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Viertes Kapitel

War es schon Winter geworden, oder noch Spätherbst? Der Morgen zeigte die Gossen, die Gräben und kleinen Teiche mit dünner Eiskruste überzogen, auf den Dächern lag der wuchtigen Schneelast leichter Vorläufer, der Reif, und im Ofen knatterten die Scheite. Aber in der Mittagsstunde löschte die Sonne täglich noch den weißen Ueberzug von Haus und Gewässer fort, aus dem Braun und Gelb der Gärten nickte hie und da über schwärzlich eingeschrumpften Blättern noch eine rote Rose, und an Wänden, hinter denen der Wind sich summend verfing, wo die schrägen Strahlen sich zu Glanz und Wärme sammeln konnten, flatterte dann und wann noch ein halb farbloser Schmetterling, huschte wie ein Schatten durch die Lichtblendung und saß plötzlich, die verblaßten Flügelaugen voll aufschlagend, als ein melancholischer Anachronismus auf dem weißgetünchten Gemäuer. Es zog um diese Mittagszeit unwiderstehlich den Fuß von der Arbeit hinaus, durch das letzte, knisternde Laub zu wandern, das hier aufgehäuft am Wegesrand lag, dort schwebend durch den tändelnden Luftzug aus fast gelichteten Wipfeln herab. Die Augen folgten träumerisch dem immer gleichen und immer neuen Daseinsschluß einer kleinen altersüberdrüssigen Lebensexistenz, die lichtgrün einst im Frühling begonnen, und die Gedanken wanderten hinterdrein.

Auch immer die nämlichen, der große, eintönige Akkord, dessen Klang der Herbst im Menschenherzen regt. Was soll's? Wozu? Warum sind sie aus der Knospe geschlüpft, haben sich aufgerollt, einige Monde lang Sonne, Regen und Sturm über sich hingehen lassen, wechselnd den Atem lauer Mondnächte eingezogen und vom Blitz des Unwetters umfunkelt aufschauernd gerauscht? Um jetzt zu fallen, dies wie das andre, zu verwehen und vergehen, Neukommenden, schon in der Tiefe Nachdrängenden für gleiches Schicksal, gleichen wunderlichen Endzweck Raum zu schaffen.

Ja, der große, eintönige Akkord, wie in den Tagen Homers –

»Gleich wie Blätter im Wind, so sind die Geschlechter der Menschen;
Jenes verwehet der Wind nun flatternd, wiederum jenes
hebt er empor –«

So war es von jeher gewesen, seitdem Menschen auf der Erde sonnig-melancholischen Spätherbsttag durchschritten. Das welke Laub umraschelte den Fuß, nach einer Spanne Zeit seines Daseins überdrüssig, zwecklos, wie –

Was bedurfte es der fernen, grauen Zeit für ein Gleichnis? Ein anderes, genau entsprechendes, lag mir so nah, schwebte mit den gelben Blättern mir greifbar gegen die Augen und Gedanken heran. Des Lebens überdrüssig, freud- und zwecklos wie Robert Lindström hier vor zwanzig Jahren in einer Welt gegangen, mit der er keinen Zusammenhang besaß, von der er nichts erwartete und nichts verlangte.

Oder gab es einen Vergleich, der mir noch näher lag? Der noch passender sich der herbstlichen Natur anschmiegte?

Robert Lindström war kein Zweck, kein Ziel seines Daseins geblieben, als die Arbeit. Aber während er Tag um Tag saß, tanzten in dem einsamen Zimmer um ihn die Goldstäubchen der Erinnerung; aus den alten Blättern seiner Bücher strömte sie plötzlich Syringenduft zu ihm auf, den sein Herz eine holde Sommerzeit lang wenigstens einmal geatmet; vor seinen geschlossenen Lidern zitterte das flockige Goldhaar um eine weiße Stirn, in seinem Ohr klang eine helle Stimme, und die Gegenwart versank, und zerronnener Traum vermochte mit süßem Gaukelspiel sein Herz zu täuschen.

Doch meine Arbeit besaß keine Erinnerung, keine Vergangenheit. Sie richtete sich in die Zukunft hinaus – in welche? Wozu? Wofür? Mir auch »Verdienste an der Menschheit zu erwerben,« wie Robert Lindström bitter gesagt?

Eine andre Antwort raschelte verständlicher, weniger hochtönend und wahrheitsgemäßer um mich her. Um gleich diesen Blättern mit mir zu verwehen und vergehen, gleichgültig, ob ich und sie je gewesen.

Wie herbstlich konnte der Mai sein, nicht der Mai der Natur, doch der des Menschen! Wie zwecklos war das Vollgefühl seiner Lebenskraft, arm, leer, ohne Ziel. Verhehlten die Andern den nämlichen Ueberdruß nur unter den konventionell lachenden, nickenden, plaudernden Gesichtern des guten Tones, unter den schillernden Seifenblasen, mit denen sie fremde Augen über das hohle Nichts ihrer Dünkelhaftigkeit zu täuschen bemüht waren?

Da kam mir etwas durch die laublose, mittägige Allee entgegen, was ich in der Entfernung wider die schräg vor mir aufstehende Sonne nicht zu erkennen vermochte. Zwei Menschengestalten waren es, eine schwarz wie die Schatten, die sie vorauswarfen, die andre buntflimmernd, eine weibliche Figur mit nickendem Hut und beweglichem Sonnenschirm. Sie gingen Arm in Arm, redeten, lachten; nun unterschied ich einen ganz in Schwarz gekleideten, schmächtig langen Mann, dessen Größe ein Cylinderhut von modernster Fasson noch erhöhte, und eine elegant, nach der neuesten Mode aufgebauschte und umfalbelte junge Dame, wie ich sie in unsrer kleinen Stadt nicht kannte und noch nie wahrgenommen. Es mußten Fremde, auf der Durchreise Begriffene sein; ich war im Vorüberschreiten, als aus dem Gesicht des Fremden, der nicht nach meiner Seite blickte, mir ein bekannter Zug in's Auge sprang, mich anhalten und die Hand mit der Frage ausstrecken ließ: »Imhof? Wahrhaftig – ich täusche mich nicht.«

Das Wort enthielt keine Phrase, denn durchaus sicher war ich auch jetzt noch nicht. Die Züge des vor mir Stehenden hatten etwas Eingetrocknetes, das über ihr Alter keinerlei Vermutung zuließ, wenigstens einen Irrtum um ein Jahrzehnt ermöglichte. Die Augen lagen zurückgetreten unter den Knochenrändern der Stirn, das sorgfältig glattrasierte Gesicht war in den Wangen ausgehöhlt, Alles an ihm trug vollständig auf's Genaueste den Stempel der Erscheinung, wie meine Erinnerung sie von fast allen den jungen Kaufleuten seiner Vaterstadt bewahrt hatte. Aber er war es, denn auch er streckte die Hand aus und versetzte: »Keßler, meiner Treu – unverändert wie von Kindertagen auf. Es freut mich, Dich zu sehen.«

Die Stimme klang ebenfalls trocken und – ich weiß kein besseres Wort dafür – kaufmännisch-usancemäßig, als ob es sich um die unerwartete Ankunft eines Waarenballens gehandelt hätte. Aber trotzdem lag eine Art überdorrter Herzlichkeit in dem Tone und besagte, daß die ausgedrückte Freude nicht vollständig konventionelle Phrase sei. Ich blickte, meinen Hut ziehend, auf Imhof's Begleiterin, und auch in Bezug auf diese erhellte eine alte Reminiscenz plötzlich meine Augen. Es war zwar nicht Cerise mehr, wovon sich das zierlich gebildete, schmale Gesicht abhob, aber rotseidene Unterseite des Sonnenschirmes goß noch das nämliche rosige Licht über die von glänzend braunen Löckchen umkräuselte Stirn, und die Finger in amaranthfarbigen Handschuhen tändelten ebenso, wie einst, mit dem elfenbeinernen Griff des Schirmes, daß ich, halb mich verbeugend, halb der jungen Dame die Hand entgegenreichend, unwillkürlich lebhaft zurückversetzt sagte: »Miß Lydia Brandstätter –?«

Philipp Imhof fiel mir mit einer darstellenden Handbewegung ins Wort: »Vielmehr mistress – meine Frau.« Er sprach es so selbstverständlich, gleichmütig, als ob es nichts Natürlicheres auf der Welt gäbe, und im Grunde mochte es das auch sein, allein ich war so verdutzt, daß ich Frau Imhof wohl eine Weile schweigend-einfältig in's Gesicht starrte, denn sie brach in ein Lachen aus und sagte: »Ich scheine Deinem Freunde nicht recht wie eine glaubhafte Wirklichkeit vorzukommen, mein Teurer. Du hast mich ihm vorgestellt, doch mir noch nicht das Vergnügen gemacht, mich mit ihm bekannt werden zu lassen.«

»Ich dachte Du erinnertest Dich Herrn Reinold Keßler's, liebe Freundin,« versetzte Philipp Imhof. »Er stattete Dir einmal mit mir einen Besuch im Garten Deines elterlichen Hauses ab.«

»Ah, in der Tat, ich glaube,« erwiderte Frau Lydia Imhof. Sie erinnerte sich offenbar nicht, doch einer der amaranthfarbenen Handschuhe streckte sich nach mir aus und berührte leicht meine Fingerspitzen. Imhof sagte: »Du wirst verwundert sein, mich hier zu sehen, aber die geschäftlichen Konjunkturen sind augenblicklich auf dem hiesigen Boden außerordentlich günstige –«

»Ich hatte bereits in einer Gesellschaft vor einiger Zeit erfahren,« entgegnete ich, »daß Deine Hierherkunft bevorstehe.«

Frau Lydia fiel ein: »Ah, die Gesellschaft einer Universitätsstadt, ich freue mich auf sie. Besonders für meinen Mann, dessen gelehrte Bildung sich für einen fast ausschließlich auf Kaufmannskreisen beschränkten Verkehr durchaus nicht eignet.«

Philipp Imhof sah auf seine Uhr. »Du wirst unsere momentane Beeilung entschuldigen, lieber Freund, wir stehen im Begriffe, noch einige unaufschiebbare Besuche abzustatten. Ich bitte, Dich als alten Freund unseres Hauses zu betrachten und von einer förmlichen Antrittsvisite bei uns abzusehen. Wir geben am nächsten Mittwoch unsere erste hiesige Soiree – ich habe das in gothischem Stil neuerbaute Eckhaus am Markt, gekauft – und hoffen, an dem Abend auf Dich rechnen zu können.«

Er nahm grüßend seinen Cylinder von den Schläfen, die mir noch stärker eingewölbt als früher erschienen, Frau Lydia legte, mit dem Blumenbouquet auf dem Kopf leicht nickend, den Amaranth-Handschuh graziös wieder in seinen Arm – ich erwiderte stumm den Gruß und blickte ihnen nach, wie sie von den Sonnenlichtern umspielt ihren Weg durch die entblätterte, menschenleere Allee fortsetzten. So selbstverständlich, gleichmütig – war es wirklich keine Mittagsvision meiner Augen und Ohren gewesen? Nein, da wandelten sie noch immer leibhaftig zwischen den alten Stämmen, kleiner und ferner – Frau Lydia Imhof hatte trotzdem das richtige Wort gesprochen – es war keine glaubhafte Wirklichkeit. Philipp Imhof befand sich genau in meinem eigenen Alter, ich sah ihn auf's Lebhafteste, wie er mit den Schulbüchern unter'm Arm zwischen diesen selben Bäumen neben mir dem Gymnasium zulief, es war mir wie gestern, daß wir, als halbe Knaben noch, den Abschied von einander getrunken – und nun ging er dort mit einer Frau, mit seiner Frau am Arm, als gehöre das zum Allerbegreiflichsten und es sei kein Wort noch Gedanke darüber zu verlieren. In meinen Jahren hatte er Alles erreicht, was ein Mensch überhaupt erstreben konnte – nicht als ob ich ihn um Dasjenige, was er sich erwählt, beneidete – aber es wirbelte mir im Kopf, denn vor mir in der Sonne flimmerte die Vorstellung, daß ich auch so mit einer Frau, mit meiner Frau am Arm hier dahingehen könne. Ein unausdenkbarer und undenkbarer Gedanke – doch ich fühlte vor den geschlossenen Augen, daß er die knisternden Herbstblätter unter meinen Füßen in grünes Maienlaub verwandeln müsse, daß sein Anhauch die zwecklose Arbeit der Zukunft zu köstlichster Freudigkeit verkläre, daß jeder Daseinsüberdruß einem Wolkenschatten gleich vor der Sonne dieser Einbildung absinke.

Dieser Einbildung – ich öffnete die Augen und kam zu dem Bewußtsein, daß ich mit einem Begriffe einer wesenlosen Gestalt am Arm durch die Allee weiter gewandert war. Mit einem Gebild der Phantasie, einer Frau, die nicht in der Welt existierte – nein, auch das nicht – nur mit einem unfaßbaren Gebild des Herzschlags, der sich nach einer Entgegnung sehnte und verzehnfacht das öde Rascheln des kühlen, leeren Herbstes unter sich empfand.

*

Der Mittwoch abend kam, doch er sah mich nicht in Philipp Imhof's Soiree. Ich hatte am Tage vorher einen Boten hingeschickt und mich mit Unwohlsein entschuldigen lassen. Es lag nicht einmal eine bräuchliche Unwahrheit des guten Tons darin, denn ich fühlte mich wirklich müde und gesellschaftsunfähig und zugleich, daß es die schlechteste Arznei für mich sein würde, das Haus Imhof's zu besuchen und ihn mit seiner Frau die Honneurs desselben machen zu sehn. Als die Dämmrung sich mir über die Bücher legte, ließ ich meine Arbeit fahren und setzte mich ans Fenster. Das Abendlicht hatte sich früh eingestellt, denn schweres, blauschwärzliches Wolkengetriebe kam mit ihm und setzte oder streute vielmehr einen großen weißen Grenzstein an das Ende des Spätherbstes. Einige Augenblicke stäubte es wie seines, hie und da nur mit einem Pünktchen umirrendes Mehl in der Luft, dann verdichtete es sich zu gleichmäßig rieselndem Schneefall, wandelte sich allmählich in schwerflockiges Gestöber, das mit Millionen Sternen die kahlen Baumwinkel, die Dächer, die Menschen auf der Straße umtanzte, hier schwer herabwallte, dort in kreisendem Umschwung wirbelnd zwischen Himmel und Erbe umhertrieb, den grünen Kirchturm völlig meinem Blick entzog und in kurzer Zeit sich auf dem Boden der Gasse, Dach, Haussims, Traufe und Geäst höher und phantastischer auftürmte. Der Winter war's, der wieder einmal begann; wie vor einigen Tagen noch das gelbe Laub, so flatterten jetzt die weißen Flocken, ebenso zwecklos, gleichgültig, den dreinschauenden Augen überdrüssig. Auch dieser heut' begonnene Winter wird gehen, ein Sommer darauf folgen und nach ihm wieder der nächste Winter kommen. Was dann? Nichts, oder vielmehr grad' das Nämliche wie jetzt; die Flocken werden grad' so vor den Augen wirbeln, ohne daß ihre kreisenden Sterne ein ersehntes Ziel in der Zukunft deuten, ohne daß eine Erinnerung der Vergangenheit herzbetörend aus ihrem Reigen heraufgaukelt.

War es mir etwa im Lauf des letzten Jahres ergangen wie Robert Lindström, der empfunden, daß er sich allmählich verändert, seine Denk- und Redeweise nach der des Vormundes umgewandelt hatte? Hatte gleicherweise Art und Anschauung Erich Billrods auf mich ihren Tropfenfall-ähnlichen Einfluß geübt, daß der frühere Drang, die Empfindungen meines Innern hervortreten zu lassen, erloschen, mein vereinsamtes Gefühl geizig mit dem geworden war, was niemand sonst in der fremden Welt wollte, mit der mein Herz keinerlei Zusammenhang besaß?

Da löste sich doch eine Erinnerung aus dem tanzenden Geflatter draußen und kam halb freundlich, halb wehmütig zu mir herein. So waren plötzlich auch die dichten weißen Flocken vom Frühlingshimmel herabgewirbelt, hatten sich auf Blumen und Blätter gelegt, als ich Magda zum erstenmal gesehn. Ein Schauer knabenhafter Empfindung hatte mich damals überlaufen; wie auf dem jungen Grün, den Erstlingsblüten des Gartens, so lag der Schnee auch auf ihrer armen, traurigen Jugend, nur nicht um unter dem Sonnenlächeln der nächsten Stunde wieder zu zergehen, sondern mit steter Winterlast sommerlang ihr schönes Blumengesichtchen an die Erde hinabzudrücken. Ein weißer, frostiger Kerkerwall, schloß er sie von den freudigen Spielen der Altersgenossinnen ab und schränkte sie auf eine trübe Welt der Sehnsucht ein, die keine Schwingen besaß, ihre Ziele zu erreichen. Keine Schwingen des Körpers, doch dafür seltsame, über ihre Kinderjahre hinausgewachsene der Seele, der Phantasie – lebendig kam es mir zurück, wie ich an jenem ersten Abend auf dem Sopha des kleinen Stübchens neben ihr saß, sie mir ihre fremdländischen Schätze zeigte, deutete, benannte und in wundersamem Flug der Einbildung ihr eigenes Dasein eng mit ihnen allen verband, daß ich anfänglich wirklich geglaubt, sie selbst habe an jenen fernen Gestaden im Sonnenschein gesessen, dem Murmeln der Wellen gelauscht und ihre bunten Märchen mit Augen gesehn. Rückblickend jetzt verstand ich's: ihre Sehnsucht war es, welche die Seele der Armen, die den Fuß zu keinem schnellen Schritt zu regen vermochte, beflügelt in die schimmernden Märchenweiten hinaustrug. Die Nähe um sie war so leer und traurig, und ein heißer Drang trieb sie doch auch von dem Reichtum des Lebens mit zu genießen; da regte ihre Phantasie, dem nach Süden ziehenden Vogel gleich, ihre Schwingen, sie, die kein mahnend pochendes Herz vom windschnellen Fluge zurückhielt. Und so war Magda Helmuth mit ihrer Armut und ihrem Reichtum aufgewachsen, war sie heut. Wie viel Leid mochte ihr Herz in einem schweigsamen Grabe zusammengehäuft haben, wie mochte still, schwer und traurig der Schnee jetzt auf ihr lasten, wo sie ein Anrecht auf den vollen Mai des Lebens gehabt, der die sorglosen Stirnen ihrer Altersgenossinnen umleuchtete.

Arme Magda –

Ein Gefühl der Beschämung überschlich mich plötzlich. Wenn jemand ein Recht besaß, mit Bitterkeit in das Leben hineinzublicken, so war sie es. Und doch, wer hatte ein immer heiteres Wort, freudigeren Aufglanz des Auges, ein glücklicheres Lächeln auf den Lippen, als Magda Helmuth, wo und wann ich zu ihr trat?

Die Flocken fielen durch immer tiefere Dämmerung. Eine andere Erinnerung, ein schattenhaftes Bild schwebte durch sie hin. Sie reihten sich zu einem langen weißen Bart aneinander und darüber sah das magere, müde Gesicht des alten Kähler einen Augenblick hervor. Er lag nun wirklich unter dem Schnee, seit einer Stunde wieder – ob es ihm wohltat? Oder war er nicht eigentlich am Besten daran, da er weder Sonne noch Kälte mehr empfand, es ihn gleichgültig ließ, ob grüne Blätter sich über ihm aufrollten, ob gelbes Laub oder weiße Flocken wirbelnden Rundtanz um sein Bett begingen?

Das Gesicht des alten Kähler zerrann und andere tauchten wie farbloses Schattenspiel hie und da auf. Die Köpfe, welche das Gedächtnis neben dem seinigen in seinen Fächerschränken bewahrt hatte. Sie sahen mich wie in Spiritushäfen aufbewahrte Curiositäten, pathologische Präparate an – meine tägliche Beschäftigung mochte den Anlaß zu dem Vergleich bilden – gläsern, blutlos-widerlich, unendlich gleichgültig. Verächtliche Heuchler oder Narren – ich sah sie am grünen Tisch des Schulkonferenzzimmers mit ernstgewichtigen pädagogischen Mienen sitzen, aber von den Meisten suchte ich vergeblich die Namen. Der Schnee fiel über ihre Schattenbilder hin – wie lange war er schon darüber gefallen und hatte sie wesenlos begraben!

Zwecklose Dämmerungsphantasien, ohne Freude, Wert und Wärme für das Herz – an die Arbeit!

Ich zündete mir meine kleine Studierlampe an und rückte den Stuhl vor das aufgeschlagene Buch. Meine Augen lasen, doch als sie an's Ende der Seite herabgelangt, kam mir zum Bewußtsein, daß mein Verständnis nicht mitgelesen. Ich wußte nichts von dem, worauf der Blick gehaftet, und begann wieder von vorn.

Nein, töricht war's, denn es war umsonst. Das Herz unter den Augen klopfte unausgesetzt und ich verstand deutlich, daß sein Schlag ein Wort, immer das nämliche Wort wiederholte: »Zweck-los! Zweck-los!«

Aber was sollte ich Anderes tun, das nicht ebenso zwecklos gewesen wäre? Ich konnte zu Magda gehen, ihr vorlesen, mit ihr von alten Tagen plaudern, mich an ihrer Freude miterfreuen. Doch ich wußte, daß um diese Stunde Erich Billrod sich in dem Stübchen Frau Helmuth's befand und mich mentorhaft fragen würde, ob ich keine wichtigere Verwendung für meine Zeit habe.

Ueber mir ertönte jetzt das Geräusch eines auf- und abwandernden Schrittes. Ich horchte einen Moment, es war Fritz Hornung's Fußtritt, der in seinem Zimmer hin und wieder ging.

Nur aus der Einsamkeit meiner eigenen Gesellschaft, aus der Zwecklosigkeit ihres Denkens fort! Ich sprang auf, stieg die Treppe hinan, klopfte und trat in die Tür meines Hausgenossen.

Fritz Hornung hatte zwei Lichter vor einen etwas erblindeten Spiegel gestellt, stand in Hemdsärmeln mit einem breiten blau-weiß-goldenen Bande über einer schwarzen Gesellschaftsweste davor und knüpfte sich eine weiße Halsbinde um, so daß mir sein volles, in roter Gesundheit leuchtendes Gesicht zuerst aus dem Spiegel entgegenblickte. Er nickte mir damit zu, ohne sich umzudrehen, und fragte: »Hast Du Dich noch nicht in Wichs geworfen, Reinold?«

Ich entgegnete halb gedankenlos: »Wozu?«

»Zur Kneiperei bei Imhof. Hast Du's über Deinem blödsinnigen Büffeln vollständig ausgeschwitzt?«

»Nein, ich habe abgesagt, schon gestern.«

Nun wandte Fritz Hornung sich um und sah mir in's Gesicht. »Daß Du ein gottvergessener Philister geworden bist, Keßler, weiß ich leider schon lange, und seitdem Du obendrein ohne alle Raison aus der Verbindung ausgetreten, weiß ich überhaupt nicht, wozu Du noch in der Welt herumläufst.«

»Ich würde Dir dankbar sein, wenn Du es mir sagen könntest, Fritz.«

Er trat auf mich zu und tippte mir mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Du, mir wird bange, das ist nicht mehr Simpelei, sondern – wie nannte Tix – abera – es noch?« – alienata mens, insania, vesania, vecordia. Wozu lebst und woran freust Du Dich denn eigentlich?«

»Sag' mir, wozu und woran Du es tust, Fritz. Vielleicht kann ich aus Deiner Antwort auch etwas für mich nehmen. Ich bin wißbegierig.«

»Als wärest Du ein krasser Fuchs, der direkt von der Pennalbank anstelzt, und ich komme mir Dir gegenüber trotz unserer Gleichsemestrigkeit auch wahrhaftig wie ein uralt bemoostes Haupt vor, das ich im übrigen Gott sei Dank noch nicht bin, sondern ich bin gestern dritter Chargierter bei uns geworden.« Fritz Hornung knüpfte sich ein paar riesige Bronceknöpfe mit gekreuzten Schlägern in seine Manchetten und fuhr lachend fort:

»Woran ich mich freue? Du hättest die Frage umgekehrt stellen sollen, woran ein Bursch im dritten Semester sich nicht freuen kann, dann wär' die Antwort klar gewesen! An den Nachtwächtern in natura et figura, die, wenn's anfängt fidel zu werden, in die Tür brechen und mit ihrem alten Bratspieß »Kneipabend ex!« tuten – und an den figürlichen Nachtwächtern, die aber noch drunter sind, den verfluchten Kameelen, welche statt in der Kneipe zu lernen, sich die Nacht durch an ihren Schmökern dumm wächtern und, weil sie sich auch Studenten heißen und ihren Namen in's Matrikelbuch eingekratzt haben, das ordentliche Burschentum in Verruf bringen! Ich will Dich aus alter Freundschaft nicht unter die obscure Bande mitrechnen, Reinold – aber woran man sich sonst nicht freuen sollte, wüßt' ich wahrhaftig, und wenn's um ein Faß ginge, nicht zu sagen. Ist nicht jeder Philisterpump und jeder Kreidestrich an der Kneiptafel eine Freude, die andre Leute nicht haben? Ist der Durst am Abend keine Freude und der Häring am Morgen? Wenn man hungrig ist, am Mittagstisch sich auszuzeichnen, daß der Wirt vor Aerger grün im Gesicht wird, und sich Abends oder vielmehr Nachts in's Bett zu legen, als steckten in den Kissen lauter lebendige Flederwische, die mit Einem auf den Kirchturm hinausflögen, und zu träumen, daß man da droben auf dem Goldknauf, hoch über der Kanzel einem künftigen eventuellen Summarträger die Tentamenspredigt verhaut? Na, und ich denke, sich Morgens, so gegen neun Uhr in den Federn zu dehnen und sich vorzustellen, wie jetzt die Kameele sich an das Kathederwasser in der Collegpfütze drängen und die langen albernen Hälse schlürfend zusammenstecken, ist auch kein übler Genuß!«

Hatte Philipp Imhof gesagt, ich sei unverändert geblieben? Hier hätte er Recht gehabt – es war der nämliche, unverwüstlich-fröhliche Gesell aus Kinderzeit, von dem ich wußte, daß sich unter seiner gegenwärtigen Burschenvermummung das alte, treue, ehrliche Herz barg, von dem ich auch wußte, daß er trotz seiner burschikosen Manier und Redeweise im Stillen mit dem nämlichen tüchtigen Fleiß seiner Wissenschaft oblag, wie er als Knabe sich zu einem vollbefriedigenden Abiturientenexamen durchgearbeitet hatte. Alles an ihm war unverändert seit einem Jahrzehnt, wie sein Gesicht, und man konnte ihn deutlich seinen Weg durch die Zukunft mit lachenden Augen weiter wandern sehen. »Kopf und Herz vielleicht zu ehrlich für die Welt, wie sie ist –« hatte Philipp Imhof von ihm gesagt.

Hatte er nachher bei'm letzten Glase des schäumenden Wein's hinzugefügt, Fritz Hornung könne, wenn plötzlich einmal ein Feuer vor oder in ihm auflodere, wie ein Schaf gradeswegs hineinrennen?

Es kam mir in's Gedächtnis, und ich mußte über Imhof's altkluge Lebensweisheit und psychologische Erfahrungs-Prognose von damals lächeln. Die Freuden Fritz Hornung's enthielten keine Gefahr, sich an ihnen zu verbrennen.

Er hatte seinen Gesellschaftsanzug vollendet, warf noch einen Blick in den Spiegel und stand zum Gehen fertig. »Nun, besinnst Du Dich nicht noch und gehst mit? Daß Imhof sich auf Wein versteht und es ihm auf das Blechen dafür nicht ankommt, brauche ich Dir wohl nicht in Erinnerung zu rufen?«

Ich antwortete mechanisch: »Gewiß, aber zu welchem Zweck soll man ihn trinken?«

Nun faßte Fritz Hornung meine Schulter und starrte mich groß an. »Mensch, ich glaube, Du bist nicht verrückt, sondern mehr als das – Du bist verliebt. Da soll eine solche Tollheit vorkommen.«

»Ich würde Dir noch dankbarer sein, Fritz, als vorhin, wenn Du mich dazu machen könntest, und verspräche Dir, Dich dann nicht wieder mit der Frage aufzuhalten, wozu man lebt und woran man sich freuen soll.«

*

Der volle Winter war ins Land gekommen, draußen standen Baum und Strauch mit glänzender Silberkruste überzogen, die Amseln hatten, von dem großen Lehrmeister Hunger in die Schule genommen, ihre angeborene Scheu überwunden und huschten mit dem nachtschwarzen Gefieder bis an die Türen der ländlichen Vorstadtwohnungen hinan. Auch die innere Stadt hatte von schwarzgeflügelten Gästen zahlreicheren Besuch erhalten, der besonders um Turm und Dach der Kirche flatterte und lärmte. Krähen und Dohlen verließen ihre unwirtlichen Nester im winterlichen Wald; die verschneite Saat bot keine einladend grüne Spitzen und der Pflug warf keine Larven und Würmer auf. So gedachten sie, wie auch der Mensch mitunter in der Not sich plötzlich mit großer Herzlichkeit früher von ihm durchaus gleichgültig übersehener Persönlichkeiten erinnert, des löblichen Brauchs der Stadtbewohner, den Abfall ihres gastronomischen Ueberflusses in Kehrichttonnen an der Rückseite der Häuser anzusammeln, hockten sich, unzweifelhaft nach den Vorschriften des bei ihnen gültigen seinen gesellschaftlichen Tones auf Dächern, First und Giebel zusammen, brachen dann, wie auf ein gegebenes Signal mit gierigem Ungestüm und lautem Gezanke rottenweise in einen Hofraum hinunter, balgten sich im dranstoßenden Garten um eine verstreute Kartoffelschale und beförderten ab und zu ihre Verdauung durch ein vielstimmiges schadenfroh-hohnlachendes Gekrächze, wenn sie gewahrten, daß drunten unter ihnen einer ihrer Wohltäter oder ihrer Wohltäterinnen sich unfreiwillig auf die Nase legte.

Dies ereignete sich aber ziemlich häufig und konnte den Umständen nach auch nicht wohl anders geschehn. Die Natur ließ den Schnee in der Stadt grad' so gleichmäßig fallen, wie draußen, und bediente sich keinerlei Verschiedenheit bei ihrer satzungsmäßigen Umwandlung der Wasserflächen in Eisdecken. Doch die Kultur mischte sich auf den Straßen in diesen einfachen Betrieb, und trotzdem sie unläugbar das zivilisatorische Element vertrat, ließ sich ebenfalls nicht läugnen, daß es nicht zur Reizerhöhung des in verschiedener Dichtigkeit-Gestaltung angesammelten feuchten Elementes in den Gassen geschah. Sie drängte mit Stiefelsohlen und Wagenrädern den Schnee von der einen Stelle fort und an der anderen zusammen; sie zermulschte ihn zu einem Brei, der weder dick noch dünn, weder weiß noch schwarz, weder Schlamm noch Wasser war, strich ihn wie in der Sommersonne ranzig zerschmolzene Butter über die Trottoirsteine und stimmte die rauhe Graniteigenschaft derselben zu der glatten Außenseite eines mit grüner Seife bestrichenen Zimmerbodens um. Sie erwies damit dem Stein vielleicht einen freundlichen Gefallen, der sich indeß für die darauf einherwandelnden Füße regelmäßig in eine andere Art des Gehfallens umsetzte. Außerdem ließ die Kultur unermüdlich von den Dachtraufen und aus den Küchengossen Flüssigkeiten unterschiedlichster Sorte in die Straßengossen hinunterrinnen, welche die Natur drunten in Eis umwandelte. Dies spornte vermutlich den Eifer der ersteren zu stets neuen Nachschüben, und die letztere ließ sich ebensowenig in ihrem Beruf irre machen, um diese Jahreszeit nichts Tropfbar-Flüssiges im Freien zu dulden. Das Resultat dieses tagelangen Wettstreites kam aber wiederum den Beinen und Nasen der Straßenpassanten nicht grade zu Statten, da es an den meisten Stellen die ganze Breite der Gassen mit einer kompakten, fußhohen Masse anfüllte, die mit der gleichnamigen beliebten Konditorware nicht viel andre Ähnlichkeit als den beiden innewohnenden Temperaturgrad aufwies. Die einzige freudige Regung, welche dieser Gesamtzustand der städtischen Verkehrswege erweckte, fand in den Köpfen der wohllöblichen Magistrats- und Polizei-Organe statt, die im Sommer edelmütig wetteiferten, durch Bußen für jedes vor der Tür eines Hauseigentümers nicht rechtzeitig weggekehrte Staubkorn den Stadtsäckel zu vergnügen. Sie betrachteten sich von Tag zu Tage die Steigerung des Kultur- und Natur-Wettringens mit dem Gefühl, wie innig dankbar das ihrer väterlichen Obhut unterstellte Publikum ihnen für die Sicherung seiner Gliedmaßen durch Forträumung des wachsenden Eisstoßes sein würde, und mit männlich-stoischer Selbstbeherrschung einigten sie sich dahin, man müsse sich auch einmal ein Vergnügen, sogar das höchste der Dankbarkeit seiner Mitmenschen versagen können, zumal, da die Erfahrung gar keinen Zweifel darüber belasse, daß sämtliche Straßen im Juli, wenn es nicht grade regne, von selbst wieder vollständig eisfrei, trocken und rein sein würden. Einstweilen indeß, da vorderhand nicht Juli, sondern Januar war, bildete es in der Tat eine gewisse Kunst, vermittelst richtiger Körpergewichtsverteilung und zweckdienlicher Fußstellung sich in dem Wechsel von Härte und Weichheit, doch stäter unbeeinträchtigter Glätte des Bodens aufrecht zu halten, und besonders bot das einschlägige Verfahren des weiblichen Geschlechts, in Notlagen quer über die Straße von einem Trottoir zum andern zu gelangen, manchen interessanten, auf Charakterverschiedenheit deutenden Anblick. Einige suchten lange nach einem möglichen Uebergang umher, andere schritten rasch entschlossen hindurch; diese hoben vorsichtig die Kleider über den Fuß, jene fegten mit seidenen Schleppen durch den Schmutz. Zogen die letzteren es vielleicht vor, lieber die Schleppe zu verderben, als ihre Füße zu zeigen? Hier trippelte ängstlich ein Backfisch mit der Musikmappe vor dem Magen, wie Erich Billrod gesagt, über den Eisstrom, dort wagte kühner eine Kollegin, der Gefahr trotzend, zu glitschen und das Schicksal noch durch vergnügungssüchtigen Uebermut herauszufordern. Aber – zur höheren Genugtuung der Väter der Stadt, wenn sie es gesehen hätten – ereilte das Verhängnis die Eine wie die Andre. Schließlich – wie sie es am allerletzten Schluß alle auch einmal müssen – lagen sie alle einmal da und bestätigten die hohe Weisheit des alten Sängers, daß Freude immer

» leide ze aller jungeste git

Ich mußte das letzte Verscitat mit lauter Stimme vor mich hingesprochen haben, denn eine junge Dame, und zwar Diejenige, der es galt, drehte unwillkürlich den Kopf nach mir um, und zwar abermals tat sie dies unter Verhältnissen, die mir eine gewisse Hochachtung vor ihrer Unerschrockenheit einflößen mußten.

Es war um die Nachmittagsstunde, die je nach der Himmelsbeschaffenheit zwischen letztem Licht und erstem Dunkel variirt, und in der betreffenden Straße befand sich augenblicklich niemand, als die erwähnte weibliche Gestalt und ich. Ich ging hinter ihr und erkannte, daß sie eine geschickte Eistouristin sei, denn der Weg, den sie kreuz und quer, herüber und hinüber zwischen den Gletschern, Morainen und Schneebreigebirgen einschlug, erwies sich jedesmal auch für meine Nachfolge als der einzig mögliche. So ward ich ihr dankbar, und aus dem Dank entwickelte sich ein gewisses momentanes Interesse. Hauptsächlich weil ihr Wesen sich in einigen, durch die Umstände in wörtlichem Sinn aufgeworfenen Fragen in unverkennbarer Weise aussprach. Sie trug unter einem, schlank ihren Wuchs hebenden pelzbesetzten Mantel ein schleppenloses, doch bis an die Erde reichendes Kleid, aber sie ließ es trotzdem nirgendwo in die Nässe eintauchen, sondern hob's mit der linken Hand leicht empor, offenbar ohne jegliche Scheu, ihre Füße bis an den schmalen Knöchel sichtbar werden zu lassen. Unfraglich besaß sie auch nicht den geringsten Grund, sich auf Kosten ihres Kleidsaumes oder des allerliebst fingerbreit darunter hervorblickenden roten Röckchens anders zu behaben – ein paar mal drehte sie mir bei ihrem Luv- und Leekreuzen halb die Seite zu, dann gewahrte ich, daß ihr ein Goldkreuzchen auf der Brust hing, das sich auch hartnäckig drehte, indem es immer wieder die nur versilberte Rückseite nach außen kehrte. Doch ebenso hartnäckig schlüpfte die kleine, hübsch behandschuhte Rechte in die Höh' und wendete, wie spielend, das rebellische Dingelchen zur Repräsentation seines vollen Glanzes zurück. »Nimm Dich in Acht, daß Dir nicht doch das Kreuz trotz seinem Heilszeichen einen Possen spielt,« dachte ich; »augenblicklich ist es auch für das frommste Menschenkind jedenfalls geratener, sich an die Erde, als an das Symbol des Himmels zu halten, und ich glaube, selbst der Hauptpastor der Nicolaikirche würde, so lange er dieses Weges wandeln müßte, einen tüchtigen Eichenknüttel seinem Gebetbuch vorziehen.« Ich gelangte in meinen theologisch-teleologischen Betrachtungen nicht weiter, denn meine Vorgängerin hielt in diesem Moment an einer besonders schwierigen Stelle eine Sekunde lang zum erstenmal inne und suchte mit den Augen nach einem modus transeundi umher. Dabei aber wandte sie mir die nämliche Spanne Zeit hindurch drei Vierteile ihres von einem feinwolligen weißen Shawl umknüpften, rosenartig überdufteten Gesichtes zu, daß es mir war, als ob ich von ihren Lippen einen Anhauch wie die klare Winterkälte und zugleich frisch und köstlich wie Waldestannenduft empfände. Dann trat sie mit einem sorglos raschen Schritt vorwärts, und im selben Augenblick entflog auch meinem Munde mechanisch das obige Nibelungencitat. Sie glitt nämlich aus, zog die kleinen Füße zusammen, balancirte, konnte sich dabei aber nicht enthalten, mitten in ihrem Schwanken einen halb erstaunten, halb verneinenden Blick auf mich zurückzuwerfen, und wäre dergestalt durch meine Verschuldung unzweifelhaft in das wenig einladende Gemisch von Natur und Kultur unter ihren Füßen gefallen, wenn Schuldbewußtsein und Cavalierspflicht mich nicht eilfertig getrieben, hinzuzuspringen, ihre Hand zu fassen und sie dran aufrecht zu halten. Sie hielt sich an mir, sagte helltönig: »Ich danke,« und fügte in der nächsten Sekunde unerschrocken über den abgewendeten Fall und unbefangen, wie ein Kind, leichtauflachend, hinzu:

»Aber es heißt: Wie je die liebe leide ze aller jungeste git. Das weiß ich von meinen Brüdern, und deshalb, scheint mir, paßte es möglichst wenig hierher.«

»Herr Gott!« – Ich sah ihr in's fröhliche Gesicht – noch einen Augenblick, und mein Mund stieß ohne Vorwissen seiner von Brauch, Anstand und gutem Ton bestellten Vormünder aus: »Aennchen –!«

Ueber ihre Lippen zog halbe Spottlust und halber mädchenhaft zürnender Unwille: »Ich habe nicht die Ehre, Sie zu kennen, mein Herr, sehne mich auch nicht danach und wüßte nicht, daß jemand das Recht hätte, mich so zu benennen, als meine Brüder.«

Sie knixte niedlich-ironisch, indem sie sich halb abdrehte; ich fühlte, daß ich mit heißrotem Gesicht an den Hut griff und stotternd erwiderte:

»Verzeihen Sie, Fräulein Anna Wende – vielleicht erinnern Sie sich und – es kann zur Entschuldigung meiner Ueberraschung dienen – daß Sie selbst noch einem Andern einmal das Recht dieser Namensanrede zuerteilt haben – in einer Eschenlaube war es – im Garten Miß Lydia Brandstätters –«

Nun flog der Kopf der jungen Dame ohne den zürnenden Ausdruck rasch wieder herum. »Ah, Miß Lydia –« es war noch das nämliche Lachen das wie der Anschlag an eine silberne Glocke klang – »die Sonntagscour – ich sehe all die albernen Jungen und Puppen wieder vor mir – aber wer Sie sind –?«

»Es war ein sehr unbeholfener Bursche unter allen den feinen jungen Herren,« fiel ich ein, »und er redete eine von den jungen Damen an, die ihm antwortete: Ich bin kein Fräulein, sondern heiße Anna Wende, aber ich dachte, Du wärest vernünftiger und verständest Dich nicht auf die albernen Faxen hier –«

Anna Wende lachte. »Habe ich das gesagt? Ich weiß kein Wort mehr davon, aber aus dem Herzen ist's mir sicher gesprochen gewesen! Und Sie waren der unbeholfene Junge – nehmen Sie's nicht übel – und haben das Alles behalten? Ja, richtig, in der Laube, wo die beiden nebenan so klug miteinander redeten, daß ich kein Wort davon verstand. Wir amüsirten uns köstlich darüber – aber wie war doch Ihr Name –?«

»Wissen Sie – nein, Sie wissen's nicht mehr – daß ich Ihnen bei'm Weggehen ohne alle Etiquette und feine Lebensart die Hand reichte und sagte: »Leb' wohl, Aennchen, vielleicht sehen wir uns doch noch einmal im Leben wieder. Und Sie antworteten: Ich glaub's nicht, hierher komme ich nicht zum zweitenmal.«

»Mein Gott, was für ein Gedächtnis Sie haben! Ja, ich weiß jetzt, mir ist's fast, als ob ich Sie an dem vergoldeten Gitter noch dastehen sähe, und daß Sie mir ein Trost unter all' den Zieraffen waren. Aber Ihren Namen kann ich doch nicht –«

»Reinold Keßler.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich lüge nicht aus Höflichkeit, daß ich mich seiner erinnere. Aber darum freut es mich nicht weniger, daß wir hier so curios wieder zusammentreffen. Wenn man jemand als Kind gekannt hat, meine ich, bleibt trotz aller Vergeßlichkeit immer etwas von Freundschaft übrig – das Gedächtnis wird mir auch schon noch mehr wiederkommen – und es ist wirklich hübsch, daß damals Ihre Prophezeiung Recht gehabt hat und nicht meine. Ich habe auch noch durchaus keine Angst vor der entsetzlichen Unschicklichkeit gelernt – da ist meine Hand darauf, wie ich sie Ihnen damals gegeben – ich denke, daß wir uns noch manchmal bei Imhof's zusammen an den spaßigen Morgen erinnern und darüber lachen werden.«

Sie streckte mir die klein aus den Pelzärmeln hervorblickende Hand entgegen und ich fühlte die Wärme derselben durch den dünnen Handschuh in meine herüberfließen, vermutlich weil ich sie länger hielt, als der gute Ton es vorgeschrieben hätte. Doch sie zog sich ebenfalls nicht zurück, während ich mit freudig-ungelenker Zunge dazu fragte: »Bei Imhof's? Sind Sie zum Besuch in unserer Stadt bei Imhof's –?«

»Halb und halb, eigentlich bei einer alten Tante, die aber in ihren Zimmern keinen Platz für mich hat und deshalb wohne ich bei Mistreß Lydia. Als sie von meiner Cousine erfahren, daß ich hierher komme, hat sie mich eingeladen und so lange zu bleiben, wie ich wolle. Es ist zu komisch, was für eine Rolle jetzt bei ihr die höhere wissenschaftliche Bildung spielt, ihr Mann muß auch mit Gewalt Gelehrter sein, mit Kaufleuten, glaube ich, hat sie überhaupt keinen Umgang und keine Anknüpfung mehr. Aber Sie könnten auch Ihre so hübsch begonnene Ritterpflicht etwas weiter ausdehnen, Keßler, und mir aus altem oder neuem Freundschaftsdienst behülflich sein, ohne abermalige Lebensgefahr durch Ihre vaterstädtischen Abgründe hindurch zu kommen.«

Anna Wende legte zugleich mit den Worten ihren Arm in den meinigen, ihr Fuß glitt im nämlichen Augenblick wieder aus und sie hielt sich fest an mir, daß es mir mit einem Schauer aus dem Arm bis in die Schläfen hinauslief. »Nehmen Sie sich in Acht,« lachte sie, mich seitwärts ziehend, »Sie treten ja grade in einen Abgrund hinein. Sehen Sie nicht gut, oder Sie sind wohl nicht gewöhnt, eine solche Bürde am Arm zu haben?«

»Nein – ja – ich meine, daß ich sehr gut sehe,« entgegnete ich stotternd. »Es ist nur, was die Leute sich denken können – sie sind nicht gewöhnt –«

»Fürchten Sie sich davor? Ich habe nie Angst, was sich die Leute denken, und was sollten sie denn eigentlich denken?«

Ich konnte nicht erwidern, was ich selbst dachte. Daß wir ebenso miteinander durch die Straße jetzt gingen, wie Philipp Imhof mir mit einer Frau, mit seiner Frau am Arm begegnet war. »Geht's nicht da um die Ecke?« fragte mich meine Begleiterin.

»Nein, hier.« Ich bog fast nach der entgegengesetzten Seite ab. »Wie man sich in einem fremden Ort in den ersten Tagen doch irren kann,« meinte sie, ich hätte beinahe darauf geschworen, das da müsse der grade Weg nach dem Markt sein.«

Ich erwiderte verwirrt: »Die Straßen sehen sich ähnlich, daher täuscht es.« Sie hätte richtig geschworen und ich redete und führte falsch, aber ich hatte vollwichtigen Grund dafür, denn ich rief mir deutlich in Erinnerung, der grade Weg, auf den sie gedeutet, sei für ein paar so niedliche kleine Füße völlig unpassierbar. Es stellte sich allerdings heraus, daß der Umweg keineswegs besser, ja gradezu der schlimmste war, den wir einzuschlagen vermochten, doch ich trug keine Schuld daran, ich hatte das Beste gewollt und nur die Verpflichtung dafür, jetzt doppelt Acht zu geben und an allen schwierigen Stellen eh' noch eine Gefahr eintrat, dieser dadurch vorzubeugen, daß ich Anna Wende's Arm fester an mich heranzog. Das tat ich schweigend, während sie mir munter dies und das erzählte; die Dämmerung legte sich über den Boden der Gassen und legte mir stets erhöhte Sorgsamkeit auf. »Warum sind Sie denn so still?« fragte Anna Wende plötzlich einmal. »Ich erinnere mich jetzt ganz gut, daß Sie damals in dem Garten fast ebensolche geschwätzige Plaudertasche waren, wie ich. Tut das Alles die Gelehrsamkeit, wie Lydia sagt, welche die Menschen so bedeutsam macht? Ich werde jedenfalls mein Lebelang dasselbe ungelehrige und unbedeutende Geschöpf bleiben, wie damals.«

»Da sind wir,« antwortete ich stehen bleibend und auf Imhof's Haus weisend.

»Und Sie sind froh, mich los zu sein,« fiel sie ein; »aber ich bin ein Quälgeist, der sich so leicht nicht abschütteln läßt, vor Allem, wenn es sich um Erinnerungen aus der Kinderzeit handelt. Also, haben Sie für heute Dank – und nächstens auf fröhliches Wiedersehen, Herr Ritter, da droben, ich hoffe, nicht mit dem Trappistenmund. Wie Sie mich heut' durch diese Abgründe so geschickt und artig hindurchgebracht, müssen Sie auch aus dem Abgrund Ihrer wissenschaftlichen Gelehrsamkeit herauf ein bischen Mitleid mit einer armen Lachtaube haben, denn – unter uns alten Pfarrerskindern gesagt –« sie legte einen Augenblick ihre Lippen an mein Ohr – »es ist manchmal ein wenig langweilig in Mister und Mistress Imhof's Hause. – Gute Nacht, Reinold Keßler; nun will ich den Namen nicht wieder vergessen.«

Sie reichte mir nochmals die Hand und flog die Steintreppe hinan durch die offene Haustür in den dunkelnden Flur. Mein Mund rief ihr ohne Besinnen nach: »Gute Nacht, Aennchen.« Drehte sie sich noch einmal und winkte lächelnd mit der Hand zurück, oder war es Täuschung? Mir schien's, als hätten meine Augen es deutlich gewahrt, aber es konnte auch die lebhafteste Vorstellung der Phantasie gewesen sein, wie sie's getan haben würde, wenn sie den Ruf noch vernommen hätte.

*

Ich schlug den Weg nach meiner Wohnung ein, die Väter der Stadt hätten ihre Freude an mir haben müssen, denn ich ging entschieden nicht, als ob der Januar, sondern als ob der vollste Juli auf den Straßen liege. Die Folgen dieser Kalenderverwechselung blieben selbstverständlich nicht aus, ich glitt, fiel und sprang wieder auf, oder vielmehr meine Kleider erzählten mir zu Hause, daß dies zu wiederholten Malen geschehen sein müsse, denn mein Gedächtnis hatte nichts davon bewahrt; so wenig wie wohl Fritz Hornung's Kopf von der Heimwanderung jener Nacht, als Philipp Imhof uns den Abschiedstrunk kredenzt. Gut war's, daß auch heut' die Straßen dunkel gewesen und die ehrsamen Bürger nichts von meinem Gange und Zustande wahrgenommen. Oder hatte doch Einer zu seiner Eheliebsten gesagt: »Wir wollen auf die andre Seite hinübergehen, da kommt ein Betrunkener?« Hatte ich gesungen, gelacht, in die Hände geklatscht, daß die schwarzgefiederten Wintergäste meiner Vaterstadt, die sich unter dem traulichen Schutz der einbrechenden Nacht hie und da bis auf die Gassen hinuntergewagt, mit krächzendem Unwillen aufstoben und laut durcheinander-lärmende Anklage gegen polizeiwidrige Störung ihres friedlichen Schutzbürger-Nahrungsbetriebes erhoben?

Was hatte Anna Wende gesagt? Ich sei still? Mein Herz klopfte und lachte und jauchzte über die mehr als komische Grundlosigkeit dieses Vorwurfs. War es still, wenn man seine Bücher nahm und sie jubelnd mit Hand und Fuß wie altes Gerümpel hierhin und dorthin warf, stieß, in die Ecken schleuderte, daß sie polternd und staubaufwirbelnd umherflogen? Wenn man im Zimmer rundtanzte, sang, lachte, zusammenhangslose Verse vor sich hin sprach?

Nein, gewiß war es nicht still. Es war toll, widersinnig, das Gebahren eines Trunkenen.

Aber war's nicht auch sinnverrückend, wenn aus dem Januar mit Eis, Schnee, Schmutz, Wolken, Sturm und Finsternis mit einem Schlage plötzlich ohne Uebergang Juli wurde? Juli, zugleich mit Veilchen, Syringen, Rosen, mit rauschendem Waldeslaub, Sonne, Himmelsblau und Himmelswärme? Behielt denn der Gefangene seinen Kopf aufrecht, dessen Kerkertür plötzlich geöffnet, dem gesagt wurde: Geh' in die Welt hinaus, wohin, so weit Du willst, Du bist frei? Oder besser noch der Gerichtete, der den Block auf den Kopf gelegt und dem statt des Pfeifens des Schwerthiebes der Ruf in's Ohr schlug: Du sollst leben, und ich schenke Dir ein Königreich obendarein!?

Meine Zimmertür tat sich unerwartet auf – es hatte wohl zuvor geklopft, ohne daß ich's gehört – und über der Schwelle tauchte Fritz Hornung's volles treuherziges Gesicht auf. Er blieb, verwundert hereinblickend, im Türrahmen stehen und fragte:

»Bist Du jetzt wirklich verrückt geworden, Reinold, oder was für einen heillosen Spectakel stellst Du hier an, daß meine Bude oben mit davon wackelt?«

»Herzensfritz!« Ich flog auf ihn zu und drückte ihn in die Arme. »Ja so – nein, ich nicht, aber meine Bücher sind toll geworden, haben ein Complott gemacht und marschieren und rebellieren im Zimmer herum. Hilf mir einmal, Fritz, die närrischen Pappdeckel wieder zur Raison und in ihre Pferche zurückzubringen! Es ist wahrhaftig wahr, Alter schützt vor Torheit nicht – steh, das ist ein Bursche, der mehr als ein Jahrhundert auf dem Lederrücken hat, und springt mir in der Stube herum, wie eine Maikatze.«

Fritz Hornung hatte sich mechanisch mitgebückt und gesammelt, richtete sich jetzt aber auf und betrachtete mich mit noch verblüffterem Gesicht als vorher. »Du, wenn Du nur nicht einen Maikater hast, so einen andertägigen, der wie ein Drehwurm im Kopf und ärger als die solideste Dunität selber ist. Ich habe nur einmal bis heut einen im Besitz gehabt – hast Du vielleicht eine Kanne schwedischen Punsch getrunken und gemeint, es sei Zuckerwasser? Symptomenkomplex: Unlust zur Arbeit, Lebensüberdruß, Händelsucht, Abscheu vor jedem geistigen Getränk –«

»Es ist gut, Fritz, daß Du kein Pillendreher, sondern ein Rechtsverdreher geworden bist!« lachte ich auf, »denn eine falschere Diagnose hat noch kein heilbeflissener Barbierjüngling vor einem Kolleg andächtiger Maulsperrer gestellt. Lebensüberdruß? Ueberfluß wollt'st Du wohl sagen – und Händelsucht? Ich möchte die ganze Welt umarmen und Wein möchte ich trinken, eine ganze Flasche auf einen Zug. Nur mit der Unlust zur Arbeit hast Du's getroffen – o, ich könnte ein Jahr sitzen und zwei, immer auf dem nämlichen Fleck Tag und Nacht hindurch und arbeiten, wenn es sein müßte und wenn ich dann – ich will's auch, es ist der köstlichste Gedanke auf der Welt, mir kommt's förmlich so vor, als blühte und duftete es aus den Büchern von Oleandern, Rhododendren und Orangen hervor. Aber heut will ich's noch nicht, sondern will mit Dir zum Wein gehen, ich lade Dich auf eine Flasche Röderer ein – oder gibst Du Cliquot den Vorzug? haha, weißt Du noch, wie Philipp Imhof es frug? Apropos, Du hast mir noch gar nichts von seinem Wein erzählt, Du bist neulich doch wieder dagewesen? Wie war's und wie war die Gesellschaft? Ich habe gehört, es soll eine junge Dame dort zum Besuch sein, eine Verwandte oder Bekannte, Fräulein – ich weiß den Namen nicht. Hast Du Dich mit ihr unterhalten? Du bist so mundfaul geworden, Fritz!«

»Na, den Fehler hat mir auch zum ersten Mal jemand nachgesagt!« brach Fritz Hornung mit staunenden Augen heraus, indem er die letzten Bücher auf den Tisch legte. »Im übrigen ging's so, der Wein schmeckte mir auch nicht wie früher, denn die Gesellschaft war verdammt langweilig mit ihrem gelehrten Geschwätz. Imhof hat's im Grunde gar nicht drauf stehen und ödet sich selbst ebenso bei dem Zeug, aber seine Frau – hol der Teufel die Weiber allesamt – fängt immer wieder von neuem von irgend einem Artikel, den sie im Konversationslexikon nachgelesen, an. Die Kleine – eigentlich ist sie ziemlich groß und heißt Wende – lachte auch manchmal laut in den Unsinn drein, und das gefiel mir im Anfang an ihr, so daß ich sie etwas poussierte. Aber dann hatte sie ein so loses Mundwerk und fing an, bald dies, bald das an mir selbst herumzuschulmeistern, daß ich sie, als ich mich eine zeitlang mit ihr herumgebissen, sitzen ließ – alle Frauenzimmer sollen mir hundert Schritt vom Leibe bleiben!«

»Das freut mich,« antwortete ich –

»Was?«

»Daß es so hübsch bei Imhofs gewesen ist, und da Du es so lobst, Fritz, will ich mich doch auch überwinden und nächstens einmal hingehen. Er kann es eigentlich der alten Freundschaft halber verlangen und hätte ein Recht beleidigt zu sein, nicht wahr?«

Fritz Hornung sah mich mit offnem Munde an; dann schüttelte er den Kopf und dann versetzte er:

»Daß es in Deinen Ohren und Deinem Gehirn nicht richtig ist, Reinold, weiß ich lange. Ich habe einmal geglaubt, Du wärest verliebt; daß ich mit der Diagnose gründlich auf dem Holzweg war, erkenn' ich jetzt auch. So bleibt mir nachgrabe keine andre Konjektur übrig – würde Tix – abera – sagen – als daß Du einen Sonnenstich im Januar oder das große Los gewonnen hast.«

»Nimm beides an, Fritz,« lachte ich, »daß der Wein, den ich Dir heut abend zutrinken will, aus dem Glücksrade herstammt, und daß die Sonne Stich hält, die ihn vor manchen Jahren – ich trinke heut keinen, der nicht mindestens acht Jahrgänge zählt – so süß und köstlich als Traube zu reifen angefangen hat. Aber komm', ich war noch nie so durstig in meinem Leben.«

Was ging es mich an, daß ich Fritz Hornung und Anna Wende in ihrer übereinstimmenden Anschauung, es sei ein bischen langweilig im Imhof'schen Hause, nicht Unrecht geben konnte? Für mich traf es jedenfalls nicht zu, und Philipp Imhof konnte ebenso wenig auf den Verdacht geraten, daß ich's derartig fände; mindestens erlaubte die allgemein menschliche Neigung, langweilige Gesellschaft zu meiden, eine solche Schlußfolgerung durchaus nicht. Es verging selten jetzt ein Tag, an dem ich nicht kürzer oder dauernder in dem Eckhause am Markt vorsprach, nie eine Woche, die mich nicht wenigstens zwei volle Abende hindurch dorthin brachte. Zumeist und zu meiner Freude traf ich eine kleinere oder zahlreichere Gesellschaft von Professoren, höheren Beamten und Würdenträgern dort an, welche das Imhof'sche Haus vollständig unter die ›auserlesenen‹ der Stadt aufgenommen und es mir ermöglichten, halb abseits in vertraulicher Unterhaltung mit Anna Wende fröhliche Bemerkungen über die Anwesenden auszutauschen und uns oftmals wieder auf's neue in unserer, wenn auch stundenkurzen gemeinsamen Erinnerung zu ergehen. Das Haus, erst vor einigen Jahren neu erbaut, glich keinem der übrigen meiner Vaterstadt; es war mit jedem großstädtischen Komfort und Reichtum eingerichtet, die in ihm gebotenen materiellen Genüsse so ausgesuchter Art, daß seine Rezipierung von Seiten der feinen Gesellschaft im vollsten Maße begreiflich und selbstverständlich, ja daß ein direkter Verstoß gegen den Takt drin lag, es als ein ›Kaufmannshaus‹ zu bezeichnen, da man übereinstimmend herausgefunden, daß der Kern und Schwerpunkt des Besitzers nicht in seiner geschäftlichen Tätigkeit, sondern in seiner klassischen, humanen und bewundederungswürdigen allgemeinen Bildung beruhe. »Die Leute haben eben feinere Geruchsorgane oder vielleicht auch Geschmacksnerven, als wir, Keßler,« lachte Anna Wende, »denn, nicht wahr, ich hab's einmal gehört und das fällt ja in Ihre Wissenschaft, Geruch und Geschmack sind nie ganz von einander zu trennen und der eine wirkt immer auf den andern mit?«

Wie schimmerten ihre kleinen weißen Zähne durch die blühenden Lippen, wenn sie mir oftmals in vertraulicher Hast eine derartige lustige Wahrnehmung zuflüsterte. Ich konnte es stets vorher schon im schalkhaften Glanz ihrer blauen Augen lesen, wußte genau, wann sie mich, meinen Rockärmel zupfend, bei Seite ziehn würde, um ihr Herz und ihren Frohsinn über Menschen und Dinge auszuschütten. Sie hehlte mir nichts und ich empfand, daß sie mich mehr denn ihre Wirte als einen vertrauten Freund, ihr zugehörig, als Stütze und Trost im Imhof'schen Hause betrachtete. Oft, wenn wir in einem Nebenzimmer allein beisammen saßen, vergaß ich mich und hieß sie ›Aennchen‹; aber sie schien dies nur natürlich zu finden, als das einst mir eingeräumte Recht anzusehen, und es kam bald dahin, daß sie mich unter uns wie althergebracht ebenfalls mit meinem Vornamen anredete. Einen völligen Gegensatz dieses Verhältnisses zu mir aber bildete die unablässige Reibung, welche zwischen ihr und Fritz Hornung bestand, der weit seltener als ich, doch ab und zu das Haus unseres gemeinsamen alten Kameraden besuchte. Kaum zu verkennen war's, daß Fritz Hornung Anna Wende mit einer gewissen Beflissenheit aus dem Wege ging, als ob er in ihr eine Art Uebelstand des gastfreien Hauses gewahre, und sie fragte mich eines Tags mit diesen Worten, ob dem so sei? Ich konnte nicht verneinen und antwortete, er wäre ärgerlich darüber, daß sie immer an ihm herumschulmeistere, bald dies, bald das an ihm lächerlich finde und es ihm spöttisch stets grad' ins Gesicht sage. Mir sei ihre halbe Feindschaft eigentlich nicht begreiflich, da sie im Grunde die ähnlichsten Naturen von der Welt besäßen und nur durch ihre gegenseitigen Häkeleien abgehalten würden, dies zu erkennen. Doch Anna Wende zuckte lachend die Schulter: »Ach was, er ist so oft ungeschickt wie ein Bär und sollte dankbar sein, daß man ihn ein bischen zurechtstutzt. Wenn er das nicht vertragen kann, soll er wegbleiben; mir macht's wahrhaftig kein Vergnügen, ihn immer dressieren und auslachen zu müssen.«

Manchmal, wenn die Gelegenheit es so ergab und die Jugend grade zahlreicher vertreten war, ward abends auch eine Stunde lang getanzt. Philipp Imhof nahm nicht daran teil, erwarb sich jedoch das Verdienst, die Melodien dazu aufzuspielen, saß unermüdlich und unbeweglich, wie tagsüber in seinem Komptoir, am Flügel und ließ, mit den tiefliegenden Augen ins Leere hinausblickend, seine mageren, langfingrigen Hände über die Tasten hingehen. Doch ich war ihm dankbar dafür, wie für nichts andres, was er zu tun vermocht hätte. Ich gedachte nicht mehr an Erich Billrods kaustische Aeußerung über, noch an meinen eignen damaligen Widerwillen gegen das Tanzen, sondern flog nach den Takten der Musik mit Aennchen hin und wieder, daß ihr Gesicht rosig blühte und glühte und ihr Atem doch wie frische Winterluft und Waldestannenduft mir dicht entgegenwehte. Sie tanzte gern und unverkennbar am liebsten mit mir – »die andern sind so langweilig mit ihrem albernen Geschwätz, einer wie der andre,« sagte sie – aber es vertrug sich trotzdem nicht mit dem gesellschaftlichen Brauch, daß wir ausschließlich – »wie ein paar Kletten,« lachte sie – zusammenhingen, und ich mußte ab und zu stehen und sehn, wie ein andrer sie in den Armen hielt und runddrehte, daß es mir unruhig in der Brust klopfte – war's Aerger, Sehnsucht oder die überflüssige und doch nicht zu beherrschende Eifersucht? – bis die Schicklichkeit erlaubte, daß wir wieder miteinander, immer hastiger, wirbelnder und köstlicher dahinflogen. Nur, wenn ihrer List und zähen Hartnäckigkeit dann und wann gelang, Fritz Hornung widerwillig zum Tänzer zu erobern, klopfte mein Herz nicht, sondern mein Zwerchfell erschütterte sich gemeiniglich vor innerlichem Lachen über sein mißvergnügt-atemloses Gesicht und die Kunstgriffe, mit denen sie, wie ein Tanzlehrer, seine ungelehrigen Füße im Takt zu halten und ihn mit sich fortzudrehen suchte, bis sie zuweilen mit halb verzweifelnden, dunkelroten Zügen sich mit ihm aus den Reihen an die Wand flüchtete und ärgerlich halblaut ausrief: »Sie sind und bleiben doch wirklich ein Bär, mit dem nichts anzufangen ist.«

Dann entgegnete Fritz Hornung, wenig galant und halb nach dem ihm beigelegten zoologischen Prädikat zwischen den Zähnen brummend: »Das haben Sie mir schon öfter gesagt, Fräulein Wende, so daß mich däucht, Sie könnten's nachgrade wissen und den Bären, der kein Tanzbär sein will, in Ruhe lassen.«

Nun lachte sie: »Ich hab's gewiß auch zum letztenmal getan – Gott behüte mich vor solchem Brummbären;« doch der Uebermut mußte sie vergeßlich machen und immer auf's neue prickeln, denn es verging kein Abend, an dem Philipp Imhof die Tasten anschlug, daß ihre närrische Laune nicht einen neuen verunglückenden Versuch, aus Fritz Hornung einen Vestris zu machen, angestellt hätte.

So klangen – der Winter ging fast schon zu Ende, denn die gelben Crocos blühten in den Garten – eines Abends Walzer und Polka unter Imhof's geduldig ausharrenden Fingern hervor, und durch zahlreichere Paare als gewöhnlich hindurch flog, nein, schwebte ich mit Anna Wende, es war ein Gefühl des körperlosen Fliegens durch die Unendlichkeit, aus der die Kerzen an den Wänden gleich vorüberirrenden Sternen aufleuchteten und versanken, zurückkehrten und in himmlischem Reigen durcheinanderblitzten. Aennchens Antlitz blühte maienfrischer denn je, ein Lenzeshauch und Lenzesduft umwebte sie mit einer Atmosphäre, die gleich erstem Frühlingssonnenschein süßtrunken machte bis in's tiefste Herz hinein; wenn ihr Haar mir an die Schläfe flog, ihre Hand im Tanz zufällig über die meine glitt, war's mir, als müsse ihre Berührung die pochenden Adern meines Kopfes aufsprengen, daß rosenrotes Blut, gleich dem Ueberschuß der Lenzeskraft und Herrlichkeit jauchzend aus ihnen ausströme. Atemlos sagte sie endlich: »Ich kann nicht mehr«; wir verließen mitten im Tanz das Gewoge und setzten uns in einen Winkel. Die Musik ging fort, der Boden zitterte unter den hüpfenden Füßen, Gelächter und Geschwirr füllte den Saal. Wir sahen eine Weile stumm drein, Anna Wende's Blick schweifte manchmal hinauf und hinab, mir kam plötzlich auf die Lippen, entflog mir: »Wonach suchst Du, Aennchen? – Verzeihen Sie mir – ich weiß nicht, wie –« stotterte ich hinterdrein.

Sie drehte mir den Kopf zu und ihre blauen Augen nickten. »Was soll ich verzeihen? Mich dünkt nur, daß Du zuerst der Vernünftigere von uns gewesen bist, Reinold. Ich habe Dich im Stillen immer so genannt, denn sind wir nicht grade noch dieselben wie damals, als wir's so albern fanden, daß all' die schwarzen Cylinder und Blumenhütchen sich so narrenhaft betitelten und becomplimentirten? Meine Brüder heiße ich auch Du, wie von jeher, und es läßt sich viel besser zusammen über all' die Possen der gelehrten und feinen Leute lachen, finde ich, wenn man's tut. Also laß uns nach alter Weise dabei bleiben, wenn wir unter uns sind; mir klingt's wirklich herzerquicklich in's Ohr. Sag' einmal –«

Bedurfte es, noch mehr zu sagen? Nicht herzerquickend – berauschend, ohne Gleichnis, als ein Ton, den die Erde nur einmal heraufzaubern konnte, klang es mir in's Ohr. Alles Denkens, der Besinnung beraubt, stammelte ich nur:

»Was soll ich Dir sagen, Aennchen?«

»Es fällt mir auf, wir haben fast Ende März, wo bleibt Dein Februar eigentlich?«

»Wer, Aennchen?«

Sie lachte. »Oder Hornung, der Name paßt allerdings besser für ihn, er erinnert so etwas an den hörnernen Siegfried. Mich deucht, es ist eine Ewigkeit, daß ich ihn nicht mehr gesehen.«

»Der Arme – vielmehr übersehen, ohne ihn zu sehn, Aennchen. Die Ewigkeit ist Dir sehr kurz geworden, denn er war gestern Abend noch hier. Hast Du etwa sehnsüchtiges Verlangen nach ihm, daß ich hinüber laufen soll, ihn zu holen?«

»Nein« – sie drehte rasch den Kopf nach einem vorübertanzenden Paar zur Seite und sah eine Weile hinterdrein – »was sagtest Du? Wovon sprachen wir doch eben?«

»Vom Februar,« lächelte ich.

»Ach, richtig! und Du wolltest ihn herüberholen, Reinold. Ist es weit? Ich möchte nur – das letztemal brachte ich ihm mit Mühe und Not eine Polka bei – es war zu komisch – aber er wird natürlich Alles wieder vergessen haben –«

Es rauschte, sie unterbrechend, aus den Reihen der Tanzenden von einem Apfelblüte-farbigen seidenen Kleide auf uns zu, über dem das braune Lockengeringel Frau Imhof's in die Stirn nickte. »Wenn man einmal der Auszeichnung teilhaftig werden will, von Ihnen geführt zu werden,« sagte sie, mit einem ironischen Knix sich vor mir verneigend, »so muß man einen Tanz abwarten, der es den Damen vorschreibt, einen Herrn zu engagiren.«

Die gesellschaftliche Pflicht gegen die Hausfrau nötigte mich, der Aufforderung, und obendrein mit einer Miene, die meiner Empfindung keineswegs entsprach, nachzukommen. Ich warf einen unbemerkten, wehmütig Abschied nehmenden Blick auf Aennchen zurück, den diese mit einem vertraulich-lachenden Augenaufschlag erwiderte, und mischte mich mit meiner neuen Tänzerin unter die Paare. Lydia Imhof tanzte vortrefflich, doch ich hatte keine Gedanken dafür, mir erschien plötzlich dies gemeinsame Umdrehen wieder so sinnlos und langweilig, wie Erich Billrod es dargestellt. Dazu erschien's mir jetzt auch so in wirklichem Sinne unschicklich – bei Aennchen war mir dieser Gedanke noch nie für einen Moment gekommen – aber ich mußte Erich Billrod völlig Recht geben, wie ich bald den leisen Druck der Knie meiner augenblicklichen Tänzerin gegen die meinen, bald deutlich das Auf- und Abwogen ihres dicht an mich geschmiegten Oberkörpers durch die leichte Hülle hindurch empfand. Lydia Imhof besaß eben eine durchaus andere Art des Tanzens, als Anna Wende – hätte die mir an der letzteren auch so mißfallen?

Ich fühlte, daß mir das Blut bei der Frage in die Schläfen stieg, daß sich die Wände noch hastiger als zuvor um mich zu drehen begannen. Dann kam plötzlich ein Paar an uns vorüber, nach dem ich im Tanz überrascht den Kopf umwandte, denn es war Fritz Hornung, der erst spät noch gekommen sein mußte, und Aennchen. Wie war's ihr möglich geworden, ihrer spaßhaften Laune nachzuhängen und ihn zu veranlassen, zu zeigen, ob er seine letzte Lection schon vollständig wieder vergessen habe oder nicht?

Ja so, es war ein Tanz, zu dem die Damen sich einen Herrn engagirten, das hatte Anna Wende offenbar für ihre Schalkhaftigkeit ausgenutzt. Und ebenso unverkennbar belohnte Fritz Hornung sie für ihre List mit einem unverhohlen mißmutigsten Gesicht und passivster Ungelenkigkeit, denn ihr dunkelglühendes Antlitz verriet, daß sie ihn nur mit der größten Anstrengung im Tact erhielt, ja, sie mußte sichtlich ihren Kopf fest an seine Brust legen, um ihn nur überhaupt sicher aufrecht zu halten und sie beide vor dem Straucheln zu bewahren.

Einen Augenblick nur, dann waren sie vorüber, doch zugleich sagte Lydia Imhof: »Ich muß etwas Atem schöpfen – ist es nicht erstickend heiß hier?« Sie legte ihren Arm in den meinigen und ließ sich in ein Nebenzimmer führen: »Hier ist's schon besser, aber dort noch mehr; in dem Boudoir ist ein Fenster geöffnet und wird es uns wohl werden.«

Es war ihre Hand, die mich jetzt mit in den kleinen, reich ausgestatteten und von seinem Wohlgeruch durchdufteten Raum zog. Eine rosigen Schimmer ausstreuende Ampel schwebte in der Luft, hohe, grüne Blattgewächse verdeckten eine niedrige Sammetcauseuse, auf die Lydia Imhof sich ermüdet niederließ. Von drüben kamen gedämpft die Töne, welche unter den immer gleichmäßig fortspielenden Händen ihres Mannes hervorquollen, sie ordnete flüchtig ihre Kleider, daß einige Augenblicke ihr Atlasschuh mit dem kreuzweiß über den seidenen Strumpf verschlungenen Bändern unter dem Apfelblütensaum hervorschlüpfte, dann sagte sie:

»Sie müssen auch erschöpft sein, Keßler, wollen Sie sich nicht ebenfalls etwas erholen? Sie tanzen wirklich so vortrefflich, daß es ein unvergleichlicher Genuß ist, aber man wird so heiß und erregt dabei.«

Leicht an dem seidenen Tuch um ihren Nacken lockernd, sah sie mich dabei mit halb geschlossenen, ermüdeten Augen an und fügte hinzu:

»Sagen Sie – ich habe Sie schon lange einmal fragen wollen und hier findet sich grade der Ort dazu, man redet sonst ja immer nur unter einem Dutzend Augen mit einander. Sie sind der älteste Freund meines Mannes und sollten deshalb auch der seiner Frau sein, zumal da ich mich erinnere, wie außerordentlich gut Sie mir gleich, als ich Sie noch als Knaben zum erstenmal sah, gefielen – warum sind Sie eigentlich in den ersten Monaten, als wir hierhergezogen, nie in unser Haus gekommen? Wenn mein Mann auch mit seinen Geschäften überhäuft und vielleicht nicht sehr interessant für einen jungen Mann von wirklicher gelehrter, höherer Bildung ist – besaß denn sonst gar nichts bei uns Anziehung für Sie? Ich kann Ihnen versichern – ach, können Sie mir helfen, ich bringe das Tuch nicht herab, es hat sich vollständig verknüpft –«

Ich mußte der direkten Aufforderung Folge leisten, bog mich vor und suchte mit den Fingerspitzen den Knoten zu entwirren. Doch während ich damit beschäftigt war, legte sich Lydia Imhofs Hand auf die meinige und ihre Lippen wiederholten: »Ich kann Ihnen versichern, Reinold – mich däucht, die Frau darf den Freund wohl ebenso nennen, wie der Mann – daß Sie mehr in diesem Hause zu finden vermögen, als Sie bis jetzt gesucht,« und ich fühlte zur Bekräftigung einen Augenblick meine Hand leicht gegen Lydia Imhofs Brust gedrückt.


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