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Die Küste der Sonne

Und so suchte er denn wieder neue Küsten auf, alt, aber nicht gealtert, ernst, aber ungebrochen, mit einer großen Leere in der Seele, vom Sinn des Lebens losgerissen, aber mit einer Welt vor sich, in der er ihn von neuem suchen wollte.

Er war allein, von allem getrennt, was sein Wesen gewesen war, auf der Wanderung, allein mit sich selbst, allein mit den alten, ewig einsamen Dingen, den Wogen, den blind starrenden Bergen und Ländern, den Wolken, die ohne Antlitz auf dich schauen, den schweigenden Bäumen und dem Rücken der stummen, abwärts fließenden Ströme.

Er ruderte mit seinem alten Boot längs der baltischen Küsten, kam zu den Inlandsflüssen und fischte sich vorwärts, wie er es bereits früher getan, aber ohne Wiedersehensfreude; und als die Flüsse ihn nicht weiterführen konnten, ging er an Land und wurde Jäger, verbarg sich in den dichtesten Wäldern, suchte Berge auf, um sie zu besteigen und zu den Quellen anderer Flüsse auf der anderen Seite wieder hinabzugelangen. Diesmal aber wollte er nicht nach Osten, in die Richtung der Sonne, den Morgenweg allen Anfanges, wo er schon früher gewesen, er wollte gen Süden, zum Strande des Mittags, um dort die Zeit zu kosten.

Die schwache Hoffnung, Verlorenes wiederzufinden, trieb ihn; doch war auch die reine Wißbegierde noch nicht in ihm erloschen, noch dürstete er mit dem Blick des Urmenschen danach, das letzte Vorgebirge und die letzte Woge zu schauen.

Seiner Aufmerksamkeit war es nicht entgangen, daß, während er sich Tausende von Jahren im Osten und südlich vom Osten aufgehalten, abseits von der alten Welt, diese Welt mächtige Fortschritte in Künsten und Lebensformen gemacht hatte. Als Jäger war er fortgereist und als Jäger wiedergekommen; das Volk aber, das er verlassen, hatte er von dem Boden, auf dem es ansässig geblieben, bereichert wiedergefunden; es waren keine einzelnen, verstreuten Stämme mehr, sondern ein zahlreiches, fruchtbares und lebenskräftiges Volk, von zahmen Tieren und Ackerbau in vollem Flor umgeben. Und dennoch war es ihm bald klar geworden, daß es sich hier im Norden nur um einen bescheiden entfalteten Fortschritt handelte, der an seinem Ausgangspunkt noch viel reicher sein mußte. Niemand in Seeland war sich darüber klar gewesen, woher ihre Bronze, ihr Korn und ihre Haustiere stammten; nur so viel wußte man, daß alle Herrlichkeiten aus dem Süden kamen, ihren Ursprung in südlichen Ländern hatten, denn von dort kam noch immer, was man nicht selbst herstellen konnte, und auch neue Dinge und eine neue Betrachtung aller Dinge, dort stand wahrscheinlich der Wunderberg, der alle Gaben spendete. In jene Richtung zogen ja auch die Zugvögel im Herbst; man sagte, daß dort ewiger Sommer sei.

Einige wollten sogar wissen, daß es dort keinen Tod gäbe, und nicht allein, daß die Eingeborenen dort ein ewiges Leben führten, Tote aus anderen Gegenden sollten sich dort zusammenfinden, ein weitläufiger Gedanke, den nicht jeder zu fassen vermochte. Ganz oben im Norden aber gab es Leute, die so fest an diese Vorstellung glaubten, daß sie ihre Toten nicht mehr nach alter Sitte begruben, sondern dem Feuer übergaben, im Vertrauen darauf, daß sie zur Küste der Sonne gelangen würden, wenn man sie dem Feuer und dem Sonnenwege übergab. Bisweilen verbrannte man auch Zugvögel mit ihnen, damit sie der Seele den Weg weisen könnten.

Gast wußte nicht recht, was er dazu sagen sollte. Er hatte Skur in eine ausgehöhlte Eiche gelegt, denn diese Art zu reisen hatte sich bewährt, wenn sie auch Zeit beanspruchte. Daß die Seele zuerst durch Feuer gehen sollte, um dann den Luftweg zu erreichen, das konnte sein Kopf nicht recht fassen, obgleich sich die Möglichkeit auch nicht ganz von der Hand weisen ließ. Was das Sterben anbelangte, so stellte seine eigene Unsterblichkeit ihn auf einen handgreiflichen Boden; noch teilte er die unmittelbare Überzeugung seiner ehemaligen Steinzeitgenossen, daß man bis in alle Ewigkeit fortleben würde, wenn man nicht das Pech hatte, von bösen Menschen getötet oder von einer unheilbaren Krankheit befallen zu werden; so erging es allerdings fast allen Menschen, Ausnahmen gab es kaum. War damit aber bewiesen, daß man das Leben nicht behalten würde, wenn diese drohenden Todesursachen fortfielen? So verhielt es sich ja jedenfalls mit ihm selbst. Wie es aber mit dem Tod anderer Menschen zusammenhing, ob der Tod nur ein Durchgang war, wie viele behaupteten, zu einem anderen Dasein in anderen Reichen, das konnte er nicht ergründen. Darum wollte er jene Küste aufsuchen und sich mit eigenen Augen von den dortigen Zuständen überzeugen.

Gast fand die Länder im Innern Europas stark bevölkert; doch vermied er bewohnte Gegenden, lebte als Waldmensch und drang unbeachtet durch viele Reiche, bis zu den Gebirgen tief unten in Europa. Auf den Seen zwischen den Bergen stieß er auf Häuser, die auf Pfählen erbaut waren, ganze Wasserstädte, wahrscheinlich wünschten die Leute, die dort wohnten, keinen Besuch, die Brücken zur Stadt waren vorsichtig hochgezogen; um so besser, er wollte sie nicht stören.

Gast wurde von wenigen gesehen, während er unterwegs war. Wohl sah man die Spuren, die er hinterließ, große Fußspuren mit großen Zwischenräumen; denn er war langbeinig wie das Elentier, ihn selbst aber erblickte niemand, er war schon längst auf und davon, wenn man seine Spuren gedeutet hatte. Hoch oben auf dem Schnee der Berge, auf ungeheuren Schneefeldern, die geradeswegs in die Wolkenregionen zu führen schienen, wo Geier kreisten, verloren sich seine Spuren, und niemand begriff, wo sie hinführten; auf der anderen Seite wiesen sie bergab, und niemand konnte begreifen, wo sie herkamen.

Als Gast glücklich unten auf der anderen Seite angelangt war, baute er sich in einem einsamen Bergwald, in der Nähe eines Wasserlaufes, der ein Fluß zu werden versprach, ein Boot; hörte jemand ihn klopfen, so glaubte er, es sei ein übernatürlich großer Specht, der Vogel der Zeit, der im Walde hackte. Wenn er aber schwieg, war Gast schon wieder unterwegs, fuhr stromabwärts mit den Flüssen, die seine Spuren ins Kielwasser schrieben und wieder auslöschten.

Er verirrte sich in den Bergen, geriet auf Abwege, die ihn nicht geradeswegs zum Süden führten; ein Nebenfluß der Donau nahm ihn auf, und von dort gelangte er zu dem großen alten, gewundenen Fluß, der Landstraße der Urzeit. Auf dem Flusse fuhren mancherlei Fahrzeuge und mancherlei Menschen, kein Tag verging, ohne daß man ein Schiff sah oder von einem gesehen wurde; um so besser, wo alle Welt unterwegs war, einer, der sich gegen den Strom heraufarbeitete, ein anderer, der sich behaglich mit dem Strom treiben ließ, beachtete niemand Gasts Nußschale; so mancher Graubart tauchte gleich ihm sein Ruder in die Donau.

Unbeachtet und einsam zog Gast seines Weges, ein verschlossener bärtiger Mund, er trank das Wasser des Flusses, einen süßen, schlammigen, lauwarmen Trank, der von vielen Ländern, die der Fluß unterwegs ausgelaugt hatte, gesättigt war; zwischen dem Schilf am Strande machte er sein spärliches Feuer und briet seine Fische, eine andere Sorte als im Norden, Geschöpfe mit vorsichtigen Fühlhaaren am Maul, andere durch einen Panzer in der Haut beschützt; den Angelhaken aber schluckten sie wie andere Fische, und wurden durch ihre Gier zur Mahlzeit für andere Wesen. Essend und gedankenverloren schaute Gast ins Abendrot, mit klaren Augen, wie so mancher alte, steife Fischersmann.

Und bemerkte man eine Harfe bei ihm im Boot, so war auch das nichts Besonderes, denn welcher Seemann belustigte sich an Bord nicht mit irgendeiner melodischen Klage, die vom Winde verweht wurde, tiefes Heimweh, wenn er in der Fremde weilte, und unheilbares Fernweh, wenn er zu Hause war und sich nach den blauen Wogen sehnte?

So fischte Gast sich denn gemächlich durch wildfremde Reiche, sah im Fluge Reiter in hitzig farbigen Gewändern, mit Pferdeschwänzen und Federn auf dem Kopfe, wie in galoppierendes Feuer gekleidet, von Tollheit gekrönt, hörte sie juchheien; tiefer tauchte er die Ruder in die Donau und strich weiter, gelangte ins Schwarze Meer, paddelte dort herum, ging in Kleinasien an Land und wurde Wilddieb, wanderte durch die Wüste und fand wieder eine Flußquelle, diesmal den Euphrat, und fuhr mit einem Boot aus Zedernholz durch Mesopotamien, wo er sich mehrere Menschenalter aufhielt und seltsame und große Dinge erlebte.

Dann ruderte er sich durch den Persischen Meerbusen, südlich um Arabien herum, ins Rote Meer, hielt sich nach Westen, ging wieder durch Wüsten, ruderte den Nil abwärts und kam nach Ägypten, wo er viele Menschenalter blieb.

Schließlich trieb er sich im Mittelmeer herum, besuchte alle Küsten und Inseln, ruderte von Küste zu Küste, von Insel zu Insel. Alles deutete darauf, daß er sich jetzt an der Küste der Sonne befand, und er verweilte dort, bis sie keine Geheimnisse mehr für ihn hatte. Es waren reiche Länder. Keine nebligen Sagen in nebligen nordischen Ländern hatten die richtige Vorstellung davon geben können, wie blau der Himmel dort war, immerblau, es war eine Gunst dort nur zu leben, und in der freigebigen Luft blühte ein glückliches und tüchtiges Volk nach dem anderen. Gast sah sie auf ihrem Wege durch das Licht und füllte sein Herz mit ihrem Schicksal.

Er hatte die starken, jagdfrohen Leute in den Ländern zwischen den Flüssen gesehen, ihre Rücksichtslosigkeit im Krieg und ihre Unternehmungslust, ihre Wasserkünste, womit sie das Korn zum Wachsen brachten; dasselbe hatte er in Ägypten gesehen, und jetzt wußte er, woher das Korn kam.

Am Nil trieb man Ochsenzucht, wie auch auf Kreta, alle Haustiere schienen in diesen üppigen Ländern zu Hause zu sein oder sie waren gezähmt worden; von hier war das Schaf am Zaumband der Menschen den weiten Weg nach Norden gewandert, bis es die langen Winter in einem Erdhaus unter Schneewehen stand und unbehaarten Nordländern seine Wolle zur Bekleidung überlassen mußte; darum murmelte der Widder im Abendwind durch die Nase, er beklagte sich über die schlechte Behandlung. Ziegen weideten auf den Bergen am Mittelländischen Meere, darum bestiegen sie die Erdschollen auf ungepflügten Feldern im Norden, setzten die Füße dicht nebeneinander, als ob sie auf der höchsten Zinne der Welt stünden und schwindelfrei Umschau hielten.

Und was diese ersten fruchtbaren Völker gegründet hatten, das hatten, wie Gast sah, die glücklichen Griechen weitergeführt und zu reicherer Fülle und größerer Freiheit entfaltet; es gab keine Grenze für ihr Können, keine Grenze für ihre Lebensfreude.

Schon lange war Gast auf seinem Wege nach Süden auf Kunstfertigkeit und Dinge gestoßen, die im Norden noch ganz unbekannt waren; was dort nur Bruchstück und Anfang war, begegnete ihm im Süden als ganze und schon alte Kultur; so langsam pflanzte sich das Neue auf seinem Wege vom Süden zum Norden fort. Im Süden war das Eisen bereits in vollem Gebrauch, während man im Norden noch bei der Bronze war; im Süden baute man Marmortempel und schmückte sie mit vollendeten Menschenbildern, während man in Dänemark noch schwarze Götzen, einen Holzstock mit der Andeutung eines Kopfes, in verräucherten Torhütten mit Blut bespritzte.

Und dennoch war es dasselbe Volk, in der Wurzel dasselbe Geschlecht. Gast hatte dieselbe Wanderung zurückgelegt wie das frühe Waldvolk, das in der Voreiszeit seinen Steinzeitweg nach dem Osten zu den äußersten Meeren der Welt gemacht hatte, nur hatte er die Wanderung so viel später angetreten, daß das Volk inzwischen ein reicheres und glücklicheres geworden war, nicht wiederzuerkennen. Es waren die Nachkommen jener Menschen, die durch Kälte abgehärtet worden waren, Drengs und Moas, Hvidbjörns und Vaars Leute, die nach Süden gewandert waren, eine Geschlechterwoge nach der anderen, während andere im Norden blieben; und von diesen ersten frohen Seefahrern, von denen die abenteuerlichen Schiffermärchen auf den Inseln erzählt wurden, stammten die griechischen Götter und Helden ab.

Denn was durch Kälte und Strenge, durch Widrigkeiten im Norden gefesselt wird, das blüht im Süden auf und wird zu Glück und freien Künsten. Wie die Welle, die auf den Strand läuft, viele kleine Wellen vom Strande zurückschickt, so gelangte auch ein Rückschlag von dem Glück der Auswanderer zum Norden zurück und feuerte andere an, nach dem Süden zu ziehen, mit neuen, noch unentfesselten Kräften und knospenden Seelen, zum Blühen bereit. Auf diese Weise ist die Kultur aus dem Süden nach dem Norden gelangt, obgleich sie ihren Wurzelstock ursprünglich im Norden hatte.

Andere Bedingungen, günstigere als irgendwo und irgendwann in der Welt, kamen hinzu, denn in den Mittelmeerländern vermischten sich Völker aus drei Weltteilen: aus Europa kamen die Nordländer und blühten hier, aus dem Osten die Asiaten, Vargs und Tjus Leute, um sich anzusiedeln, anstatt zu wandern, aus Afrika die heißen Urvölker, die Kühlung suchten, und alle tauschten ihre Kräfte aus und blühten zusammen in einer Schönheit, die in der griechischen Bildhauerkunst Ausdruck gefunden hat und seitdem nie übertroffen worden ist; zur Erinnerung an ein glückliches Volk an einer glücklichen Küste, steht für ewige Zeiten das Standbild des marmornackten Menschen auf blauem Grunde, der Grieche unter seinem Himmel. So stark war die Entfaltung, daß sie über ihre Zeit hinausging und im Geiste noch fortdauerte, als ihre Bedingungen nicht mehr vorhanden waren und sie nicht mehr nähren konnten.

Gast sah den Gang der römischen Sonne über den Himmel, trieb wie ein armer, unbekannter Fischer auf dem Tiber, während die großen kaiserlichen Galeeren wie prahlende Ungeheuer hin und her fuhren, mit ihren drei Reihen Ruder übereinander, die sich im Takt wie viele Beine bewegten, und an jedem saß ein gefesselter Sklave; so übermächtig war der Zwang; und als die Volksmenge auf den Straßen brüllte und Rom zu zerbröckeln begann, da schlich er in seinem alten Eichenkahn den Tiber hinab.

Bald war seine Mission, die ihn solange und soweit herumgeführt hatte, beendigt.

 

Es hatte sich nicht erfüllt, was er gehofft hatte; je näher er seinem Ziel zu kommen glaubte, desto mehr entschwand es ihm.

Denn eigentlich war er ja ausgezogen, um die Küste der Toten zu suchen, statt dessen hatte er viel Sommer gefunden, so schöne Stätten, wie man sich kaum träumen lassen konnte, Unvergänglichkeit in der Natur; die Toten aber hatte er nirgends gefunden.

Schließlich meinte er, daß sie sich auf einer Insel aufhielten, einem meerumflossenen Ort, wo nicht jeder hinkommen konnte, und darum hatte er mit besonderem Eifer die Inseln im Mittelmeer abgesucht, und ihrer waren nicht wenige; auf allen aber waren die Bewohner eingesessen, junge Völker von stark erdgebundenem Gepräge. Nicht überall war er gern gesehen, auf einsam gelegenen Inseln, wo es den Eingeborenen an Anstand gebrach, sah er sie schon von weitem zum Strande eilen, ihre Messer an den Klippen wetzend; ihre Heimat schien ihnen als Schleifstein zu dienen, und viel Witz verrieten sie nicht, gaben sie einem Fremden doch dadurch zu verstehen, daß er Verdacht schöpfen und umkehren sollte. Gast hatte nicht erwartet, daß die Toten wie Geister erscheinen oder sich besonders liebreich gebärden würden, sondern daß sie wie zu Lebzeiten aussehen und auch gefährlich und gierig sein könnten; daß sie sich aber auf den Hinteren schlagen und einem Seefahrer mit rohen Gebärden drohen würden, weil sie enttäuscht waren, daß er nicht auf ihrer Insel landen wollte, das hatte er auch nicht erwartet. Es waren Menschen, die der Tod nicht geläutert hatte.

Dasselbe mußte man von den Bewohnern der großen volksreichen Inseln sagen, die zutraulicher waren, neue, frische Menschen, mit weitgeöffneten Mündern, nach Fabeln dürstend, selbst von Geschwätz überströmend, begierig nach Tauschhandel und Sklavinnen. Nein, nein, auch dort war die Insel der Toten nicht, man war dort viel zu lebendig.

Schließlich, zu allerletzt, entdeckte Gast eine kleine geringe Insel mitten im Meere unbewohnt, nicht die, die er suchte, aber es war die letzte, auf mehr konnte er nicht hoffen, darum blieb er und ließ sich dort mit all seinen Erinnerungen nieder.

Sie lag wie der Gipfel eines versunkenen Berges mitten im blauen Meere, mit dem schönen, immerblauen Himmel über sich; auf dem höchsten Punkt war ein ausgestorbener Krater, wie eine zerbrochene, flache Schale, mit Lawendelkraut bewachsen, wo Grashüpfer in luftiger Einsamkeit spielten. In einem felsigen Tal wuchsen Lorbeer- und Myrthenbäume, neben einer Quelle gedieh ein kleiner Hain von Johannisbrotbäumen; von ihren Früchten nährte Gast sich, wo ein Felsen in der Nähe sich zu einem geschützten Winkel formte, schlief er. Eidechsen spielten auf Felsblöcken im Sonnenschein, sie waren seine Freude. Auf den steilen Felswänden brüteten Seevögel und stritten sich tagelang, es klang wie ein einziger Ton, und das Meer breitete sich um die Insel wie eine Harfe. Weit hinten am Horizont tauchte bisweilen ein Segel auf, aber nur um abzubiegen und weiter hinten ins Meer zu sinken. Der Schweinsfisch tummelte sich im tiefen, klaren Meer vor der Insel, rieb sich an ragenden Klippen tief unten im Grunde, blies wollüstig in die Wasserfläche und strich wieder hinunter. Sonst war es ganz still auf der Insel. Gast sprach mit sich selbst, schüttelte hin und wieder bedächtig den Kopf. Hier war es gut sein.

In die Felswand haute Gast eine kleine gewölbte Nische mit Säulen und einem verzierten Giebel, einen ganz kleinen Tempel, die Arbeit vieler Jahre; aber er hatte ja Zeit; und in diesem Tempel stellte er ein kleines Götterbildnis auf, eine griechische Arbeit, die Gestalt einer Frau, die einzige, die er an diesen Küsten geliebt hatte.

Wundervoll waren die griechischen Mädchen, ob sie in heiliger Stille leuchteten, während die Falten ihres Gewandes ruhevoll den Boden suchten, oder ob sie in edlem Lauf ihre Beine entblößten, um den Weingott einzufangen; jeder Schuld konnte man sie zeihen, nur nicht der einen: der Unschönheit. Gast hatte sie alle mit Lust betrachtet, sie waren seine Freude gewesen, geliebt aber hatte er nur eine, und sie war nicht lebendig, sie war aus gebranntem Ton, kaum eine Hand lang, sie war's, die auf dem Felsen über seiner Wohnung stand und jeden Tag seine Andacht entgegennahm, ewig und unvergänglich dieselbe. Eine schlanke Jungfrau mit geschmeidigen, starken Gliedern, ganz nackt, ihre Kleider hatte sie neben sich auf eine Vase gelegt, und die Hände waren zum Kopf erhoben, um das Haar vor dem Lauf zu befestigen, denn sie war eine Schnellläuferin, flüchtig, flüchtig wie eine Flamme, wie der Wind, sie selbst war der Wind, die Luft, das Weib, die Jugend! Mit solcher Anbetung erquickte Gast sein Herz. Zum Schweigen aber brachte er es damit nicht. Nachdem er dort einige Zeitalter gelebt und auf das gelauscht hatte, was Himmel und Meer sagten, nach innen aber auf das, was er sich nach langer Zeit ungestörter Betrachtung selbst zu sagen hatte, wurde es ihm klar, daß er wohl Einsamkeit gesucht hatte, aber nicht freiwillig, eigentlich hatte die Einsamkeit ihn gesucht. Er war einsam geworden, weil man ihn verlassen hatte. War aber nicht auch er einst von dort fortgelaufen, wo seines Bleibens gewesen wäre?

Ja, ja, das war die Summe des Lebens: zuerst war man allen voran, dann wurde man zurückgelassen. Als junger Jäger lief er dem Leben davon, und als er reif geworden und sich im Dasein festgesetzt hatte, war es ihm davongelaufen.

Lange genug hatte er gelebt. Was nützte die Unsterblichkeit, wenn man sie nicht mit anderen teilen konnte?

Und mit ruhiger Überlegung zündete Gast zum zweitenmal in seinem Leben sein Licht an, um zu sterben. Mit Unlust wollte er nicht leben.

Es war nur ein fingerlanger Stumpf noch übrig, und er brannte schnell herab; Gast fühlte, wie er alterte, während das Licht brannte, und jein Schmerz nahm ab.

Es war Tag, als er das Licht anzündete, die Kerze aber füllte die ganze Welt mit noch stärkerem, überirdischem Glanz, er war im Licht, und bei ihm war alles, was er gelebt hatte, alle Zeiten kehrten zurück und verweilten im Augenblick, Pil und Skur waren bei ihm, wie ein einziges Wesen, mit demselben liebestrahlenden Lächeln; die weise Mutter Gro war bei ihm, die Alliebe selbst, und all seine Kinder, Zeit und Entfernung trennten nicht; er war Kind, Jüngling und Mann auf einmal, im selben Licht, hatte nichts verloren, war nicht allein, nur in seinem Wesen war Wahrheit; daß er in der Fremde weilte, war unwesentlich und unwahr, keine Wirklichkeit, er war wieder zu Hause – und da kehrte ihm die Lebenslust wieder, noch war es zu zeitig zum sterben, noch war ein guter Lichtstumpf übrig, und hastig beugte er sich vor und blies ihn aus.

Als das Licht verlöscht war, befand er sich in völliger Dunkelheit und merkte gleich, daß er in einer anderen Luft war, einer kälteren, seelenerfrischenderen, statt des Meeressausens war ein Sausen von hohen Bäumen über seinem Kopfe, er hörte Vogelstimmen, aber er kannte sie nicht.

Langsam wich die Dunkelheit, und statt der Felseninsel im blauen Mittelmeer sah er Bäume ringsum, Vogelbeerbäume, er befand sich in einem Walde mit hohen, rauschenden Bäumen, und darüber hing der tiefe Himmel wie ein Dach von grauen, jagenden Wolken.

Er war auf Seelands und es war Herbst; in den dünnen Baumkronen arbeitete der Sturm mit gewaltigen, schallenden Tönen, und das welke Laub wirbelte wie ein Brand durch den Wald, die Krähen stemmten sich mit Sturmgeschrei gegen das Wetter, versprengte Kiebitzscharen kreisten und suchten sich unter schützenden Hügeln zu sammeln. Es war einer der großen Umzugstage des Jahres; die Vögel wurden außer Landes geblasen, es krachte und knackte in den Ästen, kalte Windstöße stöberten in den Kammern des Waldes zwischen den kahlen Bäumen. Der kräftige Atem der Natur lag wie ein großer, kühler, strömender Körper über dem windoffenen, lichtverlassenen Dänemark. Im Vorbeieilen öffneten die Wolken einen Spalt und schickten einen kalten Sonnenstrahl herab, den bleichen Nachmittagsschein eines furchtsamen und fröstelnden Tages, der sich auf der Flucht noch einmal umblickte.

Ah! Gast vermischte seine erfrischten Seufzer mit dem Winde, von herbstlichem Mute voll. Er war wieder zu Hause. Das Wetter war im Aufbruch, es wollte Winter werden; er aber wollte bleiben und dem Winter entgegengehen.


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