hatte, wie schimmernd neu, wie glücklich bang mein Sinn dich erwartete!
Bei deinem bloßen Anblick ging mir ein Stich durch die Brust, der noch lange nachher schmerzte. Der Schimmer deines Haares allein konnte mich so erwärmen, daß ich mein Geschäft vergaß und der ganzen Welt große Summen erließ.
Weshalb konnte dein Instinkt dir nicht sagen, daß ich der rechte Mann für dich sei – der einzige, der es vermochte, dein Wesen voll und leuchtend in dich selbst zurückzuspiegeln. Ich sah, daß du von Kopf bis zu Fuß ohne Fehl warst – ich versteh mich auf dergleichen, ich habe soviel Fehlerhaftigkeit gesehen. Ich kannte dich ... eine Tochter der Erde, eine fertige Form! In meinen Armen hätte ich dich zum Leben erwecken wollen, ich hätte dein Haar, deine Wangen, deine Ohren, deine Kniee für ewig ausgezeichnet.
Weshalb ahntest du es nicht? Ich verstand doch gleich, daß nur der höchste Egoismus eines Mannes dein Glück werden könne. Ich glaube, ich wäre würdig gewesen, dein Schuhband zu lösen. – Aber ich bin auch eine Art Mensch – ich wollte dich nur, wenn du dich selbst durch mich suchtest – ich wollte deinem blinden Ego begegnen.
Weshalb konnte es mir nicht gelingen, dich zu bewegen nur ein einziges Mal die Augen niederzuschlagen – das hätte mir genügt. – Du begegnetest meinem begehrenden Blick mit Augen, die ebenso unwissend und fern waren wie Sterne.
Prost Dolores, dumme Dolores!
... Du solltest wissen, wie ich mich nach dir gesehnt habe bis zum heutigen Abend. Ich habe mich gesehnt ... Lola ... du!
Ach, Dolores, wen soll ich jetzt lieben? Was soll aus mir werden? Und du gehst dort drüben, du lebst noch.
Hier sitze ich reisefertig ... Prost, alle unerreichbaren Sterne!
Hier sitze ich wie ein Ding, dem alle Teile fehlen, – selbst der Name ...
Wie eine Rundung ohne eine Erde ...
Prost, Dolores!
Cadiz drei Wochen später.
Welcher Tag und welches Datum, das wußte ich nicht. Ich verschlief die meiste Zeit. Übrigens fehlte mir nichts. Aber ich litt an einer Ungeduld, die mit jedem Tage heftiger wurde. Ich konnte mich nicht dazu zwingen, etwas zu tun. Meine Ohnmacht erfüllte mich mit Bekümmerung, Ruhelosigkeit, Selbstanklage. Was wurde nun aus meinen Werken? Wie sollten künftige Kulturhistoriker sich ohne die Quellenschriften behelfen, die mir im Magen lagen!
Außerdem war ich in Cadiz alt geworden. Hatte alles dort gesehen und unmaßgeblich beurteilt, es gab keinen Stoff mehr für meine Gedanken. Wenn ich neu denken soll, muß ich neu empfinden. – Aber ich blieb in Cadiz, weil es mir nicht einfiel fortzureisen.
Schließlich wurde ich krank.
Tage- und nächtelang lag ich auf dem Rücken. Mein Gemüt war in einen dicken Knoten von Verleugnung und Halsstarrigkeit verschlungen.
Was spürte ich eines Tages – wo kam das her – es war ein häßlicher Gestank in der Luft! Er kam aus mir selbst, ich roch aus meinem eigenen Hals, wie eine alte leere Flasche. Ich hatte einen Geschmack im Munde, als läge mir eine Kupfermünze auf der Zunge ... das Fährgeld für Charon!
Ich hatte angefangen, bei lebendigem Leibe zu riechen.
Jeden Morgen untersuchte ich meine Gemütsverfassung und sah ein, daß der Tag keine Rettung bringen würde.
So verging eine lange Zeit.
Hin und wieder, des Nachts oder am Tage verbrannte ich in einem Feuer von Ingrimm. Weshalb war mein Magen verdorben, weshalb hatte ich morsche Eingeweide geerbt, wenn ich darnach begehrte, im Zirkus aufzutreten und Blechabfall und alte Nägel zu fressen? Ich klagte meine Eltern an, ich verfluchte sie – weshalb mußte ich Magenschmerzen haben, weil sie Gott anbeteten? Weil meine Ahnen am Fasten starben, sollte ich auf fette Speisen verzichten! Jetzt lagen sie in der Erde, die Narren, die entsagten während sie lebten und die ihr Vieh zu Opferfeuern für die Nase des Himmels hingaben. Weil sie ungesäuertes Brot aßen, lag ich mit hohlen Zähnen da und verpestete die Luft. Ich klagte zweitausendjährige Geschichte an, ich verleugnete sie – es gab gar keine Weltgeschichte, es gab nur ein talentloses Epos, das von traurigen Helden handelte, eine langweilige, endlose Messiade.
Und nun gingen die Leute draußen auf der Straße und verfaßten Anmerkungen, die kein Mensch lesen mochte – Kommentare, Inhaltsverzeichnisse ... die nie gelesen werden würden, nie und nimmer! All diese Lebenden waren mit Recht zur Vergessenheit verdammt.
Ich stellte mir vor, wie sie draußen spazierten, mit dem Kopf aus den Kleidern heraus ... dieser überflüssige Kopf. Was sollte der? Kein Wunder, daß unser tiefster Instinkt darauf ausgeht, ihn uns gegenseitig abzuhauen. Unser Kopf hätte auch anständiger am Körper verteilt werten können. Es ist Grund genug da, ihn zu verbergen – das Ohr, dieser widerwärtige, nackte Knorpel! – Der Nabel bliebe ja trotzdem unser Mittelpunkt, und unsere Seele sitzt – in der Hose.
Nächte und Tage.
Eines Abends bei Sonnenuntergang saß ich im Park von Cadiz. – Die Sonne erreichte den Horizont des Meeres und verschwand hastig dahinter. Als der letzte kurze Feuerstab zusammengeschrumpft und zu einem Punkt geworden war – und dann nichts mehr – lag das Meer plötzlich ganz allein und leer da.
Ich war so allein, so verlassen.
Meer und Himmel und Sonnenuntergang konnten meinen schweren singenden Drang nicht lösen. Mein Wille war und blieb heimatlos, meine Sehnsucht verschmähte ein jegliches Objekt. Meine Sehnsucht, die lebte! Meine Seele, die vor Allmacht schwoll und vor Rhythmus überfloß.
Aber wann immer ich gefunden habe, habe ich verleugnen müssen. Es ist mir seltsam ergangen. Als ich anfing, falsche Lebenspoesie zu verfolgen, um sie auszurotten, wurde ich selbst zum Dichter. Während ich Werte suche, verliere ich alle Werte. Beethoven – so tragisch erging es dir – du wurdest taub, während du deine Musik schufest.
Die Dämmerung brach herein. Palmen und Büsche wiegten sich leise im Winde. Jedes Wellenplätschern gegen die Mauer unten erneute das Schmerzbewußtsein in meinem Kopf. Mir war schlecht zumute. Die Unmöglichkeit, Hilfe zu schaffen, brachte mich auf untröstliche Gedanken, meine Unruhe wurde von Müdigkeit genährt. Alle Gedanken, die ich mir machte, wollten diese rettungslose Niedergeschlagenheit erklären und konnten es nicht.
Ich ging ein Stückchen und setzte mich wieder auf eine andere Bank – wie man im Bett seine Lage verändert, um die Atemnot zu erleichtern.
Als ich noch nicht lange gesessen hatte, hörte ich eine gedämpfte Stimme in meiner Nähe. Zwischen den Palmen entdeckte ich Zwei, die auf einer Bank saßen, ein Mann und ein Mädchen. Er hielt ein Taschentuch in der Hand und trocknete ihr das Gesicht. Er tröstete sie geduldig – die Stimme summte milde durch die Dunkelheit –, er beugte sich herab und küßte ihr Ohr. Aber sie fuhr fort zu schnupfen und zu weinen ...
Das linderte meinen Schmerz, das tat mir wohl. Ich wurde während einiger Minuten so von diesem armen, fremden Kummer erfüllt und gefesselt, daß die qualvolle Spannung meines Gemütes nachließ.
... Der Nachmittag war so klar, daß das dunkle, blaue Meer wie ein Ring unterm Himmel lag. In weiter Ferne zogen zwei Dampfer dahin, nur die Masten und Schornsteine waren zu erkennen. Das Schiff, auf dem ich stand, machte eine Beule in das Meer, als ob wir die runde Form der Erde etwas eindrückten. Das Schiff pflügte sich vorwärts, stampfte und schien den Kopf zu schütteln – drückte hin und wieder den Bug nach unten und spaltete das Wasser.
Die Sonne stand im Westen auf einem niedrigen, goldenen Dreifuß. Die Möwen strichen in schweigendem Flug dicht über das Wasser hin.
Und als die Sonne untergegangen war, zog das Schiff durch die klare, grünliche Luft dahin ... wie ein Greis, der seine hohe, blanke Stirn hebt und seine blinden Augen aufwärts wendet. Bald strahlte der Mond – die gelbe Kugel hing frei im Raum, ohne zu leuchten.
Das Wasser höhlte sich und plätscherte lind ums Schiff, die Wogen spielten Häuschenvermieten. Und weiter hinten schlüpften die kleinen Wellen gülden und still durch den Mondstreifen hin und her.
Und da – in weniger als einer Sekunde – fiel ein Meteor vom Zenit – er strahlte lotrecht herab, hing wie ein Klöpfel in der Himmelsglocke – und war verschwunden.
Das Schiff wanderte getreulich weiter, und die beiden großen Windkoppen oben am Schornsteine streckten die Hälse, öffneten das Maul und glotzten, glotzten je nach einer Seite in die Dunkelheit hinaus.
Nachts begann es zu stürmen, das Schiff legte sich unruhig von der einen Seite auf die andere. Der Wind sang hartnäckig und biegsam durch die Takelung. Irgendwo pfiff der Wind durch ein hohles Stück Eisen. Die See ging hoch.
So sangen das Meer und der Sturm die ganze Nacht hindurch. Es war als ob ein alter und hartköpfiger Organist unablässig in den höchsten Registern variierte. Wenn die Wolken sich teilten, kam der Himmel zum Vorschein und die meilenhohen Säulen, die silberweißen Pfeifenbündel ... und der Organist fuhr fort, die Töne zu halten und mit beiden Händen in die kleinsten weißen Pfeifen hineinzugreifen.
Beefsteak mit Kartoffeln und Wein aus Valdepenas! Mein Kellner freute sich, als er mich wiedersah. Er unterhielt mich, den Finger gegen die Tischplatte gestützt. Ob ich verreist gewesen sei?
Ja, ich sei in Tanger gewesen.
»Ach so!« Der Kellner lächelte. »Solo?« fragte er schmeichelnd bedeutungsvoll.
»Sie haben das Salz vergessen!« antwortete ich grimmig warnend. Er verschwand geknickt.
Solo! – Danach fragte meine Wirtin mich auch. Was sind das für Sitten und Gebräuche hierzulande!
Ich aß, solange etwas zu essen da war. Dann rollte ich mir eine Zigarette, drückte sie liebevoll flach und zündete sie an. Ha! Ich trank und schluckte den Rauch, ich schmeckte mit allen inneren Wänden, und schließlich blies ich halberstickt zwei Strahlen durch die Nase. Oho! Der Wein füllte mich, ich schaute mich mit Behagen um.
Mein Café lag etwas entlegen in der Stadt. Es pflegten gewöhnlich einige wortkarge Paare in den Ecken zu sitzen und irgend ein Sakrament zu genehmigen, Eis, Wein oder süße Kuchen. So auch heut Abend.
Ich bestellte mir auch Vanilleeis und begann zu grübeln, während ich es aß. Solo! Ja ich war allein, und wollte es bis zum letzten Tage bleiben. – Das Eis war kalt, kalt, aber diese eisige Kälte ging Hand in Hand mit einer delikaten Süßigkeit. Ich dachte mit großem Ingrimm an mancherlei und befand mich doch unendlich wohl dabei. Es würde schon alles gut werden, ohne Zweifel, dachte ich, aber inzwischen sollte aller Welt ein Unheil geschehen. – So saß ich und vermittelte und suchte Versöhnung, und die Zeit verstrich.
Aber die gute Laune schlich mir davon, während mein Kummer zu schlafen schien. Und als mein Kummer erwachte, befand er sich allein im Dunkeln. Ich wurde mir selbst unerträglich. Nichts wollte helfen.
Als ich nach Hause gekommen war, begann ich in meinem Zimmer auf und ab zu gehen und zu singen: ein alter, schleppender Psalmgesang war mir eingefallen – just einer von jenen Gesängen, die die schreckliche Klage von Jahrhunderten enthalten. Sie mußten schaffen oder sterben, bauen, bauen ... die Erde abgrenzen, um Häuser darauf zu bauen ...
Und während ich auf- und abschritt und sang, kam mir unwillkürlich eine Erscheinung in den Sinn. Es war ein großer Mann mit einem weißen Bart – etwas gelblich, als wäre er rot gewesen, bevor er weiß wurde. Er war sehr alt – seine Finger waren weißlich vor Alter, sie sahen aus wie abgebrühte Würste. Korra schien er zu heißen.
»Hier bin ich nun!«
Wie leise und schlicht er sprach.
»Willst du dich nicht bald ruhig verhalten? Weshalb singst du vor Schmerz? Weshalb stürmst du vergeblich? – Du sollst auf das Leben warten – das Glück kommt zu dem Geduldigen.«
Ja, er hatte recht. Er war selbst still geworden und wußte es ... aber im selben Augenblick stellte ich mir diesen hohen Kopf gegen eine Mauer gedrückt vor, während er mit dem Ende eines Balkens über die Steine hinaus gequetscht wurde.
Nein! Nein! Ich sang, und mein Text war ein einziges Nein. – Das wäre zu leicht und billig! Außerdem konnte ich mich ja erschießen, wenn ich wollte. Fort, alle alten Bettler!
Im Laufe der Nacht begann es zu stürmen. Es wurden ganze Wolken von scharfem Staub gegen die Fenster gefegt. Ich konnte das Meer knurren hören. An Schlaf oder Ruhe war nicht zu denken und die Nacht war sengend heiß. Ich aber legte mich unbeweglich auf den Rücken, schlug meine Verstocktheit wie einen Mantel um mich und schloß die Augen.
– Wie ich so dalag, dachte ich an Dolores. Sie beunruhigte mich nicht mehr.
Aber sonderbar genug schweiften meine Gedanken von ihr zu einer ganz anderen Frau, die ich auch nicht besitzen konnte, denn sie war vor vielen hundert Jahren gestorben; es war die Königin Berengaria, an die ich dachte. Ich habe einmal ein Bild ihres Kraniums gesehen. Sie war schön. Bengerd, die einzige Frau, die ich hätte lieben können.
An sie dachte ich die ganze Nacht und sehnte mich. Ich beschloß, ein Buch über Bengerd zu schreiben. So stark war meine Sehnsucht nach dieser meiner toten Frau, daß die vergangenen Zeiten auferstanden und mich wie eine Dunkelheit angähnten. Ich fühlte mein Herz knistern, während ich mich an das Unmögliche, an das Tote klammerte.
Ich blieb den ganzen nächsten Tag zu Hause. Der Sturm schwoll draußen in dem weißen Sonnenschein, die Decke und die Türen seufzten, und hinter dem Tapetenpapier staubte Kalk herunter. Der Wind war so heftig, daß er das Wasser aus den Eimern der Träger auf die Straße herabriß und durch die Luft spritzte. Cadiz' Schwalben suchten Schutz hinter den weißen Mauerkronen, kämpften und kreuzten von Dach zu Dach vorwärts.
Aber trotz des Sturmwetters war der Tag seltsam still.
Spät am Abend ging ich aus. Es war sehr dunkel, und heiße, trockene Luft jagte durch die Straßen, wogte gewaltsam um alle Ecken.
Auf den offenen Plätzen innerhalb der Ringmauer tanzten hohe Staubwolken; man konnte sie nur undeutlich durch die Dunkelheit unterscheiden. Bisweilen waren es zwei wilde Figuren, die sich begegneten, einander um den Hals wirbelten und mit einem Satz gen Himmel stoben.
Das aufgebrachte Meer brandete gegen die Mauer und zog sich wieder zurück. An einer Stelle, wo die Mauern einen Winkel bildeten, rasten Wasser und Steine gegeneinander an; es war, als ob Kronos seinen Todesspuk im Rachen auf und nieder röchelte.
Die Nacht aber war öde wie zu den Zeiten, als noch kein Vieh auf Erden lebte. Der Sturm und der Staub belustigten mich nur. Was kümmerten mich Nacht und Meer. Ich ging aus, weil ich es für hygienisch richtig hielt. Mein Gemüt brannte wie die Hölle. Ich kam nach Hause und legte mich schlafen. Aber gegen Morgen riß meine physische Geduld. Ich erwachte plötzlich und schüttelte die geballte Faust durch die Luft. Vorbei! Vorbei!
Es ist merkwürdig, daß es Menschen gibt, für die alles spekulativ wird ... obgleich doch alles nur sozusagen eßbar ist. Wir bilden gewiß eine Kaste für uns.
Nachdem ich nichts Geringeres als ein Erdbeben verursacht hatte, fand ich Rettung, indem ich eine kleine Portion abstrakter Gedanken zur Welt brachte. Wir gewinnen den Weltraum ein! – das fiel mir in jener Nacht ein. Eisenbahnen, Dampfschiffe, Telephone ...
Diese Einsicht aber ließ mir alles in einem anderen Licht erscheinen – ebenso wie ein einziger kleiner Tropfen Säure eine Lösung umfärben kann.
Nachdem ich diese großartige Entdeckung gemacht hatte, erholte ich mich. Ich ging zum Barbier, ließ mich schneiden und hübsch machen, ich fühlte die allerhöchste Zufriedenheit. Meinen hohlen, unheilbaren Zahn ließ ich ausziehen. Meine Haut schelferte ab, ich mauserte und wurde wie neu. War ich es überhaupt gewesen, der getrauert hatte? Und ich fing an, ein großes Buch zu schreiben; mein Kopf strahlte und floß über von gangbarer Literatur, wie ein Haus während einer Sturmflut.
Ich mischte mich jetzt auch wieder unter die Leute. Das erste, was ich vornahm, war ein Besuch in der Kathedrale.
Der Küster sprach nicht schlecht deutsch – er machte mich also zu einem Deutschen. Und ich ließ es geschehen. Während er mich umherführte, sparte ich nicht an »Entzückung«.
Hier solle ich nur sehen, die Kirche sei neuerdings restauriert worden – neue Säulen – Marmor zu hundert Mark per Kubikfuß. Was ich zu diesen großartigen Kirchenstühlen sage! funkelnagelneu ...
Wundersch... plötzlich fixierte ich den Mann scharf. Nachdem ich den Ausdruck in seinen Augen gesehen hatte, sagte ich mit erwachender Entrüstung:
»Sehr schön, mein braver Mann! Aber wo sind die weltberühmten Bilder – Murillo, Palmavecchio?!«
Er schwieg und schrumpfte zusammen. Jetzt sah ich erst, daß der Küster ein magerer und verkümmerter Mensch war. Aber ich setzte ihm scharf zu, ich hatte ihn in eine Ecke gedrängt. Er flötete und sang, aber bekennen mußte er. – Die Kathedrale in Cadiz besitzt weder Bilder von Murillo noch Gebeine von St. Peter, sie hat weder Risse in den Wölbungen aus der Zeit der Freiheitskriege noch Fresken, die viele Jahre überkalkt gewesen sind. Sie ist rein heraus modern.
Ich fragte den Küster, wie er es möglich mache, seinen Unterhalt zu verdienen ... es war sein Pech, daß er sich aufs Deutsche verlegt hatte! Aber ich wolle versuchen, ob ich ihm helfen könne, sagte ich.
Und ich griff in meine Westentasche und nahm den Zahn hervor, der mir vor kurzer Zeit ausgezogen worden war. Es war ein großer Backenzahn, wie ein Dreifuß geformt und sehr hohl – den bot ich ihm. Ich pflege allerdings meine hohlen Zähne dazu zu gebrauchen, um Abhandlungen darüber zu schreiben ... aber einerlei, er sollte ihn haben.
»Bitte, nehmen Sie nur. Eine Kathedrale ohne Reliquien empört meiner Seele Tiefe. Eine Kathedrale ohne ... da empfinde ich zum ersten Mal das ›Ding an sich‹.«
»Nun, nun – schon gut! – spenden Sie dem Höchsten diese dankbare Zähre! Her mit der Hand – da!« Und sprach's und ging.
Und ich reiste von dem stürmischen Cadiz ab und kam an einem erdrückend heißen Juliabend in Granada an. Der Zug lief unter der Sierra Nevada dahin, die fünfundvierzig Grad des Himmels verdeckte. Die Gipfel standen hoch oben mit bläulichen Eisblicken, der ewige Schnee starrte wie die Augen eines Erfrorenen. Aber tief drinnen in dem schwarzgrünen Tal lugten, blitzten die Lichter von Granada.
Es erging mir hier nicht besser als in Sevilla. Ich fragte nach dem Hotel de la Paz, aber man fuhr mich offenkundig nach einem ganz anderen Hotel. Das ist hier so Sitte, Widerstand nützt nichts. Ich ließ mich mitschleppen und bekam ein Zimmer angewiesen.
Der Oberkellner kam mit dem Fremdenbuch und ich schrieb meinen Namen, Jensen, Handelsreisender in Anthropologie, Copenhague. Der Kellner verschwand mit dem Buch. Aber wenige Minuten nachher kam der Wirt. Er begann mit wortreichen Umschweifen:
Ich dürfe es ihm nicht übel nehmen, wenn er mich auf einen Irrtum aufmerksam mache ... aber ob ich nicht eigentlich ins Hotel de la Paz gewollt hätte? Mißverständnis von seiten des Kutschers ... Gott bewahre, er kenne mich, er könne wohl behaupten, daß man mich kenne, wo ich auch hinkäme – ich sei sehr bekannt in Spanien! Nicht, daß er persönlich etwas gegen mich habe, aber es sei Prinzipsache, Prinzipsache und Rücksicht auf die anderen Gäste, und – äh ... der Wagen hielte unten. Es solle mich nicht das Geringste kosten vom Hotel irgendwo anders hingefahren zu werden, wohin ich wolle. Und ehrlich gesagt, ich möchte mich ein bißchen tummeln! Denn hier würden die Gäste nicht hinausgeworfen, die meisten pflegten soviel Bildung zu besitzen, von selbst zu gehen ... aber wenn ich kein spanisch verstünde, dann würde er gern den Hausknecht heraufrufen, damit er es mir verdolmetschen könne ...
Auf diese Weise kam ich doch ins Hotel de la Paz.
Dort geriet ich gleich in einen fürchterlichen Wortstreit mit dem Kutscher, der mein Gepäck heraufgetragen hatte. Schließlich gelang es mir, ihn hinauszuwerfen.
Die Hitze war entsetzlich. Ich warf meine Kleider ab und schöpfte alles Wasser, was zu finden war. Die Reise hatte mich tüchtig steif gemacht und ich ergriff eine lange Eisenstange, die bei der Tür stand und machte Turnübungen damit.
Im selben Augenblick erschien ein Kellner. Als er mich mit der hochgeschwungenen Eisenstange sah, ergriff er einen Wandschirm, der in der Nähe stand, und ihn wie einen Schild vor sich ausgestreckt haltend, wich er schreiend rückwärts aus der Tür hinaus. Ich hörte ihn die Treppe hinunterpoltern und um Hilfe rufen – und unwillkürlich übersetzte ich mir selbst sein Spanisch – ein tobender Deutscher auf Nummer siebenundzwanzig.
Was Granada anbetrifft, so kann ich beschwören, daß die Alhambra dicht dabei liegt. Aber diese alten, rostigen Türme geben weder morgens noch abends einen Ton von sich, wie die Memnonsäule. Ich war im Patio de Leones. Die Löwen dort erinnern mich an die Pfeifenpferde von gebranntem Ton, die wir als Kinder auf dem Jahrmarkt kauften. – Es gefiel mir in Granada.
Manche Nacht wachte ich auf und hörte das Wasser in den Eisenröhren des Hotels sausen und singen – ich empfand meine Identität mit der Welt und schlief weiter. Abends, wenn ich im Bett lag und las, konnte ich ganz schwache Abstufungen in der Leuchtkraft meiner Glühlampe unterscheiden – just solch unbedeutendes Steigen und Fallen wie in dem Kolbenschlag einer Dampfmaschine zu spüren ist. Und ähnlich so war meine Seele – ein empfindsames Licht, das jeden Atemzug, den die Welt tat, mitempfand.
Ja, und ich hatte mich selbst in der Hand, konnte zu meinem Schicksal Marsch! oder Stillgestanden! sagen. Während vieler Tage tat ich nichts anderes, als meine Willensfreiheit zu genießen.
Eines Abends fühlte ich mich einsam und mußte an Dolores denken.
Ich löste ein Billet nach Sevilla und reiste die ganze Nacht hindurch. Zeitig am nächsten Vormittag fuhr ich vom Hotel nach Bêtis hinüber. Aber ich hielt mich dort kaum eine halbe Stunde auf.
Die erste, die ich sah, war die alte Madre, sie »saß« im Hof. Ich wußte, daß ich mich an keine andere als an sie zu wenden hatte – sie besaß jene abgekühlte und zugleich strenge Lebensanschauung, die Vernunft mit Autorität zu umgeben vermag.
Ich gab Madre zu verstehen, daß ich unter vier Augen mit ihr sprechen wollte – mimisch – sie verstand mich sofort. Als wir aber sprechen wollten, ging es nur mit großer Mühe. Es fielen etwa folgende Worte:
Madre: »Sie sagen. Sie wollen ...«
Ich: »Ja, ich will für Dolores Aussteuer sorgen.«
Madre: »Sie wollen für Dolores Aussteuer sorgen?«
Madre (heftet den Blick durchdringend auf mich): »Also Sie wollen für die Aussteuer sorgen ...«
Ich: »Ja, ich will für Dolores Aussteuer sorgen.«
Madre: »Herr sagen Sie, daß Sie ...«
Ich: »Ich sage.«
Madre: »Oho! Sie wollen für die Aussteuer sorgen ...«
Ich: »Ja, ja.«
Madre: »Für Dolores. Oho!«
Ich konnte meine Sache nur gebrochen führen. Meine schmutzigen Geldscheine aber sprachen klar und fließend. Sie schwiegen redegewandt. Madre und meine Scheine schwiegen miteinander.
Plötzlich schien Madre alles als ganz unmöglich abtun zu wollen. Gleichzeitig aber sah sie mir wie ein Mann in die Augen und erklärte in einem ganz alltäglichen Ton, daß ich wohl einige Wäschestücke vergessen hätte, als ich abreiste. Ob sie mir ins Hotel gebracht werden sollten?
»Ja, danke.« Ob ich sie gleich bezahlen dürfe, dann ...
»Man bezahlt beim Empfang,« sagte Madre und lachte, daß es nur so schallte. »Wir pflegen uns auf Leute zu verlassen, besonders auf Engländer. Die Wäsche wird heute Abend gebracht werden und die Rechnung ebenfalls.«
Damit verabschiedete ich mich. Als ich aber durch das Tor ging, rief Antonio mich an – er war dabei, Stiefel zu besohlen. – »He! Pst!«
Die Scheide ... ich hätte wohl die Scheide vergessen. Aber sie sei fertig. »Bitte!«
Ich bezahlte die drei Realen und bot Antonio eine von den guten Zigaretten. Wir schieden im höflichsten Einverständnis.
Abends kam Dolores mit meinen blendend reingewaschenen Hemden ins Hotel.
Und am nächsten Tage fuhr ich über Berge und Täler, durch Tunnel und über donnernde Brücken nach Granada zurück.
An einem frühen Morgen machte ich mich auf den Weg, um den Mulhacén zu besteigen.
Ich blickte nicht zurück, bevor ich die erste freie Höhe erreicht hatte – es war inzwischen Mittag geworden. Das Tal lag unter mir; tief unten am Fuß des Berges lag Granada und sah wie ein großer Steinbruch aus. Es war ein mächtiges Panorama, das sich meinem Blick bot – Land und Berge – ein Luftraum von vielen Kubikmeilen.
– Wenn dieses Land mal unser wird, dachte ich, werden wir etwas ganz anderes daraus machen. Zuerst wird es ja einige Verluste für uns mit sich führen, da wir alle die falschen Wechsel, die die Mystiker, Dichter und Jesuiten in Spanien in Umlauf gesetzt haben, mit übernehmen müssen. Dieses Land ist immer eine Tasche gewesen, aus der Lügner sich Münzen holen konnten. Sie brauchten nur das richtige Gepräge zu haben, die Münzen ...
Nun gut. Ein großer Teil der mißlichen Papiere sind ja auch in Europa in Umlauf – und wir denken nicht daran sie einzulösen. Mag der Verlust den Gierigsten teuer zu stehen kommen – mag mancher betriebsame Jobber aus dem Sattel fliegen! Es wird einen Chok geben ... ich höre Zähne wie Kastagnetten klappern. Fallit, Fallit!
Laßt uns einmal sehen ... ich setze den Fall, daß wir die Alhambra und den Dom von Sevilla vernünftig administrieren, solange sie zusammenhalten ... später können wir sie niederreißen und durch Verkauf an Museen und an deutsche Privatleute zu Geld machen. – Mag das Geschäft während der ersten Jahre auch etwas flau sein – sobald wir in den Besitz von barem Geld gekommen sind, lassen wir ein Schabeisen über das Land hingehen – von den Pyrenäen bis Gibraltar – und mahlen das ganze alte Mauerwerk zu Staub. Und wenn wir das Land planiert haben, beginnen wir mit den neuen Bauplänen ...
Ich wandte mich wieder dem Berg zu und begann höher zu steigen. Nachdem ich eine Kluft passiert hatte, kam ich zu einer weiten, steilabfallenden Steinebene.
Hier herrschte Einsamkeit. Ich weiß nicht, wieviel Zeit verging; aber die Sonne kam von hinten und brannte mich stark im Nacken.
Zwischen den spitzen, von der Sonne mürbe gebrannten Steinen wuchs hier und da ein Büschel Timian und duftete trocken und kräuterig. Farblose Grashüpfer schwirrten in die Höhe und fielen mit einem kleinen Plumps an einer anderen Stelle nieder. Hin und wieder sah ich eine große, behaarte Spinne, die zu ihrem Loch eilte und sich in Sicherheit brachte.
Die Mittagszeit war vorüber und die Ebene wollte kein Ende nehmen. Ich ging auf einem ziemlich ebenen und harten Felsenboden, der so von der Sonne erhitzt war, daß er durch meine Sohlen brannte. So geschah es, daß ich über die Erde schritt, obgleich sie glühend war.
Als ich fast das Ende der Ebene erreicht hatte, zeigte es sich, daß noch eine breite und tiefe Kluft vor den Schneegipfeln lag. Ich setzte mich mutlos auf einen Haufen Steine, eine Warte, die irgend jemand dort oben errichtet hatte. – Der Schweiß floß mir über die Augenbrauen, und ich hörte mein Blut sieden und klopfen.
Der Sonnenschein flimmerte phosphorisierend über das einsame Steinfeld; das Tal lag tief, tief unten. Und plötzlich wich das Steinfeld seitwärts zurück, das Tal und die Berge vor mir wanderten lautlos nach rechts. Die Besinnung verließ mich, und als ich mich aus der gebeugten Stellung aufrichtete, wich alles was ich sah mit einem Satz nach oben – es dunkelte mir vor den Augen.
Ich kroch in den Steinkranz hinein, rollte mich auf die Seite und legte mich in das bißchen Schatten, das da war.
Das Übelbefinden wich sofort, ich war nur zu lange in der Sonne gegangen. – Aber ich blieb liegen und wunderte mich über die große Einsamkeit und Stille. Ich fühlte, ohne mich zu rühren und ohne den Mund zu öffnen, daß, wollte ich rufen, der Laut einige hundert Meter weiter spurlos dahinsterben würde. Die Sonnenwärme brannte mir die Seite; ich wußte mit geschlossenen Augen, daß die Sonne schweigend und glühend am Himmel stand, schweigend wie seit Jahrtausenden.
– Nachdem ich eine Weile geruht hatte, stand ich auf und maß das Land unter mir.
... Wir waren unserer drei, die sich gemeinsam auf eine Expedition begaben. Wir wußten nicht, was wir mit unserer Reise bezweckten – aber es fehlte uns etwas, und das wollten wir suchen.
Der eine meiner Freunde war ein merkwürdiger Gesell. Er war bis zu seinem zwanzigsten Jahr blind gewesen und hatte dann durch eine Operation seine Sehkraft erlangt. Während der ersten Zeit sah er alle Dinge umgekehrt – aber er sah, alles war ihm neu und teuer. Seine Stimme schlug um vor Entzücken. Er wünschte ebenso wie Nero, daß aller Menschen Köpfe auf einem Hals säßen – damit er ihnen allen auf einmal um den Hals fallen könne.
Mein anderer Freund und Waffengefährte hatte von der Natur scharfe Augen und ein übernatürlich feines Gehör bekommen, und sein Gefühlssinn war so fein, daß er Haare mit seinen Fingerspitzen zählen konnte. Deshalb erfaßte er alle Schäden in der Welt vielfältig – er sah scheel vor Groll, mit schwarzgekleideter Seele.
Als wir drei eine Zeitlang zusammen gereist waren, wurden wir einig, daß wir uns trennen wollten, jeder sollte allein seines Weges weiterziehen. Hier auf der Sierra Nevada nun trafen wir wieder zusammen.
Mein froher, lebenslustiger Freund kam zuerst. Er schleppte sich vorwärts mit gesenktem Haupt, von Kummer erdrückt, von Enttäuschungen niedergebrochen. Mein anderer Freund, der düstere, kam in vollem Lauf. Hin und wieder blieb er stehen und hielt sich den Magen vor Lachen – dann lief er weiter und fuchtelte mit den Armen durch die Luft. Er schäumte vor Lachen, als er ankam, schwitzte vor Grinsen.
Wir sprachen nicht miteinander, kein Wort wurde gewechselt; meine beiden Freunde legten sich auf den Rücken und fielen in Todeskrämpfe. Der erste weinte sich in den Schlaf, der andere lachte sich einen kolossalen Bruch an.
Und als sie nun tot waren, bettete ich die Leichen und setzte mich gedankenvoll daneben.
Die Sonne schien senkrecht auf die beiden Totenmasken nieder und zeigte die mißhandelten Züge. Die regelmäßigen, vertrauensvollen Linien des einen Gesichtes waren zerstört wie eine Schrift, die mit einem Nagel zerkratzt worden ist. Der redliche Trotz des anderen Gesichtes war von Lustigkeit gesprengt, mit Süßlichkeit übergossen, von zynischem Plunder verzerrt.
Ich war allein – ich wendete mich wieder dem Gipfel des Berges zu. Als ich eine Strecke gegangen war, begegnete mir Satan. Wir begrüßten uns überrascht und kamen ins Gespräch. »Du reist so viel umher,« sagte der Lahme. »Du solltest dich lieber irgendwo zur Ruh setzen.«
»Ja. Sieh mich an, ich bin seßhaft geworden und steh mich gut dabei. Das Geschäft geht flott ... weißt du schon, daß ich die ganze Geschichte gegründet habe? Willst du einen Anteil haben? Wir geben schon Dividende. Geschäft und Seligkeit sind zweierlei, Jensen – ich verkaufe Aktien an die Engel! Dann und wann werde ich mal eine Aktie bei einem Dichter los – nimm nur eine – neulich verkaufte ich einem Dichter eine Aktie und erhielt sein neues Buch als Gegenzahlung. Das fing so an: Nu will is ein Gesichte ersählen, tommt, dann tönnt ihr hören! Na, ich nahm die ganze Auflage, meine Seelen unten können jede ein Exemplar bekommen. – Willst du übrigens zum Gipfel hinauf?«
»War meine Absicht,« sagte ich. »Aber es ist noch weit und ich habe nichts zu essen und zu trinken mitgenommen. Ich glaube, ich warte, bis eine Zahnradbahn hinaufgelegt wird.«
Satan lachte. – »Du kannst ja mit mir fliegen,« sagte er, »komm nur mit.«
Gut, ich flog also mit ihm hinauf.
Und nachdem wir die Aussicht genossen hatten, zeigte Satan mir in einer Vision alle Länder der Welt und ihre Herrlichkeiten. Er bot mir alles an ... unter gewissen Bedingungen. Ich dachte an Faust und andere, die schwere Bedenken gehabt hatten. Aber ich war bald entschlossen. Der Grund und Boden war seit damals fabelhaft im Preis gestiegen, die Erde war mindestens das Doppelte wert ... »Gut, ich schlage zu,« sagte ich. Satan drückte mir warm die Hand.
Dann unterschrieben wir die Schlußnote – das ganze Geschäft war im Handumdrehen gemacht.
Satan geleitete mich darauf höflich zu der Steinebene zurück, und ich begann den Niederstieg, um mein neues Eigentum in Besitz zu nehmen.
– Ein Stückchen weiter unten begegnete mir Zarathustra, der mir mit dem Adler, mit der Schlange und dem Löwen entgegenkam. Ich blieb stehen und zeigte ihm mitten auf die Brust.
»Gut, daß ich dich treffe! Du gehst hier umher und weißt von nichts. Ich kann dir die Versicherung geben, daß du unten durchschaut bist. Es ist eine bekannte Tatsache, daß du eine unheilbare Verwirrung von Buddhismus und weiblichem Katholizismus bist, von Flugprosa und vom alten Testament. Weißt du nicht, daß es eine mosaische Reminiscenz von dir ist, hier oben auf dem Berge in Donner und Blitz herumzustolpernd? Du bist ein falscher Wechsel, meine ehrwürdige Figur, du bist entdeckt, wir lösen dich nicht ein. Dein Selbsterhaltungstrieb greift ins Leere, wir haben dich kassiert. Wir verzeihen niemand – mag er hinterher auch tot, gekreuzigt oder verrückt sein. Die, die wir eine kurze Zeit am höchsten gestellt haben, die ziehen wir nachher am tiefsten in den Staub, damit sich das Wort in der heiligen Schrift erfülle!«
Zarathustra warf den Kopf in den Nacken und blies auf die hochfahrende Weise alter Herrn den Mund auf und sog ihn wieder ein – aus und ein, aus und ein ... Ich ging weiter. Und als ich fast unten angelangt war, traf ich eine große Schar, die darauf wartete, daß jemand vom Berge zu ihnen herabsteigen würde. Sie betasteten mein Gesicht mit ihren Augen, stellten mir ein Bein, zögerten und fragten schließlich: »Bist du der Antichrist, der kommen soll?«
»Nein,« antwortete ich. Und ich konnte meine Verachtung nicht unterdrücken. O, wie gut ich diese Leute kannte. Ihr Rücken juckt von der Peitsche, und sie rufen nach dem großen Spötter. Aber kommt er einmal ...
Ich hätte am liebsten jedem einen Fußtritt versetzt. Aber ich antwortete ihnen in einem rauhen Ton: »Nein – erwartet lieber einen andern. Ich bin ein Verkünder, ich taufe. Platz da, Gesindel, laßt mich unters Volk kommen.«