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Einige Tage später, ziemlich früh Morgens klopfte es an meine Tür, ein alter, mir wohlbekannter Schiffer trat herein und sagte, in eine unergründliche Tasche seines dicken Flauswammses greifend: »Ich bin heut' einmal Postbote, Herr,« Er reichte mir einen Brief mit Aufschrift von der Hand Erich Billrods und fügte hinzu: »Es war fast nicht heranzukommen, der West hat's Wasser aus dem Hafen gejagt, wie's kein Mensch gedenken kann; geht's noch ein paar Tage so fort, kann man zu Fuß auf die Insel hinüber.«
Er ging, ich öffnete den Brief Erich Billrods und las:
»Carissime convecors!
Zwar keine sehr übliche Anrede, doch wie mich deucht die naturwahrste unter allen möglichen, deren sich unsere lieben Mitgeschöpfe ausschließlich untereinander bedienen sollten, denn es ist keiner unter ihnen, der nicht die volle Befugnis hätte, jeden andern so anzusprechen und so von ihm angesprochen zu werden. Du siehst, ich rechne mich zu keiner Ausnahme; so viel Selbsterkenntnis bringen vierzig Jahre dem Menschen schließlich ein. Aber man kann verrückt und doch mit sich und der Welt vollkommen zufrieden sein – eine Erfahrung, die man zwar im Durchschnitt weniger an Privatdozenten, als an ordentlichen Professoren macht – doch wenn's einmal so ist, wäre es ein noch ungleich höherer Grad von Tollheit, es anders zu wollen. Luft, Wasser und Erde haben hier meinen Beifall, und soweit das noch übrige der vier alten Elemente erforderlich ist, sorgt die Septembersonne noch ausreichend dafür. Die Rosen sind freilich verblüht, aber die Astern leuchten als ebenso treuliche Wächter um's Haus; ich rudere mit Magda über den goldblendenden Spiegel, wir wandern drüben am Strand des Fischerdorfs, ich sehe die weißen Wolken am Tage und Abends die Sterne, ich schreibe sogar einen Brief an Dich, um Dir mitzuteilen, daß ich noch nicht aus Sehnsucht nach Dir vergehe, sondern tua venia noch einige Zeit länger hier zu bleiben gedenke. Ich habe im Garten einen Syringenbusch entdeckt, etwas windverweht und zurückgehalten in seinem ihm von der Natur bemessenen Wachstum, doch er sagt meinem botanischen Auge, daß seine Blüten denen keines andern irgendwo nachstehen – und vielleicht bleibe ich so lange, bis er seine Blüten in die Sonne hinausschwellt.
Das könnte in einer lyrischen Anthologie mit Goldschnitt stehen, und es ist recht schade, daß ich kein Dichter bin, um weibliche Herzen damit zu erobern. Allerdings habe ich einmal eine Novelle geschrieben – ich bitte Dich, Reinold Keßler, geh' auf mein Zimmer und zünde Dir ein Feuer damit an; es war ein Erstlingsversuch, dessen Fehler ich heute einsehe, für einen zweiten möchte ich die Erinnerung daran auslöschen. Auch das Verständnis kommt Einem mit vierzig Jahren.
Und doch, Manches ist gut daran, wie's mir im Gedächtnis steht. Die Schilderung, wie Robert Lindström zum erstenmal aus der Syringenlaube durch die Nacht heimkehrt. Wie am Frühmorgen die Träume gegen das Himmelsblau vor ihm gaukeln, die Syringen aus den alten Büchern heraufduften, wie er plötzlich empfindet, daß es diese unsagbar schöne, durchsichtige Hand gewesen, die einer der Träume ihm zur Nacht auf die Stirne gelegt. – Spotte nicht über das Selbstlob, Reinold Keßler; Autoren sind Toren, wankelmütig und eitel. Etwas in der Erzählung entspricht zwar auch nicht der Wirklichkeit des Geschehenen; ich weiß nicht, wodurch mir bei der Niederschrift aus dem Gedächtnis entfallen gewesen, daß Robert Lindström seine Absicht, am hellen Tage wiederzukommen, noch verschob, am nächsten Abend, dem Wunsch Asta Ingermanns folgend, doch noch einmal im Dunkel auf der Bank mit ihr zusammentraf und von ihr ging, ohne seine Werbung vom Munde gebracht zu haben. Das ist eine fehlerhafte Auslassung in der Novelle – vielleicht war ich als Dichter zu ungeübt, dies richtig zu erkennen – aber wir wollen darum das Manuskript doch nicht verbrennen. Dazu ist es dennoch zu lebenswahr, nur den Schluß wollen wir ändern und freudiger gestalten. Ich rede nach Schriftstellerbrauch im majestätischen Plural, denn ich meine mich allein. Allerdings habe ich Dir einmal die Mitarbeiterschaft angetragen, doch ich habe mich besonnen und nehme mein Anerbieten zurück. Ich bedarf Deiner jugendlicheren Einbildung nicht, die meine reicht, von dieser Umgebung hier genährt, aus, für Dithyramben, für einen ganzen Roman, für die Unsterblichkeit!
Für den humoristischen Teil meiner kommenden Werke tragt ihr drüben ja Sorge. Ich hätte nicht zu hoffen gewagt, daß meine Prophezeiung so herrlich und schleunig in Erfüllung gehen würde. Weißt Du's noch, daß ich Dir im Winter einmal sagte, wie die gute Gesellschaft sich in so vollendeter Schicklichkeit umeinanderdrehte, als trage sie ein Anstandsbuch statt des pulsierenden Blutmuskels über dem Zwerchfell, es bedürfe nur der rechten zwei schwarzen Feuerbrände, die in einem sich seiner Macht bewußten und sie zu nutzen gewillten Weiberkopf steckten, um die ganze süßlispelnde und feingebildete Männersippe über Nacht auf den Kopf zu stellen, und zwar ohne ihre tadellosen Kostüme, so wie die Natur sie geschaffen. Ich mußte über die Fama lachen, wie sie mir die neueste Kunde aus eurer Stadt herübertrug. Ist die Circe gekommen, deren Zauberblick die edle nachhellenische Blüte und selbst die gewaltigsten Lästrygonen in – Eber verwandelt? Ich habe vernommen, daß sie sich nicht mehr umwedeln und mit holden Lippen belächeln, sondern die Zahne gegeneinander fletschen, knurrend zum Anpacken bereit, wie ein Hunderudel um einen Knochen. Die Sache scheint, sehr lustig; was sagen denn die lilienarmigen Penelopeien zu dieser klassischen Aspasia? Haha, Korinth unter dem alten, grünen Turm! Die Sonne sieht Neues. Oder ist es eine Penthesilea, die nicht auf Talente Jagd macht, sondern das Blut ihrer Anbeter mit der Peitsche in Brand und Gischt aufquirlt? Dann übermittle ihr meinen doppelten Segen und laß sie Blut trinken, bis sie satt ist. Das wäre ein heilsamerer Aderlaß für das Mustervolk der Musterstadt des Erdballs, als die weltberühmte Operationshand eures geheimen Schneidermeisters ihn je in corpore vili vollbracht hat.
Ein Anhauch des korinthischen Geistes, der eure Straßen durchweht, ist gestern auch zu uns gekommen. Zwei junge Frauenzimmer, Schauspielerinnen auf den ersten Blick, landeten in einem Boot an unserm idyllischen Gestade; ich weiß nicht ob die Circe, Aspasia oder Penthesilea darunter war. Sie meinten, hier sei eine Wirtschaft, und Magda gestaltete sich einen Spaß daraus, sie bei dem Glauben zu belassen und mit dem, was das Haus bieten konnte, zu bewirten. Ich kam erst später, als die beiden schon wieder aufbrachen, und fand Magda in einer so heitern, fast ausgelassenen Stimmung, wie ich sie noch nie gesehen. Sie blieb den ganzen Abend darin und ist's noch heut', so daß sie – was geht's Dich an, Reinold Keßler? Studiere Deine Pathologie – ich will Dich nicht weiter durch meine Feder davon abhalten.
Uebrigens war Eine der beiden Fremden wirklich von einer – ich suche ein Wort und finde kein bezeichnenderes – satanischen Schönheit, so in der Art wie Klopstock sich seinen Seraph Abdiel Abbadona vorgestellt haben mag. Sie paßte auch, schien's mir, so ungefähr in die verlorene Paradiesgegend Mesopotamiens hinein; Magda, die mit ihr auf der Insel herumgewandert und viel mit ihr gesprochen, während die Andere bei Mama Helmuth geblieben, sagte indes, es sei ein edles, feinsinniges und liebenswertes Mädchen. Da wird es keine Aspasia oder Penthesilea gewesen sein.
Vale – bis ich eines Tages wieder vor Dir stehe und sage: Ich hab's getan, Reinold Kehler. Was? fragst Du. Du bist ein sciolus, wie Du's von je warst. Dinge, von denen Du noch nichts verstehst.
Ich schließe, wie ich angefangen. Vecors sum, nil vecordiae a me alienum puto. Besitzst Du überhaupt das, was als Stammwort nötig ist, um eine vecordia zu ermöglichen?
Leb wohl; Mama Helmuth grüßt Dich, und Magda wartet auf mich am Brückensteg.
Erich Billrod, einst Robert Lindström genannt.«
*
Mein täglicher Lebenslauf hatte eine Wandlung dadurch erlitten, daß ich mich jetzt an jedem Aufführungsabende im Theater befand. Das Schauspiel, wie es mir noch nie zuvor geboten, übte eigentümliche Anziehungskraft und Wirkung auf mich, es erregte und beschwichtigte wieder die hochflutende Empfindung, ich fühlte, daß es in schöner Weise eine gewisse Leere in mir ausfüllte, die – in paradoxklingendem Gleichnis – durch die jahrelange Ueberanhäufung mit Gegenständen theoretischen und praktischen Wissens in mir entstanden. Außerdem war mir der Besuch des Imhof'schen Hauses an diesen Abenden nicht ermöglicht, da auch Lydia Imhof und Anna Wende regelmäßig ihre Logenplätze in dem stets bis auf den letzten Fleck angefüllten Theater einnahmen, und so bot der Besuch des letzteren mir zugleich die einzige Gelegenheit, Aennchen wenigstens aus der Ferne zu begrüßen. Dazu riß mich Lea's vollendete Kunst täglich zu erhöhter Bewunderung hin, wie sich denn der allgemeine Enthusiasmus namentlich von Seiten der Männerwelt allabendlich in einem Regen von Kränzen und kostbaren Bouquets äußerte, mit dem die Herausgerufene am Schluß jeder Vorstellung überschüttet ward. Sie sammelte die reichen Spenden mit vorgeneigtem Oberkörper graziös vom Boden und ihr bald hierin bald dorthin gerichteter Augenaufschlag sprach ihren Dank und gleichzeitig ihre Vermutung oder Kenntnis aus, welchen Händen die Gaben entflogen seien. Auch sonst redeten ihre Blicke während einer Pause des Spiels manchmal flüchtig in den Zuschauerraum hinein, nur in die Richtung meines regelmäßigen Sitzes wandten sie sich nie oder gingen höchstens flüchtig mit fremdgleichgültigem Ausdruck an mir vorbei. Dann, wenn der Vorhang zum letztenmal gefallen, sammelten sich stets Hunderte vor dem Ausgang des Gebäudes, um in dichtem Gedränge auf ihr Fortgehen und Einsteigen in den Wagen zu warten. Die Anhäufung bestand aus Jung und Alt, aus Studenten, wie aus den Spitzen und Koryphäen der Beamtenkreise, der Universität und der guten Gesellschaft überhaupt, die sämtlich wetteiferten, der Kunst in ihrer Trägerin verdiente Huldigung darzubringen. Man sprach in der Stadt hie und da, daß dieser Tribut sich nicht immer allein auf Worte und Blumen erstrecken müsse, da die Juweliere niemals vergnügtere Gesichter gemacht und größere Tätigkeit entwickelt hätten, als in den letzten Wochen; dann und wann ging ein Gerücht ohne Nennung von Namen, daß in dieser und jener angesehenen städtischen Familie ein tiefes Zerwürfnis entstanden sein und eine Trennung in ihr bevorstehen solle. Mir kam, bei meinem Mangel an Verkehr, wenig davon zu Ohren; ward mir indes Derartiges berichtet, so zuckte ich die Achsel und versetzte, daß die Klatschsucht eben nach Stoffen hasche und glücklich sein werde, einen neuen und so ausgiebigen gefunden zu haben, daß aber jedenfalls derjenigen, welcher die Huldigungen dargebracht würden, keine Schuld an etwaigen Folgen derselben beigemessen werden könne. Lea hatte es selbst mir ungefähr mit den nämlichen Worten gesagt: »Was geht's mich an? Fordere ich sie dazu auf? Eine Schauspielerin, der man Geschenke macht, wäre eine Törin, scheint mir, sie zurück zu stoßen und sich die Geber dadurch zu Feinden zu machen.« Aber während sie es sprach, warf sie verächtlich-lachend mit gleichgültigster Hand einen Haufen wertvoller Armbänder, Ringe, Ketten und sonstige Schmucksachen durcheinander, und ihre Miene beließ keinen Zweifel darüber, wie nichtsbedeutend ihr die gleißende Gold-, Perlen- und Edelstein-Ansammlung sei.
Im übrigen sah ich Lea eigentlich nur selten. Ich hatte sie an einigen Abenden nach ihrer Weisung im Gartenpavillon aufgesucht, ohne sie dort zu treffen; einmal war ich sogar wieder zu ihrem Zimmer hinaufgestiegen, weil ich von unten einen Lichtschimmer darin bemerkt zu haben glaubte, fand die Tür indes verschlossen. Wenn ich sie aber auf mich wartend antraf, zog sie mich stets in den abgelegensten, dunkelsten Winkel des großen Gartens, wo sie eine nie von anderen Gästen besuchte Laube entdeckt hatte und sich, von keinem Ohr belauscht, ihrer Lebhaftigkeit und wechselnden Stimmung voll hinzugeben vermochte. Die Darstellung einer bedeutenden Rolle versetzte sie offenbar jedesmal, wie am ersten Abend, in eine Aufregung halber Nervenüberreizung, in der sie manchmal plötzlich aus dem Spott über ihre zahlreichen Verehrer, der ausgelassensten Laune wieder in ein krampfhaftes Schluchzen umschlug und, die Stirn auf meine Hand pressend, diese mit heißen Tränen überströmte. Ich fragte dann wohl: »Was ist Dir, Lea?« – »Nichts – nichts. Ich wollt' es ja, hab's erreicht – ich bin zufrieden und bin glücklich.«
Das Gegenteil meiner steigenden Bewunderung für Lea's Talent schien dafür bei Fritz Hornung eingetreten. Sein Kunstenthusiasmus, so überraschend plötzlich der für mich aus seiner jovial-verständigen Natur heraufgetaucht, so schnell war er offenbar auch wieder verraucht, denn seit der Aufführung der Maria Stuart hatte ich Fritz Hornung nicht wieder im Theater gesehn. Freilich überhaupt nicht gesehn, so daß ich geglaubt haben würde, er sei verreist, wenn ich nicht manchmal spätnächtlich im Halbschlaf seinen Schritt erst auf der Treppe und dann lange Zeit – ich schlief zumeist darüber ein – über mir in seinem Zimmer gehört hätte. Er schien sich ganz dem Kneipleben wieder hingegeben zu haben, obgleich ich den Anlaß dafür eigentlich nicht recht begriff, da das Sommersemester geschlossen war, das Wintersemester noch nicht begonnen hatte und sich somit nur ein geringer Bruchteil von Studenten und besonders seiner Verbindungsmitglieder in der Stadt befand. Ein paarmal stieg ich hinauf, um ihn nach etwas zu fragen, doch ich traf seine Tür abgeschlossen, auch gegen seine sonstige Gewohnheit, denn er hatte mir früher oft lachend erwidert, was ein Dieb denn eigentlich bei ihm stehlen solle? Allerdings war die Tür ebenfalls verriegelt, als ich eines Mittags bestimmt wußte, daß er noch nicht ausgegangen sei, und mich hinauf begab, um ihm Vorwürfe über seine Lebensweise zu machen, mit der er seiner Gesundheit schaden mußte, da ich das Gefühl hatte, daß er seit Wochen fast regelmäßig Tag in Nacht verwandelte. Doch er lag nach seinem abermaligen Heimkommen immer noch in tiefem Schlaf und kein Klopfen weckte ihn auf.
Eines Abends glaubte ich ihn zweimal zu sehen, doch es stellte sich beidemal als eine Täuschung heraus. Eine Wiederholung der Maria Stuart fand statt und nach dem Schluß der Szene mit Mortimer am Ende des dritten Aktes, während des Sinne betäubenden Beifallssturmes der Zuschauer flog aus der linksseitigen Eckloge des zweiten Ranges ein einzelner, ganz aus roten Kamelien gewundener Kranz vor Lea's Füße, aus dem im Niederfallen sich ein weiß abstechendes Blatt halb unterscheidbar hervorschob. Sie nahm den Kranz und hielt ihn, während sie sich dankbar verneigte, mit der Hand einen Moment vor ihrer Brust; mein Blick, der unwillkürlich nach dem Urheber der ungewöhnlich kostbaren Blumenspende in die Höh' schweifte, gewahrte eine Sekunde lang in dem Halbdunkel der mir schräg gegenüber befindlichen Eckloge ein Gesicht, das mir in der Entfernung wie das Fritz Hornungs erschien. Es verschwand im nächsten Augenblick wieder hinter einem halb zugezogenen grünen Vorhang und hatte mich unfraglich nur durch eine allgemeine Aehnlichkeit getäuscht, denn wie's mir jetzt zum Bewußtsein kam, war es nicht das rundwangige, lebenskräftige Gesicht des lachlustigen Freundes, sondern ein Kopf mit hohleingefallenen Zügen und unstät irrenden Augen gewesen, der obendrein über einer elegant ganz in Schwarz und nach neuestem Modenschnitt gekleideten Gestalt dem Flug des Kranzes auf die Bühne nachblickte.
Fritz Hornung im schwarzen Anzug und nach neuester Mode – ich mußte über meinen Irrtum auflachen. Eher hätte der Mortimer drunten selbst im Frack und weißer Halsbinde seine wahnwitzige Glut auszutoben vermocht. Der Vorhang fiel zum letztenmal; draußen lag eine sommerwarme Nacht, ich wanderte noch zur Stadt hinaus in's Freie und schlenderte, kaum wissend, wo ich mich befand, wieder zurück. Dann hörte ich in ziemlicher Entfernung Stimmen hinter eigner von noch dicht belaubtem Gebüsch überragten Gartenmauer, welche die Straße begrenzte. Aus meinen Gedanken aufblickend sah ich umher – war es nicht der Garten, der zu Lea's Hotel gehörte? Im selben Augenblick unterschied ich auch ihre Stimme – ein Windzug wehte sie wohl für einen Moment deutlicher herüber – wie sie auf etwas lachend die Antwort gab: »Tun Sie's, Mortimer, und beweisen sich als solcher; ich hindere Sie nicht. Doch Schottlands Königin –«
Der Schluß war nicht zu verstehen. Sollte ich Lea noch aufsuchen? Offenbar befand sie sich mit ihren Kollegen zusammen; ich setzte meinen Weg fort.
Da kam in hastigem Schritt eine Gestalt von seitwärts her, daß ich mechanisch ausrief: »Fritz!« Doch er war es wiederum nicht, sondern ein Fremder, der auf den Ruf, wie jeder es unwillkürlich bei Nacht tut, den Kopf flüchtig umdrehte, gleich darauf indes mit noch beschleunigter Eile in dem nur von einzelnen Sternen matt durchflimmerten Dunkel verschwand.
*
In einer gewissen feierlichen Stimmung hatte ich mich am Vorabend des letzten September zum Schlaf gelegt; als die Sonne mich weckte, begrüßte ich ihr Licht als ein für mich dreifach inhaltvolles, denn ich begann meinen Geburtstag, den Tag meiner Mündigkeit und den Gedenktag, auf welchen Philipp Imhof Fritz Hornung und mich vor zwei Jahren zur Wiederzusammenkunft in dem Hotelzimmer geladen, darin wir den ersten Abend unseres Abganges vom Gymnasium gefeiert hatten. Es war öfter die Rede davon gewesen, ob wir unter den verwandelten Umständen diese Erinnerungsstunde im Hause Imhofs begehen sollten, doch der letztere hatte seinen Wunsch ausgedrückt, daß es bei der ursprünglichen Bestimmung belassen werde und Fritz Hornung wie ich demgemäß unser präzises Erscheinen in dem anberaumten Gemach zugesagt.
Vorerst hatte ich jedoch einen Pflichtgang gegen mich selbst zu erledigen, den meine erreichte Volljährigkeit mir auferlegte. Ich kleidete mich sorgsamer als gewöhnlich an und schritt der ländlichen Vorstadt, in welcher der Besitz des Doktor Pomarius lag, zu. Der Wind mußte über Nacht aus West nach Ost umgesprungen sein, denn die Temperatur hatte sich verändert und an ungeschützten Plätzen war es noch um diese Vormittagsstunde trotz der vollklaren Sonne fast empfindlich kühl. Da lag meine alte Kinderheimat, deren beide mächtigen Zugangswächter ihr Laub bereits wieder zu verfärben anfingen, und ich trat ein und klopfte an die Tür des Studierzimmers. Doktor Pomarius befand sich nicht allein, sondern in einem Lehnsessel bei ihm saß eine kleine bucklige Persönlichkeit, die ich dem Ansehen nach als die eines in der Stadt übelberufenen Winkeladvokaten und juristischen Beirats in zweideutigen Rechtssachen kannte. Ich wollte mich mit der Bemerkung, daß ich störe und wiederkommen werde, zurückziehen, doch Doktor Pomarius vertrat mir den Weg, faßte meinen Arm und sagte: »Sie stören uns durchaus nicht, stören mich niemals, mein lieber Herr Keßler. Es freut mich immer, Sie zu sehen, und ich habe Sie heut morgen erwartet. Eine kleine geschäftliche Angelegenheit« – er machte eine entschuldigende Geste gegen seinen Besuch, welche dieser mit höflich stummer Beipflichtung erwiderte – »verzeihen Sie, es ist in kürzester Zeit erledigt. Mein bisheriges Mündel, mein lieber junger Freund hier, hat heut das Alter seiner Volljährigkeit erreicht und ich habe ihm nur die Abrechnung über meine beinahe zwanzigjährige Vormundschaft – hehe, eine lange Zeit – zu behändigen. Lediglich eine Formsache, diese Bogen enthalten die genaue Buchung meiner aufgewendeten Kosten und der Verwaltung des ursprünglich nicht unbeträchtlichen Nachlasses der Eltern. Ursprünglich, hehe – etwas toll gelebt, aber mein Grundsatz ist, daß Jugend austoben muß, und daß man einen Studenten nicht mehr als ein unmündiges Kind behandeln kann. Es liegt alles hier bereit, und wir haben die eigentliche Formalität ja schon früher erledigt. Eine vortreffliche Erziehung, der beste Unterricht, stets Vergnügung jeder Art, dann einige muntere Jahre mit guten Freunden und Freundinnen – das verursacht natürlich Kosten, besonders, hehe, das letztere. Aber wem mit solcher Ausrüstung die Welt mit zweiundzwanzig Jahren offen steht, wozu bedarf er im Grunde der äußerlichen Wertzeichen? Er hat klug gehandelt, sein Kapital im Kopf und in Lebenserfahrungen angelegt – hier, mein lieber Herr Keßler, die Bogen mit Ihrem Kredit und Habet. Die Bilanz gleicht sich ungefähr aus, nicht ganz, da meine letzte Aushändigung an Sie – für ein kleines Cadeau, nicht wahr? hehe, les petits cadeaux entretiennent l'amitie et l'amour – einen geringen Ueberschutz zu meinen Gunsten ergeben hat. Aber beeilen Sie sich nicht mit der Rückerstattung, mein lieber Reinold, durchaus nicht! Gelegentlich, ganz wie es Ihnen paßt; meine Liebe zu Ihnen hat freudig andre Opfer gebracht, bringt täglich das größte durch die Trennung von Ihnen.«
Doktor Pomarius drückte mir einige rubrikmäßig, dichtbeschriebene Foliobogen in die Hand, während der anwesende Advokat gähnend und gleichgültig mit einem Petschaft an seiner Uhrkette spielend zum Fenster hinaussah. Ich blickte mechanisch auf die Papiere nieder und dann sprachlos und halb ungläubig meinem bisherigen Vormund ins lächelnde Gesicht, bis ich unzusammenhängende Worte fand: »Ich habe nicht verstanden – mir machte es den Eindruck, als hätte ich danach das Ihrer Verwaltung bis heut anvertraute Vermögen meiner Eltern –«
»Durchgedacht, wie man sich burschikos auszudrücken pflegt und wie die Bezeichnung in diesem Falle sich auch mit der Sache am besten deckt,« fiel Doktor Pomarius ein. »Unter Hinzurechnung, wie ich bemerkte, des kleinen Überschusses auf mein Konto, von dessen Erstattung ich jedoch keineswegs rede. Aber, mein lieber Herr Keßler, Ihre Verwunderung setzt mich in gerechtfertigtes Erstaunen, da Sie ja bereits vor einiger Zeit die Freundlichkeit hatten, mir hier in gültigster Weise Ihre Anerkennung des eben beredeten Sachverhaltes zu bestätigen.«
»Ich?« erwiderte ich noch staunender, als zuvor. »Ich habe nie –«
Doktor Pomarius glitt sich, noch freundlicher als vorhin lächelnd, leicht mit der Hand andeutungsweise über die Stirn. »Ich verstehe – man feiert den Vorabend seiner Mündigkeit durch ein Gläschen mehr – ein wenig Gedächtnisschwäche – hehe, wie nennt man noch das böse Tierchen, das bei der Gelegenheit seine Krallen etwas in den Kopf hineindrückt? Mein lieber junger Freund wird sich gleich entsinnen –«
Er richtete die letzten Worte an den im Sessel Befindlichen, indem er gleichzeitig aus einem Schubfach des Schreibtisches ein Folioblatt hervorzog, das er dem Advokaten in die Hand legte und fortfuhr:
»Und mein verehrter rechtskundiger Freund wird es ihm bestätigen, daß diese Anerkennung durch seine eigenhändige Unterschrift – manu propria ist hinzugefügt – vollständig ausreichen würde, um mir – hehe, ich sage es natürlich nur zum Spaß – vor jedem Gericht unanfechtbar zu bescheinigen, daß er die Richtigkeit meiner Rechenschaftsablegung und ihrer Bilanz einer sorgfältigen Prüfung unterzogen und in völliger Uebereinstimmung befunden habe. Mein lieber junger Freund hat das heut morgen nur momentan vergessen; das böse Tier – ich komme noch auf den Namen – ein Katerchen nennt man es, nicht wahr –?«
Der verehrte rechtskundige Freund warf einen gleichgültigen Blick auf das von der Hand des Doktor Pomarius beschriebene Blatt und äußerte gelangweilten Tones:
»Gewiß – sobald die Unterschrift unzweifelhaft eigenhändig ist – eine in aller Form Rechtens aufgestellte Bestätigung der vorbehaltslosen Anerkennung der Richtigkeit vormundschaftlicher Rechnungsablage, vor jeglichem Gericht unanfechtbar.«
»O, ich kenne die Wahrheitsliebe meines lieben, jungen Freundes zu gut,« lächelte Doktor Pomarius, »als daß ihm in den Sinn geraten könnte, die Eigenhändigkeit seiner Unterschrift zu bestreiten.«
Ich stand, wie von einer körperlichen Starre erfaßt; mein hinüberschweifender Blick gewahrte am Fußende des von dem Advokaten als unanfechtbares Dokument bezeichneten Schriftstückes meinen Namenszug, den Doktor Pomarius sich damals zum Vergleich und Angedenken erbeten hatte. Es stand noch nicht alles klar vor mir, nur dunkel empfand ich, daß ich ein einfältiger, argloser Tor gewesen sei, der sich von gleißnerischen Worten habe betölpeln, in plumpeste Falle verlocken lassen, und ich stieß ohne deutliche Besinnung aus: »Elender Lügner – Fälscher – Schurke!«
»Oh, oh –« machte Doktor Pomarius, mit der einen Hand sein Ohr verschließend und mit der andern eine abwehrende Bewegung ausführend – »ich habe nichts gehört! O wie schmerzlich das aus dem Munde meines ehemaligen Lieblings! In Gegenwart eines so achtbaren und rechtskundigen Zeugen! Aber mein verehrter Freund hat auch nichts gehört! O, Undank ist der Welt – nein, es ist das böse Tier, das seine Krällchen heut morgen in den Kopf meines jungen Freundes eingeschlagen.«
Ich erwog verwirrt einen Augenblick lang, was ich tun könne? Wenn ich mich in den Besitz meiner erschlichenen Unterschrift zurückversetzte, sie vernichtete – und ich sprang vor –
Doch unverkennbar war der Advokat darauf vorbereitet, schnellte vor meiner Hand das Blatt in die Höh' und flog vom Sessel, während Doktor Pomarius ausstieß:
»Oh – Gewalt? Hausfriedensbruch? Ein Dieb? Ein Räuber? Muß ich um Hilfe läuten? Muß ich das Fenster öffnen und die Nachbarschaft –?«
Er griff gleichzeitig nach dem Glockenstrang und stieß das daneben befindliche Fenster auf. Erschreckt, ohne Ueberlegung wandte ich mich der Tür zu. Ich hörte auf der Schwelle noch die wieder im vorherigen Ton gesprochenen Worte des Doktor Pomarius:
»Nein, mein lieber, junger Freund hat sich besonnen. Er ist zu vernünftig, sich gegen etwas Unanfechtbares auflehnen zu wollen, und wird das böse Tier – hehe – durch die Lieblingsspeise desselben, einen Hering, besänftigen –«
Dann vernahm ich noch durch die geschlossene Tür ein heiseres Auflachen des verehrten, rechtskundigen Freundes, und meine Knabenheimat lag zum letztenmal hinter mir.
*
Es war genau der nämliche Anblick, der sich mir beim Eintritt vor zwei Jahren geboten, als ich am Abend der Bestimmung desselben Folge leistete. Der Ostwind hatte sich mehr und mehr verstärkt, und ein im Ofen knatterndes Feuer regte behaglichen Eindruck; auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers standen die drei Couverts, die Flaschen, die Blumenvasen. Ich erinnerte mich jeder Einzelheit genau und erkannte ihre Uebereinstimmung, trotzdem sah mich alles wie aus weit entlegner Ferne an und weckte nicht das Gefühl der Anknüpfung an meine eigene Vergangenheit. Die Schuld mochte wohl an meiner Stimmung, der Lebenserfahrung liegen, die ich mit dem Beginn meiner Volljährigkeit gemacht; Zorn und Beschämung hatten den Tag hindurch in mir gekämpft, die materielle Lage, in die ich mich plötzlich durch den wahrscheinlich nicht rechtlich angreifbaren Betrug meines gewesenen Vormundes versetzt sah, zwang mich zu Erwägungen, Plänen, bei denen ich den Mitrat des noch immer abwesenden Erich Billrod aufs äußerste entbehrte. Welcher Weg war für mich einzuschlagen, wenn die nicht beträchtliche Summe, in deren Besitz ich mich noch befand, ein Ende genommen? Die Situation war so neu für mich, so unerwartet über mich hereingekommen, daß ich sie noch nicht in klare Vorstellung zu fassen, kaum noch als tatsächlich und unabänderlich zu betrachten vermochte. So trieb ich gleichsam ziellos auf einem Gewoge wechselnder Gedanken, ließ mich von der Tagesgewohnheit untätig hierhin und dorthin tragen und stand am Abend, halb ohne es zu wissen, in dem Zimmer, in welchem unsere Zusammenkunft verabredet war.
Fritz Hornung befand sich noch nicht dort, doch Philipp Imhof, als der Wirt, war schon anwesend. Nur saß er nicht, wie vor zwei Jahren, in nachlässiger Haltung die Abendzeitung durchblätternd, sondern er hatte einen Stuhl an den Ofen gerückt und sah in die knisternden Flammen hinein, so daß er, mir den Rücken zuwendend, weder mein Anklopfen noch mein Eintreten vernahm. Nun jedoch drehte er in einem mechanischen Gefühl den Kopf, stand auf und sagte, mir die Hand reichend: »Es freut mich, daß wir hier heut' noch zusammenkommen, Keßler.«
Seine Stimme klang müde, beinah als ob das Sprechen ihm Schwierigkeit mache, die Hand, die er in meine gelegt, fühlte sich fast wie nur aus Knochen bestehend an, über welche die Haut sich trocken, welk und heiß hinzog. Wir sprachen einige gleichgültige Dinge, als Fritz Hornungs Schritt vor der Tür hörbar ward und diese sich öffnete. Doch der Erwartete war es noch nicht, sondern nur ein Bediensteter des Hotels in ursprünglich fein geschniegeltem, allein gegenwärtig unordentlich verwahrlostem schwarzem Anzug, über dem ein hohles, wie von unheilbarer Krankheit fahlzerrüttetes Gesicht herabsah. Philipp Imhof trat auf ihn zu, vermutlich um ihm eine Ordre zu erteilen, doch als er an ihn herangekommen, streckte er mit derselben mechanischen Bewegung, wie zuvor mir gegenüber, die Hand aus und sagte ausdruckslosen Tones: »Sei willkommen, Hornung.«
Ich starrte, zurückfahrend, dem Eingetretenen in's Gesicht. War es denn möglich – wann hatte ich Fritz Hornung zuletzt gesehen? An jenem Abend bei der ersten Aufführung der Maria Stuart – ich rechnete, es waren kaum drei Wochen seitdem verflossen. Konnten diese unstät-irren, beinah unheimlich brennenden Augen diejenigen des unverwüstlich lachlustigen, rundwangigen Jugendfreundes sein, des Bildes der Lebenskraft, Gesundheit, des nie von einer Sorge beschwerten leichten Sinnes?
Es blieb kein Zweifel, denn es war seine Stimme, die mich anredete. Er sagte, mit dem Blick an mir vorbeigehend: »Wir haben uns ziemlich lange nicht gesehen, Reinold, aber man muß fleißig werden, und wenn man des Nachts arbeitet, ist man bei Tage –«
Ein Schatten seines alten Auflachens ging ihm um die Lippen, wie er sich umdrehend, ergänzte: »durstig,« und an den Tisch tretend hinzusetzte: »Verzeih', Imhof, aber' mein Hals ist bei dem Ostwind wie ausgedörrt.«
Er ergriff eine der bereitstehenden Flaschen, füllte ein Wasserglas daraus an und leerte dieses auf einen Zug, als ob der Inhalt nicht aus Wein, sondern aus Wasser bestanden. Der Anblick erläuterte mir in betrübender Weise sein erschreckendes Aussehen; offenbar hatte er, wie ich befürchtet, sich vollständig dem Gewohnheitstrunk hingegeben und seine Gesundheit, Körper und Geist damit in rapider Schnelligkeit untergraben. Aber trotzdem – wenn ich mir sein Bild zurückrief, wie es seit frühester Kindheit und noch vor drei Wochen zuletzt vor mir gestanden – begriff ich nicht, welches Uebermaß der Unmäßigkeit dazu gehört haben mußte, um diese scheinbar unbesiegliche Natur in so kurzer Zeit zu zerstören.
Philipp Imhof schien von dem Allem, was mich erschreckte, nichts wahrzunehmen, oder gewahrte vielmehr nichts davon. Er sagte mechanisch als Wirt: »Ich bitte euch, eure alten Plätze zu nehmen,« doch er berührte kaum die ausgewählten Speisen, selten einmal mit schlürfender Lippe den Rand seines Glases. Ueber dem Tisch lagerte nicht die Stimmung eines heiteren Gedenkabends, zumeist saßen wir schweigend, als ob jeder seinen Gedanken nachhänge. Dann hob wohl Einer ein in unsere gemeinsame Vergangenheit zurückstreifendes Gespräch an, das sich in Pausen fortzog und wieder abbrach. Es war nur eine Kleinigkeit, doch fiel mir's bezeichnend auf, daß Fritz Hornung zum erstenmal in seinem Leben den Namen des Professor Tix aussprach, ohne ein »abera« daran zu hängen.
Der alte Narr soll auch wie ein Gimpel von sechszehn Jahren in die Schauspielerin Leander verliebt sein,« sagte Imhof, »daß seine Frau und seine Tochter ihm aus dem Haus laufen wollen.«
Wir erwiderten nichts; ich, weil ich es vermeiden wollte, über Lea zu sprechen, Fritz Hornung schien kein Interesse an dem berührten Gegenstande, wie an keinem der vorherigen zu nehmen. Er leerte nur hastig sein Glas und füllte es wieder; ich hatte wohl auch öfter das Nämliche getan, denn ich empfand allmählich, daß ich in sorglosere Stimmung geriet und daß der Schatten, der den Tag hindurch von Doktor Pomarius' Hause her als mein Begleiter neben mir gewandelt war, unter dem Einfluß des trefflichen Weines wesenlos zu zerrinnen anfing. Was hatte ich denn verloren, das keines Ersatzes fähig gewesen wäre? Geld, nichts weiter; ein Ding, das meine Ausdauer, mein Fleiß, mein Wille sich wieder erwerben konnte – kein Lebensglück, keinen höchsten Wert. In dem Verlust, der meine knabenhafte Torheit bestraft, hatte ich eine Bereicherung meiner Menschenkenntnis gewonnen, fast eine Genugtuung, daß mein Kindheitsgefühl über Doktor Pomarius mich nicht getäuscht, wenn es ihn heimlich stets als einen gleißnerischen Heuchler und nichtswürdigen Frömmler empfunden. Alles in Allem konnte ich mich noch glücklich schätzen, seiner Zucht nur mit einer Einbuße an äußerer Habe entronnen zu sein, meine Gesundheit bewahrt zu haben, meine Zukunft unzerstückelt trotzdem in fröhlich-selbständigem Licht vor mir ausgedehnt zu sehen. Ich lachte plötzlich über den Triumph auf, dessen der Fälscher sich jetzt da drüben in seinem Zimmer erfreuen mochte, und trank.
Sollte ich Philipp Imhof von der Sache erzählen, ihn um seinen Rat angehen? Nein, das hätte sich deuten lassen, als ob ich in versteckter Weise das Ansinnen einer materiellen Unterstützung an ihn richtete. Doch im Allgemeinen konnte er mir vielleicht seinen Rat erteilen und ich fragte ihn lachend:
»Was würdest Du tun, wenn Du plötzlich ohne alle Geldmittel in der Welt daständest?«
Die Frage besaß dem Verlauf des geführten Gespräches nach nichts Auffälliges, und Imhof entgegnete lakonisch: »Wenn ich sähe, daß meine Passiva sich beträchtlich höher bezifferten als meine Aktiva und sich mir keine Aussicht auf Erhöhung der letzteren böte, so würde ich Bankrott machen.«
Fritz Hornung stieß eine kurze, heftige Lache aus, die von seiner sonstigen, humoristischen Art zu lachen ebenso grell abstach, wie sein jetziges Wesen und Aussehn von dem früheren und fiel ein:
»Kaufmännisch geantwortet, Imhof, klar, bündig und unantastbar! Es ist etwas Ausgezeichnetes um einen guten Geschäftsmann, der seine Bilanz immer deutlich im Kopf trägt und die Aktiva und Passiva zu richtiger Zeit genau gegeneinander abzuwägen versteht. Wenn die letzteren größer sind, macht man Bankrott – aber man versucht's erst noch einmal, nicht wahr – wie Du sagtest – mit der Aussicht auf Erhöhung. Auf Dein Speziellstes, Philipp Imhof!«
Fritz Hornung leerte sein Glas; es war als ob Imhofs trockne, kaufmännische Erwiderung auf meine Frage ihm mit einem Schlage die Laune völlig verändert habe. So still er zuvor gewesen, so beredt ward er jetzt; er sprudelte in alter lebhafter Weise mit dem perlenden Schaumwein um die Wette ausgelassene Torheiten und Tollheiten hervor, daß seine Lustigkeit, wenn sie auch einen andern Klang als sonst besaß, mich vollständig mit entzündete. Es schlug Mitternacht vom Turm und ich nahm mein Glas und sagte »Wißt Ihr's noch, vor zwei Jahren tranken wir das letzte auf das, was wir lieben. Du, Philipp, legtest eine Karte mit goldenem Rand dazu auf den Tisch, Fritz sagte, er habe auf nichts getrunken, und ich – nun ich würde auf das nämliche trinken wie damals, ich glaube, ›auf niemand‹ benannte ich's. Dann gabst Du Deine frühreife Menschenkenntnis über Fritz zum Besten, Philipp, von gefährlichen Spinnen und ungeschickten Nachtschmetterlingen, Feuer und Schafen – mir ist's jetzt, als wär's gestern gewesen – und Fritz hieß Dich einen angehenden Geldmarder und wollte Dir aufbrummen. Den gefährlichen Trinkspruch – Fritz scheint mir heut' ziemlich wieder in derselben Laune – laßt uns also vermeiden und dafür das letzte Glas drauf trinken, daß wir uns heut' übers Jahr abermals hier an dem nämlichen Tisch zusammenfinden!«
Unsere Gläser stießen aneinander, Imhof murmelte: »Es klingt matt –«, ich fiel ein: »Das ist Art des Champagners.« Fritz Hornung hatte sein Glas bis auf die Neige ausgetrunken und warf es plötzlich mit rascher Handbewegung gegen die Wand, daß es in klirrende Stücke zersplitterte. »Wenn Dein Trinkspruch sich erfüllt, Reinold, brauchen wir vielleicht andere Sektgläser,« fügte er hinterdrein.
Ich wollte ihn fragen, warum und welcher Art, doch mein Blick fiel gleichzeitig auf Philipp Imhof, der in diesem Moment mit totenfahlem Gesicht und halb wie gebrochenen Augen schwankend den Kopf an die Lehne des Stuhls zurückfallen ließ. Aufspringend und ihn haltend, fragte ich hastig: »Was ist Dir, Philipp?« Er öffnete matt die Lider: »Mir? Nichts – nur etwas Müdigkeit – auf einmal – ich hab' es manchmal in der letzten Zeit.«
Mein Blick haftete noch erschreckt auf ihm und ich stieß unwillkürlich aus: »Du sahst aus, als ob Du statt des Champagners Gift getrunken hättest.«
Nun zuckten seine Wimpern und er richtete sich gewaltsam schnell auf. »Was für Tollheit sprichst Du – vielleicht ist der Wein Gift für mich, ich trage ein Leiden in mir – der Arzt weiß es – für das der Champagner schädlich ist. Daran werde ich auch einmal sterben, möglicherweise plötzlich – wollt Ihr schon gehen? Ja so, ich gehe heut' mit Euch, es ist nicht wie damals, die Zeiten ändern sich und wir mit ihnen, daß ich das Hotel heut' Abend verlasse und mein eigenes Haus aufsuche. In der frischen Luft wird's mir schon besser werden; in dem Zimmer hier, dünkt mich, lag's von Anfang an wie eine heiße Grabluft, im nächsten Jahr muß besser gelüftet sein.«
Wir gingen, ich faßte Imhof's Arm und führte ihn. Der Wind pfiff, die Straßenlaternen waren ausgelöscht, aber hinter jagenden Wolken stand der Mond mit beinah voll ausgerundeter Scheibe und erhellte dämmernd die lautlosen Gassen. Ich gedachte der Nacht, wie ich damals mit Fritz Hornung ebenso aus dem Hotel nach Hause gewandert war und er im Rausch die Gosse als Trottoirstein angesehen. Das war heut' anders; er hatte gewiß nicht weniger getrunken, als damals, doch sein Kopf erschien augenblicklich so nüchtern, als ob er nichts als Wasser genossen hätte. War es schon die Gewohnheit, welche den Wein keine Wirkung mehr auf ihn üben ließ? Neben uns hinschreitend, sprach er ruhig über dies und jenes, unser Weg führte unfern am Hafen vorbei und Imhof bat: »Laß uns einen Moment an's Wasser hinunter, das wird mir gut tun.«
Wir wandten uns rechts ab und standen nach einer Minute am Quai, gegen den die Wellen sich mit hohem Rücken, manchmal dunkelschwarz, manchmal weißschimmernd heranwälzten. Als wir kurz in das Getose und Gewoge hinausgeblickt, schlug ein Schaumkopf über das Bollwerk herauf und stäubte sein feuchtes Gischtmehl uns bis in's Gesicht empor.
»Der Ost wühlt das Wasser aus der See heran,« sagte Imhof, »so hoch habe ich es noch nie gesehen.«
»O doch, ich erinnere mich aus unserer Kindheit, daß es dort bis an die Häuser rieselte,« versetzte ich, mich umsehend. »Wo ist Fritz geblieben?«
Auch Imhof blickte umher, und ich rief: »Fritz! Fritz?« doch ohne Erwiderung. »Er hat doch wohl etwas im Kopf und wahrscheinlich nicht bemerkt, daß wir hierher abgebogen sind, sondern den graden Weg nach Hause fortgesetzt,« meinte Imhof.
Vermutlich hatte er Recht; ich wollte ihn bis an seine Wohnung begleiten, doch er hielt unterwegs vor der meinigen inne und bestand darauf, daß ich ihn nicht weiter geleiten solle. »Ich fühle mich vollständig kräftig wieder und gehe das letzte Stück Weges gern allein. Gute Nacht, Reinold Keßler!«
Hatte das geringe Quantum Weines, das Philipp Imhof genossen, auf ihn eine Wirkung geübt, die das zehnfache Maß auf Fritz Hornung verfehlt? Er sprach die letzten Worte in einem so von seiner gewöhnlichen Nüchternheit abstechenden, warm-herzlichen Tone, als enthielten sie einen Abschied für's Leben, und seine Hand schloß sich zugleich mit so festem Druck um die meinige, als ob auch sie darin unsere ganze freundschaftliche Vergangenheit noch einmal zusammenfasse. »Ich komme morgen zu Euch,« rief ich ihm nach; er kehrte nochmals um: »Ich habe vergessen, Dir einen Auftrag von meiner Frau zu bestellen.« Damit reichte er mir ein kleines Kouvert und ging, und ich hörte seinen Schritt die einsame Straße wunderlich hinunterhallen.
Der Wind blies so heftig durch die Fensterritzen, daß die Kerze flackerte, bei der ich die Kouverteinlage Lydia Imhof's überflog. Das Blättchen enthielt nur wenige Zeilen: »Ich habe gesagt, daß ich Ihnen mitteilen würde, wenn der geeignete Zeitpunkt da sei. Kommen Sie morgen Nachmittag um fünf Uhr. – Lydia.«
Mit plötzlich erwachtem Herzklopfen legte ich mich zur Ruh', meine Gedanken schweiften über den Tag zurück, über den nächsten voraus. Wahrlich, was hatte ich denn verloren, was das Heut' mir genommen, das mir das Morgen nicht in tausendfältigem Reichtum wieder zu geben verhieß? War es schon Wirklichkeit oder Traum, der mich in das Zimmer eintreten ließ, in dem Aennchen meiner wartete?
Nein, nur ein Traum, ich hatte geschlafen, das klopfende Herz mich wieder aufgeweckt. Oder hatte sich ein äußerer Anlaß, ein lautes Geräusch hinzugesellt?
Ich horchte mit halb wachem Ohr durch's Dunkel. Ein schwerer, schwankender Schritt stieg langsam die Treppe draußen hinan, dann dröhnte er über mir in Fritz Hornung's Zimmer.
Kam dieser jetzt erst nach Hause? Wo war er noch gewesen?
Der unsichere Schritt wanderte auf und ab; er verstummte eine Weile, als ob der Gehende sich an einen Schreibtisch setze und eine Minute lang davor raste. Darauf begann er auf's Neue, hielt wieder an und erschütterte dann die Zimmerdecke wie zuvor.
Hatte Fritz Hornung irgendwo noch mehr getrunken und in besinnungslosem Rausch die Haustür offen gelassen. Sie knarrte im Wind, seufzte und schlug krachend zu, aber ich wußte nicht mehr, ob ich es wirklich hörte, oder nur der Traum es mir vorgaukelte.